iz3w Magazin # 347

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Entgrenzte Herrschaft – Folter im 21. Jahrhundert

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t PEGIDA befremdet t Ebola als Terrorismus der Armut t Genozidleugnung in der Türkei

März/April 2015 Ausgabe q 347 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


I n d ieser A u sga b e

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Titelmotiv: Amna Suraka, ehemaliges Foltergefängnis im Irak (siehe Seite 21) Foto: R. Maro/version-foto.de

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Schwerpunkt: Folter 21 Editorial 22

Systematisch geplant Folter wird heute in fast allen Ländern angewandt von Anton Landgraf

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3 Editorial

Politik und Ökonomie 4

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Debatte: Die Anschläge von Paris Rassismus I: Dresden befremdet PEGIDA aktualisiert den altbekannten Rassismus von Sophie Kempe

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Mexiko: »Wir alle sind Ayotzinapa«

Agrarpolitik I: Welche neue Grüne Revolution?

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Agrarpolitik II: »Es geht immer um die Landfrage« Interview mit dem kenianischen Agrar-Aktivisten Philip Munyasia

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Assads deutscher Stuhl In Syrien ist Folter fast allgegenwärtig von Jörn Schulz

Perspektiven tansanischer Kleinbauern auf die ungelöste Agrarfrage von Philipp Kumria

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»Du wirst es nie wieder vergessen« Die Friedensverhandlungen in Kolumbien offenbaren Abgründe der Gewalt von Stephan Kroener

Mexiko erlebt die größten Demonstrationen seit Jahrzehnten von Ann-Kathrin Krüger

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Die Botschaft wird verstanden In Mexiko verschwimmen die Grenzen zwischen krimineller und staatlicher Foltergewalt von Wolf-Dieter Vogel

Rassismus II: I don’t like Mondays PEGIDA entstellt Deutschland zur Kenntlichkeit von Christian Stock

»Die Angst geht nicht weg« Therapien mit Überlebenden von Folter stoßen auf viele Hindernisse von Dima Zito

Dokumentation von Diskussionsbeiträgen

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»Sie findet im Verborgenen statt« Interview mit dem ehemaligen UN-Sonderbericht­ erstatter Manfred Nowak über Folter

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Kalkulierte Scham Sexualisierte Folter und ihre Folgen von Mechthild Wenk-Ansohn

Ebola: Terrorismus der Armut Die Ebola-Epidemie ist eine Folge von sozialer Ungleichheit von Anne Jung und Andreas Wulf

Wir danken der Rosa Luxemburg Stiftung für die Förderung des Themenschwerpunktes

49 Rezension 50 Szene / Tagungen Impressum

Kultur und Debatte 41

Postkolonialismus: Blond, bärtig und weiß Koloniale Mythen über Götterdämmerung in Mexiko von Simon Brüggemann

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Erinnerungspolitik: Leugnung als Staatsdoktrin Die Türkei und der Genozid an den ArmenierInnen (Teil 2) von Corry Guttstadt

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Die Dramatik des Problems Die Anschläge von Paris rückten auf denkbar grausame Weise ins Bewusstsein europäischer Öffentlichkeiten, dass der Dschihadismus seinen Machtanspruch auch in europäischen Städten geltend macht. Gerade viele Medienschaffende empfanden das Massaker an den Charlie Hebdo-­ RedakteurInnen als Angriff auf ihr eigenes Milieu, auf ihr Selbstverständnis und ihre Werte. Die Morde im koscheren Supermarkt machten zugleich bewusst, wie sehr der Dschihadismus von einem zu allem entschlossenen Antisemitismus angetrieben wird. Das ehrliche Erschrecken darüber und der Wille, dem Dschihadismus nun auf allen Ebenen entschiedener denn je entgegen zu treten, sind absolut nachvollziehbar. Doch sollte darüber nicht in Vergessenheit geraten, dass es nicht in erster Linie weiße, nichtmuslimische EuropäerInnen sind, die im Visier der verschiedenen dschihadistischen Gruppierungen stehen. Denn in vielen Ländern des Globalen Südens ist die Bedrohung durch sie ungleich größer.

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m Nahen Osten und in Afrika werden schon seit längerem unzählige Orte und ganze Regionen von dschihadistischen Besatzern in Beschlag genommen. Die dort lebende Bevölkerung ist einem kaum vorstellbaren brutalen Terror ausgesetzt. Der Vormarsch des Islamischen Staates in Irak und Syrien kostete tausende Menschenleben, noch immer sind täglich neue Opfer zu beklagen. In Nigeria kontrollierte die Islamistengruppe Boko ­Haram Anfang Februar etwa 130 Städte und Dörfer. Im Nordosten ist ein Gebiet der Größe Belgiens unter ihrer Vorherrschaft, etwa 15.000 Menschen starben bei den Kämpfen. Im Januar brannte Boko Haram die Stadt Baga nieder. Die Islamisten stehen nun vor der Hauptstadt der Provinz Bornovor, der Millionenstadt Maiduguri, wo Boko Haram früher ihr Hauptquartier hatte. Bewaffnete BürgerInnen aus Maiduguri stellen sich der Terrormiliz entgegen, denn die staatliche Armee ist dazu mangels Unterstützung durch die nigerianische Politik weder fähig noch willens. In den letzten Jahren kamen aus so vielen Ländern Berichte über eskalierende Aktivitäten dschihadistischer Gruppen, dass selbst politisch interessierte BeobachterInnen den Überblick verloren: Ägypten, Afghanistan, Algerien, Indonesien, Irak, Jemen, Kenia, Libanon, Libyen, Mali,

