iz3w Magazin # 348

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Im Gegenlicht – Gesellschaftskritik im Spielfilm

iz3w t informationszentrum 3. welt

AuĂ&#x;erdem t Islam in Frankreich t Beihilfe zum Armeniengenozid t Bob Marley in Jamaika

Mai / Juni 2015 Ausgabe q 348 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


In dies er Aus gabe

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Foto: A. Almayer, FiSahara Festival

Schwerpunkt: Spielfilm 17 Editorial 17 3 Editorial

Politik und Ökonomie 4

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Armenien: »Nicht nur zugeschaut«

Mongolei: Eldorado für Konzerne Die Regierung fördert Bergbau und Umweltzerstörung von Eike Seidel

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Refugees: »Die Menschen flüchten, egal was sie erwartet« Zentralafrika: Auf Messers Schneide

Im Geiste der Freiheit »Timbuktu« ist eine Sternstunde des politischen Kinos von Christian Stock Rezension: »Bis zu einem gewissen Punkt«

Interview mit der israelischen Flüchtlings-Aktivistin Merav Bat-Gil

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Zwischen den Welten Die afrikanische Diaspora und ihr Kino von Karl Rössel Rezension: »Lumumba«

Frankreich: Islam à la carte Der Islam in Frankreich ist ebenso kolonial geprägt wie vielfältig von Anna Laiß

Bewegte Geschichtsbilder Die erinnerungspolitische Rolle von Spielfilmen über den Algerienkrieg von Anna Laiß Rezension: »Gehorsam und Moral«

Interview mit Jürgen Gottschlich über die deutsche Beihilfe zum Armeniengenozid

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»Das Gut-Böse-Schema ist Blödsinn« Ein Gespräch über die Möglichkeiten und Grenzen gesellschafts­kritischer Spielfilme Rezension: »Das weiße Band«

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»Stories of Our Lives« Interview mit Jim Chuchu und Njoki Ngumi über ihren queeren Episodenfilm

Straflosigkeit und Isolation wirken destabilisierend von Ruben Eberlein

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»Land ohne Ohren« Eine filmische Persiflage auf die indonesische Demokratie von Alexander Flor

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Die Lust am anderen Sehen Interview mit Neriman Bayram, Werner Kobe und Mike Schlömer Rezension: »Angst essen Seele auf« Rezension: »Heute bin ich Samba«

Kultur und Debatte 41

Reggae: Sweet Rebel Music Bob Marleys Rezeption zwischen Exotismus und Empowerment von Patrick Helber

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Literatur: Schreiben über die Befreiung Nachruf auf die algerisch-französische Schriftstellerin Assia Djebar von Beate Thill

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46 Rezensionen 50 Szene / Tagungen Impressum

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Editor ia l

Zwei, drei, viele Hoffmanns? »Es war wohl die schönste Meldung der letzten Zeit. Kobane ist frei! Nach über vier Monaten Belagerung durch den Islamischen Staat haben die mutigen Kämpfer_innen der Selbstverteidigungskräfte YPG, der Fraueneinheiten YPJ und weitere Gruppen die Stadt befreit und dem IS seine erste große Niederlage zugefügt.« Tierra y Libertad, die »Zeitschrift für Solidarität und Rebellion«, überschlägt sich fast vor Begeisterung. Normalerweise widmet sich das Blatt vor allem den aufständischen Zapatistas im mexi­ kanischen Bundesstaat Chiapas, doch diesmal sind es kurdische Guerillas, denen die Solidarität gilt. In Anlehnung an eine alte Soli-Parole zum sozialistischen Nord-Vietnam endet der flammende Aufruf zu Spenden für den Wieder­ aufbau Kobanes mit den Worten: »Schaffen wir zwei, drei, viele Rojavas!« Bebildert ist er mit einem Foto, das uni­ formierte kurdische Frauen in lachender Siegerinnenpose zeigt. Prominent in der Bildmitte platziert ist ein gen Himmel gerecktes Gewehr.

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s sind längst überwunden geglaubte Formen von Politkitsch und Verherrlichung des bewaffneten Kampfes, die derzeit in der deutschen Linken erneut Konjunktur haben. Die Empathie für die KämpferInnen gegen den IS lässt die Solidaritätsbewegten sogar über allerhand hinweg sehen, was sie ansonsten überhaupt nicht ausstehen kön­ nen: Über Waffen und Uniformen, vor allem aber über die Tatsache, dass der Sieg in Kobane gegen den IS nur mit US-amerikanischer Waffenunterstützung möglich war. Grundsätzlich ist überhaupt nichts dagegen einzuwen­ den, dass Linke den Kampf gegen den IS nun zu ihrem Anliegen machen. Im Gegenteil, es war längst überfällig. Jahrelang wurde von vielen ignoriert, welch gewaltige Gefahr für jede Form von Emanzipation der Dschihadismus darstellt, gleich ob es sich um Taliban, Al Qaida, Boko Haram oder den IS handelt. Das geschah meistens aus Rat- und Hilflosigkeit, nicht selten spielten aber auch das altbekannte antiamerikanische Ressentiment und ein ­‚israelkritisches’ Motiv mit: Meines Feindes Feind ist mein Freund. Kritik an den konkreten Verlaufsformen und Motiven des »Krieges gegen den Terror« war zwar voll­ kommen berechtigt. Sie wurde jedoch dadurch beein­ trächtigt, dass allzu viele Linke sich vor der Frage drückten, wie dem immer mächtiger werdenden Islamismus sonst beizukommen ist.

Diese für die Menschen im Nahen und Mittleren Osten lebenswichtige Frage bleibt vorerst weiter offen. Sie verlangt nach großen gedanklichen und praktischen Anstrengungen und der Bereitschaft, gewohnte Welt- und Feindbilder zu hinterfragen. Es wird keine einfachen (militärischen) Lösun­ gen gegen den Dschihadismus geben, schon gar nicht im Sinne langfristiger Ursachenbekämpfung. Möglicherweise geht es aber auch nicht ohne Waffengewalt gegen einen Gegner, der bei der Anwendung von Gewalt vor fast gar nichts mehr zurückschreckt. Über das Ob und auch das Wie mit großer Empathie und Leidenschaft zu diskutieren und dabei die Vorstellungen der vor Ort Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen, ist das Gebot der Stunde für eine Solidaritätsbewegung, die zeitgemäß sein will. Ein Ergebnis dieser Auseinandersetzung könnte durchaus sein, für den Wiederaufbau von Kobane Geld zu sammeln.

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berhaupt nicht zeitgemäß – und schon immer falsch gewesen – sind aber jene Formen der Solidarität, die vor allem der eigenen moralischen Erbauung dienen. Nehmen wir als weiteres aktuelles Beispiel dafür das Gedenken an Ivana Hoffmann. Die 19-Jährige aus Duisburg starb am 7. März im syrischen Tell Tamer durch zwei Kugeln aus Gewehrläufen von IS-Kämpfern. Hoffmann war Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei Nordkurdistan-Türkei (MLKP) und hatte sich 2014 als ­Freiwillige kurdischen Einheiten beim Kampf gegen den IS angeschlossen. Welche Beweggründe Hoffmann für ihr Handeln hatte und was sie zuletzt über den Einsatz ihres Lebens dachte, ist nicht bekannt, verdient aber Respekt, ebenso wie ihr tragischer Tod nach trauernder Anteilnahme verlangt. Aber doch bitte nicht in Form eines ikonisierenden MärtyrerIn­ nenkultes! Genau ein solcher dominiert jedoch auf der nach ihr benannten Facebook-Seite und vielen weiteren Webseiten. Und auch bei der gut besuchten Gedenkdemonstration am 14. März in Duisburg wurde die »Genossin Ivana Hoff­ mann (Kampfname Avaşin Tekoşin Güneş)« in einer Weise gewürdigt, die als Instrumentalisierung zu politischen Zwecken zu kritisieren ist. Was denken sich eigentlich Leute dabei, wenn sie im Aufruf fordern, man solle sich an »ihrer grenzenlosen Aufopferungsbereitschaft« ein Beispiel nehmen? Das fragt sich erschüttert die redaktion

