iz3w Magazin # 345

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Diskriminierung inklusive – von Barrieren und Behinderungen

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem: t Friedensbewegung im Senegal t Dschihadisten auf dem Vormarsch t Afropolitan im Roman …

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Nov./Dez. 2014 Ausgabe q 345 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


I n d ieser A u sga b e

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Dossier: Behinderung Titelmotiv: Flurina Rothenberger

D· 3 Editorial D· 4

Kein Defekt, sondern Benachteiligung Von einer inklusiven Gesellschaft sind Nord und Süd weit entfernt von Jana Offergeld

3 Editorial

D· 8

Politik und Ökonomie 4

D· 10

Dschihadismus I: Ein Kalifat in Borno

Dschihadismus II: Erfolg macht erfolgreich

D· 12

Der Islamische Staat errichtet in Irak und Syrien ein Terrorregime von Thomas Schmidinger

8

Tschad I: »Die Prioritäten haben sich verschoben«

Tschad II: Vom Outlaw zum Verbündeten Fidschi: Das Ende der CoupCulture?

D· 18

Mehr Ausgaben, weniger Einnahmen

Asexuelle Neutren Wie Geschlecht und Behinderung zusammenhängen von Nina Ewers zum Rode

Australien: »An einem absoluten Tiefpunkt angelangt« Interview über die australische Politik der Flüchtlingsabwehr

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Disability Studies: Wie wird Behinderung hergestellt? von Swantje Köbsell Die ökonomische Situation von Menschen mit Behinderung ist schwierig von Gabriele Weigt

Fidschis ethnischer Konflikt und die Demokratie von Eberhard Weber

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D· 14 Konstruiert

D· 16

von Helga Dickow

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Unantastbar und unerreicht Würde und Behinderung sind k/ein Gegensatz von Nati Radtke und Udo Sierck

Interview mit dem tschadischen Abgeordneten Béral Mkaikoubou über die Rolle des Tschad in der Sahel-Region

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Weder gottgefällig noch leistungskonform Behindertenfeindlichkeit hat verschiedene Hintergründe von Volker van der Locht

Die Dschihadisten von Boko Haram erobern Teile Nigerias von Norbert Rusch

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Zurück zur sozialen Wirklichkeit Was ist Behinderung? Kontroversen und ihr Hintergrund von Michael Zander

D· 20

Inklusion durch Radio Ein mexikanisches Programm von und für Menschen mit Behinderung von Mareike Lohr

Senegal: Zwischen den Fronten Frauen setzen sich für Frieden in der Casamance ein von Martina Backes

D· 22

Doppelt diskriminiert? Bei Migration und Behinderung überschneiden sich Benachteiligungen von Nausikaa Schirilla

D· 24

»Ich will einfach nur Mensch sein!« Interview mit dem pakistanischen Aktivisten Shafiq ur Rehman

D· 26

»Man darf nicht romantisieren« Interview mit Francis Müller über das Fotoprojekt »Minenopfer in Angola«

27 Rezensionen 30 Szene / Tagungen

Kultur und Debatte 17

Impressum

Vietnam »Noch ein langer Weg« Geschlechterdiskriminierung im sozialistischen Vietnam von Christopher Wimmer

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Literatur: Afrika verkomplizieren Mit »Afropolitan« ist eine neue Literaturgattung entstanden von Rosaly Magg

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Film: Postkoloniale Ikone »Concerning Violence« trivialisiert das Werk von Frantz Fanon von Udo Wolter

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Editor ia l

Lesbar bleiben, schicker werden Liebe LeserInnen, im letzten Editorial berichteten wir vom selbstbewussten Auftritt einer 44-jährigen, die Sie alle gut kennen: die iz3w . Sie hatte gegenüber der Redaktion darauf bestanden, eine anständige Schriftgröße spendiert zu bekommen. Und weil sie unserem Urteilsvermögen nicht recht traute, hatte sie verlangt, die LeserInnen in die Entscheidung über eine Reform des Layouts einzubeziehen.