Marokko, Niger, Pakistan, Palästina, Somalia, Sudan, ­Syrien, Tschetschenien… Wie wenig die dschihadistische Landnahme in Somalia, Jemen, Nigeria, Syrien oder Gaza bisher die westlichen Öffentlichkeiten aufrüttelte, ist frappierend. Es brauchte wohl, und das ist beklagenswert, die Anschläge von Paris, um die Dramatik des Problems auf die globale Tagesordnung zu bringen. Und nun? Zunächst bedarf es einer Klarstellung, insbesondere vor dem Hintergrund, dass immer mehr Stimmen laut werden, die ein massives militärisches Eingreifen etwa durch NATOTruppen fordern und sich die Sache damit leicht machen: Die Frontstellung beim Kampf gegen den Dschihadismus ist nicht MuslimInnen versus Westen, sondern dschihadistische Terroristen versus Menschheit. Als eine vor nichts zurückschreckende Missionierungsbewegung kämpfen Dschihadisten gegen alle, die ihnen nicht uneingeschränkt folgen. Die meisten Opfer dabei sind MuslimInnen – ein Fakt, das allzu oft übersehen wird. Nirgendwo kämpfen schon heute mehr Menschen gegen den Islamismus als in denjenigen Ländern, wo er am stärksten ist, und nirgendwo zahlen sie dafür einen höheren Preis. Die syrische Stadt Kobane wurde unter gewaltigen Anstrengungen durch kurdische KämpferInnen vom Islamischen Staat befreit. Doch Kobane ist nun zerstört. Den Wiederaufbau dort zu unterstützen, wäre ein wichtiges Zeichen der Solidarität. Dazu müssen europäische Regierungen jedoch durch kritische Öffentlichkeiten gezwungen werden. Anders als die Gratissolidarität nach den Pariser Anschlägen kostet Wiederaufbau Geld. Und anders als Waffenexporte an Saudi Arabien spült er kein Geld in die Kassen europäischer Fabriken des Todes.

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uf den folgenden fünf Seiten dokumentieren wir Kommentare, die in den Tagen nach den Anschlägen von Paris geschrieben wurden. So unterschiedliche Akzente die Autoren setzen, so sehr zeichnet sie alle aus, die Dramatik des Problems erkannt zu haben. Dennoch propagieren sie nicht vermeintlich einfache Lösungen wie militärische Inter­ventionen. Der Kampf um Befreiung ist auch im Falle des Dschihadismus in erster Linie einer um die Köpfe. die redaktion

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Ebola

Terrorismus der Armut Die Ebola-Epidemie ist eine Folge von sozialer Ungleichheit Krankheit das schwache öffentliche Gesundheitssystem heillos überfordert. Es gibt kaum Infrastruktur und zu wenig Personal, um die Verbreitung des Virus wirksam eindämmen zu können. Das westafrikanische Land von der Größe Hessens erbte bei seiner Unabhängigkeit 1961 ein System der auf Ausbeutung gegründeten Herrschaft, extrem schwache staatliche Institutionen sowie eine auf Export ausgerichtete und vom Weltmarkt abhängige Wirtschaft. von Anne Jung und Andreas Wulf Bereits mit der kolonialen Eroberung und Durchdringung der westafrikanischen Küstenregionen wurde eine Plantagenwirtschaft tt Seit Monaten hat der Ebola-Virus die Manoriverregion fest im etabliert, die auf die Bedürfnisse der Kolonialmächte und nicht auf Griff, jenes Dreiländereck, zu dem Liberia, Guinea und Sierra Leoeine lokale Nahrungssicherheit ausgerichtet war. Die im Kolonialismus geschaffenen Herrschaftsstrukturen be­ ne gehören und das in einer Hinsicht die Weltranglisten anführt: Die Gesundheitssysteme dieser drei Länder gehören zu den reiteten dem heutigen Patrimonialsystem den Boden, das die schwächsten der Welt. Mit mehr als 8.600 von der WeltgesundRessourcen in einem persönlichen Beziehungsnetzwerk verteilt und heitsorganisation (WHO) bestätigten Todesfällen übertrifft die die Unterstützung finanzstarker externer Akteure vor die Bedürfderzeitige Ebola-Epidemie alle bisherigen Ausbrüche des seit 1976 nisse der eigenen Bevölkerung stellt. Für die herrschende Klasse ist bekannten Virus. Tausende unbekannte Fälle werden zusätzlich das ein Erfolgsmodell und für Unternehmen ein profitables System, vermutet, und besonders in Sierra Leone ist die Weiterverbreitung denn Sierra Leone verfügt über fruchtbare Böden. Unter der Erde nahezu ungehindert. Hinzu kommt, dass auch lagern viele begehrte Rohstoffe, darunter Diadie Sterblichkeit bei anderen Krankheiten zumanten, Bauxit und Rutil. »Die Ebola-Epidemie ist nimmt, weil die Epidemie gerade GesundheitsDie ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen arbeiterInnen infiziert und tötet und beispielsReichtums führte zu Perspektivlosigkeit und keine Naturkatastrophe« weise auch Malaria-Kranke nicht mehr versorgt Wut gerade bei der jungen Bevölkerung und werden können. bereitete so den Nährboden für die Kriegsrhetorik der Rebellenbewegung und der Regierung. Das lange Jahrzehnt Ebola war lange Zeit eine extrem seltene und begrenzt auftredes Bürgerkriegs von 1991 bis 2002 mit zehntausenden Toten tende Erkrankung in wenigen ländlichen Gebieten im tropischen Afrika. Nun ist daraus eine dramatische Krise geworden. Wie konnwurde mitfinanziert durch transnationale Unternehmen, die mit te es dazu kommen? Die Epidemie konnte sich so ungebremst beiden Kriegsparteien Geschäfte machten. Die ohnehin schwach ausbreiten, weil sie untrennbar mit ungünstigen sozialen, wirtentwickelte Infrastruktur zerbrach und diejenigen, die es sich finanschaftlichen und politischen Bedingungen verbunden ist. Eine ziell leisten konnten, darunter ÄrztInnen, Krankenschwestern und jahrzehntelange nationale und internationale Politik, in der elemenPfleger, flohen ins Ausland. tare Bedürfnisse der Bevölkerung vernachlässigt wurden, schaffte Nach dem Ende des verheerenden Bürgerkrieges zwangen IWF und Weltbank die Regierung Sierra Leones, die Gehälter im für das tödliche Virus die besten Voraussetzungen, sich zu verbreiten, und schürte zugleich in der Bevölkerung tiefes Misstrauen Gesundheitssektor bis unter die Armutsgrenze abzusenken. Dies gegenüber den staatlichen Versorgungsstrukturen. Ebola ist mehr vertrieb den Großteil des noch vorhandenen Gesundheitspersonals. als eine Krankheit: Die Epidemie ist Ausdruck krankmachender Die parallel dazu angehobenen Behandlungsgebühren schlossen Verhältnisse, die das Virus erst zur Epidemie werden ließen, wie das Millionen Menschen vom Zugang zu Gesundheitsdiensten aus. Seit Beispiel Sierra Leone zeigt. Jahrzehnten sterben die Menschen in Sierra Leone an vermeidbaren Krankheiten, was sich unter den aktuellen Bedingungen noch verstärkt. Zynische Ratschläge für Sierra Leone Die Exportorientierung der Wirtschaft wurde mit dem Friedenstt Um sich vor Ebola-Viren zu schützen, soll man sich mehrmals schluss von 2002 systematisch ausgebaut, ohne dass sie eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die breite Bevölkerung am Tag mit Wasser und Desinfektionsmitteln die Hände waschen, mit sich gebracht hätte. Im Gegenteil: Die großflächige Aneignung lautet ein oft vorgetragener und sachlich korrekter Ratschlag. Im Zuge der Epidemie wird diese Hygiene auch den Menschen in von Land durch Unternehmen, die Zuckerrohr und Maniok für die Sierra Leone angetragen. Aber: »Bedenkt man, dass jeder Zweite Produktion von Biosprit anbauen, raubte der Bevölkerung die Ernährungsgrundlage und den Zugang zu Trinkwasser. In der Provinz im Land gar keinen Zugang zu sauberem Wasser hat, klingt dieser Rat geradezu zynisch«, sagt Joseph Pokawa von Network Movement Bombali, der von Ebola am schlimmsten betroffenen Regionen im for Justice and Development (NMJD), einer landesweit tätigen Norden des Landes, liegen Zuckerrohrplantagen soweit das Auge Menschenrechtsorganisation, die sich für Verteilungsgerechtigkeit reicht. und Zugang zum Rechtssystem in Sierra Leone einsetzt. Auch in den an Diamanten reichen Regionen wird die Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit auf allen Ebenen torpediert. Um In einem Land, in dem sich im Schnitt ein/e MedizinerIn um an die Diamanten zu gelangen, werden massenhaft Menschen 30.000 PatientInnen kümmern muss, wundert es nicht, dass die

