Eigentor Brasilien – vom Elend eines Global Players
iz3w t informationszentrum 3. welt
Außerdem: t Frauenrechte in Indien t Punk in Lateinamerika t Kolonialsoldaten im Ersten Weltkrieg t Südsudan …
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Jan./Feb. 2014 Ausgabe q 340 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80
I n d ieser A u sga b e
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Dossier: Brasilien Titelmotiv: iz3w-Archiv
D· 2 Editorial D· 3
3 Editorial
D· 6
Politik und Ökonomie 4
Indien: Nicht still halten, nicht schweigen Frauenproteste in Indien von Maya Subrahmanian
»Das dominante Konzept von Sexualität in Frage stellen!« Interview mit Vibhurti Patel
6
Südsudan: Rückkehr oder Vertreibung?
10
12
Mexiko: »Sie schenkten uns dieses Haus«
D· 10
D· 14
Erster Weltkrieg: »Die Front ist die Hölle«
D· 18
Sexismus: Weibliche Genitalverstümmelung … … ist kein »afrikanisches« Problem von Oliver M. Piecha
17
Brasiliens alternative Medienlandschaft im Umbruch von Nils Brock
Im Ersten Weltkrieg wurden Millionen Kolonialsoldaten eingesetzt (Teil 1) von Karl Rössel
16
Alles Ninja, oder was?
D· 12
Modelldörfer in Chiapas stoßen auf Kritik von Anne Haas
D· 20
Antiziganismus: Zum Davonlaufen Roma in Serbien und im Kosovo von Albert Scherr und Elke Scherr
»Das Neue ist immer schwierig« Interview mit Eduardo Pereira über die Proteste in Brasilien
D· 8
Die »Returnees« in Juba von Ulrike Schultz
Traum oder Alptraum? Brasiliens Metamorphose vom sozialen Vorzeigeland zum Polizeistaat von Verena Glass
D· 21
D· 22
D· 25
D· 26
D· 27
Grobes Foulspiel Die WM unterhöhlt die Rechte der Stadtbevölkerung von Adrian Mengay und Maike Pricelius
»40 Jahre sind genug!« Deutsch-brasilianische Kooperation zwischen Solidarität und Atomgeschäften von Christian Russau
Schönfärbendes Weißwaschen Das postkoloniale Brasilien ist keineswegs eine egalitäre Regenbogennation von Sarah Lempp
Latinos, das sind die anderen Brasilien hat ein kompliziertes Verhältnis zu Lateinamerika von Dawid Danilo Bartelt
Konflikte exportieren Das Agrarprojekt ProSavana in Mosambik wiederholt brasilianische Fehlentwicklungen von Fátima Mello
Dumping mit Hühnerfleisch Brasilien bedrängt Agrarmärkte im südlichen Afrika von Stefan und Andreas Brocza
Brasilien. Land des Fußballs Debatten über einen identitätsstiftenden Mythos von Thomas Fatheuer
Einfach Spitze! Eine kleine Polemik über das Bedürfnis nach Brasilienbildern von Simon Brüggemann
Luiz Ruffatos Romane über die Marginalisierten Rezensionen von Anne Reyers und Judith Felizita Säger Zeitschriften · Bücher · Multimedia
Kultur und Debatte 20
Musik: Fuerte, rapido, duro Wie Punk zu einer globalen Jugendund Protestkultur wurde von Ingo Rohrer
24
26
Buch und Film: Von Freunden und Feinden
27 Rezensionen
Schlaglichter auf Israel von Gaston Kirsche
29 Szene / Tagungen 30 Impressum
Literatur: Klagelied für Teheran Amir Hassan Cheheltans Roman über die »Stadt ohne Himmel« von Azadeh Hatami
iz3w • Januar / Februar 2014 q 340
Edi t o r ia l
Ein katastrophales Klima Am 8. November traf der Taifun Haiyan die Ostküste der Philippinen mit einer Windgeschwindigkeit von bis zu 380 Kilometern pro Stunde. Zurück blieben eine zerstörte Infrastruktur, über drei Millionen Obdachlose und tausende Tote. Nicht nur auf den Philippinen, wo über die Hälfte der Menschen mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen muss und die Häuser dementsprechend billig gebaut sind, hätte ein solcher Sturm verheerende Auswirkungen gehabt. An Nothilfemaßnahmen, auch unter Beteiligung von AkteurInnen aus dem Norden, geht derzeit auf den Philippinen kein Weg vorbei. Jedes Menschenleben, das gerettet oder ein kleines bisschen erträglicher gemacht werden kann, spricht dafür. Dennoch ist auch bei dieser Katastrophe erschreckend, wie sehr sich bei den Hilfsaktionen die globalen Machtverhältnisse spiegeln, ähnlich wie schon beim Erdbeben in Haiti. Nach dem Taifun war in den hiesigen Medien unisono zu vernehmen: Hilfeleistungen sind stark erschwert, weil die Infrastruktur mangelhaft ist und die philippinischen Behörden bürokratisch und unfähig sind. Der Subtext war überdeutlich: Die Filipinos sind unfähig, diese Katastrophe zu bewältigen, daher brauchen sie uns, damit sie lernen, wie das geht. Im heute-journal beispielsweise durfte sich der Geschäftsführer der deutschen Hilfsorganisation Humedica ernsthaft darüber echauffieren, dass die entsandten ÄrztInnen bei der Einreise in Manila ihre Approbationen vorlegen mussten. Binnen Jahresfrist werden viele Sturmopfer vergessen sein, die internationale Gemeinschaft und die an möglichst spektakulären Bildern und Geschichten interessierten Medien werden sich kaum mehr um die BewohnerInnen der Zeltlager scheren, die vielerorts zur Dauerbehausung werden. Auch eine sinnvolle Katastrophenprävention lässt sich medial kaum zum Verkaufsschlager stilisieren. Die Zahl der Toten nach einer Naturkatastrophe hat mehr Einfluss auf die Spendenbereitschaft als die Zahl der Überlebenden, so jedenfalls steht es in einer Studie der Rotterdam School of Management, die im Wissenschaftsmagazin Psychological Science veröffentlicht wurde. Die Zahl der Überlebenden von Katastrophen hatte hingegen keinen Einfluss auf die Spendenhöhe.