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ie eingetroffenen Rückmeldungen ließen zunächst keine klare Tendenz erkennen. Eine Leserin schrieb: »Also wenn ihr die Frage nicht aufgeworfen hättet, wär’ alles ganz wunderbar gewesen, so wie die iz3w bisher ist.« Hmm, doch lieber alles so lassen wie es ist? Ein anderer Leser zweifelte ausdrücklich an der größeren Schrift: »Persönlich erkenne ich dafür jedenfalls keine Notwendigkeit.« Er wie auch weitere LeserInnen zeigten sich besorgt, es könnten künftig die Texte zu kurz kommen: »Ich bin weiterhin sehr angetan von der inhaltlichen und redak­ tionellen Qualität der iz3w, so dass es natürlich schade ist, den Umfang um zehn Prozent zu reduzieren.« Ein anderer ergänzte: »Und mehr Weißflächen brauche ich auch nicht.« Irgendwie freuten uns diese Bedenken, gründen sie doch auf der Sorge vor einem Niveauverlust – was ja voraussetzt, dass eines vorhanden ist. Andererseits saß uns aber die iz3w mit ihrer Forderung im Nacken. Und da wir sie sehr schätzen, wollten wir sie keinesfalls verärgern. Je mehr Feedback eintraf, desto größer wurde außerdem die Zustimmung: »Das Vorhaben, eine größere Schrift für die Zeitschrift zu wählen, ist sehr lobenswert!« Sogar aus der »Inhalte gehen vor«-Fraktion gab es Zuspruch: »Zwar gehöre ich zu den Leuten, denen Inhalte wichtiger sind als äußere Formen: Aber optische LESBARKEIT ist ein sehr pragmatisches Anliegen.« Ein anderer, der betonte, dass er die iz3w noch ohne Brille lese, gab uns auf den Weg: »Trotzdem fände ich es sehr angenehm, wenn Ihr nun den großen Sprung auf neun Punkt und zwei Spalten wagen würdet. Von mir aus gerne weiterhin in Stone – man muss ja nicht gleich mit allen Gewohnheiten brechen.« Und genau so kommt es nun: Die alte Schrift (Stone) wird beibehalten, aber moderat vergrößert. Zugunsten besseren Leseflusses stellen wir auf ein Zweispalten-Layout um. Für den kreativen Input und die partizipative Ent­ wicklung des neuen Layouts bedanken wir uns herzlich beim Grafik­büro magenta sowie bei allen LeserInnen, deren Feedback erkennen lässt, wie sehr ihnen die Zeitschrift am Herzen liegt. Nun können wir bestätigen, was ein Leser schrieb: »Ja, die Beschäftigung mit Schriftarten und -größen ist manchmal wichtig, immer zeitraubend und kann auch lustig sein.«