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»Hart, aber nützlich!« Vor hundert Jahren wurde während des Ersten Weltkrieges ein systematischer Genozid an ArmenierInnen verübt: 1915 und 1916 fielen ihm durch Massaker und Todesmärsche mindestens 300.000 Menschen zum Opfer, nach manchen Schätzungen sogar bis zu 1,5 Millionen Menschen. Verantwortlich für den Völkermord war die Regierung des Osmani­ schen Reiches, die von der nationalistischen Bewegung der Jungtürken gebildet wurde. Ihnen galten die christlichen ArmenierInnen als »Verräter«, die mit dem russischen Feind kollaborierten. Im Rahmen unserer Reihe zum Armeniengenozid (siehe iz3w 346 und 347) präsentieren wir hier ein Interview mit Jürgen Gottschlich, Korrespondent der taz und anderer Zeitungen in der Türkei. Er greift in seinem neuen Buch einen bislang wenig bekann­ ten Aspekt des Armeniengenozids auf: Die deutsche »Beihilfe zum Völkermord«. So lautet der Titel seines Buches, in dem es um »Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier« geht. Zum Zeitpunkt des Genozids war das Osmanische Reich ein enger Ver­ bündeter des Deutschen Reiches. Die von Gottschlich nach mehrjähriger akribischer Recherche präsentierten Fakten lassen nur eine eindeutige Interpretation zu: Für das Ziel Deutschlands, eine Weltmacht zu werden und einen ‚Platz an der Sonne’ zu erlangen, ließen »die deutschen Verant­ wortlichen das Morden an den Armeniern nicht nur passiv gesche­ hen, sondern sie deckten es, nahmen die Mörder in Schutz und machten durch die Unterstützung ihrer türkischen Verbündeten den Völkermord letztlich erst möglich.« Minutiös arbeitet Gottschlich auf 344 Seiten heraus, wie die deutsche Beihilfe aussah. Er benennt Mitwisser und Mittäter, etwa den deutschen Generalstabschef des türkischen Heeres, General Bronsart von Schellendorf, und den deutschen Militärattaché Hans Humann, der ein enger Berater des türkischen Kriegsministers tt

Enver Pascha war. Von Humann ist folgende Äußerung vom 15. Juni 1915 überliefert: »Die Armenier werden – aus Anlass ihrer Verschwörung mit den Russen! – jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nütz­ lich.« Die deutsche Mittäterschaft wurde bislang nur in einigen Publikationen des schweizerischen Historikers Hans-Lukas Kieser und in einer Dokumentensammlung des Journalisten Wolfgang Gust dargelegt. Seitens der deutschen Politik und der Öffentlichkeit herrschte bis heute Desinteresse, von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen. Zu Recht urteilt Gottschlich daher im Vorwort: »Nicht nur die Türkei, sondern auch Deutschland hat noch Nachholbedarf bei der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Geschichte«. Sein Buch leistet einen wichtigen Beitrag dazu. Gottschlich erzählt die Geschichte des Armeniengenozids nicht in Form einer wissenschaftlichen Abhandlung, sondern als span­ nende historische Reportage. Er hat Archive in der Türkei und in Deutschland ausgewertet, ist selbst an Schauplätze des Genozids gereist und hat Nachkommen der Opfer befragt. Ein umfangreicher Fußnotenapparat, ein zum Weiterlesen anregendes Literaturver­ zeichnis und zahlreiche Abbildungen runden das Buch ab. Bis auf weiteres ist es als unverzichtbares Standardwerk zum Thema anzusehen. Das ist selbst den großen Medien einschließlich öffentlich-rechtlicher Fernsehsender nicht verborgen geblieben: Gottschlichs Thesen zur deutschen Mitschuld am Armeniengeno­ zid haben viel zustimmende Resonanz gefunden. Lediglich die deutsche Außenpolitik zeigt sich weiter unbeeindruckt. Die Türkei ist eben ein wichtiger Bündnispartner, und beim Armeniengenozid herrscht damals wie heute eine fatale Einigkeit. cst Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Christoph Links Verlag, Berlin 2015. 344 Seiten, 19,90 Euro. tt

»Nicht nur zugeschaut« 4

Interview mit Jürgen Gottschlich über die deutsche Beihilfe zum Armeniengenozid iz3w: Warum gehen Sie von einer deutschen Mittäterschaft am Armeniengenozid aus? Jürgen Gottschlich: Erstens: Ohne das deutsche Bündnis mit dem damaligen Osmanischen Reich wäre der Völkermord in dieser Form nicht möglich gewesen. Damit wurden die Rahmenbedingungen geschaffen. Zweitens: Deutschland hatte damals eine hochrangige Militärmission in Konstantinopel, wichtige deutsche Offiziere haben hohe Posten in der Hierarchie der osmanischen Armee besetzt und waren beteiligt an der Vorbereitung, Organisation und letztlich auch Durchführung der Deportation. Diese geschah aus dem Osten

des Landes entlang der Front nach Russland, mit dem Argument, die armenische Zivilbevölkerung sei ein Risiko hinter der Front, weil die Armenier mit den Russen sympathisierten oder kollaborierten. Der dritte Punkt: Bis dahin konnte man noch sagen, es ging um Deportationen, wie sie auch in anderen Kriegsgebieten üblich waren. Man kann unterstellen, dass den Deutschen zu dem Zeit­ punkt nicht klar war, dass es der türkischen Führung um Vernichtung der ArmenierInnen ging. Doch das haben sie dann recht schnell realisiert, und spätestens jetzt hätten sie einschreiten müssen, taten das aber nicht. Sie haben still gehalten. Als dann später ein neuer Botschafter tatsächlich einschreiten wollte, wurde er von der Amts­

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Armenien

Es gab also nicht nur Mitwisser im Deutschen Reich, sondern auch Mittäter? Gab es in irgendeiner Form eine aktive Beteiligung, Waffenlieferungen und logistische Unterstützung? tt Ja. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wäre die türkische Armee überhaupt nicht mehr in der Lage gewesen, ohne den Nachschub aus Deutschland Krieg zu führen. Angefangen von Waffen über Munition bis hin zu Kohle, damit überhaupt Energie da ist,um die Maschinen am Laufen zu halten. Alles hing von der deutschen Unterstützung ab. Und ganz konkret bei der Verfolgung der Arme­ nierInnen hat es mindestens von einem hohen Offizier eine direkte Beteiligung an der Niederschlagung von armenischen Widerstandsakten gegeben, mit denen sie sich gegen die Deportationen wehrten. Vor allen Dingen aber war der damalige Generalstabschef im Osmanischen Heer, Fritz Bronsart von Schellen­ dorf, die rechte Hand von Kriegs­ minister Enver Pascha. Er war für die gesamte Planung des Krieges zuständig. Es gibt Belege aus den Akten, dass er Deportationen an­ ordnet und sich darum sorgt, dass sie zügig durchgeführt werden.

die Schweiz, Hilfsmittel nach Mesopotamien zu bringen.’ Aber das hat nicht in großem Umfang stattfinden können und änderte letztendlich nichts an der Vernichtung der Armenier. Wie wird Ihr Buch in der deutschen Öffentlichkeit rezipiert? tt Ich bin positiv überrascht, dass sich mehr Leute dafür interes­ sieren, als ich vorher dachte. Bei den bisherigen Veranstaltungen zum Buch, zuletzt auf der Leipziger Buchmesse, habe ich mehr interessierte Nachfrage erlebt als Ablehnung. Bis jetzt wurde mir noch nicht vorgeworfen, Deutschland in den Dreck zu ziehen. Vielmehr drehte sich eine wirklich sehr konstruktive Debatte um die Frage: Ist es gerechtfertigt, von Beihilfe zu sprechen oder nicht? Der Bundestag hat schon vor zehn Jahren in einer Entschließung, die von allen Parteien verabschiedet wurde, eingeräumt, dass das Deutsche Kaiserreich im Hinblick auf Armenien »eine unrühmliche

Gab es politische Strömungen oder herausragende Einzelpersonen, die den Genozid an den ArmenierInnen Die deutsche Militärmission vor der Abfahrt ins Osmanische Reich (1913) ablehnten? Oder die wenigstens ahnten, was ihnen angetan wird? tt Ja, es gab den Pfarrer Johannes Lepsius, er war ein großer Freund der ArmenierInnen und hat Rolle gespielt« hat. Mir geht es darum, zu präzisieren, wie diese versucht, den Völkermord zu verhindern. Er war Vorsitzender der unrühmliche Rolle aussah. Dazu wollen die offiziellen Stellen nichts Deutsch-Armenischen Freundschaftsgesellschaft und leitete eine sagen. Verschiedene Medien, mit denen ich Interviews machte, Organisation, die Waisenhäuser in Südostanatolien betrieb. Lepsi­ haben beim Auswärtigen Amt angefragt – ohne Erfolg bislang. us hat mehrfach versucht Einfluss zu nehmen, ist aber daran ge­ Aber ich erwarte und hoffe, dass es bei der Bundestagsdebatte, die hindert worden, sogar daran, in Deutschland Berichte zu bewirken. am 24. April stattfindet, also zum hundertsten Jahrestag des Ge­ Das wurde von der Kriegszensur verhindert. Er hat dann selber nozids, zu weiteren Präzisierungen kommt. einen Bericht in Buchformat über die Situation geschrieben und an sämtliche Abgeordnete des Reichstages verschickt, an die Mi­ Wie beurteilen sie insgesamt die heutige deutsche Außenpolitik im nister und an hohe kirchliche Stellen. Der wurde ebenfalls verboten. Zusammenhang mit dem ArmenierInnengenozid? Wären EntschädiEr musste daraufhin nach Holland ausweichen. Die GegnerInnen gungen für NachfahrInnen, beziehungsweise Vereinigungen von Nachdes Völkermords hatten keine Chance, sich in einer größeren fahrInnen, angemessen? ­Öffentlichkeit bemerkbar zu machen. tt Ich glaube nicht, dass die Geschichte des Völkermords eine rechtliche Dimension hat, dass Restitutionsansprüche geltend Waren denn in der allgemeinen Kriegsstimmung im Deutschen Reich gemacht werden. Jedenfalls nicht gegenüber Deutschland, sondern humanitäre Ansätze durchsetzbar? nur gegen den Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches, also tt Nein. Es gab zwar zwischen kirchlichen Kreisen, die wenigstens die Türkei. Für Deutschland ist es aber eine moralische Frage, of­ fensiv zu bekennen: »Ja, es hat ein Völkermord statt gefunden, und humanitäre Mittel in die syrische Wüste bringen wollten und dem ja, wir waren mehr oder weniger daran beteiligt.« Das brächte Auswärtigen Amt eine Art Agreement: ‚Wenn ihr in euren Publika­ tionen nichts über die Vernichtung schreibt und auch sonst still meiner Meinung auch die offizielle Position der Türkei ins Wanken. haltet, gewähren wir euch die Möglichkeit, über Drittländer wie Die türkische Regierung sagt immer noch, man könne auf keinen iz3w • Mai / Juni 2015 q 348