Die Ebola-Krise in Westafrika wäre mit einem funktionierenden öffentlichen Gesundheitssystem in den Griff zu bekommen. Doch fehlgeleitete nationale wie internationale Gesundheitspolitik verhindert das. Und so sind einmal mehr jene Menschen besonders geschädigt, die ohnehin schon unter Armut leiden.

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Gesund werden ist möglich: Christine Freeman aus Liberia freut sich über ihre Genesung von Ebola

vertrieben und enteignet. Die offenen Sprengungen führen zu schweren Atemwegserkrankungen. Die Industrie wurde dennoch in den Verträgen zu keinerlei Reinvestitionen in die Bereiche Bildung oder Gesundheit verpflichtet. Sierra Leones Präsident Ernest Koroma ist stolz darauf, sein Land wie ein Unternehmen zu führen. Er entbindet sich selbst und die internationalen Unternehmen von jedweder sozialen Verantwortung. Es sind diese Verdrängungsprozesse, die die Menschen und die potentiellen Überträger des Ebola-Virus überhaupt erst in engeren Kontakt bringen: Die Abholzung nimmt den Flughunden angestammte Lebensräume, und vertriebene Menschen weichen in zuvor unbesiedelte Waldgebiete aus. Palmöl-Plantagen scheinen Fledermäusen besonders gute Lebensmöglichkeiten zu geben. Die tödliche Folge: Das Virus wird schneller vom Tierwirt auf den Menschenwirt übertragen.

Reich sein ohne Risiko Der Ebola-Virus trifft also nicht auf jene, die von den Herrschaftsverhältnissen profitieren, oder auf jene, die die Erosion der sozialen Infrastruktur durchgesetzt haben, sondern auf die Armen und Kranken. Die Übertragung der Erreger von Mensch zu Mensch ist Teil einer Ökonomie des Risikos, die Arme in beengten Wohn- und Lebensverhältnissen höheren Infektionsrisiken aussetzt. Während Wohlhabende es sich leisten können, in großzügigen Häusern zu leben und eigene Fahrzeuge zu haben, wohnen in den Armenvierteln teils ganze Familien in winzigen Hütten und fahren in übervollen Sammelbussen. Auch sind Arme in stärkerem Maße auf innerfamiliäre Solidarität im Krankheitsfall angewiesen. Der Ebola-Virus wird besonders häufig durch die Pflege erkrankter Angehöriger übertragen, sodass häufig ganze Familien nacheinander erkranken und sterben. tt