Niemand kann derzeit genau beweisen, dass die
außergewöhnlich große zerstörerische Wucht von Haiyan eine unmittelbare Folge des Klimawandels ist. Noch weniger aber kann das Gegenteil bewiesen werden: Dass die Häufigkeit und die Schwere der vielen extremen Wetterereignisse in jüngerer Zeit nicht auf den Klimawandel zurückgehen.
Der Tropensturm entfaltete seine zerstörerische Wirkung kurz vor Beginn des Weltklimagipfels in Warschau und wurde dort zum Auftakt das beherrschende Gesprächsthema. Zum ersten Mal bei einer solchen Konferenz wurde eine solche Katastrophe als Folge verfehlter Klimapolitik ausbuchstabiert. Denn auch der jüngste Bericht der Weltklimarats IPCC stellt die Fragen um den Klimawandel als nunmehr mit Sicherheit geklärt so dar: Der Mensch ist für den Anstieg des Weltklimas voll verantwortlich. Ließe sich der Temperaturanstieg bis zur Jahrhundertwende auf zwei Grad Celsius begrenzen, so könnte das die größten Risiken des Klimawandels abwenden. Derzeit wird ein Anstieg von 3,5 Grad prognostiziert. Die Folgen sind unter anderem eine dramatische Erhöhung des Meeresspiegels und die Erwärmung und Versauerung der Ozeane. Ebenso ist der Anstieg von Extremwetterereignissen wie Haiyan eine Auswirkung.
Y
eb Sanio, der philippinische Delegierte beim Klimagipfel, erregte weltweit Aufmerksamkeit, als er in seiner Rede ankündigte: »Aus Solidarität mit meinen Landsleuten, die um Nahrung ringen, werde ich während der Klimakonferenz so lange nichts essen, bis wir ein Ergebnis bei den Gesprächen hier erreicht haben.« Solidarität erfuhr er vor allem von den Delegierten aus anderen Ländern des Südens. Sie wissen, dass der Klimawandel vor allem im Norden produziert wird und die katastrophalen Folgen im Süden erlitten werden. Doch das hielt auch in Warschau AkteurInnen aus dem Norden nicht davon ab, sich als Retter, als »Club der Energiewende-Staaten« aufzublasen. Nichts ist unberechtigter als das. Der Weltklimarat stellt zwar die Energiewende als technisch und politisch machbar dar: Die EU könnte 2014 ambitionierte Ziele zur Treibhausgasreduktion, für Erneuerbare Energien und Energieeffizienz festlegen. Aber wenn es konkret wird, dann kneifen die maßgeblichen Staaten, wie zum Beispiel Deutschland. Die Große Koalition bremst jetzt erstmal das Tempo bei der Umstellung auf die Erneuerbaren Energien, sie will damit die Kosten »auf einem vertretbaren Niveau stabilisieren«. In Nordrhein-Westfalen will Ministerprä sidentin Hannelore Kraft keine Kohlegruben schließen. Umweltminister Peter Altmaier sabotiert derweil auf EUEbene strengere Abgasvorschriften für (deutsche) Automobile. Durch die Presse ging er mit Sätzen wie »Deutschland steht zu seinen Klimazielen.« Solange solche Heucheleien unwidersprochen durchgehen, solange gibt es nicht die geringste Berechtigung, sich über philippinische Behörden zu erheben, findet die redaktion
PS: Das iz3w sucht eine engagierte Person, die im Rahmen eines Bundesfreiwilligendienstes ein Jahr lang die Arbeit des iz3w in den Bereichen Redaktion und Bildungsarbeit unterstützen will. Näheres siehe www.iz3w.org
PPS: Wir bitten um freundliche Beachtung der beigelegten iz3w-Postkarte. Unabhängigkeit braucht Unterstützung!
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Foto: vivalafeminista.com 2012
Die indische Frauenrechtsbewegung ruft die ses Jahr am internationalen Tag zur Beseitigung jeglicher Gewalt gegen Frauen zu einem Nacht marsch auf. Es geht um das Recht auf Bewe gungsfreiheit und Sicherheit für Frauen im öf fentlichen Raum. Die diesjährige Kampagne tt
gegen Gewalt gegen Frauen steht insbesondere im Zeichen der landesweiten Proteste des letzten Jahres nach einer tödlich endenden Vergewal tigung in einem Bus in Delhi. Maya Subrahmanian, Soziologin aus Kerala, hebt die Rolle der Religion für das kulturelle Ver
ständnis des indischen Frauenbildes als Grund für die Gewalt hervor. Vibhurti Patel, Präsidentin der Organisation Women Power Connect, beur teilt in einem Interview die steigenden Gewalt raten in Indien auch als Folge ökonomischer und politischer Rahmenbedingungen.