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ie »Inhalte vor«-Fraktion muss sich übrigens keine Sorgen machen. Bei unserem jüngsten Planungstag standen binnen kurzer Zeit derart viele gute Ideen für Themenschwerpunkte auf dem Flipchart, dass wir eine echte Qual der Wahl hatten. Das Jahr beginnt mit einem harten, leider notwendigen Thema: Folter und staatliche Gewalt. Laut Amnesty International wird in 141 Staaten gefoltert oder folterähnliche Gewalt ausgeübt. Ein Skandal, der nach mehr publizistischer Aufmerksamkeit verlangt. Ein unterbelichtetes Thema sind auch die prekären Arbeitsverhältnisse im Bereich Transport und Logistik. Dabei ist dieser Sektor eine Leitbranche der Globalisierung. Seine Bedeutung wächst mit jedem Hafenkilometer der Logistikzentren in Tsingtao oder Shanghai. Heiß debattiert ist die Frage, wie Sexarbeit einzuschätzen ist. Ist sie einer der schlimmsten Auswüchse patriarchaler Unterdrückungsverhältnisse und sollte ohne Wenn und Aber abgeschafft werden? Oder könnte sie eine ganz ‚normale’ bezahlte Dienstleistung sein, wenn denn die Rahmenbedingungen stimmen, wie gute Arbeitsbedingungen und fehlende Stigmatisierung? Am unteren Rande der Gesellschaften stehen meist auch jene Stigmatisierten, die den Müll anderer entsorgen. Im Umgang mit Müll und den Menschen, die mit ihm arbeiten (müssen), zeigt sich das Gesicht der herrschenden Gesellschaftsordnungen besonders deutlich, sowohl auf lokaler als auf globaler Ebene, sowohl in sozialer als auch in ökologischer Hinsicht. Separatismus ist ein Thema, das nicht nur wohlhabende Weltregionen wie Schottland umtreibt, sondern auch in vielen Ländern des Südens brisant ist. Beruht der Wunsch nach einem eigenen Staat auf legitimer Gegenwehr gegen Marginalisierung? Oder sind diese oftmals ethnonationalistischen Bestrebungen schlicht reaktionär? Nicht selten hat Ethnonationalismus eine rassistische Komponente. Den auch in vielen Ländern des Südens existenten Rassismus wollen wir jedoch eher indirekt thematisieren, indem wir dortige antirassistische Bewegungen, ihre Arbeit und ihr gesellschaftliches Umfeld vorstellen. Nicht fehlen bei den Themenschwerpunkten darf ein kulturelles Thema. Diesmal wird es um Spielfilme mit politischem Hintergrund gehen. Viele Produktionen aus allen Teilen der (Film-)Welt sind als politischer Kommentar zu verstehen: Mal explizit, mal eher angedeutet, um die Zensur zu umgehen oder um Plattitüden zu vermeiden. 2015 wird ein guter Jahrgang! Umso mehr, wenn Leser­ Innen ganz partizipativ zu AutorInnen werden und zu den genannten wie auch zu anderen Themen beitragen. Darauf freut sich schon die redaktion

P.S.: Ein leidiges Thema ist Geld. Am liebsten würden wir es zwar abschaffen, aber bevor der Mangel daran uns abschafft, bitten wir um kleine und große Spenden. Sie ermöglichen uns, nicht nur die Zeitschrift weiter zu entwickeln, sondern auch Radiosendungen zu erstellen, Bildungsarbeit zu leisten und Veranstaltungen zu organisieren. Wir bitten daher um freundliche Beachtung des beiliegenden Überweisungsträgers.

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Foto: iz3w-Archiv

»An einem absoluten Tiefpunkt angelangt« Interview über die australische Politik der Flüchtlingsabwehr Mit ihrer Ankündigung, die Einreise von Bootsflüchtlingen nicht länger zu dulden, wurde die neue konservative Regierung vor einem Jahr ins Amt gewählt. Till Schmidt sprach mit der Sozialwissenschaftlerin Antje Missbach über das australische Grenzregime.

iz3w: Wie hat sich die australische Asylpolitik seit dem Amtsantritt von

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Die Bootsflüchtlinge werden in Australien schon seit langem diffamiert. Im Wahlkampf war der wichtigste Wahlslogan von Tony Abbott »Stoppt die Boote«. Das wird nun rigoros umgesetzt. Inzwischen gelangen so gut wie keine Bootsflüchtlinge mehr auf australisches Gebiet. Insofern hat Abbott sein Wahlversprechen eingelöst. Das Bemerkenswerte am australischen Kontext ist, dass die massive Antiflüchtlingspolitik von beiden großen Volksparteien vertreten wird.