Foto: C. Ryan / médecins sans frontières

»Das ist keine Naturkatastrophe«, sagt deshalb Paul Farmer, Professor an der Harvard Universität und Gründer von Partners in Health. Er spitzt zu: »Ebola ist der Terrorismus der Armut.« Im Extremfall eskaliert ein solches Risiko in massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die sich nicht mehr medizinisch begründen lassen. Der militärisch durchgesetzte »Cordon Sanitaire« um den größten Slum Westafrikas in Liberias Hauptstadt Monrovia ist hierfür ein offenkundiges Beispiel. Restriktionen der Mobilität haben dramatische ökonomische Folgen: So kamen große Teile des Güterverkehrs in Liberia, Sierra Leone und Guinea zum Erliegen, was die Versorgung mit Nahrungsmitteln gefährdet. Die Preise für Reis sind über 30 Prozent gestiegen. Wieso also sollten Menschen in einem Land wie Sierra Leone, die den Staat bisher nicht in einer fürsorglichen Rolle erlebt haben, jetzt den Empfehlungen der Behörden Vertrauen entgegenbringen, die vielerorts ganze Viertel abriegeln, ohne die eingeschlossenen Menschen ausreichend zu versorgen? Wieso auf einen Staat vertrauen, der in Sierra Leone seit Jahrzehnten als Urheber von Unsicherheit, Angst und Willkür wahrgenommen wird? Das tiefe Misstrauen ist die denkbar schlechteste Ausgangslage für die vielen HelferInnen und AktivistInnen, darunter jene der Menschenrechtsorganisation NMJD, die ihre Arbeit auf EbolaAufklärung umgestellt haben. Doch sie können auf eines bauen: Die Menschen vertrauen ihnen, das ist ihr wichtigstes Gut. Seit Wochen gehen die Mitwirkenden von NMJD von Tür zu Tür und versuchen in Gesprächen, Angst, Misstrauen und die fatalistische Haltung der Menschen zu überwinden. Sie erklären geduldig, dass es lebensgefährlich ist, Kranke zu Hause zu pflegen, dass all jene, die eine Ebola-Infektion überleben, tatsächlich geheilt sind und warnen vor der wachsenden Stigmatisierung. Und sie versuchen trauernde Angehörige respektvoll davon zu überzeugen, ihre an Ebola gestorbenen Liebsten nicht zu umarmen und Alternativen

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Ebola für die besonders für Muslime wichtige Totenwaschung zu finden. Und – das ist vielleicht der wichtigste Teil ihrer Arbeit – sie stellen Forderungen an die Politik und fordern die Wahrung der Menschenwürde ein. »Der Umgang mit der Epidemie ist auch eine Frage der Menschenrechte«, sagt Josephine Koroma von Network Movement. Gerade deshalb ist es so wichtig, schon jetzt Perspektiven für die Zeit nach der Epidemie zu entwickeln. Für eine Gesundheitsfürsorge, die ihren Namen verdient, für den Zugang zu Bildung und eine gerechte Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen. »Indem die Regierung den Menschen das Recht auf Bildung vorenthält, verhindert sie, dass Menschen für ihr Recht auf Gesundheit streiten«, sagt Joseph Pokawa. »Wir brauchen echte Solidarität. Falsch verstandene Hilfe versäumt es die Betroffenen zu ermächtigen, sich selbst zu helfen.«

Ein Paradigmenwechsel tut Not Die betroffenen Länder brauchen dringend kurzfristige Unterstützung bei der Krankenversorgung, etwa durch den Aufbau von Behandlungszentren und freiwillige Fachkräfte, durch Aufklärung und Vermeidung von Neuinfek­ tio­nen. Doch geht es um mehr als das: Die mit dem Globalisierungsprozess entstandenen Gesundheitsrisiken dürfen nicht zur ­Legitimation einer Politik der Abschottung dienen. Eine Politik, die ökonomische Interessen über die Rechte der Menschen stellt und den Großteil der Bevölkerung in Westafrika dazu zwingt, alle Kraft in den Kampf um das tägliche Überleben zu investieren, wird freiwillig keine gesundheitsfördernden Lebensumstände schaffen. Benötigt wird nicht weniger als ein Paradigmenwechsel in der Weltgesundheitspolitik, der die neoliberale Marktdominanz zurückweist und für eine Gesundheitsfürsorge streitet, die allen Menschen zugänglich ist und ein Leben in Würde garantiert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist allerdings derzeit nicht die geeignete Akteurin, einen solchen Paradigmenwechsel durchzusetzen. In der Ebola-Epidemie wurde ihre begrenzte Handlungsfähigkeit offenbar. Einer der Gründe dafür ist die chronische Unterfinanzierung der WHO. Ihre flexibel verfügbaren Mitgliedsbeiträge haben große Geberländer faktisch eingefroren, um mit freiwilligen Zusatzzahlungen mehr direkten Einfluss auf die Aktivitäten der WHO nehmen zu können. Zudem hat die WHO in ihrem aktuellen Budget die Mittel für schnelle Hilfen im Krisenfall halbiert – auf 228 Millionen US-Dollar für 2014/15. Die Budgetkürzungen und die damit entstandene Abhängigkeit von privaten GeldgeberInnen führt zu Kontrollverlust und problematischer Konkurrenz zwischen den verschiedenen Programmen der WHO um die Gunst privater GeberInnen, die ihr Geld meist nur für zweckgebundene Projekte bereitstellen. Private Stiftungen stehen zu Recht im Verdacht, im engen Schulterschluss mit der Gesundheitsindustrie nur die WHO-Projekte zu finanzieren, die auf kurzfristige (Prestige-)Gewinne hoffen lassen. Um die Einflussnahme von korporativen Interessen auf die WHO zu minimieren, damit sie in den Debatten um Privatisierungen die Wichtigkeit öffentlich tt

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verantworteter Gesundheitsversorgung verteidigen kann, ist die nichtprivate Finanzierung der WHO durch ihre Mitgliedsstaaten unerlässlich.