Nicht still halten, nicht schweigen Frauenproteste in Indien von Maya Subrahmanian Die indische Kultur, so das dominante heit benötige und nicht eigenständig handeln erständnis der indischen Gesellschaft, resV oder entscheiden muss. pektiert die Frau als Mutter, Ehefrau, Tochter Diese entwürdigende frauenfeindliche Haloder Schwester. Dieses Frauenbild wird regeltung wird in Indien im Kontext von Religion, mäßig mit Zitaten aus heiligen Schriften beindividuellen Freiheitsrechten und Kultur konlegt. Um zu untermauern, dass Frauen von trovers diskutiert. Ähnlich kontrovers waren dann auch die Debatten über das Recht der ihren M ännern Schutz erhalten, zitieren in dische Kulturvertreter gerne die berühmte Frau auf Bewegungsfreiheit nach dem tödlich Maxime na stree swatantryamarhati (Frauen endenden Vergewaltigungsfall im Dezember letzten Jahres in Delhi. Denn schließlich bebedürfen keiner Freiheit) aus dem Sanskrit. Sie führen entsprechende legen jährlich über 24.000 Passagen aus den hinduis offiziell angezeigte Fälle von Gewalt gegen Frauen Vergewaltigungen, dass die tischen Textlehren Manusmrti an, dem »Gesetzesbuch findet in allen sozialen Realität der Frauen eine andes Manu«, das ‚angemesdere ist, als der Glaube es Schichten statt senes Verhalten’ regelt und nahelegt. Laut UNFPRA harechtfertigende Texte zu ben zwei Drittel aller Männer dem inzwischen gesetzlich verbotenen Kasim Alter zwischen 15 und 49 Jahren der Parttenwesen beinhaltet. Die Verse erklären, dass nerin oder Ehefrau mindestens einmal Gewalt die Frau in ihrer Kindheit Schutz vom Vater angetan. Nach der Internationalen Kommisgenießt, in der Jugendzeit vom Ehemann und sion für Genderfragen und Gleichberechtiin den reifen Jahren vom Sohn. Daraus wird gung hat einer von fünf Männern eine Frau zu sexuellen Handlungen gezwungen. geschlussfolgert, dass eine Frau keinerlei Freitt
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Nachdem am späten Abend des 16. Dezember 2012 in Delhi eine 23-jährige Studentin im Beisein ihres Partners in einem Bus von einer sechsköpfigen Gang mehrfach vergewaltigt wurde und an den Folgen starb, folgten landesweite Proteste. Auch religiöse Überzeugungen konnten den Protest dieses Mal nicht unter dem Teppich halten. Noch 2009 waren Studentinnen von bewaffneten Hindufundamentalisten in Mangalore in einer Kneipe attackiert worden, mit der Begründung, Frauen, die sich mit Freunden öffentlich zeigten und trinken, würden die Kultur verderben. Trotz kritischer TV-Berichterstattung gab es kaum öffentliche Proteste, von wenigen Frauen rechtlerinnen in Mangalore abgesehen. Damit war erneut klar: Die Religion sieht keine individuellen Freiheitsrechte für die Frau vor, und daran hält sich die Mehrheit. Frauen antworteten mit der Pink Chaddi Campaign, einer Briefaktion gegen diese frauenfeindlichen Statements: Am Valentinstag schickten über 500 Inderinnen pinkfarbene
Indien gebrauchte Slips in das Büro von Muthalik, dem Chef der hinduistischen Rashtriya Hindu Sena. Auch dem Fall in Delhi folgten gehässige fundamentalistische Kommentare, die ermordete Studentin selbst wurde aufgrund nichtkonformen Verhaltens und Kleidens für schuldig erklärt. Dennoch kam es zu den wohl größten landesweiten Protesten von Frauen und Männern aller sozialen Schichten. Es gibt jedoch unzählige vergleichbar brutale Fälle in der Vergangenheit, ohne dass ein öffentlicher Aufschrei folgte, weil die Gewalttaten nicht im modernen Delhi in einem Zusammenhang verbrochen wurden, mit dem sich viele StädterInnen identifizieren können, sondern im ländlichen Milieu der Armen. Außerhalb der Städte gab es bisher kaum Proteste in Form einer breiten Bewegung – von einigen Aktionen progressiver und feministischer Gruppen einmal abgesehen. Dabei findet Gewalt gegen Frauen überall statt: innerhalb wie außerhalb der Familien und in allen sozialen Schichten. Bis vor einem Jahrzehnt wurde häusliche Gewalt noch nicht einmal als solche anerkannt. Inzwischen wer-
den stapelweise Anzeigen erstattet. Dennoch sind Schuldsprüche selten und das Strafmaß meist gering, nicht zuletzt, weil einflussreiche Akteure das Rechtssystem untergraben. Oft werden die Fälle über Jahre hingezogen und den Opfern keinerlei Entschädigung gewährt. Feministische Kreise dekonstruieren seit rund drei Jahrzehnten das homogene Konzept der ‚indischen Frau’, indem soziale und ethnische Kategorien mit bedacht, Geschlechterrollen kritisiert sowie sexuelle Identitätskonzepte debattiert werden. Doch das traditionelle religiöse und kulturelle Verständnis der Frauenrolle ist in der indischen Gesellschaft sehr wirkungsmächtig, verankert mit nachhaltigen patriarchalen Strukturen und starken religiösen Leitfiguren. Auch reagieren die politischen Parteien auf frauenpolitische Belange extrem patriarchal. Die eigene Agenda wird gewahrt und die ‚maskuline Würde’ bewahrt. Zwar garantiert die moderne Verfassung gleiche Rechte für Frauen und Männer, dennoch steigt die Gewalt gegen Frauen. Die heftige Reaktion der Öffentlichkeit letztes Jahr wäre sicher anders ausgefallen, hätte
sich die Vergewaltigung nicht in der Großstadt Delhi ereignet. Die schnelle Verurteilung sowie das Todesurteil gegen einen Täter ist eine Folge der Proteste. Dem schnell gefällten Urteil stehen jedoch tausende anhängige Prozesse gegenüber und abertausende von Fällen, in denen es nie zu einer Verurteilung kam. Historisch gesehen ist die kulturelle Prägung von Frauen, still zu halten und zu schweigen. Ihre Bitterkeit laut aussprechen, ist für sie nach wie vor eine riskante Angelegenheit. Die Einforderung einer umgehenden und konsequenten Rechtsprechung bei den angeklagten Fällen im institutionellen Rahmen ist somit die derzeit einzige Möglichkeit, gegen die in Indien starken patriarchalen und religiösen Systeme anzukommen.