Foto: iz3w-Archiv

spitze in Berlin daran gehindert, mit dem Argument: ‚Das Bündnis mit dem Osmanischen Staat ist für die Erreichung unserer Kriegs­ ziele so wichtig, dass uns egal ist, wenn darüber die Armenier zu­ grunde gehen’. Zusammen genommen rechtfertigt das den Begriff »Beihilfe«, man hat nicht nur passiv zugeschaut.

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Armenien Fall von »Völkermord« sprechen, und lehnt dementsprechend alle wollte, war etwas anderes. Und im Unterschied zu Namibia war Entschädigungsforderungen von ArmenierInnen ab. Wenn Deutsch­ die Zahl der Personen, die von deutscher Seite beteiligt waren, sehr land als damaliger Bündnispartner sagen würde, »Ja, es war so«, gering. Es waren vielleicht ein Dutzend Personen, die eine wich­tige käme die offizielle türkische Position ins Schleudern. Rolle gespielt haben. Anhand der Tagebücher dieser Leute lässt sich zwar feststellen, dass sie ein sehr rassistisches Weltbild hatten. Die Einstufung eines Genozids als »Völkermord« gemäß inter­ nationalem Recht hat eine wichtige Bedeutung und ist ein Politikum, Teilweise ist über die ArmenierInnen auch genauso geredet worden, gerade in der Frage der Entschädigung. Beim deutschen Genozid wie es die Nazis fünfzehn Jahre später über die Juden taten. Aber an Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 geht es immer um da ist nichts eingeübt worden von deutscher Seite. die Frage, ist das ein Völkermord und wenn ja, wie viel Entschädi­ Wie werden Ihre Thesen zur deutschen gung muss Deutschland bezahlen. Beihilfe in der Türkei beurteilt? Genau deswegen verweigert die Bundesre­ »Die Gegner des Völkermords t Für diejenigen, die sagen, es hat über­ publik im Fall der Herero die Anerkennung als haupt keinen Völkermord gegeben, ist es Völkermord. Ich halte das aber bei der Arme­ hatten keine Chance, sich auch irrelevant, ob die Deutschen dabei nienfrage für nicht stichhaltig. Die Situation ist bemerkbar zu machen« anders, es waren eben nicht deutsche Truppen, eine Rolle spielten. Es gibt eine ganz kleine die den Genozid verübten. Beihilfe ist etwas Gruppe, die sagt: Wenn er überhaupt ge­ anderes als selber zu morden. Deswegen glaube ich, dass es ein schehen ist, dann waren die Deutschen schuld, denn sie waren der vorgeschobenes Argument ist, wenn man sagt, »wir haben Angst große Bruder unserer Armee. Sie versuchen die Verantwortung vor Entschädigungsforderungen«. In Armenien fordert das übrigens gleich ganz abzuschieben. Aber in der öffentlichen Debatte spielt niemand gegenüber Deutschland. das bisher noch kaum eine Rolle. Es geht in der innenpolitischen Diskussion in der Türkei eigentlich erst einmal darum herauszufin­ Einigen KolonialhistorikerInnen gilt der Genozid an den Herero und den, was damals wirklich passiert ist. Man hat ganz großen Nach­ Nama als wichtiger Teil der Vorgeschichte des Holocaust. Ihre These holbedarf bei der Aufklärung über die damalige Situation. Die ist, dort sei genozidale Gewalt eingeübt worden, die dann im Holocaust Frage, welche Rolle die Deutschen dabei gespielt haben, ist in der auf die Spitze getrieben worden sei. Sie vermeiden es hingegen in Ihrem türkischen Debatte nachrangig. Buch, Analogien zwischen Armeniergenozid und Holocaust zu ziehen. Warum? tt Ja. Man kann es nicht vergleichen. Die Gründe waren andere, tt Das Interview führte Christian Stock , Mitarbeiter des iz3w . was man mit dem Vernichtungsbefehl gegen die Herero erreichen Eine längere Fassung steht auf www.iz3w.org

Die armenische Perspektive Während Jürgen Gottschlich die deutsche Mitschuld am armenischen Genozid untersucht, geht Corry Guttstadt einen anderen Weg zurück in die Vergangenheit. In ihrer Anthologie Wege ohne Heimkehr sind die meisten Texte von Arme­ nierInnen verfasst. Es sind literarische, meist historische Zeug­ nisse, die oft autobiografisch geprägt sind. Guttstadt will mit ihrer Präsentation hierzulande kaum bekannter armenischer Stimmen ein »Zeichen gegen das Vergessen« setzen. Jeder Beitrag wird ergänzt von biografischen Notizen zu den AutorInnen und einer Verortung in die ge­ schichtlichen Zusammenhänge um den Völkermord. Das er­ möglicht es, das von den ArmenierInnen Erlebte im historischen Kontext zu verstehen. Auch wenn nach der knappen histo­ rischen Hinführung von Hans-Lukas Kieser zunächst Fragen offen bleiben, verschaffen die nachfolgenden Beiträge leben­ dige Eindrücke. Hagop Baronyan beschreibt in »Ein Spaziergang durch die Stadtteile Istanbuls« mit spitzer Feder das osmanischarmenische Bürgertum Istanbuls gegen Ende des 19. Jahrhun­ derts. Berichte über die Zeit vor den Deportationen lassen die anti-armenische Stimmung deutlich zutage treten, etwa Yervant Odian in »Der Beginn des Krieges«. Besonders eindrücklich sind Tagebucheinträge von Über­ lebenden, die von den Deportationen zeugen, etwa von ­Chavarche Nartouni (»Abschied von Armash«) und Pailadzo tt

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Captanian (»Eure Reise wird dort zu Ende sein, wo ihr krepiert«). Ausschnitte von Erzählbänden aus dem Jahr 2002 (Karin Karakaşlı: »Garine«), verdeutlichen am Beispiel zwangsmus­ limisierter armenischer Frauen, wie sehr deren Familienge­ schichte bis heute von den damaligen Ereignissen geprägt ist. Der Titel des Sammelbandes entstammt dem Schriftsteller Armin T. Wegner, der über die Todesmärsche in die syrische Wüste notierte: »Dies ist ein Weg, von dem es keine Heimkehr gibt.« Wegners Konsequenz war, immer wieder auf das Schick­ sal der ArmenierInnen hinzuweisen. Guttstadt lässt ArmenierInnen zu Wort kommen, deren Aufzeichnungen bisher in deutscher Sprache nicht zu lesen waren. Reich bebildert, bietet ihre Anthologie in kompakter Zusammenstellung Einblicke aus erster Hand in armenisches Erleben. Zugleich formulieren viele Beiträge Fragen nach dem künftigen Umgang mit dem Armeniengenozid. Der Verlag Assoziation A hat mit dem aufmerksam lektorierten und mit Liebe zum Detail gestalteten Buch einen angemessenen Rah­ men für die armenische Perspektive geschaffen. Philip Klein Corry Guttstadt (Hg.): Wege ohne Heimkehr. Die Armenier, der Erste Weltkrieg und die Folgen. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2014. 204 Seiten, 19,80 Euro. tt