Internationalisierung des Solidarprinzips Wenn der Zugang zu Gesundheitsdiensten durch Kommerzialisierung an die Kaufkraft der PatientInnen gekoppelt wird, verschärft dies die soziale Ungleichheit. Ohne massive Erhöhung der öffentlichen Ausgaben werden sich daher weder Ebola noch andere gesundheitliche Herausforderungen bekämpfen lassen. Gesundheitsrisiken können durch die Verpflichtung zur Regulierung von Unternehmen reduziert werden. Wirksame Daseinsvorsorge und strukturelle Präventionsmaßnahmen wären über die Besteuerung von Unternehmensgewinnen, Einkommen und Vermögen finanzierbar. Die Wiedereinführung von Vermögenssteuern stößt jedoch bei den meisten Regierungen auf erbitterten Widerstand. Außerdem wird auf die mögliche Erhöhung von Staatseinnahmen zugunsten der Alimentierung von Unternehmen verzichtet. Das gilt für Europa genauso wie für Westafrika. Der Betrag, den die Regierung von Sierra Leone beispielsweise allein 2011 als Steuergeschenke für Unternehmen aufbrachte, entspricht der achtfachen Höhe des Gesundheitsbudgets. Damit Regierungen und die WHO ihren Aufgaben gerecht werden können, bedarf es einer dauer­ haften finanziellen Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft zur globalen Gesundheitspolitik, die auf einem Bekenntnis zu öffentlichen, solidarischen Strukturpoli­ Foto: G. Gordon tiken beruht und nicht allein auf kurzfristigen, jederzeit aufkündbaren Hilfsgeldern. Die Schaffung eines internationalen Umverteilungsmechanismus, ähnlich wie im deutschen Länderfinanzausgleich, ist dazu notwendig: Er verpflichtet die reicheren Länder dazu, Ressourcen an Länder zu transferieren, deren Möglichkeiten derzeit nicht ausreichen, um Gesundheit aus eigener Kraft zu garantieren. Kritische Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen setzen sich seit einigen Jahren für ein völkerrechtlich wirksames Rahmenabkommen ein, das die Regierungen zur Finanzierung eines Gesundheitsfonds verpflichtet. Diese konkrete Forderung ergibt sich aus dem Menschenrecht auf Gesundheit und hat bereits Eingang in die Diskussionen der UNO-Generalversammlung gefunden. Die Schaffung von funktionierenden Gesundheitssystemen scheitert nicht an fehlenden Ressourcen, sondern an der Weigerung, die bestehenden Ressourcen gerecht zu verteilen. Solange sich das nicht ändert, bleibt es für die Menschen in Westafrika ein Phantasma, über soziale Teilhabe und Gesundheit zu sprechen. tt

Anne Jung und Andreas Wulf sind bei der sozialmedizinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international für das Thema Gesundheit zuständig (www.medico.de/ebola). Eine weitere Publikation der AutorInnen zu Ebola erschien unter dem Titel »Ausgrenzung ist die Seuche« als Standpunkte der Rosa ­Luxemburg Stiftung 03/2015. tt

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Folter – entgrenzte Herrschaft »Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann. Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert.« (Jean Améry)

Folter ist weltweit geächtet. Jedenfalls könnte man das aufgrund der Tatsache annehmen, dass 155 Staaten die UN-Antifolterkonvention ratifiziert haben. Fakt ist aber auch, dass Amnesty International (AI) aus 141 Ländern Berichte über die Anwendung von Folter oder folterähnlicher Gewalt vorliegen. Teilweise handelt es sich um Einzelfälle, die es nicht rechtfertigen, von einem systematischen Folterregime zu sprechen. Die Grenzen zu planmäßiger Anwendung von Folter sind indes fließend. Bei einigen Ländern wie Nigeria, Marokko, Mexiko, Philippinen oder Usbekistan konstatiert AI gar »routinemäßig angewandte Folter«.

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olternde Unrechtsstaaten sind nicht auf den Globalen Süden beschränkt. Auch im Norden ist Folter oder zumindest folterähnliche Gewalt (wieder) eine konkrete Handlungsoption bei der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols und der Bekämpfung des Terrorismus, wie etwa der jüngste CIA-Bericht offenbart. Bekannt gewordene Fälle wie im US-amerikanischen Gefängnis von Abu Ghraib erregen zwar zeitweilig die Öffentlichkeit. Doch von einer ausnahmslosen – und vor allem wirkungsmächtigen – Ächtung der Folter in all ihren Formen kann keine Rede sein. Noch schrecklicher wird das hier gezeichnete Bild, wenn nichtstaatliche Akteure mit in den Blick genommen werden. Ob Dschihadisten, Warlords, Milizen oder organisierte Kri-

minelle: Folter wird von ihnen oft in besonders grausamer Weise angewandt. Nicht selten geschieht dies mit Billigung oder gar im Auftrag der Staaten, etwa bei parastaatlichen Milizen in lateinamerikanischen Ländern. Die Grenzen zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Anwendung von Folter sind ebenfalls fließend. Unser Themenschwerpunkt nimmt eine grundsätzlich herrschaftskritische Sichtweise ein und begreift Folter nicht als bloße Abweichung von der menschenrechtlichen Norm, sondern als eine dem staatlichen Gewaltmonopol latent innewohnende Zuspitzung von Herrschaft, als ultimatives Mittel zu ihrer Sicherung. Die Möglichkeit der Folter ist eine Drohung, mit der jedes aufbegehrende oder ‚feind­ liche’ Individuum dort getroffen werden soll, wo es am verletzlichsten ist: bei der körperlichen und seelischen ­Integrität. Nie ist die Einsamkeit des Menschen größer als im Moment der Folter und des absoluten Ausgeliefertseins. Die Abschaffung von Folter ist ein kategorischer Imperativ, der nicht verhandelbar und relativierbar ist. Diese eigentlich selbstverständliche Aussage klingt heutzutage vollkommen utopisch. Doch vergessen wir nie: Eine Welt ohne Folter ist möglich. Staaten wie Dänemark gehen mit gutem Beispiel voran. Auch dort gibt es heftige Konflikte und Rassismus, doch es ist Konsens, dass Menschenrechte uneingeschränkt gelten. Auch bei Terrorismusverdächtigen. die redaktion