Maya Subrahmanian veröffentlichte in Kerala drei Bücher mit Gedichten und Artikeln zu feministischen Konzepten und Frauenrechtsfragen. Sie forschte zuletzt mit dem Stipendiat Erasmus Mundus an der Universität Freiburg. Übersetzung: Martina Backes tt
»Das dominante Konzept von Sexualität in Frage stellen!« iz3w: Im vergangenen Jahr wurden in Indien landesweite Protestcamps gegen Gewalt an Frauen organisiert, nachdem eine Studentin vergewaltigt wurde. Wie kam es dazu?
Vibhurti Patel: Immer mehr gut ausgebildete Frauen tragen heute mit ihrem Erwerb zum Unterhalt bei. Auch ist ihr Beitrag für das Wachstum der indischen Wirtschaftskraft enorm. Mit der 23jährigen Jyoti Singh Pandey, die abends in einem Kleinbus vergewaltigt wurde, haben sich in den urbanen Zentren sofort Millionen von Frauen identifiziert. Bisher war die Kriminalisierung des Opfers die gängige Masche der Polizei. Frauen, die sich in der Öffentlichkeit zeigen und feiern, werden harsch verurteilt, doch die Jugend lebt so. Viele gut ausgebildete Frauen der Mittelschicht verdienen oft besser als die Männer in der Familie, viele junge Männer sind ohne Ausbildung und Job. Ihre Wut darüber lassen sie an den Frauen aus. Sogar der öffentliche Ruf nach Todesstrafe wur de laut, und am Ende auch bedient… tt Ja, tatsächlich hat die Mittelklasse mit ihrer Forderung nach einem Todesurteil oder der oft geforderten chemischen Kastration extrem moralisch reagiert. Die feministische Bewegung in Indien hat beide Strafformen immer schon verurteilt. Stattdessen müssen wir das gesellschaftlich dominante Konzept von Sexu alität in Frage stellen. Dagegen zeigt die Erfah
rung aus den 48 Ländern, in denen die Todes strafe verübt wird, dass damit die Gewalt gegen Frauen nicht abgenommen hat. Was fordern feministische Organisationen, und was wird gegen die Gewalt unternommen? tt Derzeit beobachten im Rahmen der Kampagne ‚Sichere Stadt’ in Mumbai wie auch in anderen Städten hunderte von Freiwilligen Plätze im öffentlichen Raum, Bus- und Metrostationen, Spielplätze, Parks, Schulhöfe und den Campus der Universität. Mädchen und junge Frauen werden aufgefordert, sich in Gruppen zu bewegen oder sich gegenseitig am Arbeitsplatz zu schützen. Nur: In Indien arbeiten 49 Prozent aller Frauen im informellen Sektor. Sie genießen also nicht den rechtlichen Schutz, der mit dem Gesetz gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gewährt werden soll. Gewalt gegen Frauen in Indien wird aus einer eurozentrischen Sicht gerne in die Dichotomie einer modernen, zivilisierten gegenüber einer archaischen Gesellschaft eingebettet. tt Nun, die Mehrzahl der Vergewaltigungen in Indien kann von der neoliberalen Politik nicht getrennt werden. Viele Menschen hierzulande verlieren ihren Zugang zu Land. Dalit und andere müssen Sonderexportproduktionen oder Freihandelszonen weichen. Gegen Frauen, die Widerstand leisten, wird Vergewaltigung als Waffe angewendet. Interessanterweise sind die Vergewaltigungsraten in den
Bundesstaaten mit neoliberalen Megaprojekten besonders hoch. Im Bundesstaat Maharaschdra liegen allein 4.000 registrierte Vergewaltigungsfälle gegen Dalit vor, die alle mit Wasserkonflikten im Zusammenhang stehen. Eine hohe Vergewaltigungsrate liegt ebenfalls in Kaschmir vor, dort trägt die indische Armee seit 50 Jahren große Mitschuld. Wie kann internationale Solidarität aussehen? tt Die Gewalt gegen die Studentin Singh Pandey ist Ausdruck eines kulturellen Backlashs. In der asiatischen Wirtschaft lässt sich die Arbeitskraft von Frauen extrem gut dis ziplinieren, denn Frauen fordern nicht. Die industrielle Arbeitskraft wird heute zu zwei Dritteln von jungen Frauen ohne Sekundarschulbildung bereitgestellt. Die übrigen Frauen arbeiten im informellen Sektor, während der Vater, die Brüder, der Onkel arbeitslos zu Hause sitzen. Die Rolle des Mannes als Ernährer wird in Frage gestellt. Auch das sind Gründe für steigende häusliche Gewalt. Wir müssen das Thema Gewalt gegen Frauen überall einbringen.