Premierminister Tony Abbott verändert? Antje Missbach: In den letzten zwölf Monaten wurde die FlüchtWodurch zeichnet sich der gegenwärtige australische Asyldiskurs aus? tt Die Liberal-Regierung wertet die Asylsuchenden wieder unverlingspolitik an Grenzschutz und Militär übergeben. Entsprechend blümt als »Illegale« ab. Die Vorgänger-Regierung hat eher die Figur nennt sich das Immigrationsministerium nun »Department of Immigration and Border Protection«. Ansonsdes »Menschenschmugglers« verteufelt, der ten wird jedoch vor allem die Asylpolitik Labor-Premierminister Kevin Rudd bezeich»Es ist zu befürchten, dass sich der sozialdemokratischen Labor-Vorgännete diese zum Beispiel als »Abschaum der gerregierungen weitergeführt. So eröffneandere Staaten am australischen Erde«. Außerdem gab es bei der Labor-Partei te bereits die Labor-Regierung 2012 die einen scheinheiligen Paternalismus: Man müsModell orientieren« Camps auf Manus Island (gehört zu Papua se die Asylsuchenden aufgrund der tödlichen Neuguinea) und Nauru (ein Inselstaat) Gefahren einer Überfahrt »vor ihren gefährwieder. Auf diesen abgelegenen Pazifikinseln werden seitdem von lichen Eigeninitiativen« schützen. Zwar ertrinken tatsächlich Menbehelfsmäßigen naurischen oder papuaneuguineischen Behörden schen auf dem Weg nach Australien, doch das ist »nur« ein sehr die Asylanträge von Bootsflüchtlingen bearbeitet. Die Camps gab kleiner Teil der Bootsflüchtlinge. Insofern war das ein rhetorischer es schon einmal von 2001 bis 2008. Labor schloss sie aufgrund Kniff. Scheinheilig ist diese Argumentation auch angesichts der oft massiver Kritik. Durch die Wiedereröffnung 2012 verlor die Laborlebensfeindlichen Situation in den Herkunfts- und Transitländern. Regierung bei vielen WählerInnen an Glaubwürdigkeit. Tony Abbott Auch islamfeindliche Argumentationsmuster werden in den von der konservativen Liberal Party hob im vergangenen Wahlkampf Asyldiskurs eingebaut, da die meisten Bootsflüchtlinge aus musliimmer wieder hervor: Mit der Schließung der Camps 2008 habe mischen Staaten wie Irak oder Afghanistan kommen. Zudem sind unter den Asylsuchenden viele TamilInnen aus Sri Lanka, wo bis Labor den Anstieg der einreisenden Bootsflüchtlinge verursacht. iz3w • November / Dezember 2014 q 345


Australien 2009 ein über 25 Jahre dauernder Bürgerkrieg herrschte. Ihnen wird pauschal unterstellt, ehemalige oder potentielle TerroristInnen zu sein. Darüber hinaus gelten die Asylsuchenden als »WirtschaftsmigrantInnen« – was im krassen Widerspruch zur Realität steht. So wurden letztlich zwischen 85 und 95 Prozent als Flüchtlinge, die es in den letzten Jahren nach Australien schafften, im Sinne der UN-Konvention anerkannt. Der Modus der Einreise prägt das australische Grenzregime entscheidend: Asylsuchende, die mit einem gültigen Studentenoder Touristenvisum per Flugzeug einreisen, spielen im Migrationsdiskurs keine Rolle. Menschen, die über Resettlement-Programme nach Australien kommen konnten, werden als die »guten Flüchtlinge« präsentiert, die geduldig warten, bis sie »an der Reihe« sind. Bemerkenswerterweise gibt es mindestens 50.000 Menschen, die sich – um in der Ausdrucksweise von Tony Abbott zu bleiben – »illegal« in Australien aufhalten: junge Leute, die nach ein oder zwei Jahren »Work and Travel« ohne gültiges Visum dableiben. Diese Art von Irregularität spielt aber keine Rolle im Diskurs. Die Aufmerksamkeit wird auf die derzeit knapp über 30.000 Bootsflüchtlinge gelenkt.

