iz3w Magazin # 346

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Kapital auf Kurs – die Ausbeutung der Meere

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Machtkämpfe in Libyen t 10 Jahre nach dem Tsunami t Revolte in Burkina Faso …

Jan./Feb. 2015 Ausgabe q 346 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


I n d ieser A u sga b e

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Schwerpunkt: Meere

Titelmotiv: IDF

19 Editorial 20 3 Editorial 22 Burkina Faso: 27 lange Jahre sind vorbei

24 Meeresmetaphern

Blaise Compaoré ist gestürzt, die Zukunft des Landes bleibt ungewiss von Martin Bodenstein

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Illusionen über unerschöpflichen Reichtum von Cord Riechelmann

Libyen: Auf Gewalt folgt Gewalt

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Das zerfallende Land ist weit von Demokratie und Stabilität entfernt von Sören Scholvin

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Asyl: Humanität statt Komplizenschaft

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Gefährliches Wettfischen Wer den Hunger abschaffen will, muss handwerkliche Kleinfischerei fördern von Francisco Mari

Peru: Gipfeltreffen im Andenland Wird Peru als Gastgeber des Klimagipfels künftig eigene klimapolitische Ziele formulieren? von Karen del Biondo

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10 Jahre Tsunami I: Land unter

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Auswerfen der Netze Europa beutet trotz Kritik weiterhin westafrikanische Fischgründe aus von Philipp Kilham

Raubbau mit Raubfischen Die Rechnung mit dem Thunfisch geht für die pazifischen Inselstaaten nicht auf von Eberhard Weber

Auf die zerstörerische Flutwelle folgten politische Kämpfe um die Küsten von Jürgen Weber

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Land in Sicht ? Auf hoher See gibt es bisher kaum Arbeitsrechte für Seeleute von Heike Proske

Marokko möchte neue Wege in der Flüchtlingspolitik beschreiten von Franziska Dübgen

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Verklappt, verdünnt, vergessen Die Weltmeere sind zur Müllkippe geworden von Martina Backes

Politik und Ökonomie 4

Das vorerst letzte Grenzland Die nachholende Industrialisierung der Weltmeere wird intensiviert von Kai Kaschinski

10 Jahre Tsunami II: Wiederaufbau mit Lücken

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Wie die indonesische Provinz Aceh nach dem Tsunami politisch umgewälzt wurde von Alex Flor

»Zertifizierte Garnelen sind ein Witz« Interview mit Khushi Kabir über Shrimpsfarmen in Bangladesch

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Schürfen in der Tiefsee Der Wettlauf um die Lagerstätten am Meeresboden von Stefan und Andreas Brocza

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Die Ozeane versauern Wie der Klimawandel die Weltmeere verändert von Onno Groß

48 Rezensionen 50 Szene / Tagungen Impressum

Kultur und Debatte 40

Erinnerungspolitik: Die »Geschichtslücke« Die Türkei und der Genozid an den ArmenierInnen (Teil 1) von Corry Guttstadt und Ragıp Zarakolu

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Film: Bitter enttäuscht »Miners shot down« fordert Solidarität mit den Opfern des Marikana-Massakers von Martina Backes

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Street Art: Nobles Sprayen Dakars Street-Art-Szene kämpft für gesundheitliche Aufklärung von Sarah Böger

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Editor ia l

Tod im deutschen Gefängnis In iz3w 343 berichteten wir über einen ungeheuerlichen Fall: Der Asylsuchende Oury Jalloh war 2005 in einer Dessauer Polizeizelle bei lebendigem Leibe verbrannt worden, ohne dass die Täter dafür zur Rechenschaft gezogen wurden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt bis zum heutigen Tag, obwohl die vorliegenden Beweise und Indizien erdrückend sind. Der rassistische Polizeimord an Oury Jalloh ist aufgrund seiner grausamen Umstände und der anhaltenden Vertuschungspolitik besonders skandalös. Doch Jalloh ist nicht der einzige Afrikaner, der im Gewahrsam deutscher Behörden zu Tode kam.

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ls der 33-jährige Rasmane K. am Morgen des 9. August 2014 tot in seiner Zelle der Justizvollzugsanstalt Bruchsal aufgefunden wurde, wog er noch 57 Kilo. Für einen 1,85 großen Mann mit kräftiger Statur ist das sehr wenig. Der Todesfall wäre nicht öffentlich bekannt geworden, hätte die Staatsanwaltschaft nicht nach einer anonymen Anzeige Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung gegen den Anstaltsleiter und eine Ärztin aufnehmen müssen. Die Rechtsmedizin Heidelberg kam zu dem Schluss, dass der Mann verhungert war. Wie kann es sein, dass ein Gefangener im Gewahrsam des Staates verhungert, ohne dass dies jemand mitbekommen haben will? Ganz zu schweigen davon, dass er nicht die Hilfe bekam, die er offensichtlich dringend brauchte? Rasmane K. war zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil er seine Lebensgefährtin im Streit erstochen hatte. Im Prozess hatte Rasman K. keine Angaben zu seiner Person gemacht. Er galt als verschlossen und misstrauisch, selbst seine Anwälte kamen nicht an ihn heran. Im Asylverfahren einige Jahre zuvor hatte er ausgesagt, von einer Miliz als Kindersoldat rekrutiert worden zu sein. In jener Region Burkina Fasos, aus der Rasmane K. kommt, ist der Einsatz von Kindersoldaten nicht selten. Wann immer das Gespräch auf seine Jugend oder seine Eltern kam, sei sein Mandant verstummt, berichtet Anwalt Roland Kirpes. Der Mann galt laut Zeitungsberichten als »hochgradig aggressiv«; er hatte einen Justizbeamten angegriffen und schwer verletzt. Der Umgang mit Rasmane K. mag äußerst schwierig gewesen sein. Doch auch er hatte ein Recht auf das, was die JVA Bruchsal in ihrem Leitbild verspricht: »Wir nehmen die Gefangenen ernst, sind ehrlich und behandeln sie