Vibhurti Patel lehrt Sozioökonomie und Gender Studies an der Frauenuniversität in Mumbai und ist Präsidentin von Women Power Connect. Sie schreibt u.a. auf feminists india.com. Das Interview führte und übersetzte aus dem Englischen Martina Backes. tt
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Brasilicum-Sonderausgabe + iz3w Dossier
Eigentor Brasilien – vom Elend eines Global Players
Titelmotiv: Mídia NINJA
Inhalt D· 2
Editorial
D · 3 Traum oder Alptraum? Brasiliens Metamorphose vom sozialen Vorzeigeland zum Polizeistaat von Verena Glass D · 6
»Das Neue ist immer schwierig« Interview mit Eduardo Pereira über die Proteste in Brasilien
D · 8
Alles Ninja, oder was? Brasiliens alternative Medienlandschaft im Umbruch von Nils Brock
D · 10
Grobes Foulspiel Die WM unterhöhlt die Rechte der Stadtbevölkerung von Adrian Mengay und Maike Pricelius
D · 12
»40 Jahre sind genug!« Deutsch-brasilianische Kooperation zwischen Solidarität und Atomgeschäften von Christian Russau
D · 14
Schönfärbendes Weißwaschen Das postkoloniale Brasilien ist keineswegs eine egalitäre Regenbogennation von Sarah Lempp
D · 18
Latinos, das sind die anderen Brasilien hat ein kompliziertes Verhältnis zu Lateinamerika von Dawid Danilo Bartelt
D· 20
Konflikte exportieren Das Agrarprojekt ProSavana in Mosambik wiederholt brasilianische Fehlentwicklungen von Fátima Mello
D · 21
Dumping mit Hühnerfleisch Brasilien bedrängt Agrarmärkte im südlichen Afrika von Stefan und Andreas Brocza
D· 22
Brasilien. Land des Fußballs Debatten über einen identitätsstiftenden Mythos von Thomas Fatheuer
D· 25
Einfach Spitze! Eine kleine Polemik über das Bedürfnis nach Brasilienbildern von Simon Brüggemann
D · 26
Luiz Ruffatos Romane über die Marginalisierten von Anne Reyers und Judith Felizita Säger
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Zeitschriften · Bücher · Multimedia
Eigentor Brasilien – vom Elend eines Global Players »Was bedeutet es, Schriftsteller zu sein in einem Land in der Peripherie der Welt, einem Ort, wo der Begriff Raubtierkapitalismus ganz bestimmt keine Metapher ist?« Mit diesen Worten begann der brasilianische Autor Luiz Ruffato seine kritische Festrede zur Eröffnung der Buchmesse in Frankfurt. Dort sollte das Gastland Brasilien gefeiert werden, jenes schon vom Schriftsteller Stefan Zweig beschworene »Land der Zukunft«. Ein Land, in dem sich laut Ruffato der Mythos von Toleranz und einer friedlichen ‚Vermischung der Rassen’ trotz tief eingeschriebener kolonialer Gewalt immer noch hält. Ein Land, in dem Wohnen, Bildung, Gesundheit und Erholung nach wie vor ein Privileg einer Minderheit sind, das gleichzeitig aber Unsummen für sportliche Großereignisse verpulvert.
Megaevents wie die Männerfußball-WM 2014 und Olympia 2016 ins Land holte, unterstrich es seinen Anspruch, künftig als Global Player im Reigen der Supermächte mitzuspielen. Doch hinter den Erfolgsmeldungen vom Aufstieg Brasiliens gerieten dessen soziale Kosten aus dem Blick. Unser Dossier beleuchtet Brasiliens Weg in seinen verschiedenen Facetten und will dazu motivieren, einen Blick hinter die Kulissen der glamourösen Großevents zu werfen. Herausgeben wird es von KoBra (Kooperation Brasilien e.V.) und dem iz3w (informations zentrum 3. welt). Die beiden organisatorisch unabhängigen Informationsprojekte eint nicht nur die gemeinsame Nutzung eines Hinterhauses in der Freiburger Kronenstraße, sondern auch ein von Luiz Ruffato formulierter Anspruch: »Die Perpetuierung von Unwissen als Herrschaftsinstrument, Markenzeichen jener Elite, die bis vor ganz Kurzem noch an der Macht war, lässt sich eindämmen.« Unsere AutorInnen gehen der Frage nach, wie Brasilien sich in diesen Tagen verändert. Sie zeigen Ausschnitte aus den gut vernetzten brasilianischen sozialen Bewegungen und informieren über die Beweggründe für deren Proteste. Wir haben uns erlaubt, mit den großen Gegensätzen Brasiliens auch visuell zu spielen: Auf der einen Seite stehen die Protestbilder der Medienguerilla-Gruppe Mídia Ninja. Auf der anderen Seite zeigen wir Hochglanzmotive, wie sie inner- und außerhalb Brasiliens kursieren, und die ein beschönigendes Brasilienbild zeichnen. die redaktion
Doch von den gewaltigen sozialen Spaltungen wollte bis vor kurzem weder die fußballbesoffene Weltöffentlichkeit noch der politische Mainstream Brasiliens etwas wissen. Das änderte sich erst, als im Juni 2013 lang angestauter Unmut aufbrach und bei landesweiten Massenprotesten während des Confederation Cups kritische Stimmen laut wurden. Hunderttausende gingen auf die Straßen, sie forderten mehr Ausgaben für Bildung und das Gesundheitssystem, ein bezahlbares öffentliches Nahverkehrssystem und die Bekämpfung der Korruption. All das geschieht in einem Land, das in den letzten Jahren zur sechstgrößten Wirtschaftsnation der Welt avancierte und derzeit riesige Staudammprojekte im Amazonas umsetzt. Indem Brasilien
Das Dossier wurde mit Mitteln des BMZ gefördert. Herzlichen Dank!