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Edi t o r ia l

Gesellschaftskritik im Spielfilm Kinofilme sind eine ungeheuer mitreißende Kunstform. Wer hat noch nicht mit Tränen in den Augen Anteil am Schicksal der Figu­ ren auf der Leinwand genommen? Wer hat sich noch nicht schlapp gelacht über allzumenschliche Irrungen, in denen wir uns selbst erkennen können? Wer hat sich noch nicht geärgert über eine fil­ mische Plattitüde? Selbst wer einen Film nicht gut findet, bleibt selten kalt. Im besonderen Maße gilt dies für Spielfilme mit politischem oder gesellschaftskritischem Inhalt. Viele solcher Filme sind gelun­ gen und vermögen es eindrücklicher als so manche Dokumenta­ tion, auf aktuelle Missstände aufmerksam zu machen oder histori­ sche Ereignisse nachzuzeichnen. Einzelne paradigmatische Filme haben zur Politisierung einer ganzen Generation beigetragen, in den USA etwa der Anti-Vietnamkriegsfilm »Apocalypse now«. Gerade in Ländern des Globalen Südens gibt es eine beein­ druckende Vielfalt kritischer Spielfilme aller Genres, vom Roadmo­ vie bis zur Groteske. Mal sind sie explizit politisch, mal eher ange­ deutet und metaphorisch, um die Zensur zu umgehen oder um tt

eindimensionale Interpretationen zu unterlaufen. Ihre Filmstile, Themen, Kameraperspektiven, Schnitttechniken, Sprachen und Schauspielkünste mögen hiesige Sehgewohnheiten bisweilen irri­ tieren – aber das ist gut so! Die postkolonialen hybriden Formen all dieser filmgestaltenden Mittel laden zu immer neuen gegensei­ tigen Entdeckungsreisen ein. Spielfilme sind ein wunderbares Medium der Verständigung über gesellschaftliche Unterschiede und Süd-Nord-Bezüge hinweg. Die AutorInnen unseres Themenschwerpunktes widmen sich mit großer cineastischer Leidenschaft Filmen, die sie in irgendeiner Weise beeindruckt haben. Ihre Begeisterung ist ansteckend. Wir haben jedenfalls größte Lust bekommen, uns baldmöglichst mal wieder mit FreundInnen zu einem Kinobesuch zu verabreden. Und dann hinterher in der Kneipe aus Herzenslust über den Film zu diskutieren. die redaktion PS: Auf www.iz3w.org steht als Ergänzung zu diesem Themen­ schwerpunkt eine Besprechung des Spielfilms ¡NO!

»Das Gut-Böse-Schema ist Blödsinn« Ein Gespräch über die Möglichkeiten und Grenzen gesellschafts­ kritischer Spielfilme iz3w: Welcher politische oder gesellschaftskritische Spielfilm hat euch mit pädagogischem Anspruch aufgezogen ist. Nicht umsonst wird besonders beeindruckt? er in der Erwachsenenbildung gezeigt, nicht von ungefähr haben Rosaly Magg (RM): Sowohl filmisch als auch inhaltlich hat mich ihn Moralapostel wie Ulrich Wickert gelobt. Dass der Film dennoch »Die Fremde« (2010) von Feo Aladag gepackt, weil dieser Film sich gut ist, liegt an der großartigen Hauptdarstellerin. Sibel Kekilli hat vielschichtig mit dem Thema Ehre und so genanntem Ehrenmord ja bereits in «Gegen die Wand« absolut überzeugt. Es ist auch bei auseinandersetzt. Er beginnt mit dem vermeintlichen Ende – das einem Film mit gesellschaftskritischem Anspruch zwingend not­ wendig, dass er packend erzählt und bis zur letzten Sekunde ist ein gelungener Kunstgriff, denn das Wiederholen der Schluss­ spannend ist, dass er mitreißt mit voller emotionaler Wucht. szene wird von den ZuschauerInnen am Ende ganz anders einge­ Alexander Sancho-Rauschel (ASR): Ein Klassiker, den ich beim ordnet. Der Film arbeitet mit langen Einstellungen und wenigen zweiten Ansehen fast noch lieber mochte, ist »TGV-Express – der Dialogen. Das Stilmittel des Filmes sind Blicke – vor allem solche, die zwischen den männlichen Familienmitgliedern gewechselt schnellste Bus nach Conakry« (1998) von Moussa Touré. Er zeigt werden und entscheiden sollen, wer mit eigentlich nur eine Busreise quer durch dem so genannten Ehrenmord beauftragt den Kontinent, bei der mehrere Grenzen »Immer wenn es um Afrika geht, wird. Das Unglück aller ProtagonistInnen überwunden werden müssen. Der Bus­ steht im Vordergrund. Niemand wird ver­ fahrer, der regelmäßig die Strecke durch wird es laut, hektisch und bunt« urteilt, Aladag arbeitet nicht mit dem erho­ Bürgerkriegszonen und unklare Grenz­ benen Zeigefinger. Auch der Titel passt gebiete fährt, erledigt das in stoischer hervorragend zum Film: Die Hauptfigur Umay wird im Laufe des Gelassenheit. Es ist ein typischer Roadmovie: Im Bus sitzt eine zu­ Filmes immer mehr zur Fremden in der eigenen Familie. Einer der sammengewürfelte Gesellschaft, die aus ganz unterschiedlichen Motiven eine Reise macht und so eine verschworene Gemeinschaft Dialoge, die mir im Kopf haften bleiben, war: »Wenn deine Eltern wählen müssten zwischen dir und der Gesellschaft, würden sie sich wird. Ab und an wird an der Grenze jemand rausgezogen, der dann nicht für dich entscheiden.« Umay antwortet darauf nur: «Doch«. nicht weiterfahren kann, trotz allen Protesten ist da nichts zu ma­ Christian Stock (CS): »Die Fremde« ist auch für mich einer der chen. Es gibt also einen gewissen Schwund an Fahrgästen. Witzig eindrücklichsten Filme der letzten fünf Jahre, obwohl er als Lehrstück ist, dass in diesem Bus auch ein französisches Ethnologenpaar iz3w • Mai / Juni 2015 q 348

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Spielfilm

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mitfährt. Sie haben diese Ethnologen- und Forscherbrille auf und CS: Ein gut gemeinter Film ist »Hotel Ruanda« (2004). Das Setting, sind absolut daneben. Sie kapieren nicht richtig, was um sie herum das Genozid in Ruanda, ist erschreckend, die Sinnlosigkeit des passiert, glauben aber, immer alles analysieren und einordnen zu Gewaltgeschehens kommt gut raus. Es geht um einen Hotelmana­ müssen. Das ist eine gar nicht so gehässige Art, sich beiläufig über ger, der 1.200 Menschen das Leben rettet. Er wird aber so penet­ rant als Held inszeniert, dass es einen schon beim Schauen des EuropäerInnen lustig zu machen, die das Gefühl haben, in Afrika Films nervt, obwohl er von Don Cheadle gut gespielt wird. Schon irgendwas erforschen zu müssen. Allein das macht den Film wun­ im Film selber ist unglaubwürdig, dass er so altruistisch handelt, derbar. Martina Backes (MB): Ein Film, der mich in letzter Zeit beeindruckt wie das niemand in solch einer extremen Situation tut. Wie schon hat, war die kenianische Produktion »Something Necessary« (2013) zu erwarten war, ist die Geschichte nicht so geschehen wie darge­ von Judy Kibinge. Anne hat die gewaltsamen Ausschreitungen in stellt. Nach Erscheinen des Filmes warfen viele Stimmen aus Ruan­ Kenia nach den Wahlen 2007/08, bei denen rund 1.500 Menschen da dem Film vor, er beschönige. In Wahrheit habe sich der Hotel­ zu Tode kamen, knapp überlebt und sucht nun nach Wahrheit und manager an den Flüchtlingen bereichert. »Hotel Ruanda« wurde Wegen der Versöhnung. Ihr Ehemann wurde getötet, ihr Sohn liegt für das Mainstreamkino zurechtgeschneidert, eine angemessene im Koma. Sie selbst hat extreme, auch sexuali­ Beschäftigung mit dem Genozid in Ruanda sierte Gewalt erlebt. Kibinge schafft es, Gewalt sieht anders aus. In diesem Spielfilm wird »Die Drehbücher von in dem persönlichen Drama in einer Form zu trivialisiert. vor zwanzig Jahren würden verhandeln, bei der klar wird, dass es nicht allein MB: In »Hotel Ruanda« erfährt man kaum um die individuelle Erfahrung geht. Transportiert etwas über die Stufen der Gewalteskalation, heute durchfallen« wird anhand der persönlichen Geschichte viel­ die dem Genozid vorausgingen, nichts über mehr die Wirkung gesellschaftlicher struktureller die historischen und gesellschaftlichen Ur­ Gewalt. Zugleich wird die Frage an die – durchaus selbst betroffe­ sachen. Zugegeben, das ist nicht Thema des Films, aber hier stellt nen – ZuschauerInnen gestellt: Wie kommt eine Gesellschaft dar­ sich die generelle Frage, ob es legitim ist, einen Genozid als Hin­ über hinweg? Kann man das, darf man das vergessen? Was bedeu­ tergrundszene für eine Heldengeschichte herzunehmen – und das tet eigentlich Versöhnung? Was heißt Verzeihen? Die Charaktere in einer Zeit, in der noch Millionen Menschen von diesem Genozid – männliche Peiniger wie auch Frauen, die Opfer ihrer Brutalität und seinen Folgen sehr direkt betroffen sind und eigene Gewalter­ fahrungen gemacht haben. Aus der Perspektive der Opfer halte ich wurden – sind nicht glatt, nicht nur gut oder nur böse, sondern es für unsensibel. Auf diese Weise wird mit »Hotel Ruanda« zudem immer auch gebrochen und widersprüchlich in ihren Reaktionen und Gedanken. Der Film lässt kein Entrinnen vor der Frage, welche das in Europa verbreitete Stereotyp von den außer Kontrolle gera­ Rolle vorherrschende Männlichkeitsbilder in der kenianischen Ge­ tenen, bestialischen und marodierenden Hutu-Milizen bedient, die sellschaft generell und für den Ausbruch des gewaltsamen Konflik­ zwar zu dieser Zeit zweifelsohne so brutal gehandelt haben wie tes gespielt haben. dargestellt. Doch bedient wird der (europäische) Blick auf die 'entgrenzten Wilden' in Afrika. Wodurch unterscheidet sich ein guter politischer Film von einem Unglaubwürdig und geradezu betäubend ist die dichotome Ein­ gut gemeinten? teilung in »Gut« und »Böse«, die »Hotel Ruanda« stark betont. Der iz3w • Mai / Juni 2015 q 348