menschlich und gerecht; sie können sich auf uns verlassen.« Die JVA betont: »Unser Handeln wird bestimmt durch die Menschenrechte und die Achtung der Menschenwürde aller.« Diese hehren Worte erweisen sich als blanker Hohn. Denn die JVA Bruchsal steht wegen vielerlei Verstößen seit längerem in der Kritik. Gefangene wurden dort nach Außenkontakten routinemäßig bis in alle Körperöffnungen durchsucht, ohne dass es für diese langjährige Praxis eine rechtliche Grundlage gab. 2009 verwendete der mittlerweile suspendierte Anstaltsleiter Thomas M. in seiner Neujahrsgrußbotschaft ein Zitat der Rechtsrockband »Böhse Onkelz«. Nachdem dies bekannt wurde, redete er sich damit heraus, die Urheberschaft der Band sei ihm nicht bewusst gewesen. 2013 schminkten zwei JVA-Beamte ihr Gesicht schwarz und verhöhnten afrikanische Gefangene. Diese rassistische Blackfacing-Aktion hatte ein Diszipli­­-­ narverfahren und je tausend Euro Geldbuße zur Folge. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass angesichts einer solchen Mentalität in der JVA auch der Hungertod von Rasmane K. einen rassistischen Hintergrund hat. Doch als ob dies nicht schon erschreckend genug sei, werden die dortigen Beamten von erheblichen Teilen der Öffentlichkeit sogar unterstützt. In der Online-Tageszeitung KA-News beispielsweise wird der Tod von Rasmane K. in dutzenden Leser-Kommentaren ausdrücklich begrüßt: »Ist das Müll und kann weg? Ja, ist es! Kein Erdbewohner braucht solche und ähnliche Menschen. Hat sich halt selbst entsorgt.«

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asman K. war über ein Jahr in Einzelhaft. Abgesehen davon, dass es in seinem Fall illegal war, weil erforderliche Genehmigungen von der JVA Bruchsal nicht eingeholt wurden, verweist sein Hungertod auf die zerstörerische Wirkung von extremen Haftbedingungen. Nicht von ­ungefähr gilt Isolationshaft als »weiße Folter«, die die Menschen psychisch völlig zerrüttet. »Im Gefängnis herrscht ein besonderes Gewaltverhältnis, der Gefangene ist nicht frei, er ist dem Staat vollkommen ausgeliefert«, appelliert Anwalt Kirpes zu Recht an die menschenrechtliche Verantwortung der Justizbehörden. In besonderem Maße gilt dies für Geflüchtete und Asyl­ suchende, die oftmals erheblich traumatisiert sind. Dieses Thema in der nächsten iz3w-Ausgabe zu vertiefen, verspricht die redaktion

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iz3w-Backlist 345: Barrieren & Behinderungen 344: Geschäfte mit Uran 343: Fotografie & Macht 342: Protest in der Türkei 341: Asyl & Politik 340: Eigentor Brasilien 339: Faschimus international 338: Fairer Handel 337: Arabische Frauenbewegungen 336: Armut 335: Wissenschaft global 334: Antiziganismus 333: Krise & Kapitalismus 332: Stadt für alle 331: Restitution geraubter Gebeine 330: Arabischer Frühling 2.0 329: Globales Lernen 328: Drogen 327: Grüner Kapitalismus 326: LGBTI gegen Homophobie 325: Chinas roter Kapitalismus 324: Revolte in der arabischen Welt 323: Islamdebatte

322: Verteilungskämpfe 321: FrauenKörper 320: Was bewegt Zentralamerika? 319: Afrika postkolonial 318: Alte und neue Grenzregimes 317: US-Außenpolitik 316: Südafrika abseits der WM 315: Digitale Welten 314: Zentralasien post-sowjetisch 313: Gender & Krieg 312: Nazi-Kollaboration 311: Iran 310: Politik des Hungers 309: Arbeit macht das Leben schwer 308: Literatur in der Türkei 307: 60 Jahre Menschenrechte 306: Panafrikanismus oder Nationalstaat 305: Die Misere der Klimapolitik 304: Kriege in Afrika 303: Die Politik der Indigenität 302: Internationaler Dokumentarfilm 301: Kunst, Politik & Subversion 300: Namibia / Jubiläumsausgabe