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Foto: iz3w-Archiv
Traum oder Alptraum? Brasiliens Metamorphose vom sozialen Vorzeigeland zum Polizeistaat Mit einer neoliberalen Wirtschafts- und einer sozialdemokratischen Sozial politik gelang es Brasiliens Arbeiterpartei für einige Jahre, große Zustimmung zu erzielen. Doch dieser Spagat musste spätestens dann schief gehen, als die PräsidentInnen Lula und Rousseff immer mehr gegen die Interessen der Mehrheit regierten. Die Folge: Massenhafte Proteste, die im WM-Jahr 2014 nicht abreißen werden. von Verena Glass Mit dem Schritt ins neue Jahrhundert setzte in Brasilien ein Wirtschaftsboom ein, wie ihn das Land nie zuvor erlebt hatte. Dieser Aufschwung machte sich besonders 2001 bemerkbar: In diesem Jahr zählte der britische Ökonom Jim O’Neill, Chefanalyst beim Finanzdienstleister Goldman Sachs, Brasilien zu jener auserwählten Gruppe von Ländern, die seiner Meinung nach alle Voraussetzungen erfüllten, um in den kommenden fünfzig Jahren die bisherigen Supermächte zu übertrumpfen: Brasilien, Russland, Indien und China. Diese BRIC-Gruppe begann 2006 im Rahmen der UN, verstärkt zu kooperieren. 2011 trat Südafrika den nunmehr so genannten BRICSLändern bei. Zusammen erwirtschaften sie derzeit bereits 21 Prozent des weltweiten BIP, und sie verzeichnen die höchsten Wachstumsraten weltweit. Aus der Weltwirtschaftskrise 2008/09 war Brasilien einigermaßen unbeschadet hervor-
gegangen. 2011 beflügelte eine weitere Nachricht das Ego des Landes: Auch wenn die Wirtschaftsleistung zu stagnieren begann, hatte sein BIP das von Großbritannien übertroffen und Brasilien auf Platz sechs der größten Volkswirtschaften in der Welt befördert. Weitere Faktoren bestärkten auch den Rest der Welt in der Annahme, dass Brasilien auf dem richtigen Weg sei: 2010 war die Arbeitslosenquote mit 6,7 Prozent eine der niedrigsten der letzten Jahre, und die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT), Ikone der Linken in Lateinamerika, blieb seit 2003 auch stabil an der Regierung. Die PT-Regierung hatte somit lange Zeit nichts zu befürchten. 2010 schied der damalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva mit einem Weltrekord an Beliebtheit aus dem Amt – in Umfragen erzielte er 87 Prozent Zustimmung. Wohlfahrtsprogramme wie »Bolsa Família« hatten Millionen Menschen aus extremer Armut
D·3
verholfen. Ein schlagender Beweis für die Macht des vormaligen Gewerkschafters Lula war auch die Wahl der ehemaligen Präsidialamtschefin Dilma Rousseff zur Präsidentin. Trotz ihres umstrittenen, harten Regierungsstils, der sich sehr von dem ihres Mentors Lula abhebt, gab es für Rousseff bis Frühjahr 2013 ebenfalls keinen Anlass, sich zu beklagen. Im März 2012 betrugen ihre Zustimmungswerte 72 Prozent, im März 2013 waren sie auf 79 Prozent angestiegen. Drei Monate später jedoch wendete sich das Blatt.
Vom Wunderland zum Schlachtfeld… Mitte Juni begann eine Gruppe von jungen Menschen, welche die Fahrpreiserhöhungen bei öffentlichen Transportmitteln in São P aulo ablehnte, zu protestieren. Die gewaltvolle Repression, mit der die Polizei auf die Demonstrierenden reagierte, scheint einen Riss im Mauerwerk eines Damms aufgetan zu haben, hinter dem sich ein gewaltiges Unbehagen angestaut hatte: In den folgenden Wochen gingen die Menschen zu Hunderttausenden auf die Straße und es sollten so viele werden wie nie zuvor. Die Ablehnung der Fahrpreiserhöhung war bald nicht mehr die zentrale Forderung der Protestierenden, auch wenn sich Gouverneure und Bürgermeister sowohl von der Regierungskoalition als
Brasilien auch der Opposition gezwungen sahen, die Erhöhung zurückzunehmen. Von einem Tag auf den anderen hatte sich das Wonderland Brazil in ein »Schlachtfeld« verwandelt. Gekämpft wurde auf ihm gegen Korruption, Missachtung von Menschenrechten, Angriffe auf soziale Rechte sowie auf die Rechte von Frauen, Homosexuellen und Indigenen. Ein Großteil der Kritik richtete sich an die Regierung und ihre Politik, beziehungsweise auf die Abwesenheit von sozialer Politik. Von Juni auf Juli sanken die Zustimmungswerte von Präsidentin Rousseff auf 31 Prozent ab. Der große Wunsch nach Veränderung der Machtstrukturen, die durch die vorhergehenden Regierungen zutiefst neoliberal geprägt waren, hatte der PT 2003 zur Präsidentschaft verholfen. Doch es dauerte nicht lange, bis die PT-Regierung durchblicken ließ, dass sie im Namen dessen, was sie »Regierbarkeit« nannte, keine radikalen Brüche vorsah. Der konservative Kurs der PT offenbarte sich zunächst auf dem Land. Bereits in Lulas erstem Jahr öffnete die Regierung auf Druck der parlamentarischen Interessenvertreter des einflussreichen Agrobusiness Brasilien für die Gentechnik. Einem Gesetz, durch das Brasilien frei von genetisch veränderten Organismen bleiben sollte, erteilte sie eine Absage. Für UmweltschützerInnen, Kleinbauern und -bäuerinnen, die auf progressive Lösungen für die sozio-ökologischen Probleme setzten, war dies das erste Signal dafür, dass die Aussichten nicht so vielversprechend waren, wie sie gehofft hatten. Da die Exporte von Soft Commodities (d.h. börsengehandelte Agrarrohstoffe) wie Soja, Mais oder Fleisch erheblich zur Steigerung des BIP beitrugen, betrachtete Lula die Agrarindustrie als Prestigeobjekt. Begeistert vom Boom der extensiven Land- und Viehwirtschaft, ging der damalige Präsident noch weiter und schuf großzügig Anreize, um die Zucker- und AlkoholBranche auszubauen. Die Oligarchen der Zuckerrohr-Monokulturen nannte er »Helden«. Lulas Ziel war, Brasilien zum weltweit führenden Hersteller von Agrarrohstoffen zu machen.