Filmstills aus »Die Fremde«

Film erinnert sehr vorsichtig daran, dass die UN durch ihre man­ verspricht, ein riesiges politisches Versagen zu verhandeln, doch gelnde Präsenz in Ruanda eine Art «Unterlassungssünde« begangen eigentlich geht es primär um die moralische Frage: Wie verhalte hat, wie ein erhobener Zeigefinger, gut gemeint in diesem Punkt, ich mich als Weißer in dieser eskalierenden Situation? Die beiden aber keinesfalls filmisch gut umgesetzt. Denn der Plot gibt keine Protagonisten sind ein weißer, junger »Gutmensch«, der in einer Denkanstöße, die das Handeln der Personen oder politisches Han­ Schule unterrichten will, und ein älterer, weißer Pater, der schon deln in seinen Konsequenzen und Widersprüchen in Frage oder immer dort zu leben scheint. Letzterer spielt den »weißen Helden« zur Debatte stellen. Der Filmemacher und die SchauspielerInnen in einer Schule, in der Tutsi – und wenige Hutu – Zuflucht gesucht betonen in Interviews, sie wollten daran erinnern, dass es dieses haben. Am Ende überleben die Geflüchteten nicht. Der Film ver­ Genozid überhaupt gab, weil viele nichts davon wissen. Mir ist das handelt die Frage, wie die weiße Gesellschaft, verkörpert in den zu wenig für einen guten Film. beiden Protagonisten, mit »fremder« Gewalt umgeht und wie die ASR: Das Gut-Böse-Schema, das bei »Star Wars« wunderbar funk­ UN scheitert. Auch hier dient das Genozid in Ruanda primär als Hintergrundszenerie. Es ist nicht in Ordnung, einen Film über tioniert, ist bei den meisten politischen Themen einfach Blödsinn, diese kaum als historisch geltenden Geschehen zu produzieren, in weil auch die Bösen ihre Motive haben. All diese Ereignisse haben eine Vorgeschichte, ohne die es nicht funktioniert. Es gibt drei dem fast keine Schwarzen in Hauptrollen auftauchen. große Fallen beim filmischen Erzählen: Erstens hat man eine so RM: Was mich an allen genannten Filmen stört, ist der weiße Blick glasklare Botschaft, dass die ZuschauerInnen sich zu Tode langwei­ auf Afrika. Immer wieder wird Afrika nur als Kontinent zitiert, nur len. Dass sie das Gefühl bekommen, alle Dialoge seien nur Staffage, ganz selten werden die Länder, in denen die jeweiligen Filme weil jemand seine Message verkaufen will, spielen, einzeln benannt. In »Der ewige Gärtner« dafür aber zwei Stunden braucht. Zweitens: (2005) beispielsweise erzählt die männliche »Es gibt auch Dokumentar­ Notwendige Nebengeschichten oder inte­ Hauptfigur Justin über seine verstorbene Lebens­ filme, die eine Realität ressante Nebencharaktere kommen zu kurz gefährtin Tessa, sie wolle »hier in Afrika« begra­ oder fehlen. Drittens: Das Grauenhafte an ben werden, das konkrete Land – Kenia – wird emotional transportieren« historischen Romanen und Filmen ist der nicht genannt. In den meisten Projektionen über Drang, die großen Höhepunkte der Ereig­ Afrika wird das so verhandelt, auch in Filmen nisse zu erzählen. Die wenigen gelungenen historischen Romane, jenseits des Mainstreams wie »Schlafkrankheit« (2011) von Ulrich etwa von Umberto Eco, sind die, wo man sich Nebenfiguren Köhler. Der Film erzählt von Willkür und Ohnmacht. Köhler beruft ausdenkt und deren Geschichten erzählt. Filme sollten nicht die sich auf Joseph Conrads »Herz der Finsternis«, das er in die Gegen­ Geschichte des Staatschefs erzählen, über den man Protokolle hat, wart übersetzen will, meiner Meinung nach jedoch mit den falschen die langweilig oder zensiert sind, sondern von jemanden, der filmischen Mitteln. Denn so ambitioniert der Film in seiner Kritik »zufällig« in die Geschichte stolpert, sei es nun ein Hausdiener oder am internationalen Hilfsbusiness ist, so unmotiviert ist der Plot und wer auch immer. Gerade bei politischen Filmen muss diese Kulisse am Ende werden die Klischees vom »dunklen Kontinent« einfach da sein, über die kann viel transportiert werden. nur reproduziert. MB: Nur wenig später verhandelte »Shooting Dogs« (2005) erneut CS: Genau dieses Stereotyp von Afrika ist doch das Thema von das Genozid in Ruanda. Auch hier lautet meine Kritik: Der Film »Schlafkrankheit«, der Film ist gewissermaßen mit allen postkolo­ iz3w • Mai / Juni 2015 q 348