überzeugen konnte, anerkannte Flüchtlinge aus Manus und Nauru dauerhaft aufzunehmen. Aber Kambodscha ist eines der ärmsten Länder Südostasiens. Im Juli wurden zudem zwei Boote mit tamilischen Asylsuchenden aufgegriffen, die nicht über Indonesien kamen, sondern aus Südindien. Das erste Boot übergab man direkt an die srilankische Marine, womit die Asylsuchenden faktisch ihren Verfolgern ausgeliefert wurden. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen die UN-Flüchtlingskonvention. Die Asylsuchenden des zweiten Bootes wurden drei Wochen auf hoher See festgehalten und dann nach Nauru gebracht. Seit dem Regierungswechsel hat die australische Marine außerdem mindestens sechs Boote gewaltsam in indonesische Gewässer abgeschoben, ein klarer Bruch staatlicher Souveränität. Die Grenzverletzungen seien »aus Versehen« passiert. Inzwischen setzt die Marine spezielle »Rettungsboote« ein, wenn sie Boote mit Asylsuchenden aufgreift und aus den australischen Hoheitsgewässern »entfernt«. Die Asylsuchenden werden in diese »Rettungsboote« gesetzt und bis vor die indonesischen Gewässer gebracht – zum Missfallen der dortigen Regierung. Derzeit halten sich mindestens 10.000 Asylsuchende in Indonesien auf. In den Nachbarländern Malaysia und Thailand sind es noch viel mehr Menschen. Die Länder der Region sind nicht gerade erpicht darauf, zu Resettlement-Staaten für Australien zu werden, das seine Grenzen dicht gemacht hat. Nach wie vor fließen australische Gelder nach Indonesien, um Asylsuchende davon abzuhalten, sich per Boot auf den Weg zu machen. Vor allem die indonesischen Immigration Detention Centres, wo Asylsuchende eingesperrt werden, beruhen auf australischem Geld (siehe iz3w 341).

Wie ist die Situation in den Camps der Nachbarländer Manus / Papua Neuguinea und Nauru? tt Die Situation für Asylsuchende ist auf beiden Inseln ausgesprochen prekär. Sie leiden an einem Mangel an Sicherheit, völlig unzureichender medizinischer Betreuung und fehlenden Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt. Es gibt dort keine staatlichen Institutionen, die Asylanträge redlich prüfen könnten. So befinden sich die Leute dort in einem Schwebezustand. Für Journalist­ Innen ist der Zugang zu den Camps sehr schwierig. Allein Nauru hat im Zuge der Wiedereröffnung des Lagers Visagebühren von fast 8.000 australischen Dollar eingeführt. Doch gelegentlich dringen Informationen heraus. Wie äußert sich die australische ÖffentIn den Camps gibt es schlimme Gewalt gegen die Asyllichkeit zur Asylpolitik ihrer Regierung? t Bis auf einige Ausnahmen zeigt suchenden wie auch unter ihnen. Besonders problematisch ist die verbreitete Praxis, alleinstehende Männer sich die australische Bevölkerung mit zusammen mit Familien unterzubringen. den Bootsflüchtlingen kaum solidaIm Februar dieses Jahres gab es gewalttätige Unruhen risch. Laut einer Umfrage des Lowyauf Manus. Zuerst hatten Asylsuchende friedlich gegen Institutes vom Juni sind 71 Prozent den Mangel an Informationen protestiert. Nachdem der AustralierInnen mit der Zwangseinige Asylsuchende versucht hatten, aus dem Camp zu rückführung von Booten einverstanfliehen, drangen Teile der lokalen Bevölkerung in das den. KritikerInnen dieser Maßnahmen Lager ein. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, haben es schwer, Gehör zu finden. Protest gegen die Flüchtlingspolitik wobei eine Person starb und über 70 Menschen teils Die Befürwortung der drakonischen Foto: paintings/Shutterstock.com schwer verletzt wurden. In den Camps, wo die Leute Strafmaßnahmen für Bootsflüchtlinge unter Druck gesetzt werden, wieder in ihren Herkunftshat sich in den Köpfen festgesetzt. Es gibt zwar PolitikerInnen wie die Grünen-Senatorin Sarah Hansonstaat zurückzukehren, kommt es immer wieder zu Hungerstreiks, Young, die ihren Unmut über die Asylpolitik äußern, doch das sind Suizidversuchen und Selbstverletzungen. Genauso ist es auch bei letztlich Einzelpersonen. Die australische Flüchtlingspolitik und die Asylsuchenden und Flüchtlingen auf australischem Gebiet. Diskussion darüber sind an einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Selbst anerkannte Asylsuchende müssen in Manus und Nauru bleiben. Der australische Immigrationsminister Scott Morrison Abgesehen von Amnesty International und dem UNHCR gibt es bemerkte dazu, ein Resettlement-Land müsse kein »first class weskeinen internationalen Protest. Perspektivisch ist zu befürchten, dass sich andere Staaten am australischen Modell orientieren. tern country« sein. Aber es gibt kein Konzept, wie eine Integration der Flüchtlinge in die lokalen Gesellschaften funktionieren könnte. Wie sind andere Länder der Region in das australische Grenzregime eingebunden? tt Die Opposition in Papua-Neuguinea macht Druck, um eine dauerhafte Ansiedelung zu verhindern. Es gibt starke Anzeichen dafür, dass Australien stattdessen die kambodschanische Regierung