Einzelheft: € 5,30 Heft 322 bis 333: € 4,– / ältere Hefte: € 3,–

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Editor ial

Ausbeutung der Meere Es war nicht rechtens, befand der in Hamburg ansässige Internationale Seegerichtshof im April 2014, dass die Behörden von Guinea-Bissau das Tankschiff M/V Virginia G beschlagnahmten. Es hatte auf offener See innerhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszone (EEZ) des westafrikanischen Landes ausländische Hochseefischerboote mit Öl betankt. Und das, obwohl der Öltransporter keine Erlaubnis zum Betanken hatte. Das sei allerdings, so der richterliche Beschluss, Ergebnis eines Missverständnisses gewesen. Damit sei die Beschlagnahme des Schiffes und seiner Fracht ein Verstoß gegen die Seerechtskonvention.

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er in Hamburg entschiedene Fall ist einer von über 20 laufenden Streitfällen des Internationalen Seegerichtshofs (ISGH). Seine Urteile spricht er auf Grundlage des Internationalen Seerechtsübereinkommens (SRÜ). Für die handwerkliche Fischerei entlang der westafrikanischen Küste fühlt sich der Schiedsspruch gegen Guinea-Bissau an wie ein Auflaufen auf Grund. Nicht nur, dass die lokale Fischerei mit abnehmenden Fangquoten zu tun hat, unter anderem weil schwimmende Fischfabriken vor den Küsten die Gewässer überfischen. Es steht auch dafür, wie schwer diejenigen zu kontrollieren sind, die aufgrund technischer Übermacht die Nutzung der marinen Naturgüter für sich beanspruchen. Und das, obwohl sich mit dem Seerechtsübereinkommen 166 Länder darauf verständigt haben, die Weltmeere als Gemeingut allen gleichermaßen zugänglich zu machen und für ihren Schutz zu sorgen. Ein Blick in die laufenden Streitfälle am ISGH zeigt, wie umstritten dies in der Praxis ist: Wenngleich die Weltmeere und der Meeresgrund nicht als Teile staatlicher Territorien, sondern als Gemeingut definiert sind, spitzt sich der Kampf um Nutzungsrechte an marinen Ressourcen zu. Die ökonomischen und territorialen Begehrlichkeiten von Staaten und Konzernen setzen sich inzwichen bis in die Tiefen der pazifischen Gräben fort. 2012 brach ein Streit um die Grenze der Ausschließlichen Wirtschaftszone im Golf von Bengalen aus: Myanmar und Bangladesch wetteiferten um die hier liegenden Öl- und Gasressourcen (Bangladesch gewann den Fall vor dem ISGH). Derweil werden entlang der Küsten Bangladeschs Mangrovenwälder und fruchtbare Äcker in Garnelenfarmen für die Exportwirtschaft umgewandelt (siehe S.34). Während die KonsumentInnen der Importländer von Seafood über die Herkunft der Ware oder die Bedingungen des Fangs meist nicht informiert sind, schwindet die wichtigste Ernährungsgrundlage von einer Milliarde Menschen (siehe S. 28). Doch es geht nicht nur um Fisch. Die Welt-

meere – und damit rund 60 Prozent der Erdoberfläche – sind für die Energie- und Rohstoffgewinnung sowie den globalen Transport von Gütern zentral. Ein Viertel der weltweiten Ölfördermenge stammt aus der Offshore-Gewinnung, und 90 Prozent des grenzüberschreitenden Warenhandels (Rohöl inbegriffen) wird über See abgewickelt. Entlang der Seerouten mit den Häfen als Knotenpunkten ist die ungleiche internationale Arbeitsteilung der globalisierten Ökonomie ziemlich gut abgebildet. Das bekommen nicht zuletzt die Seeleute zu spüren (siehe S.26). Wer die Schätze der Tiefsee in die industrielle Wertschöpfungskette einschleusen kann, darüber entscheidet nicht nur die Internationale Meeresbodenbehörde auf Jamaica (siehe S.20), sondern auch das Vermögen eines Staates, in Forschung und Technik investieren zu können (S.5). In diesem Konkurrenzkampf ziehen ärmere Länder den Kürzeren. Das Energiepotenzial der Weltmeere ist gigantisch, schreibt der Energiekonzern RWE, die Energie aus dem Meer könne eines Tages die Energiegewinnung aus Wind- und Wasserkraft an Land weit übertreffen. Diese Aussage zeigt nicht nur das Interesse des Energiesektors an den Meeren. Sie steht primär für eine Irreführung. Denn auf dem Industrie­ standort Meer werden nicht nur Rohstoffe und Energie gewonnen, sondern auch verbraucht. Die 15 größten ­Schiffe weltweit emittieren in einem Jahr so viele Stickstoffoxide und Schwefeldioxid wie etwa 760 Millionen Pkw. Zudem sind Öl- und Gasförderung ebenso wie Transport und Rohstoffförderung mit enormer Umweltbelastung verbunden (S. 22): Veröltes Federvieh, tote Robben und vermüllte Küsten sind nur die sichtbaren Folgen. Plastikberge auf dem Meeresgrund, bröckelnde Riffe sowie sich verschiebende Meeresströme sind weitere gefährliche Folgen.