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nialen Wassern gewaschen. Das Außergewöhnliche an ihm ist, dass sächlich mit seiner Kamera ein reales Geschehen gefilmt oder ob er kein Identifikationsangebot macht. Angefangen beim weißen er das inszeniert hat. Welche Auswirkungen das hat, ob das gut Entwicklungshelfer, der sich in neokolonialer Manier aufführt, bis oder schlecht ist...? hin zum französischen Arzt mit schwarzer Hautfarbe, der als Exper­ CS: Dass diese Grenzen verschwimmen, finde ich gut, weil viele te nach Kamerun geschickt wird, dort aber hilflos und überfordert Dokumentarfilme mehr über das Denken der Filmemachenden als ist. Keiner von ihnen ist sonderlich sympathisch, alle haben massi­ über ihren Gegenstand sagen. Der Irrglaube, dass dokumentarische Bilder die Realität zeigen, ist noch immer weit verbreitet. Spielfilme ve Probleme mit sich und der Welt. Wie das im Film verhandelt waren gerade bei politisch denkenden Menschen eher verpönt. wird, ist deshalb gelungen, weil die Brüche klar werden. Afrikabil­ der werden unterlaufen, etwa durch die absurde Jagdszene am Goutiert wurden politische fiktionale Filme nur, wenn sie der eige­ Schluss oder die Inkarnation des Protagonisten als Flusspferd. Das nen Meinung emotionales Futter boten. Das löst sich seit zehn verarscht doch das Bild vom dunklen, schwarzen Kontinent Afrika. Jahren erfreulicherweise langsam auf. Das Künstliche, Artifizielle nimmt das vermeintlich Authentische in den Blick. Außerdem sind MB: Zum Thema Afrika als Szenerie: »Der ewige Gärtner« (2005) von Fernando Meirelles hätte auch in einem anderen Land als fiktionale Filme intelligenter geworden. Die Drehbücher von vor Kenia spielen können. Hauptthema des Films ist, wie große Hilfs­ zwanzig Jahren würden heute durchfallen. Selbst bei mittelmäßigen werke und internationale Pharmakonzerne am Filmen würden sie heute nicht mehr realisiert werden können, weil sie zu holzschnittartig Leid der Welt verdienen. Die Buchvorlage von sind. John le Carré beschreibt ursprünglich eine Si­ »Vielerorts sind die Kinos ASR: Eine Verbesserung ist auch, dass man tuation aus Kambodscha. Hier wird ganz klar verschwunden« immer mehr on location drehen kann und von die kapitale Macht, die an den Armutsverhält­ nissen im Globalen Süden verdient, angegriffen. den Studios wegkommt. Damit sind die Dreh­ Im Film geht es um Medikamententests in Slums und ihre tödlichen ­orte auch häufiger die tatsächlichen Handlungsorte; vor allem für Nebeneffekte für die Testpersonen. Der Film zeigt, wie das funkti­ Filme, die internationalen Stoff behandeln, ist das eine Verbesserung. oniert und wer darin verwickelt ist, auf höchster politischer Ebene, Eine Szene, die in Afrika spielt, kann auch dort gedreht werden, von kenianischer wie europäischer Seite. Gleichzeitig ist er an nichts muss mehr nachgestellt werden. westliche SpenderInnen adressiert und kritisiert ihre Einstellung RM: Die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm sind immer »wenn jeder etwas gibt, ist denen da unten geholfen«. Hier funk­ fließend. JedeR FilmemacherIn bedient sich der Stilmittel des jeweils tioniert es, dass Nebenfiguren eines politischen Geschehens ein anderen Genres. Was mich in letzter Zeit sehr beeindruckt hat, ist Thema aus ihrer persönlichen Sicht verhandeln. Der Film verhandelt die Tradition der Mondo-Filme: Sie mischen Elemente des Spielfilms auf einer komplexen Ebene, wie strukturelle Gewalt funktioniert und des Dokumentarfilms mit historischem Material. Da kommt und postkoloniale Verhältnisse diese ermöglichen, obwohl er eine eine wilde, oft brutale Mischung heraus. Die Filme wirken sehr Liebesgeschichte erzählt und dazu einlädt, sich mit einzelnen Per­ direkt auf das Publikum, vor allem durch die dokumentarischen Teile. Sie lassen einen verwirrt zurück, mit dem Gefühl, man hätte sonen zu identifizieren. RM: Immer wenn es um »Afrika« geht, wird es laut, hektisch und einen Spielfilm gesehen, kann aber nicht genau sagen, was nun bunt – alle Klischees werden bedient. Ganz anders arbeitet hier inszeniert, was historisches Material war und was nicht. Das ist »TGV« von Moussa Touré aus dem Senegal, der eine vollkommen zwar eine sehr rigide Art Filme zu machen, aber auf jeden Fall einen andere Darstellung von Lebenswelten findet. Touré sagte einmal Blick wert. MB: Mit dem Genre Dokumentarfilm wird gerne assoziiert, dass über sein filmisches Arbeiten: »Ich bin Afrikaner mit einem afrika­ nischem Blick, ich mache afrikanisches Kino. Aber nicht jenes afri­ es ein realistisches, authentisches Thema eher trocken verhandelt. kanische Kino, das die Europäer meinen, das der Folklore, der Klar, in Spielfilmen wird viel mehr experimentiert, aber es gibt auch Exotik, der Langsamkeit; nicht dieses lachende, naive Afrika. Dem unkonventionelle Dokumentarfilme, die eine Realität sehr emoti­ verweigere ich mich kategorisch. Ich versuche Kino zu machen, onal transportieren: »Miners Shot Down« (2014) zum Beispiel mit dem man sich identifizieren kann.« Das ist der Hauptunterschied: rekonstruiert die Geschichte des Bergarbeiterstreiks in Marikana in Moussa Touré oder Ousmane Sembène machen kein Mainstream­ Südafrika, bei dem 34 Menschen getötet wurden. Ein Dokumen­ kino; sie vermitteln andere Botschaften. Bei keinem der bisher er­ tarfilm, der aus sehr dokumentarischem Material geschnitten wähnten Filme war es den Machern wichtig, das Afrikaklischee wurde, unter anderem aus Rohmaterial von Polizeikameras und deutlich zu hinterfragen. von Medien wie Al-Jazeera. Diese Clips wurden also nicht gedreht, um einen Dokumentarfilm zu machen. Und doch – oder gerade Warum verschwimmen die Grenzen zwischen Dokumentar- und deswegen – kommt eine Nähe zum Geschehen und eine Energie Spielfilmen zunehmend, gerade bei politischen Filmen? Wie wird der auf wie in einem Spielfilm. Fetisch der Authentizität hinterfragt? ASR: Die Genres nähern sich einander immer weiter an, vor allem Wie beeinflussen die materiellen Produktionsbedingungen politische Filme? durch neue Produktionsmöglichkeiten und Digitalkameras, die man immer bei sich tragen kann. Durch den Trend hin zur Handkame­ ASR: Auf Filmfestivals fällt auf, dass fast jeder afrikanische Film eine ra, Lars von Trier sei gedankt, haben wir immer mehr Bilder, die französische Koproduktion ist. Die Fernsehsender Arte oder Canal Plus geben das Geld. Eine Produktion auf Kinolevel aus dem sub­ authentisch aussehen, auch wenn sie inszeniert sind. Das führt zu einer Vermischung. Ich muss an den mexikanischen Regisseur saharischen Afrika kommt kaum zustande, weil die Filme so teuer Alejandro Iñárritu denken, der einen harten Realismus in seinen sind, dass sie nicht ohne Zuschuss gedreht werden können. Selbst Filmen fährt. Seine Spielfilme sind vor allem Episodenfilme, allen wenn ein afrikanischer Regisseur wie Touré oder Sembène einen Film macht, kommen die Geldgeber aus dem Westen. Es führt voran sein erster Film »Amores Perros« (2000), in dem wir unter dazu, dass zum Beispiel Identifikationsfiguren untergebracht wer­ anderem Hundekämpfe sehen. Da weiß man gar nicht, ob er tat­ iz3w • Mai / Juni 2015 q 348


Spielfilm den, dass bestimmte Erzähl- und Dramaturgiemuster kommen, die in Europa anders sind. MB: Oft werden Low-Budget-Produktionen gedreht, um ein The­ ma in der eigenen Gesellschaft bekannt zu machen – zum Beispiel »Call Me Kuchu« (2012) aus Uganda, in dem das Thema Homo­ phobie verhandelt wird. Diese Filme laufen aber hier nur auf Fes­ tivals oder bei Sondervorstellungen, zum Beispiel von Amnesty International. Das ist gut und wichtig, aber wie viele Möglichkeiten gibt es vor Ort, überhaupt solche Filme zu sehen? Zumal wenn sie auch noch verboten sind? Wer kann solche Filme sehen – in einem Kino oder einer Atmosphäre, in der es möglich ist auch nach der Vorstellung noch darüber zu sprechen? Ist es möglich, dass der Film in die Presse kommt? Auch das hat Bedeutung, denn wer mit einem Film ein politisches Thema verhandelt, möchte auch, dass es auch in einer Medienöffentlichkeit bekannt gemacht wird. Das fällt in einigen Ländern leider weg. ASR: Filme werden gemacht, um gesehen zu werden, aber gerade in Subsahara-Afrika gibt es Länder, in denen es gar keine Kinos mehr gibt. In Cannes haben viele afrikanische Regisseure gesagt, dass sie Filme drehen, die ihr Publikum nicht finden. Sie erzählen Geschichten vor Ort, die das Publikum vor Ort nicht erreichen. Dass vielerorts die Kinos verschwunden sind, hat viele verschiede­

ne Gründe: In einigen Ländern fehlt vielen Menschen das Geld, sie haben andere Sorgen, als ins Kino zu gehen, oder sie sehen mehr Fernsehen. Große Multiplex-Ketten wie Virgin oder andere USStudioketten bringen die kleinen Kinos um. Das geschieht weltweit, in der EU genau so wie in afrikanischen Ländern. Das schlimmste ist, wenn US-Studios Multiplexketten betreiben und nur ihre eige­ nen Produktionen abspielen. Die lassen keine Independentfilme mehr rein. In Frankreich setzt sich die Initiative Cinema pour Afrique, bestehend aus afrikanischen FilmemacherInnen und französischen AktivistInnen, dafür ein, Kinos auf kommunaler Ebene wieder zu eröffnen. CS: Deshalb: Schafft zwei, drei, viele Kommunale Kinos! ASR: Filmförderung soll nicht nur Produktion ermöglichen, sondern auch Filmvertrieb. Selbst ein noch so tolles KoKi kann keine Filme zeigen, die es nicht kriegt.