Antje Missbach forscht zu den Rahmenbedingungen für Asylsuchende in Transitländern, vor allem in Indonesien. Sie arbeitet an der Monash University in Melbourne. Die Langfassung des Inter­ views steht auf www.iz3w.org. Das Interview führte Till Schmidt. tt

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Im Guerillakampf gegen die Kolonisatoren – Still aus »Concerning Violence« Foto L. Malmer

Postkoloniale Ikone »Concerning Violence« trivialisiert das vielschichtige Werk von Frantz Fanon von Udo Wolter Die theoretischen Schriften des antikolonialen Vordenkers Frantz Fanon reizen zu filmischen Interpretationen. 1995 gelang es Isaac Julien und Mark Nash, mit einem aus Spielszenen, Interviews und Dokumentarmaterial bestehenden Filmessay die damals in den Postcolonial Studies intensiv geführte Debatte um das vielschichtige und hochgradig widersprüchliche Vermächtnis Fanons überzeugend auf die Leinwand zu bringen. Dem Schwerpunkt dieser Debatte entsprechend entlehnten sie den Titel ihres Films dem Erstlingswerk Fanons »Black Skin, White Mask«, das auf die Psychopathologie des Rassismus fokussiert war. Mit »Concerning Violence« versucht sich nun der schwedische Filmemacher Göran Hugo Olsson an einer filmischen Interpretation von Fanons Hauptwerk »Die Verdammten dieser Erde«. Es ging als antikoloniales Manifest schlechthin in die Geschichte ein und trug Fanon den Ruf eines bedingungslosen Apologeten der (antikolonialen) Gewalt ein. Ein Missverständnis, das nicht zuletzt dem Vorwort Jean Paul Sartres zu diesem Buch geschuldet ist. Sartre leistete einer verkürzten Lesart des Fanonschen Hauptwerks Vorschub und lieferte der oft schwärmerischen und unreflektierten Begeisterung antiimperialistisch gesinnter westlicher Linker für bewaffnete Befreiungsbewegungen der Dritten Welt die Stichworte. Die Rezeption der »Verdammten dieser Erde« beschränkte sich somit oft auf das furiose Eingangskapitel (das auf englisch »On Violence«) betitelt war). Die nachfolgenden Kapitel, in denen sich Fanon tt

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teilweise sehr hellsichtig und kritisch mit Fehlentwicklungen der Dekolonisation wie despotischen und korrupten postkolonialen Regimes und den Folgen ethnonationalistischer Ideologien auseinandersetzte, wurden hingegen nur am Rande wahrgenommen.

Zwischen den Zeilen lesen Wenn nun Olsson seinen Film ausgerechnet in Anlehnung an besagtes Eingangskapitel »Concerning Violence« betitelt, weckt das Befürchtungen hinsichtlich der über den Film transportierten Fanon-Lesart. Sie werden durch den Untertitel »Nine Scenes From the Anti-Imperialistic Self-Defense« nicht gerade zerstreut. Zunächst ist dem Film allerdings ein Statement der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak vorangestellt, in dem diese die Postkolonialismus-Debatte um Fanon kurz rekapituliert. Sie betont dabei vor allem, dass Fanons Hauptwerk keinesfalls auf seine plakativ-agitatorischen Passagen reduziert werden dürfe, sondern vor allem mit Sensibilität für seine subtileren Argumentationsstränge, also gewissermaßen zwischen den Zeilen gelesen werden müsse. Spivak beendet ihr Statement mit der feministisch-postkolonialen Kritik, dass in Bezug auf die gesellschaftliche Diskriminierung von Frauen »Kolonisator und Kolonisierter in einem Boot« säßen. Diese nachdenklichen Worte werden allerdings sofort verwischt durch Olssons Einstieg in den eigentlichen Film: Von einem mittt