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as Problem beginnt an Land und macht vor der Küste nicht halt: Die rücksichtslose kapitale Verwertung der Ressourcen. Die Grenzen zwischen Land und Meer verschwimmen dabei immer mehr, wie der Zusammenhang von Klimawandel und Versauerung der Meere verdeutlicht (S. 38). Vor allem im Hinblick auf die Verschmutzung der Meere, die Zerstörung der Riffe und die Ausbeutung der marinen Nahrungsressourcen dürften die sozialen Folgen für die Ärmeren dramatisch sein. Dabei übernehmen in aller Regel die Macht- und Mittellosen die schlecht bezahlten Jobs: beim Zerschneiden von Schiffswracks, an den Fließbändern der Fischfabriken, beim Ausbringen chemischer Zusatzstoffe in den Garnelenfarmen. Immer schon war das Meer nicht nur Gegenstand von Naturausbeutung, sondern auch Ort der Ausbeutung von Menschen. die redaktion

Wir danken der Deutschen Stiftung Meeresschutz und Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst für die Förderung des Themenschwerpunktes.

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Containerschiff RENA, das 2012 in Tauranga vor der Küste Neuseelands zerbrach Foto: Maritime New Zealand/AAP

Das vorerst letzte Grenzland Die nachholende Industrialisierung der Weltmeere wird intensiviert Bedeutend für die Globalisierung waren die Meere immer schon, sei es als Handelsweg oder als Fanggebiet. Der ökonomische Zugriff auf die Ozeane hat sich aber beschleunigt. Mehr denn je begehrt die Industrie die Ozeane als Produktionsstandort und Ressourcenlager. Die Nord-Süd-Politik hinkt diesem Megatrend hinterher.

von Kai Kaschinski Im Jahr 1886 eröffnete die Reederei Norddeutsche Lloyd die Reichspostdampfer-Linien. Mit dem aggressiven Streben nach dem eigenen »Platz an der Sonne« hatte Deutschland unter anderem im Pazifik Kolonien in Besitz genommen. Unterstützt mit staatlichen Subventionen, stellten die Schifffahrtslinien der Bremer Reederei den Post- und Personenverkehr zwischen dem Kaiserreich und vielen seiner Kolonien sicher. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Norddeutsche Lloyd zur zweitgrößten Reederei der Welt – allerdings vor allem mit der Verschiffung von Auswandernden in die USA. Zur gleichen Zeit wurde die Hamburg-Amerika Linie, die Konkurrenz aus der Nachbarstadt, unter dem Motto »Mein Feld ist die Welt!« zur Nummer Eins unter den Reedereien. Heute besitzen deutsche Reeder etwa 3.000 Handelsschiffe und stehen damit im internationalen Ranking auf Platz 3. Ein Umstand, der in Deutschland genauso wenig Beachtung findet wie viele andere Aspekte der Meerespolitik und den damit verbundenen maritimen Interessenslagen. Dementsprechend wurde der erhebtt

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liche Bedeutungszuwachs, den dieser Politikzweig in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren erfahren hat, in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Dies gilt auch für die entwicklungspolitische Szene, die aufgrund des globalen Charakters der Meerespolitik an sich Grund genug hätte, sich eingehender mit dem Themenfeld auseinanderzusetzen. Fragen zur Ernährungssicherheit, zur Ressourcenkrise, zum Welthandel, zum Umweltschutz, zu Migration und Militärpolitik sind heute nur unter Berücksichtigung der Lage auf den Ozeanen umfassend zu diskutieren. Die Meere sind schon lange mehr als nur Handelsweg und Fanggebiet. Sie verändern sich grundlegend. Sie sind zum Produktionsstandort und Ressourcenlager geworden. Fisch wird nicht nur gefangen, sondern gezüchtet und genetisch verändert. Fast die Hälfte der Fische und Meeresfrüchte, die verzehrt werden, werden heute in der Aquakultur hergestellt. Moderne Containerschiffe, ihre uniformen Boxen und eine intelligente Logistik machen die Schifffahrtswege zum festen Bestandteil der ­internationalen Produktionsprozesse. Globalisierung ist ohne den Containerverkehr nicht denkbar, er bewegt rund 90 Prozent der internationalen Güter (gemessen an ihrem Gewicht).