Martina Backes, Rosaly Magg und Christian Stock sind MitarbeiterInnen des iz3w. Alexander Sancho-Rauschel gestaltet bei Radio Dreyeckland eine Sendung über Film und im AKA-Filmclub ein nichtkommerzielles Kinoangebot. Eine Langfassung dieses Gesprächs steht auf www.iz3w.org tt

»Das weiße Band« Wo fängt ein Spielfilm an, politisch zu sein? Eine inhaltlich deutlich erkennbar politische Produktion ist Michael Hanekes »Das weiße Band«. Der Film spielt in einem protestantischen Dorf im nördlichen Deutsch­ land 1913/14. Retrospektiv erzählt darin ein junger Lehrer von einer Reihe mysteriöser Unfälle und Ver­ brechen. Zunächst sorgt ein gespannter Draht dafür, dass das Pferd des Dorfarztes zu Fall kommt und des­ sen Besitzer ins Hospital muss. Dann verunglückt eine Arbeiterin in einem Sägewerk und eine Scheune fängt Feuer. Nachdem sein Sohn misshandelt aufgefunden wurde, fordert der Gutsherr nach dem Gottesdienst die DorfbewohnerInnen dazu auf, wachsam zu sein und die Schuldigen zu denunzieren. Eine angespannte Stimmung macht sich breit. Doch die Verbrechen gehen weiter, auch der behinderte Sohn der Dorfhebamme wird grausam gequält. Hinter den Vorfällen scheint eine systematische Bestrafungsmethode zu stecken. Mit der Zeit wird immer deutlicher, dass die Untaten im Zusam­ menhang stehen mit den im Film eindringlich gezeigten Autori­ tätsstrukturen und Abhängigkeitsverhältnissen. Sie charakterisieren das alltägliche Dorfleben und reichen bis tief in die zwischenmensch­ lichen Beziehungen der BewohnerInnen. Vor allem die Kinder sind stark von den demütigenden Straf- und Erziehungsmethoden der Erwachsenen beeinflusst. Der sympathische, aber weniger als Identifikationsfigur gezeich­ nete Dorflehrer verdächtigt schließlich eine Gruppe von Kindern als TäterInnen. Beim Dorfpastor stößt er aber auf taube Ohren, er solle sich aus der Affäre heraushalten. Auch die Hebamme glaubt, die TäterInnen zu kennen. Doch auf dem Weg zur Gendarmerie verschwindet sie spurlos, und auch der Arzt, mit dem sie eine von einem klaren Machtgefälle bestimmte Affäre hat, sowie dessen tt

Kinder und ihr behinderter Sohn sind nicht mehr aufzufinden. Der Dorflehrer verlässt das Dorf schließ­ lich, ohne die Taten aufzuklären. »Das weiße Band« endet, indem die Botschaft vom Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdi­ nand im Dorf die Runde macht. Im Film wird nicht aufgelöst, wer die Untaten ­verübt hat. Doch wird nahegelegt, dass es die vom Lehrer verdächtigten Dorfkinder sind, die sich Ventile für die selbst erlebte Gewalt und Demütigungen suchen, indem sie sich vor allem an Schwächeren vergehen – eine konfor­ mistische Rebellion, die genau jene Strukturen und Zwänge repro­ duziert, gegen die auf grausame, falsche Weise aufbegehrt wird. »Das weiße Band« eignet sich hervorragend für politische Bildungs­ arbeit. Und auch wenn es in einem spezifischen historischen Setting im wilhelminischen Norddeutschland spielt, lassen sich die gezeig­ ten Verhaltensweisen durchaus auf andere Kontexte übertragen, in denen autoritäre Charaktere am Werk sind. Die meisten DorfbewohnerInnen werden im Film übrigens als genussfeindlich dargestellt. Wenn Menschen erfüllende Momente erleben, wird ihnen das erbarmungslos geneidet – mit fatalen Konsequenzen. Als etwa der androgyne Sohn des Gutsherren vergnügt und am Bach liegend auf einer selbst geschnitzten Flöte spielt, wird ihm diese von den anderen Kindern weggenommen und er verprügelt. Solche Szenen machen »Das weiße Band« zu einem eminent politischen Film, der auf mehreren Ebenen der Vorgeschichte des Nationalsozialismus nachgeht. Till Schmidt Das weiße Band. Michael Haneke, D/F/I/Ö 2009, 144 Min. DVD über X-Verleih

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Rezensionen ... Gegenmacht: Afrikanische Zivilgesellschaften Als im Dezember 2010 der »Arabische Frühling« begann, hoff­ ten viele, der Funke der Rebellion springe auf die Länder südlich der Sahara über. Als dann kein »Afrikanischer Frühling« folgte, schloss man – offensichtlich zu schnell – darauf, dass die Zivilge­ sellschaften in diesen Ländern noch nicht so ausgeprägt seien, um ähnliche Umwälzungen hervorzubringen. Doch nicht nur der unblutige Machtwechsel in Burkina Faso Anfang November 2014, der ohne eine aktive Zivilgesellschaft nicht gelungen wäre, hat uns eines Besseren belehrt. Auch der Band Zivilgesellschaft in Subsahara Afrika bestätigt, dass die afrikanischen Zivilgesell­ schaften in den letzten 25 Jahren Beachtliches ge­ leistet haben. Die von dem Politikwissenschaftler Walter Eberlei herausgegebene Publikation geht auf ein Forschungsvorhaben zurück, das 2011 vom Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregie­ rungsorganisationen (VENRO) mit dem Ziel initiiert wurde, die zivilgesellschaftliche Partizipation an den so genannten Poverty Reduction Strategies (PRS) in sechs verschiedenen Staaten zu untersuchen. Die Auswahl der Länder ist nicht repräsentativ, sie wur­ de aufgrund offensichtlicher Unterschiede in den politischen Systemen getroffen: zwei als »zumeist demokratisch bezeichnete Länder« (Ghana und Tansania), zwei »grundsätzlich rechtsstaatlich organisierte« (Sambia und Senegal), ein Land, dem bescheinigt wird, »im Transitions­prozess zurückzu­ hängen« (Mosambik), und ein »explizit autoritär regiertes« Land (Äthiopien). Unter dem Eindruck der Ereignisse in Nordafrika standen fol­ gende Fragen im Fokus der einzelnen Studien: Welche zivilgesell­ schaftlichen Kräfte gibt es, wie sind sie organisiert? Was sind ihre Themen und Aktionsfelder? Was haben sie bewirkt? Wo sind ihre Grenzen? Eberlei führt vorab in die aktuelle Theoriediskussion zu Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen ein, definiert die Beur­ teilungskriterien für Wirkungen zivilgesellschaftlicher politischer Arbeit und zeigt die Erfolgsbedingungen für Einflussnahme auf. Die Themen, für die sich die untersuchten zivilgesellschaftlichen Organisationen einsetzen, lassen sich in vier Kategorien zusam­ menfassen: Kampf gegen Krieg und Gewalt; Durchsetzung von gesellschaftlichen Leitbildern wie Menschenrechte, Gleichberech­ tigung und soziale Gerechtigkeit; Demokratisierung und gute Regierungsführung; Forderungen nach entwicklungsorientierter Politik im Sinn von Verbesserung der Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung. Wie vor allem an Mosambik und Ghana zu sehen ist, konnten in den letzten beiden Jahrzehnten bei der Ge­ setzgebung im Bereich geschlechtsbedingte Gewalt und Geschlech­ tergerechtigkeit beachtliche Erfolge erzielt werden, dank differen­ zierter Vorgehensweise, Bündelung von Sachverstand, Nutzung aller Medien und Vernetzung. Der Beitrag über Frauenbewegungen in Westafrika zeigt zudem die Wichtigkeit länderübergreifender Netzwerke. Bemerkenswerte Wirkungen hatten auch die Bemühungen um die Durchsetzung bürgerrechtlicher Ziele, wie vor allem die Bei­ tt