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Film fliegenden Filmteam aus einem Militärhubschrauber gefilmte Szenen zeigen, wie Soldaten aus diesem heraus auf einem Feld Kühe abschießen. Der Ausschnitt erinnert an die berühmte Szene aus Francis Ford Coppolas Vietnamkriegsfilm »Apocalypse Now«, nur dass sie hier nicht mit Wagners Walkürenritt unterlegt ist. Stattdessen rezitiert die ehemalige Fugees-Sängerin Lauryn Hill suggestiv eine Passage Fanons über den Kolonialismus als »Gewalt im Naturzustand«, die »sich nur einer noch größeren Gewalt beugen« könne. Die von Olsson nach eigener Aussage bewusst intendierte Coppola-Reminiszenz hält an, als die Kamera anschließend einen Trupp der angolanischen MPLA-Guerilla durch den Dschungel zu einem Angriff auf einen portugiesischen Militärposten begleitet. Diese Szenen werden kontrastiert von Material, das portugiesische Kolonialisten beim Golfspielen zeigt, die sich von einheimischen »Boys« bedienen lassen. In diesem Stil präsentiert der Film fortan dokumentarisches Material aus den antikolonialen Kämpfen Afrikas vor allem der 1970er Jahre, das Olsson und sein Team aus schwedischen Filmarchiven zusammengetragen haben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Angola, Mosambik und Guinea-Bissau, in denen die letzte Phase der Dekolonisation gegen die portugiesische Kolonialmacht stattfand, aber auch auf Simbabwe (damals noch Rhodesien), Liberia und Burkina Faso. Über das in neun Kapitel aufgeteilte Filmmaterial sind die von Lauryn Hill eingesprochenen Originaltexte von Fanon gelegt, die zudem in fast leinwandfüllender Schriftgröße über die Bilder geblendet werden. Olsson erklärte dazu in Interviews, die Filmaufnahmen zur Illustration von Fanons Text einzusetzen, und nicht umgekehrt den Text als bloßen Kommentar zum präsentierten Archivmaterial. Die Filmaufnahmen selbst zeigen die schockierende Gewalttätigkeit der kolonialen Auseinandersetzung. Aufschlussreich und bis heute empörend sind sie angesichts des von den interviewten Kolonialisten ungeniert zur Schau getragenen rassistischen Herrenmenschentums. So etwa von einem rhodesischen Farmer, der über seine Ängste vor einer »schwarzen Rache« im Fall eines Sieges der Befreiungsbewegung Auskunft gibt und dabei vor laufender Kamera seinen schwarzen Bediensteten als »dummes Ding« beschimpft, das ihm nicht mal ein Bier korrekt öffnen und servieren könne. Beeindruckend ist auch das Filmmaterial über einen Streik bei der schwedisch-amerikanischen Minengesellschaft LAMCO in Liberia, der auf Anordnung der Regierung durch einen Militäreinsatz beendet wird. Am Streik beteiligte Arbeiter werden gekündigt, mit ihren Familien samt ihrer Habe auf Lastwagen regelrecht deportiert und am Rande des LAMCOGebiets buchstäblich mitten in der Wildnis ausgesetzt, wo sie dann ratlos auf den Resten ihrer Existenz sitzen.