Energiehunger auf See Das auf dem Weltmarkt verfügbare Erdöl und -gas stammt inzwischen zu gut einem Viertel aus dem Meer. Insgesamt über zwei Millionen Menschen arbeiten auf tausenden von Offshore-Plattformen, die sich vor den Küsten mit ihren Förderanlagen zu den tt

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Meere marinen Lagerstätten vorgraben. Zu den Erdölplattformen kommen Trawler orten die Fischschwärme heute mit Hilfe modernster Echozahlreiche Windkraftwerke hinzu, mit denen die Energieproduktion lote und werfen ihre Netze in immer größere Tiefen aus. 600 in erheblichem Umfang auf See verlagert werden soll. Kabel und Tonnen Fisch können die Supertrawler täglich an Bord holen. Pipelines durchziehen den Meeresboden. 100 Milliarden Euro sind Tausende von Tonnen werden dort während einer Fahrt direkt in den kommenden Jahren allein für den Bau von Windenergieanverarbeitet und gefrostet. Während die industriellen Fischfangflotlagen in der Nordsee eingeplant. ten so in etwa die Hälfte der Weltfangmenge einbringen, wird die Die Küstengebiete werden großflächig in Schachbrettmuster andere Hälfte von der Kleinfischerei gefangen, in der sowohl mounterteilt. Für die einzelnen Felder werden Lizenzen erworben. torisierte Krabbenkutter als auch Einbäume zusammengefasst Entlang der Westküste Afrikas haben die Staaten ihre Wirtschaftswerden. Angesichts der Überfischung der Bestände steigt der notwendige Aufwand, um die Netze zu füllen, beständig. zonen in eine Unzahl von einzelnen Claims aufgeteilt. Die brasiliVor diesem Hintergrund ist die Fischerei global gekennzeichnet anische HRT Oil & Gas hält seit 2011 vor Namibia die Rechte für durch eine Konkurrenz zwischen Kleinfischerei und industrieller zwölf Claims mit einer Fläche von insgesamt 68.800 QuadratkiloFischerei. 2012 bei der Vorstellung metern. Die multinationale Tullow Oil plc hat mit Mauretanien zwischen 2001 und 2012 neun Liseines Berichts »Fisheries and the Die Gewässer an der Westküste zenzverträge für rund 42.000 Quadratkilometer Right to Food« verglich der UN-­ große Fördergebiete abgeschlossen. Von der über Sonderberichterstatter für das Recht Afrikas haben die Staaten in drei Millionen Quadratkilometer großen Wirtauf Nahrung, Olivier de Schutter, die einzelne Claims aufgeteilt schaftszone Indiens waren bereits 2012 über ein Art und Weise, wie sich die Reeder­ Drittel für die Erdöl- und Erdgasförderung vergeben. eien großer Industrieschiffe die maDie Küsten sind der Ausgangspunkt für den Industrialisierungsrinen Nahrungsressourcen aneignen, mit dem Land-Grabbing und prägte den Begriff des Ocean-Grabbings. Zum Schutz der Meere prozess auf den Weltmeeren. Sie stellen das neue Grenzland dar. empfahl de Schutter unter anderem die Einrichtung exklusiver Von hier geht der Vorstoß ins Meer aus. Die Erdölförderung mit all Zonen für die Kleinfischerei, ein hartes Durchgreifen gegen das ihren Konsequenzen hat die Tiefsee bereits erreicht. Das tragische Eindringen von industriellen Trawlern in diese Zonen, die UnterParadebeispiel für die damit einhergehenden Umweltrisiken und stützung von Kooperativen der Kleinfischer und der Verbesserung die sozialen Bedrohungsszenarien ist die Explosion der Deepwater ihrer Wertschöpfungsketten sowie das Unterbinden von GroßproHorizon mit anschließender Rekordölpest im Golf von Mexiko. jekten, die ihre Existenzgrundlagen gefährden. Brasilien ist der Schrittmacher dieser Entwicklung. Im Oktober versteigerte Brasilien medienwirksam das Feld Libra 170 Kilometer vor seiner Atlantikküste, dessen Ölvorkommen auf zwölf Milliarden Ocean Grabbing mittels Tiefseeschürfen Barrel geschätzt wird, an ein internationales Konsortium. 40 Prozent dieses Konsortiums hält der halbstaatliche brasilianische Konzern tt Der nächste bevorstehende Schritt in der Industrialisierung der Petrobras, je ein Fünftel Shell und Total sowie je ein Zehntel CNOOC Meere ist die Erweiterung des Abbaus mariner mineralischer Resund CNPC aus China. Im Laufe der 35jährigen Konzession werden sourcen. Entsprechend der Entwicklung im Erdölsektor wird die staatlicherseits allein für dieses Feld Einnahmen durch LizenzgeErschließung der Lagerstätten von Manganknollen, Massivsulfiden bühren, Steuern und Anteile an der Ölförderung in Höhe von etwa und Erzkrusten in der Tiefsee geplant. Mittlerweile ist es keine 336 Milliarden Euro erwartet. Das Ölvorkommen liegt rund 6.000 Frage mehr des Ob, sondern nur noch eine Frage des Wann. Was Meter unter der Meeresoberfläche. Gut 2.000 Meter hoch ist die vor zehn Jahren noch wie Zukunftsmusik klang, rückt in greifbare Wassersäule, danach folgen Gesteins- und Salzschichten, die durchNähe: Förderanlagen in mehreren tausend Metern Tiefe unter der brochen werden müssen. Meeresoberfläche. Deutschland besitzt Lizenzen bei der Internationalen Meeresbodenbehörde (IMB) in Kingston auf Jamaika für Gebiete im PaziVon Einbäumen zu schwimmenden Fischfabriken fik und im Indischen Ozean. Allein das deutsche Gebiet im Pazifik tt Nach Erdöl sind Fisch und Meeresfrüchte das zweitwichtigste umfasst mit 75.000 Quadratkilometern eine Fläche, die in etwa der Exportgut der Länder des Globalen Südens. Sie bestreiten mehr als Größe Niedersachsens und Schleswig-Holsteins entspricht. Auf 60 Prozent der Weltexporte, wobei gut zwei Drittel der Exporte in Basis der UN-Seerechtskonvention von 1982 vergibt die IMB dort Industrieländer gehen. Ihre Gewinne in diesem Sektor lagen 2010 die Lizenzen für die Förderung mineralischer Ressourcen auf und bei 27,7 Milliarden US Dollar. Die gesamte europäische Fischwirtim Meeresboden in dem als Area bezeichneten Gebiet jenseits der schaft ist vom Angebot auf dem Weltmarkt abhängig: Kein anderer Ausschließlichen Wirtschaftszonen, die den Küstenstaaten zur Wirtschaftsraum importiert mehr Fisch als die EU. Nutzung überlassen und in der Regel 200 Seemeilen weit reichen Von den weltweit rund 38 Millionen Fischern sind zirka 90 (s. S. 35). Zugleich reglementiert die IMB die dortigen NutzungsProzent Kleinfischer. Mindestens 200 Millionen Menschen waren bedingungen im Rahmen des UN-Seerechtsübereinkommens (SRÜ). es nach Datenlage der Welternährungsorganisation (FAO), die 2010 Es ist eine nachholende Industrialisierung, eine qualitativ neue im Fischfang, in der Fischzucht, im Handel mit Fisch und MeeresEntwicklung; eine Kultivierung der See, die mit dem Tiefseeschürfrüchten oder in deren Weiterverarbeitung beschäftigt gewesen fen eingeleitet wird. Nicht neu ist die Motivation, hier einen neuen sind. Werden die Familienangehörigen in die Rechnung mit einbeWirtschaftsraum schaffen zu wollen, dessen Ressourcen verwertbar zogen, so waren laut dem FAO-Bericht zu Fischerei und Aquakultur gemacht und den Produktionsprozessen zugeführt werden, um von 2014 zehn bis zwölf Prozent der Weltbevölkerung ökonomisch Wachstum zu erzeugen. Die Vorgehensweise bei dieser Integration von der Fischerei und Fischzucht abhängig. (s. S. 34). der Meere in die globalisierte Ökonomie ähnelt indes mehr neoliAls eine der ältesten menschlichen Nutzungen der Meere war beralen Strategien als der Utopie von einem unbekannten Land, die Fischerei als erstes von Industrialisierungsvorhaben betroffen. dessen Entdeckung allen Menschen zugute kommt. Die auf den iz3w • Januar / Februar 2015 q 346