Die Fotos in diesem Themenschwerpunkt wurden in Amna Suraka aufgenommen – einem berüchtigten Folter­ gefängnis des bathistischen Saddam-Hussein-Regimes. Mitten in der Großstadt Suleymaniya im kurdischen Nordosten des Iraks gelegen, wurden hier tausende politische Gefangene inhaftiert, gequält und ermordet. Die meisten von ihnen waren oppositionelle KurdInnen. Selbst vor der Folterung von Kindern und der Verge­ waltigung von Frauen schreckten die bathistischen Schergen nicht zurück, um Aussagen zu erpressen. Der Gebäudekomplex Amna Suraka (deutsch: »rote Sicherheit«) wurde ab 1979 erbaut und diente dem Regime, bis gegen Ende des Zweiten Golfkriegs im März 1991 kurdische Peschmerga-KämpferInnen das Gefäng­ nis stürmten. Unzählige Einschusslöcher zeugen heute von den heftigen Kämpfen, bei denen 700 Bathisten ihr Leben ließen. Einige ihrer Opfer konnten erst in letzter Minute vor der Ermordung gerettet werden. Manchen KurdInnen gilt Amna Suraka in Anlehnung an die Fran­ zösische Revolution als »unsere Bastille«.

Nach der Befreiung diente der Komplex kurdischen Flüchtlingen als Notunterkunft. Im Jahr 2000 wurden in dem bis heute kaum veränderten Komplex ein welt­ weit einzigartiges Museum und eine Gedenkstätte ein­ gerichtet. Beides erinnert an die Folteropfer des Regimes, aber auch an die »Anfal«-Kampagne, in der das BathRegime tausende KurdInnen teils mit Giftgas ermor­ dete und ganze Dörfer auslöschte. Im Inneren der Gebäude sind ehemalige Folterzellen zu besichtigen. Skulpturen des kurdischen Künstlers Kamaran Omer stellen damalige Szenen nach. Omer hatte zuvor dut­ zende Überlebende interviewt. Das Museum warnt auf seiner Webseite www.amnasuraka.org potenzielle ­BesucherInnen: »Many of the rooms will be disturbing for visitors, discretion and proper preparation is stron­ gly advised«. Unsere Bilderstrecke zeigt einen herausgehobenen Ort der Gewalt, ohne damit verschweigen zu wollen, dass Folter im Irak auch von anderen AkteurInnen ver­ übt wurde. Etwa durch US-amerikanische SoldatInnen.

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Assads deutscher Stuhl In Syrien ist Folter fast allgegenwärtig

Foto: R.Maro/version-foto.de

Systematische Folter war von Beginn an eines der wichtigsten Herrschafts­ instrumente des syrischen Bath-Regimes. Im Zuge der allgemeinen Brutalisierung durch den Bürgerkrieg wird nun auch von der islamistischen Opposition gefoltert. Das hinterlässt eine schwer traumatisierte Bevölkerung.

von Jörn Schulz Man müsse einen »wilden, tödlichen Hass erzeugen gegen Personen, die eine gegensätzliche Idee repräsentieren«, forderte Michel Aflaq, Mitbegründer der 1947 in Damaskus entstandenen Bath-Partei. Die Kämpfer für die »Wiedergeburt« (Bath) der arabischen Nation haben nie verborgen, dass sie ihr Machtmonopol mit allen Mitteln durchsetzen würden. Die Partei betrachtet sich bis heute als Kopf des »Volkskörpers«. Jenseits von ihr kann es nur »Verschwörer« und »Verräter« geben. Unter einem Regime, das die Liquidierung von Oppositionellen zur Staatsdoktrin erhebt, ist Folter ein notwendiger Bestandteil der Repression. Sie dient vor allem der Bestrafung, Einschüchterung und Abschreckung. Anfangs hatte das zunächst stark sozialpopulistisch geprägte syrische Regime eine breite Basis, die jedoch mit der wachsenden Korruption und Repression, dem Aufstieg der islamistischen Opposition (die 1982 mit dem Massaker von Hama niedergeschlagen wurde), der Verbreitung demokratischer Ideen und der sozialen Ungleichheit erodierte. In den Jahren vor dem Beginn der arabischen Revolten 2011 vertraten wahrscheinlich 70 bis 80 Prozent der SyrerInnen oppositionelle Ideen – sie alle zu töten, hätte das Land entvölkert. Jeder aus der Haft Entlassene aber ist eine Warnung an sein Umfeld. ExpertInnen sind sich darüber einig, dass die Folter keine zuverlässigen Erkenntnisse bringt, da der Gefolterte das aussagt, von tt

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dem er glaubt, dass es die Verhörer zufrieden stellt. Doch gilt dies nur im Rahmen seriöser Kriminalistik. Aus bathistischer Sicht gibt es unter Freunden und Verwandten eines Oppositionellen keine Unschuldigen – wären sie loyal, hätten sie den »Verrat« angezeigt. Werden aufgrund von erpressten Aussagen Menschen gefoltert, die selbst nicht oppositionell tätig waren, ist das aus Sicht der Herrschenden rational, denn es ist eine Warnung, sich von Oppositionellen fernzuhalten und somit ein Mittel, jeden Ansatz von Widerstand zu isolieren.