… von Landreform zur Monokultur Gleichzeitig investierte die Regierung umfangreich in Infrastrukturprojekte, die den Primärsektor vorantreiben sollten. Für die Ausbeutung und den Export von Rohstoffen errichtete sie Fern- und Wasserstraßen, Wasserkraftwerke, Häfen und andere Großbauwerke. Dafür wurde ein exklusives Programm geschaffen: Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz (Programa de Aceleração do Crescimento, PAC), das besonders auf das Amazonasgebiet fokussiert ist. Um diese neue nationale Entwicklungsstrategie zu ermöglichen, steht der Regierung die einflussreiche Nationalbank für Wirtschaftliche und Soziale Entwicklung (Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social, BNDES) zur Seite. In Lulas ersten Regierungsjahren KoBra / iz3w
steckte die BNDES Milliarden Reais in den in Lulas zweiter Amtszeit und unter Dilma Zucker- und Alkoholsektor, in die Pinien- und Rousseff solide Strategiebündnisse geworden. Durch die hohen Zustimmungswerte, die die Eukalyptus-Monokulturen, in die riesigen KühlSozialprogramme der Regierung eingebracht häuser, ins Minengeschäft und in den Infrahatten, fühlte sich diese sehr selbstsicher und strukturausbau. Auch den Bau des umstrittenen Belo-Monte-Wasserkraftwerks, von der ließ politische Vorbehalte beiseite. Sie koalierte Militärdiktatur im Herzen des Amazonas-Remit Parteien und PolitikerInnen der traditionelgenwaldes in den 1970er Jahren geplant, len Rechten und verleibte sich deren Programm jedoch aufgrund von Protesten gegen die ein, um regional und bundesweit mehr und Umweltfolgen und wegen Geldmangel wieder mehr Wahlerfolge zu feiern. eingestellt, nahm die PT-Regierung wieder Die Allianz der PT mit den Konservativen auf. Zusätzlich plant sie im Amazonasgebiet sowie mit Evangelikalen führte nicht nur bei weitere 60 Bauprojekte dieser Art. der Umwelt- und Sozialpolitik zu Rückschritten, Der Grundgedanke der Regierung für ihre sondern hatte auch auf dem Gebiet der MenPolitik im ländlichen Raum war, dass der Ausschenrechte eine reaktionäre Politik von neuer bau der Agrarindustrie Hand in Hand mit der Dimension zur Folge. Beispielsweise sicherte Förderung der landwirtschaftlichen Familiensich die christlich-soziale Partei (Partido Social betriebe, die 70 Prozent der in Brasilien konCristão, PSC) unter massiven Protesten von sumierten Nahrungsmittel Abgeordneten die Mehrproduzieren, gehen könnte. heit im einst von der PT Die Regierung reagierte Neben den Milliarden Reais, dominierten parlamenta die sie den Großbetrieben rischen Ausschuss für Menauf die Proteste denkbar zur Verfügung stellte, setzte schenrechte und Minderungeschickt die Regierung auch zunehheiten. Unter dem Vorsitz mend Förderprogramme für des rassistischen und hoFamilienbetriebe auf oder subventionierte mophoben Pastors Marco Feliciano verabschiediese. In Bezug auf die Landbesitzverhältnisse dete der Ausschuss im Juni 2013 einen Gesetänderte sich jedoch kaum etwas, denn die zesentwurf zur so genannten »Heilung der Regierung bremste Prozesse der demokratiSchwulen« (cura gay), der bei Homosexualität schen Landverteilung, wie etwa die Landreform medizinische Behandlung vorsehen soll. Felioder die Ausweisung von Gebieten zugunsten ciano und die Evangelikalen wollen weitere von Indigenen und Quilombo (die Gemeinstrittige Maßnahmen durchsetzen: So soll schaft der Nachfahren von SklavInnen). In der Frauen nach einer Vergewaltigung die Behandzweiten Legislaturperiode Lulas und unter lung im Krankenhaus verweigert werden, daDilma Rousseff wurden die Landlosen, Kleinmit sie nicht abtreiben oder die »Pille danach« bauern und traditionellen Gemeinschaften, einnehmen. deren Lebensraum von Wasserkraftwerken, Rohstoffabbau und anderen Nutzungen der Plötzlich brach Unbehagen hervor ländlichen Peripherie bedroht wird, zwar mit Sozialprogrammen bedacht. Doch hielt man Es wäre jedoch falsch, die sozialen Rückschritsie immer mehr von politischen Entscheidungste der letzten Jahre nur dem Druck der Rechten zuzuschreiben, denn auch die Regierung prozessen fern und orientierte sich stattdessen an den Interessen des Agrarbusiness, die durch setzt weiterhin große Bau- und WirtschaftsproPlatzhalter im Kongress vertreten wurden. jekte um, ungeachtet sozioökologischer Folgen Die Nähe der Regierung zur Agrarlobby für die Bevölkerung, entgegen menschenrechtführte zur Verabschiedung des Waldgesetzes licher Standards und sogar geltender Gesetze. »Código Florestal« 2012 und damit zu einer Nachdem sie sich gierig um Megaevents wie den Confed-Cup 2013, die Männer-Fußballgrotesken Verstümmelung der Umweltgesetzgebung. Das Gesetz ist jedoch nur ein Beispiel WM 2014 oder die Olympischen Sommerspievon vielen für die Veränderung der politischen le 2016 gerissen hatte, begann sie mit einer ganzen Reihe von Megabauprojekten in den Einstellungen innerhalb der PT, vergleicht man urbanen Zentren, die mit Steuergeldern über ihre Forderungen der 1990er Jahre mit ihrem aktuellen Programm. Zu nennen sind der Still die BNDES finanziert werden. Trotz der anhalstand bei der Landreform, die nie zuvor erlebtenden Vertreibung von Tausenden von Menten Angriffe auf die Rechte von Indigenen und schen in beschlagnahmten Gebieten, deren Quilombolas und auf ihre Gebiete, die Zunah Häuser Stadien, Parkplatzanlagen oder Shopping-Centern weichen sollen, und der damit me von Konflikten und Todesfällen in ländli chen Gebieten (wovon sowohl lokale Führungs verbundenen, zunehmenden Korruptions- und kräften als auch Indigene betroffen sind), die Schmiergeldskandale werden diese Projekte beschleunigte Freisetzung von Agrargiftstoffen weder eingestellt noch ihre Finanzierung verringert. bei der Landkonzentration, die Dominanz von In all den Städten, in denen gebaut wird, transgenen Pflanzen in Brasiliens Landwirtfanden punktuell Proteste gegen die Folgen schaft und vieles mehr. der Fußball-WM und der Olympischen Spiele Aus der taktischen Allianz mit konservativen statt. Allerdings waren es kurioserweise IndiFraktionen im Kongress, die der »Regierbarkeit« zu Beginn der Regierung Lulas dienten, waren gene und nicht die traditionellen sozialen