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Meere Meeren mit dem SRÜ verankerte Idee vom Meer als Gemeingut der Menschheit, ihrem letzten Erbe, wird in diesem Prozess denn auch von vielen Seiten her in Frage gestellt. Stattdessen werden Nationalisierungs- und Privatisierungsbestreben verfolgt und verbreiten sich. Die sich auf See entfaltende Dynamik ist in dieser Hinsicht in erster Linie eine Reaktion auf die Ressourcenkrise an Land und lässt sich mit dem weltweit intensivierten Zugriff auf Natur erklären. Mit der Industrialisierung der Meere sollen wie mit der Green Economy noch einmal die planetaren Grenzen für Rohstoffe und die Belastung der Ökosysteme verschoben werden. Es wird Platz geschaffen, um die alten Fehler noch einmal wiederholen zu können und sich nicht mit ihren Konsequenzen auseinandersetzen zu müssen. Zu dieser Einschätzung passt das 2012 von der EU verabschiedete Blue-Growth-Programm, das an die im Blauen Buch von 2007 formulierte maritime Strategie der Union anschließt. Blaue Energie, Aquakultur, Meeres-, Küsten- und Kreuzfahrttourismus, Meeres­

bodenschätze und Blaue Biotechnologie sollen zu den Kernbereichen einer blauen europäischen Wachstumspolitik werden. Blue Growth soll laut EU zu einer »Initiative zur Erschließung des ungenutzten Potenzials der europäischen Ozeane, Meere und Küsten für Beschäftigung und Wachstum« ausgebaut werden. Innovationen in diesen Bereichen sollen der maritimen Wirtschaft, der EU-weit 5,4 Millionen Arbeitsplätze und eine Bruttowertschöpfung von fast 500 Milliarden pro Jahr zugerechnet werden, und damit der Wettbewerbsfähigkeit der EU einen Schub geben. Es gibt viele gute Ansatzpunkte, um sich mit Nord-Süd-Fragen zu beschäftigen. Die Meerespolitik dabei auszublenden oder auf ein Umweltproblem zu reduzieren, ist allerdings wenig sinnvoll. Denn das bedeutet, über zwei Drittel des Planeten unbeachtet zu lassen.