Republiken der Angst Die Angst vor Folter und den Gefängnissen der Geheimdienste prägte vor Beginn der Revolten alle arabischen Gesellschaften, doch gab es Unterschiede in der Vorgehensweise. In Ägypten begann die Repression meist mit einer Vorladung und einem Verhör, bei dem sich die Beamten zwar korrekt verhielten, aber die Drohung, dass es schlimmer kommen könne, immer präsent war. Im Irak Saddam Husseins hingegen war Folter Routine und die Gefängnisse wurden regelmäßig durch Massenhinrichtungen geleert, um Platz für neue Gefangene zu schaffen. Das syrische Regime erreichte vor 2011 dieses Ausmaß an Brutalität nicht, folterte aber schneller, häufiger und systematischer als tt

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Fo l t e r das ägyptische. Obwohl die im Irak systematisch ausgeübte Gewalt von Folter gegeben, doch »dieses Phänomen scheint anzuwachsen«. gegen Angehörige auch in Syrien vorkommt, scheint das Regime Willkürliche Inhaftierungen und systematische Folter in Raqqah stellten Verbrechen gegen die Menschheit dar. Als Täter identifiziert sich den vorliegenden Berichten zufolge – zuverlässiges Datenmaterial über das Ausmaß der Folter vor und nach Beginn des Aufstands wurden Isis, Jabhat al-Nusra, Ahrar al-Sham, Asifat al-Shamal und existiert nicht – auf die für seine Herrschaft gefährlichste Gruppe Liwa al-Tawheed – die Vorläuferorganisation des »Islamischen Staates« sowie al-Qaida nahestehende und von den Golfmonarkonzentriert zu haben: junge Männer. Den meisten von ihnen erchien unterstützte Gruppen. laubt das vorherrschende Männlichkeitsbild nicht, über erlittene Der Bericht »Under Kurdish Rule« von Human Rights Watch Traumatisierungen zu sprechen. Die Vermutung ist jedoch nahedokumentiert willkürliche Festnahmen, Misshandlungen sowie liegend, dass das deutlich unterschiedliche Gewaltniveau in den arabischen Gesellschaften nach dem Beginn der Revolten mit dem ungeklärte Entführungs- und Mordfälle in den kurdischen Enklaven Ausmaß der Brutalität unter dem alten Regime zusammenhängt. Syriens. Dort gehe »es ruhiger zu als im Rest des Landes, aber Erlittene Folter weckt Rachegedanken, auch bei Freunden und dennoch geschehen dort schwere Menschenrechtsverletzungen«. Verwandten, und der Hass richtet sich meist gegen die Gruppe Die kurdische Verwaltung sagte eine Untersuchung und eine Veroder Institution, der der Folterer zugerechnet wird – gegen die besserung der Haftbedingungen zu. Unklar ist zwar, ob die kurdiHerrschenden, aber auch die Konfession, der die meisten von ihnen schen Parteien YPG und PYD in ihren Herrschaftsgebieten einen angehören. Pluralismus akzeptieren, der ihre Kontrolle bedroht, doch gehörte Eine humanistische Einstellung kann dem entgegenwirken. Kanan Folter nie zu ihrer Politik. Eher handelt es sich um Verbrechen Makiya beschreibt in seinem Buch »Republic of Fear« jedoch, wie Einzelner, die allerdings durch autoritäre Strukturen in der kurdischen Verwaltung begünstigt werden. Hier aber kann Druck aus dem das irakische Regime die Bevölkerung atomisierte und in seinem Sinn neu zusammensetzte. Die Transformation »von Klassen zu Ausland wie auch seitens der Bevölkerung erfolgreich sein. Massen« habe die individuelle und soziale Moral zerstört, so dass jedes Verbrechen möglich wurde. Makiyas Erkenntnisse dürften auf Eine neue Qualität des Terrors den wesensverwandten syrischen Bathismus übertragbar sein. Nach dem Beginn des Aufstands eskalierte in Syrien die Gewalt, tt Wenig überraschend agiert der »Islamische Staat« (IS) besonders die Zahl der Gefolterten stieg. »Im Verteidigungsministerium ­hatte brutal, unter anderem mit der Folterung von Kindern. Nicht selten ich den Job, die Toten zu fotografieren – vor und nach der Revowerden offenbar die gleichen Methoden benutzt, die ehemals lution«, berichtet »Caesar«, so der Deckname eines aus Syrien inhaftierte Jihadisten selbst ertragen mussten. Sie haben in Syrien geflüchteten Justizbeamten. »Wir hatten sehr viel mehr Arbeit nach weithin bekannte Namen, etwa »fliegender Teppich« oder »deutder Revolution.« Er präsentierte 55.000 Fotos von 11.000 Getötescher Stuhl«. DemokratieaktivistInnen aus Raqqah berichteten der ten. Bei vielen Leichen sind Folterspuren zu erkennen. Zeitung Telegraph, sie seien auf diese Weise 2011 in Gefängnissen des Regimes und erneut 2014 von Mitgliedern des IS gefoltert Ausgewertet wurde Caesars Material in einem Bericht von Desworden. mond de Silva, Geoffrey Nice und David Crane, die zuvor an internationalen Strafgerichtshöfen tätig waren. Dass der Report mit Schon angesichts der hohen Beteiligung ausländischer Jihadisten Hilfe des Emirats Katar erstellt wurde, das die islamistische Oppokann die beispiellose Brutalität der IS-Kämpfer nicht allein auf die sition gegen Assad unterstützt, weckte Folgen der bathistischen Herrschaft zuVerdacht. In der Propaganda zählt jedoch rückgeführt werden. Sie teilte aber die Die Jihadisten brüsten sich öffenteher der zu Herzen gehende Einzelfall als Gesellschaft in zu belohnende Gefolgs­ leute und zu bestrafende Feinde ein und eine anonyme Masse von Getöteten. Es lich mit ihren Grausamkeiten legte so die Grundlage für die heutige ist unwahrscheinlich, dass eine umfangreiche Fälschungsarbeit unternommen Spaltung. Diese existiert auch in konfeswurde, wenn ein mindestens ebenso großer Effekt viel einfacher sioneller Hinsicht, denn der Bathismus war nie säkular, vielmehr war der Konfessionalismus ein Herrschaftsinstrument eines hätte erzielt werden können. Der Bericht deutet darauf hin, dass ­Klientelsystems, das in Syrien von Angehörigen der alawitischen sich das bedrängte Assad-Regime nicht mehr auf den Effekt der Einschüchterung verlassen will und Verdächtige zu Tausenden, Minderheit geführt wurde. Der Bürgerkrieg treibt nun auch die wenn nicht Zehntausenden in den Gefängnissen töten lässt. Aller­Gemäßigten, Unwilligen und Ungläubigen unter den Schutz der dings gibt es auch immer wieder Berichte über die Freilassung von Kämpfer »ihrer« Konfession. Gefangenen, die gefoltert wurden. Über das Ausmaß der Folter im Herrschaftsgebiet des IS liegen Die Systematik und weite Verbreitung der Folter wird von ankeine verlässlichen Angaben vor. Offenkundig ist jedoch, dass der deren Untersuchungen bestätigt. Bereits im Juli 2012 identifizierte Terror des IS in einer Hinsicht eine neue Qualität erreicht: In Dikta­ turen soll die Angst vor der Folter sich in der Gesellschaft verbreiten. Human Rights Watch 27 Folterzentren und in vielen Fällen sogar die kommandierenden Offiziere. »Die tatsächliche Zahl solcher Eingestanden oder gar zur Schau gestellt wird sie jedoch nie. Die Einrichtungen ist wahrscheinlich viel höher«, stellte die MenschenJihadisten hingegen brüsten sich öffentlich mit Grausamkeiten, die rechtsorganisation fest. »Folter kommt am häufigsten unmittelbar Schrecken verbreiten sollen, aber auch zur Rekrutierung genutzt werden. Selbst wenn sich im syrischen Bürgerkrieg noch gemäßignach der Verhaftung und während der ersten Tage oder Wochen der Haft und der Verhöre vor. Bei der Ankunft in einer Interniete Kräfte durchsetzen, wofür derzeit wenig spricht, wird er eine rungseinrichtung werden Gefangene von den Wachen mehrere traumatisierte Gesellschaft hinterlassen. Stunden lang routinemäßig geschlagen und gedemütigt«, fasst ein UN-Bericht vom April 2014 zusammen. tt Jörn Schulz ist Islamwissenschaftler und Auslandsredakteur der Der UN-Bericht stellt auch eine Brutalisierung auf Seiten einiger Wochenzeitung Jungle World. Widerstandsgruppen fest. Anfangs habe es nur »isolierte Vorfälle« iz3w • März / April 2015 q 347