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»Lasst uns Brasilien bunter machen« (Werbeslogan von Coca Cola)
Bewegungen, von denen der Funke übersprang und die die Massenproteste entfachten. Im März dieses Jahres wurden in Rio de Janeiro dutzende Indigene aus dem alten Gebäude des Museu do Índio zwangsgeräumt. (Hier wurde einst das Museum zur Geschichte der Indigenen in Brasilien gegründet und bis Ende der 1970er Jahre beherbergt; Anm. d. Ü.). Das Gebäude soll wegen der Bauarbeiten am nahegelegenen, symbolträchtigen Maracanã-Stadion abgerissen werden. Unterstützt von Studierenden, führten die MuseumsBewohnerInnen die ersten Protestaktionen in diesem Jahr durch, beantwortet von gewaltvoller Repression der Polizei. Im April besetzten Gruppen von Indigenen aus ganz Brasilien den Kongress und umringten den Palácio do Planalto, den Sitz der Regierung. Sie forderten die Aufhebung zahl reicher Gesetzesentwürfe, die sich gegen ihre durch die Verfassung geschützten Rechte wenden, wie unter anderem jenen, die es den Minenbetreibern und der Agrarindustrie ermöglicht, in die bislang geschützten Gebiete der Indigenen einzudringen. Einen Monat darauf fanden erneut Proteste gegen das Wasserkraftwerk Belo Monte statt. Empört darüber, dass die brasilianische Regierung nationale und internationale Gesetzgebungen missachtet, laut denen die Indigenen im Falle von Bauprojekten, die ihre Territorien betreffen, angehört werden müssen, besetzten sie die Baustelle des Wasserkraftwerks und zogen anschließend nach Brasília, wo sie weiter demonstrierten. Im Juni schließlich brachen bundesweit Proteste aus. Die Protestwelle erfasste ganz Brasilien und offenbarte eine dunkle Seite der Entwicklungsstrategie der Regierung. Während die Arbeiterpartei einst Kämpfe für strukturelle Ver änderungen angeführt hatte, trat sie nun ethische und soziale Errungenschaften mit
Foto: Mídia NINJA
Füßen, für die sie sich zuvor selbst eingesetzt hatte. Das fiel ihr jetzt auf die Füße. Im ersten Moment überrascht, reagierten die Regierung und ihre Koalitionspartner denkbar ungeschickt. Um die Projekte im Amazonasgebiet durchzusetzen und die Proteste der Indigenen zu beschwichtigen, setzte die Präsidentin erneut eine militärische Sondereinheit ein. Es handelt sich um die direkt der Exekutive unterstehende Nationale Streitkraft für Sicherheit (Força Nacional de Segurança, FNS), die von vielen JuristInnen als verfassungswidrig eingeschätzt wird. Sie soll den Bau der Wasserkraftwerke am Belo Monte und am TapajósFluss und damit die beteiligten Konzerne beschützen. Auch gegen die Proteste in den Städten, bei denen die Demonstrierenden unter anderem die Verbesserung des Gesundheits- und Versicherungssystems sowie des Bildungs- und Transportwesens forderten, setzte die Regierung auf brutale Polizeigewalt und Repression.
Eine unvorbereitete Präsidentin Da die Proteste kein Ende nahmen und sie zunehmend von der Öffentlichkeit unterstützt wurden, beschloss die Regierung, ihre Taktik zu ändern, und sprach mit verschiedenen organisierten Teilen der Zivilgesellschaft. Präsidentin Rousseff traf sich persönlich mit der Bewegung für öffentlichen Transport zum Nulltarif (Movimento Passe Livre, MPL), die mit den Demonstrationen gegen die Fahrpreiserhöhung begonnen hatte, und musste am Tag darauf in der Presse lesen, dass die Jugendlichen bei ihrem Gespräch mit ihr den Eindruck hatten, dass die Präsidentin »un vorbereitet« gewesen sei, um über urbane Mobilität zu sprechen. Rousseff empfing auch Gewerkschaften und die Bewegung der Landlosen, ging aber in keiner Weise auf deren
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Forderungen ein. Auch Indigene lud sie ein, doch im selben Moment, in dem sie mit ihnen in ihrem Amtszimmer sprach, versuchte der Präsident der Abgeordnetenkammer mit Unterstützung der PT-Fraktion einen Verfahrensvorschlag durchzusetzen, der eine Vielzahl von Rechten der indigenen Bevölkerung auf ihre Gebiete annulliert hätte. Unmittelbares Ergebnis des so genannten »brasilianischen Frühlings« war der Absturz von Rousseffs Popularitätswerten. Ob die Regierung ihre Politik überdenken wird oder nicht, bleibt eine offene Frage. Die Aussichten für Dilma Rousseff, bei den Wahlen 2014 wieder die Präsidentschaft zu erlangen, wurden deutlich getrübt. Nicht nur wegen des Unmuts der Bevölkerung auf den Straßen oder der Menschen, die von den Megaprojekten betroffen sind, sondern auch wegen der erstarkenden Rechten. Sie nutzte die Gunst der Stunde trat und bei den Demonstrationen im Juni mit extrem konservativen Forderungen in Erscheinung. Die Rechten sind weder bereit, die von ihnen eroberten Räume abzugeben, noch strukturelle Reformen zuzulassen. Das geringe Wirtschaftswachstum der vergangenen zwei Jahre und die Inflation, die Brasilien zu letzt zugesetzt hat, missfallen den Unternehmern und Investoren. Sie dürften daher bei den kommenden Wahlen als scharfe Kritiker der PT-Regierung auftreten. Die Regierung hat in den vergangenen Jahren versucht, mit Gott und dem Teufel Bündnisse zu schmieden und bekommt nun die Rechnung dafür geliefert. Wer diese bezahlen wird, bleibt abzuwarten.
Verena Glass ist Journalistin, spezialisiert auf Umwelt- und Sozialthemen. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Anne-Kathrin Gläser tt
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