Kai Kaschinski ist Projektleiter von Fair Oceans in Bremen (www.fair-oceans.info). tt

Verklappt, verdünnt, vergessen Die Weltmeere sind zur Müllkippe geworden Die Explosion der Deepwater Horizon, einer vom Ölmulti BP betriebenen Förderplattform im Golf von Mexiko, erinnerte im Jahr 2010 schmerzlich daran: Ölbohrinseln sind eine Risikotechnologie. Der giftige Ölteppich kostete viele Fischer ihre Jobs, und der Tourismus so mancher Karibikinsel war seiner Hauptattraktion beraubt. Mangroven verölten und Tiere verendeten. Ein Jahr nach der Katastrophe wurde im Golf bereits wieder nach Öl gebohrt. Allein in den letzten 25 Jahren wurden 6.800 Ölunfälle auf See registriert. Großkatastrophen wie Deepwater Horizon schaffen es meist bis in die Schlagzeilen, das alltägliche Ablassen von öligen Schlämmen und Sanden aus dem täglichen Bohrbetrieb hingegen nicht. Meist sind es spektakuläre »Unfälle«, die daran erinnern, dass das Meer nicht nur als Industriestandort, sondern auch als Deponie zur Entsorgung diverser Giftmüllarten genutzt wird. Zwar wurde mit der Londoner Konvention 1993 ein weltweites Verklappungsverbot für Industrie- und Atommüll sowie ein Ende der Verbrennung von Giftmüll auf See beschlossen. Doch sind Unfälle nie unvermeidbar – wenn sie nicht direkte Folge von absichtlichen Vertragsbrüchen sind. Noch gar nicht abschätzbar sind laut dem Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) derzeit die Risiken des Abbaus von Metallen aus der Tiefsee. Laut dem Kieler BIOLAB Forschungsinstitut werden zum Beispiel beim Verhüttungsprozess von Mangan jede Menge Chemikalien eingesetzt. tt

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Auf dem Meer ist es billiger Die wirtschaftlichen Aktivitäten der Energie- und Rohstoffgewinnung auf und aus dem Meer sowie der globale Transport von Stoffen und Gütern über Pipelines und Frachtschiffe produzieren enorme Mengen Abfall. Eine Entsorgung an Land ist für die Schiffsbetreiber meist teuer und aufwändig. Müll einfach ungesehen über Bord zu werfen, ist verlockend. Sind Abfälle und Giftstoffe erst tt

einmal verdünnt, so die Hoffnung, ist ihre Herkunft nicht mehr nachweisbar. Ihre toxische Wirkung hingegen ist nicht zwangsweise vermindert. Die Anreicherung von krebserregenden Weichmachern in der Nahrungskette im Meer gilt als Umweltthema der 1970er Jahre – ein virulentes Problem ist sie bis heute. Derzeit steht die Anreicherungsgefahr von Mikroteilchen aus Plastik im Fokus von Umweltverbänden: Kleinste Partikel gelangen über Planktonfresser in den Fisch, der auf dem Teller landet. Die Folgen für die menschliche Gesundheit sind noch nicht umfassend erforscht, doch ist klar, dass sie besonders diejenigen treffen, die auf Fisch für eine ausreichende Ernährung angewiesen sind. Drei Viertel des festen Mülls in den Ozeanen besteht aus Plastik. Im Durchschnitt schwimmen laut WWF auf jedem Quadratkilometer 46.000 Plastikteile. Viele enthalten giftige Stoffe wie Flammschutzmittel. Durch Meeresströmungen wird das Plastik zu Müllteppichen zusammen getrieben. Der bekannteste Müllstrudel, der Great Pacific Garbage Patch im Nordpazifik, bedeckt inzwischen eine Fläche so groß wie Zentraleuropa. 2006 wurden an der ivorischen Küste 500 Tonnen Giftmüll angeschwemmt, verklappt vom Frachter Probo Koala, der vom internationalen Handelsunternehmen Trafigura gechartert worden war. In Abidjan starben 15 Menschen, 69 Personen erkrankten schwer. Über 100.000 Personen wurde nach dem Einatmen von Giftgasdämpfen übel, Tausende mussten ärztlich behandelt werden. Probo Koala ist insofern eine Ausnahme, als dass der Fall bekannt wurde und vor Gericht landete. Entschädigungen wurden zwar versprochen, die Auszahlung dann aber nicht dokumentiert. Letztlich ungeklärt blieb, warum 2008 vor der somalischen Küste drei Tonnen toter Fisch angeschwemmt wurden: Zwar hat eine Untersuchung durch das italienische Parlament illegale Verklappungen von Sondermüll vor der somalischen Küste bestätigt, Nuklearabfall inklusive. Doch trotz der vermuteten Zusammenhänge zum Fischsterben wurde niemand haftbar gemacht.