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ISSN 1614-0095

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Die Kuh ist vom Eis. Die Bundesregierung konnte ihre Visionen nahtlos umsetzen. Mit ihrem historischen Reformwerk, das nun in trockenen Tüchern ist, hat sie ein für allemal die Weichen gestellt. Indessen ist in der Bevölkerung die Schere zwischen Arm und Reich größer geworden. Dennoch muss die Regierung nicht zurückrudern. Der kleinere Koalitionspartner stärkt der Bundeskanzlerin nach wie vor den Rücken, indem er ihr den Rücken freihält, sodass sie weiter Rückenwind hat. Kritische Stimmen, die sich zunächst gemehrt hatten, warfen keinen Schatten auf die Regierungsbank, sondern gingen unter. Die Regierungsmannschaft bröckelt nicht, sondern hält weiter Kurs. Ein Bruderzwist ist nicht in Sicht. Fest steht: Über der Bevölkerung, die sich noch immer in einem Dornröschenschlaf befindet, obwohl sie massiv der Schuh drückt, wird weiter das Damoklesschwert Hartz IV schweben. Es bleibt also eine Zitterpartie. Doch das Zeitfenster, in welchem die Parteien akuten Handlungsbedarf nach weitergehenden Reformen anmelden können, bleibt weiterhin geöffnet. Die Parteien schnüren und bündeln hinter verschlossenen Türen schon neue Reformpakete. Entsprechende Eckpfeiler und Eckpunkte sind schon eingeschlagen bzw. markiert. Und es ist wohl mehr Peitsche als Zuckerbrot zu erwarten. Wenn die Zeichen der Zeit nicht erkannt werden und nicht bald ein zündender Funke überspringt und einen flächendeckenden Flächenbrand entfacht, wird der Widerstand, der momentan anzupeilen wäre, auch künftig nicht umgesetzt werden. Und wenn die Regierung dann ein weiteres Mal den Reformmotor anwirft und grünes Licht für soziale Grausamkeiten gibt, kann der Zug jetzt schon als abgefahren gelten. Die Gretchenfrage wäre, ob es gelingen kann, dass Teile des außerparlamentarischen Spektrums sowie linke, emanzipatorische Strukturen und Praxen sich schon im Vorfeld gegenseitig vernetzen, um zeitnah Druck aufzubauen. Aber da wird wohl nichts draus. Und alle gucken dann abermals in die Röhre bzw. dumm aus der Wäsche.


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