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spiele aus Sambia, Ghana und Senegal zeigen. Bei der Durchsetzung von entwicklungsorientierten Zielen befinden sich die AkteurInnen in einer zwiespältigen Lage. Einerseits geht ihr Engagement auf die von Weltbank und anderen »Gebern« geforderte Partizipation bei den PRS zurück. Andererseits haben sie sich seit den 1990er Jahren dem Kampf gegen die negativen Folgen der Strukturanpas­ sungsprogramme gewidmet. Dabei konnten sie punktuelle Erfolge ­erzielen. Jedoch waren Aktionen gegen umwelt- und menschen­ schädigenden Bergbau (Tansania und Ghana) und Landraub ­(Mosambik) offensichtlich weitgehend erfolglos. Immerhin ist es zumindest in Ghana gelungen, die Einnahmen aus der Erdölförderung transparenter zu machen und Einfluss auf ihre Verwendung zu nehmen. Die Beispiele aus diesem Sektor zeigen auch, wie schwierig es ist und wie viel Sachverstand und Geld notwendig sind, sich gegen die Macht der eigenen Regierung und internationale Interessen durchzusetzen. Die Abhängigkeit afrikanischer Regierungen von globalen Playern ist nur eine der Determinanten für die Wirksamkeit zivilgesellschaftlicher Aktionen. Weitere wichtige Bedingungen bzw. Beschrän­ kungen sind die nationalen Gesetzgebungen zu NGOs, ihre oft nicht gesetzlich geregelte und daher willkürliche Behandlung durch Regierung und Behörden, die Existenz unab­ hängiger Medien, die Abhängigkeit von externen Finanzierungen, ausreichender Sachverstand sowie die Legitimation durch eine möglichst breite Basis. Diese Bedingungen unterscheiden sich nicht nur zwischen den einzelnen Ländern, sondern sie können sich auch in ihnen schnell verändern. Hierfür bietet Äthiopien ein ernüch­ terndes Beispiel: Nach vorübergehender Toleranz zivilgesellschaft­ lichen Engagements in den 1990er Jahren verengte sich der Spiel­ raum durch extrem repressive Gesetzgebung, die Gründung von QuaNGOs (staatlich betriebene quasi-autonome NGOs) und die staatliche Zersetzung bestehender Organisationen. Seit 2005 ist es praktisch zum Stillstand zivilgesellschaftlicher Aktivitäten ge­ kommen. Die Studien zeigen, dass es kein allgemeines Urteil über die Effektivität zivilgesellschaftlichen Engagements in Subsahara Afrika geben kann, jedoch das Gewicht zivilgesellschaftlicher AkteurInnen seit den späten 1980er Jahren erheblich zugenommen hat. Sie konnten in fast allen Fällen die Demokratisierung positiv beeinflus­ sen und beachtliche Erfolge bei der Verwirklichung von Geschlech­ tergerechtigkeit erzielen. Die afrikanischen Zivilgesellschaften werden trotz aller Brüche, Widersprüche und Rückschritte immer wichtiger, und die Hegemone müssen mit ihnen rechnen. Neue Medien, Urbanisierung und zunehmende Bildung der jungen Generation sind dabei positive Katalysatoren. Eva-Maria Bruchhaus Walter Eberlei (Hg.): Zivilgesellschaft in Subsahara Afrika. Springer VS, Wiesbaden 2014. 215 Seiten, 39,99 Euro.

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Grenzen sind keine Linien Der Begriff des Grenzregimes erfreut sich derzeit großer Beliebt­ heit. Zurück geht dies maßgeblich auf kritnet, einem 2008 gegrün­ deten interdisziplinären Zusammenschluss an der Schnittstelle von Wissenschaft, Aktivismus und Kunst. Das Netzwerk steht erkennt­ nistheoretisch und politisch für das »Recht auf Migration und Flucht« – und grenzt sich damit vom Mainstream der Migrationsforschung ab. Mit Grenzregime II ist nun der zweite kritnetSammelband erschienen. Ging es im Vorgänger von 2010 noch stärker um Diskurse, Praktiken und Ins­ titutionen in Europa, steht nun eine globalere Per­ spektive im Vordergrund. Neben international dis­ kutierten Konzepten und Perspektiven thematisieren die AutorInnen die Externalisierung von Migrations­ kontrollen stärker mit Blick auf globale Verflechtun­ gen. Dabei verlieren sie regionale Eigenheiten nicht aus den Augen – ob es sich nun um New York City handelt, Ciudad Juárez, Bamako, Addis Adeba oder Istanbul. Kritnets emanzipatorische Programmatik schlägt sich bereits im Begriff des Grenzregimes nieder. Der Terminus enthält zum einen eine polemische und aktivistische Dimension, die schon in den 1990ern zentral war, als die Berliner Forschungsstelle Flucht und Migration (FFM) ihn in die deutschsprachige Debatte brachte. Zum anderen steht der Begriff für eine bestimmte analytische Perspektive: Aus­ gehend von den Kämpfen der Migration sollen die Praktiken der border work in den Blick genommen werden. Gemeint sind damit die alltäglichen, an verschiedensten Orten stattfindenden Mikro­ praktiken einer Vielzahl von lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen AkteurInnen, die Grenzen (wieder-)herstellen, he­raus­fordern, verschieben, umdeuten oder neu einschreiben. Grenze steht hier nicht für eine statische Linie, die Nationalstaa­ ten oder andere Einheiten räumlich voneinander trennt, sondern für ein dynamisches Konflikt- und Aushandlungsverhältnis. Darin schaffen beteiligte PolitikerInnen, GrenzschutzbeamtInnen, Wis­ senschaftlerInnen, NGO-MitarbeiterInnen, MigrantInnen und an­ dere durch alltägliche, performative Akte bestimmte Grenz-Räum­ lichkeiten. Und innerhalb dieser Grenz-Räume, Grenz-Orte oder Grenz-Landschaften finden »mobile, fluide, selektive und differen­ zierte Grenzsituationen« statt, schreiben die Herausgeberinnen im Einleitungsbeitrag. In diesem Verständnis stehen Grenzregimes nicht für vollstän­ dige Abwehr von Migration, wie es etwa die Rede von der »Festung Europa« nahe legt, sondern für Prozesse des Filterns anhand ver­ schiedener Kriterien. Diese kategorisierenden Hierarchisierungspro­ zesse führen dazu, dass einzelne Bevölkerungsgruppen unterschied­ lich bewertet und ihnen unterschiedliche Rechte zugesprochen werden. Zahlreiche Beiträge von »Grenzregime II« greifen die interna­ tionale Debatte um das Citizenship-Konzept auf, teils mit großer Skepsis ob dessen analytischer und politischer Brauchbarkeit. So heben Anna Köster-Eiserfunke, Clemens Reichhold und Helge Schwiertz hervor, dass ihnen eine Analyse in den Begrifflichkeiten tt

von Citizenship sowie das in den Citizenship Studies prominente Konzept der Acts of Citizenship »zumindest ambivalent« erscheine. Durch Acts of Citizenship werde eine politische Subjektivität ge­ schaffen, »die das Bestehende im Namen eines Prinzips oder Ideals herausfordert«. In diesen Momenten gesellschaftlicher Transforma­ tion nehmen sich Subjekte unabhängig von ihrem Status Rechte als BürgerInnen, so dass sie sich in diesen Mo­ menten faktisch zu BürgerInnen machen. Doch die Acts könnten letztlich zur Neuordnung be­ stehender Regime führen, und zudem würden diese von bestehenden Verhältnissen ausgehen. Außerdem bestünde die Gefahr, Forderungen und eine Citi­zen-Subjektivität in Konflikte hinein­ zuprojizieren, die mitunter gar nicht als öffentliche Handlungen inszeniert werden. Gleichzeitig loh­ ne sich aber die citizenship-Perspektive, da sie ansonsten meist viktimisierte und passivisierte Subjekte als AkteurInnen sowie das kreative Mo­ ment der Acts in den Mittelpunkt stelle. Gründe für die Verwendung des CitizenshipBegriffs nennen Peter Nyers und Kim Rygiel. Er bringe eine Diskrepanz zwischen Ideal und fak­ tischer Abwesenheit von Bürgerrechten zum Ausdruck, die Menschen für mehr soziale Gerechtigkeit mobilisieren könne. Nicholas de Genova hingegen blickt skeptischer auf Citizenship. Anhand des bei migrantischen Kämpfen in den USA verwendeten Slogans »Wir sind da, und wir gehen auch nicht! Und wenn sie uns rauswerfen, kommen wir zurück!« diskutiert er »queere Politiken der Migration«. Diese brächten eine emanzipatorische Form der Abneigung staat­ licher Macht zum Ausdruck und agierten ausgehend von einer negativen, anti-identitären Position – wie es im Slogan der New Yorker Organisation Queer Nation zum Ausdruck kommt: »We’re here! We’re queer! Get used to it!« Ein weiterer Fokus von »Grenzregime II« liegt auf der Auseinan­ dersetzung mit Wissensproduktion über Migration und Grenze. Hier werden etwa die Rolle der International Organization for Mi­ gration (IOM) als Dienstleisterin in der Ukraine thematisiert, oder die begrenzten Möglichkeiten akademisch-kritischer Wissenspro­ duktion über Migration in Zentralamerika. Daneben fragen meh­ rere Beiträge nach den Grenzen und Chancen aktivistischen For­ schens – sowohl grundlegend-theoretisch als auch anhand konkreter Fallbeispiele aus München, New York oder hinsichtlich kritischer Kartierungen des europäischen Grenzregimes. »Grenzregime II« richtet sich an ein akademisches Fachpublikum. Wen die Vielzahl theoretischer Verweise und die elaborierte Sprache nicht abschrecken, wird darin einen reichhaltigen Fundus an nichthegemonialen Wissen entdecken, das auch als Inspiration für eige­ ne Forschungen dient. Till Schmidt Heimeshoff/ Hess /Kron/ Schwenken/ Trzeciak (Hg.): Grenzregime II. Migration – Kontrolle – Wissen. Transnationale Perspektiven. Assoziation A, Berlin Hamburg 2014. 328 Seiten, 18.- Euro.

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ISSN 1614-0095

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