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Filmstill aus »Eisenfresser« über die Schiffsabwrack­ industrie in Bangladesch Foto: Shaheen Dill-Riaz

Die vermutlich größte Menge an Sonder- und Giftmüll auf und in den Meeren verkörpern die Frachtschiffe selbst: Insbesondere Kabel und Isoliermaterial, Dichtungen, Elektronikteile und Schmierstoffe enthalten große Mengen giftiger Substanzen. Sondermüll in Entwicklungsländern zu entsorgen ist laut der Basler Konvention von 1992 illegal, dennoch werden ausrangierte Schiffe aus aller Welt an den Stränden von Geddani in Pakistan, Chittagong in Bangladesch oder Alang in Indien auseinander genommen. Der gängige Verkauf der Schrottfrachter an neue Eigner, die dann die Verschrottung in Auftrag geben, erschwert die Kontrolle. Das Zerlegen von Schiffsrümpfen ist offensichtlich dort wirtschaftlich attraktiv, wo Schweißer unter schwersten Bedingungen für Billiglöhne unwürdige Arbeit verrichten und ihr Leben riskieren. Filme wie »Eisenfresser« von Shaheen Dill-Riaz und »Working Man’s Death« von Michael Glawogger haben das eindrücklich dokumentiert. Als billige Verschrottung auf See kritisierten UmweltschützerInnen auch die Ship Sinking Exercises der US-Marine, genannt SINEX. Über einhundert ausrangierte Kriegsschiffe, Schlepper und sogar ein Flugzeugträger wurden, so berichtete der SPIEGEL 2012, vor den Küsten von Hawaii, Florida, Kalifornien und anderen US-Bundesstaaten versenkt, während im gleichen Zeitraum nur 64 Schiffe auf herkömmliche Art verschrottet worden seien. Während die US-Marine von einer notwendigen Übung spricht, um Waffensysteme testen und Seeleute ausbilden zu können, vermuten MeeresbiologInnen, dass mit der Explosion der Schiffe nicht nur Stahl, sondern auch Waffen in den Tiefen der See versenkt wurden.

Plutonium aus Atommüllfässern Es ist bekannt, dass die Meere für die Vernichtung von Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg als billige Entsorgungsdeponie galten. Eine besondere Gefahrenkategorie stellt verklappter Atommüll dar: In den 1960er bis 70er Jahren wurden – weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt – erhebliche Mengen radioaktiven Mülls über Bord gekippt, in Behältnissen, die nach DIN- und VOB-Normen angeblich für die Ewigkeit konstruiert wurden. Verzeichnissen der Nuclear Energy Agency (NEA) und der International Atomic Energy Agency (IAEA) zufolge versenkten neun tt

Staaten bis 1982 an fünfzehn Stellen im Nordostatlantik 114.726 Tonnen Atommüll in 222.732 Fässern. Diese enthalten zusammen rund zehnmal mehr Radioaktivität als alle Abfälle, die in den Schacht Asse eingebracht wurden. Bereits 2000 entdeckte Greenpeace lecke Fässer im Ärmelkanal. Inzwischen wurde in den Versenkungsgebieten hochgradig giftiges Plutonium 238 in Wasserproben, im Sediment und in Fischen nachgewiesen. Das Meer wird keineswegs nur durch legales und illegales Verklappen zum Mülldepot. Stark belastet wird es auch von Land her durch Abwässer und Chemikalien – insbesondere solcher, die wegen ihrer Giftigkeit an Land für gesellschaftlichen Widerstand sorgen, weil sie die Risiken und Kosten der Industrieproduktion sichtbar und spürbar machen. Ein kaum kontrollierbarer Eintrag von Schwermetallen, Pestiziden und Dünger, den die Agrokonzerne auf Feldern ausbringen lassen, belasten über den Regen und die Flüsse küstennahe Gewässer. Als Folge der Überdüngung können Algenblüten den Sauerstoff verringern und so andere Pflanzen sowie Meerestiere ersticken. Dieses Phänomen der toten Zonen ist im Golf von Mexiko und in der Ostsee mehrfach belegt worden. Der WBGU plädierte 2013 in seinem Gutachten »Menschheitserbe Meer« für den Ausbau einer internationalen Meeresstrukturpolitik. Er empfiehlt, Sanktionsmechanismen zu verankern und den Internationalen Seegerichtshof (ITLOS) in Hamburg zu stärken. Das könne von den Staaten als Anreiz verstanden werden, international vereinbarte Verträge in nationales Recht zu überführen. Bislang kann ein Verfahren vor dem ITLOS nur zustande kommen, wenn beide Streitparteien eine Streitbeilegung wünschen. Hochrisikotechnologien, Unfälle und Verklappungspraxis besser zu kontrollieren ist zweifelsfrei wünschenswert. Die derzeit unter dem Schlagwort Blue Growth geförderte maritime Raumplanung wird die Risiken für die AnrainerInnen der Küsten aber kaum minimieren können. Denn damit einher geht die Verdichtung der ohnehin schon engmaschigen Frachtrouten durch steigende Transportbedürfnisse der Wirtschaft an Land, der Ausbau mariner Gasund Erdölfördergebiete und die Aufnahme des Tiefseebergbaus.

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Martina Backes ist Mitarbeiterin im iz3w.

iz3w • Januar / Februar 2015 q 346

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ISSN 1614-0095

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