sehr verschiedenen Phasen der Dekolonisation nebeneinander gestellt, ohne dass Verschiebungen von den antikolonialen Kämpfen zu postkolonialen Auseinandersetzungen deutlich werden können. Auch der historische Abstand des gezeigten Filmmaterials zu Fanons Text, den dieser bereits 1961 vor allem aus seinen Erfahrungen mit dem algerischen Befreiungskampf entwickelt hatte, wird so kaum eingeholt. Die Textauswahl beschränkt sich, ganz im Gegensatz zu der im Vorwort von Spivak geäußerten Aufforderung, Fanon zwischen den Zeilen zu lesen, fast ausschließlich auf plakative und agitatorische Passagen aus den Eingangs- und Schlusskapiteln der »Verdammten dieser Erde«. Fanons kritische Reflektionen über Fehlentwicklungen der Dekolonisation bleiben ausgespart. Deutlich wird das etwa bei einem im Film gezeigten Interview mit dem jungen Robert ­Mugabe, der in großen Worten darüber Auskunft gibt, in Zimbabwe nach der Befreiung eine gleichberechtigte und demokratische Gesellschaft aufzubauen. Gerade die dann tatsächlich eingetretenen postkolonialen Entwicklungen in Zimbabwe wären bestens geeignet als

Die Verschiebungen von den anti­ kolonialen Kämpfen zu postkolonialen

Auseinandersetzungen werden in »Concerning Violence« nicht deutlich.

Plakativ und agitatorisch Die von Olsson und seinem Team recherchierten und passend zu den jeweiligen Inhalten der zitierten Textpassagen arrangierten Filmdokumente eignen sich hervorragend, die Thesen Fanons zu illustrieren. Es geht dabei um koloniale Gewalt und Gegengewalt der Kolonisierten, um den Kontrast zwischen dem ostentativen Reichtum der weißen Kolonialisten und dem Elend der afrikanischen Bevölkerung. Problematisch wirkt sich allerdings aus, dass Olsson auf eine Kontextualisierung des gezeigten Materials ebenso verzichtet hat, wie auf eine inhaltliche Einbettung der zitierten FanonTexte (abgesehen von Spivaks Einführung). So wird Material aus tt

Illustration zu Fanons Kritik der »Einheitspartei« als »moderne(r) Form der bürgerlichen Diktatur ohne Maske, ohne Schminke, skrupellos und zynisch« – doch nichts davon im Film. Dafür taucht plötzlich ein Interview mit dem Revolutionsführer Thomas Sankara auf, der 1983 im damaligen Obervolta durch einen Militärputsch an die Macht gekommen war, das Land im Zuge eines ambitionierten sozialistischen Umbauprogramms in Burkina Faso umbenannt hatte und kurz nach dem Interview 1987 ermordet wurde. Ohne Kontextualisierung wirkt das im Film so, als hätte zwischen dieser Geschichte und den an anderer Stelle gezeigten Befreiungskämpfen der frühen 70er Jahre keine historische Entwicklung stattgefunden. Auch die gezeigten Archivaufnahmen zur Rolle von Frauen in den antikolonialen Befreiungskämpfen hinterlassen einen zwiespältigen Eindruck. So sind Guerilleras der FRELIMO in Mozambique zu sehen, die in der gestanzt wirkenden Diktion marxistisch-leninistischer Kader über den Aufbau der »neuen Gesellschaft« in der Guerilla sprechen. Später wird in einer der verstörendsten Sequenzen des Films die Notoperation einer jungen Frau und ihres Babys gezeigt, denen vermutlich bei einem Überfall auf ihr Dorf mit Macheten Gliedmaßen abgetrennt worden waren (der Film gibt darüber keine Auskunft). Anschließend wird in einer minutenlangen Einstellung in Großaufnahme gezeigt, wie die Frau mit entblößtem Oberkörper dem Kind die Brust gibt, beide mit frisch verbundenen, noch blutigen Stümpfen. Auch dieses Material bleibt völlig dekontextualisiert, nicht nur in Bezug auf den Hintergrund der ausgeübten Gewalt, sondern

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ISSN 1614-0095

t iz3w – informationszentrum 3. welt Postfach 5328 • D-79020 Freiburg www.iz3w.org

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