iz3w Magazin # 350

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Grenzüberschreitend – Anti-Rassismus im Süden

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Suizide in Indien t Boko Haram in Westafrika t Fotografie im kolonialen Kontext

Sept./Okt. 2015 Ausgabe q 350 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


I n d ies er Aus gabe

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Afrique-Europe Interact, Karawane für globale Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung, Bamako-Dakar 29.01.2011 Titelmotiv: Leona Goldstein

Dossier: Anti-Rassismus im Süden D· 2

Politik und Ökonomie 4

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Iran: Die Brückenbauer

D· 5

Die Bundesregierung wirbt im Iran für deutsche Unternehmen von Jörn Schulz

D· 8

Westafrika I: »Our Job is to shoot«

D· 12

Westafrika II: Alltägliche Entrechtung

Indien: Wer sind die Opfer?

Kolonialismus: »Es geht um eine Dekolonisierung des Denkens«

D· 15

Weltbank: Im Zweifel für den Kredit? Eine kritische Würdigung des Inspection Panels der Weltbank von Aram Ziai

Wenn Hass thailändisch spricht Früher wurden SklavInnen, heute werden Rohingya und Uiguren ausgegrenzt von Tippawan Duscha

D· 18

Rassismus im Kastensystem? Die Spaltung der indischen Gesellschaft von David Jüngst

D· 20

Freundschaft oben – Misstrauen unten Antichinesische Ressentiments in Namibia von Henning Melber

Interview mit Heiko Wegmann über freiburg-postkolonial.de

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»Die Rede von Hutu und Tutsi vermeiden« Interview mit Phil Clark über ethnischen Divisionismus in Ruanda

Bäuerliche Selbstmorde und die Agrarkrise in Indien von Hanns Wienold

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Demokratie der guten Erscheinung Die Rassismusgeschichte im »vermischten« Brasilien von Simon Brüggemann

In Nigeria werden Frauen nicht nur durch Boko Haram diskriminiert von Maranatha Duru

8

Rassismus unter dem Regenbogen Erbe der Apartheid und rassistischer Überlegenheitsdünkel von Rita Schäfer

Der Terror der Boko Haram ist länderübergreifend von Ruben Eberlein

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»Solange wir streiten, sind wir auf dem richtigen Weg!« Gespräch mit Maria do Mar Castro Varela, Rirhandu Mageza-Barthel und Albert Scherr

3 Editorial

D· 22

Solidarität im Libanon Diskurse über Rassismus weiten sich aus von Hannah Wettig

D· 24

Eine Insel, zwei Länder, keine Rechte Solidaritätsarbeit zwischen Diaspora und nationalen Minderheiten von Stephan Kroener

27 Rezensionen 30 Szene / Tagungen Impressum

Kultur und Debatte 17

(Post-)Kolonialismus I: Wie kam Geschichte nach Afrika? Die kolonialen Bantu-Theorien sind bis heute wirkungsmächtig von Philippe Kersting

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(Post-)Kolonialismus II: »Fotografie gehört allen« Interview mit Tamar Garb über die heutige Bedeutung kolonialer Bilderwelten

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Film: Jung, weiblich, ägyptisch Die Doku »Private Revolutions« porträtiert vier Frauen aus Kairo von Anna-Theresa Bachmann

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Editor ia l

Immerhin umkämpft Die Zahl der Geflüchteten, die in Europa Schutz vor Gewalt und Diskriminierung suchen, steigt weiter an. Diese Fest­ stellung ist wenig verwunderlich angesichts der djihadis­ tischen Bürgerkriege im Nahen Osten und in Nordafrika sowie der Perspektivlosigkeit der Armutsbevölkerung in Südosteuropa. Für ein kleines, krisengeschütteltes Land wie Libanon ist es ein Kraftakt, wenn dort Menschen auf der Flucht in einem Umfang aufgenommen werden, der etwa einem Drittel der Bevölkerung entspricht – ohne dass das Morgenland untergeht. Im reichen Westeuropa kommen nur wenige der Flüchtenden an. Selbstverständ­ lich kann man hier Flüchtlinge aufnehmen, natürlich unterstützt man sie in der schwierigen Ankunftsphase. Solche Positionen sind heute in Deutschland auf zahl­ reichen Bürgerversammlungen zu hören, auf denen die Kommunalpolitik neue Flüchtlingsunterkünfte vorstellt. Die Stimme dafür ergreifen aber nicht nur Mandats­ trägerInnen, sondern viele BürgerInnen. Es ist eine gute Nachricht im Deutschland des Jahres 2015, dass derzeit relevante Teile der Zivilgesellschaft die Geflüchteten aus­ drücklich willkommen heißen. Hier sind nicht zuletzt deren Selbstorganisationen auf fruchtbaren Boden ge­ fallen. Die Rechten, die Ressentiments gegen die Geflüchteten entfachen wollen, sehen sich unvorhergesehenen Prob­ lemen gegenüber. Zwar gelingt es ihnen mancherorts, Angst und Hass gegen Geflohene zu verbreiten. Aber selbst in der hintersten Provinz bekunden BürgerInnen auf Versammlungen ihre Solidarität mit den Neuankömm­ lingen. Die Zahl der Helferkreise übersteigt die der Nein­ sager. Viele wenden sich gegen den latenten Rassismus, der hinter den Debatten um »Asylmissbrauch« oder »Flüchtlingsströme« steckt. Und wenn ein rechter Mob, gerne als »besorgte BürgerInnen« auftretend, Hassparolen gegen eine neue Flüchtlingsunterkunft brüllt, ist die Ge­ gendemonstration nicht weit.

S

icher, in Bezug auf Asyl und Flucht ist die innenpo­ litische Situation derzeit nicht berauschend. Aber sie ist besser als zu Beginn der 1990er Jahre. Nach dem Ende des Realsozialismus traf sich eine Umbruchskrise mit der Zunahme von Einwanderung. Das ist in Deutschland immer heikel. Bald sahen sich die Geflüchteten für alle Angstursachen der Leute in die Verantwortung genommen. Es gab ein weit verbreitetes Ressentiment gegen »Asylan­ ten«, das in pogromartigen Szenen vor Flüchtlingsheimen gipfelte. Die MigrantInnen, aber auch die sie unterstüt­ zenden fortschrittlichen und linken Kräfte waren an den

Rand gedrängt. Das Asylrecht wurde im Bundestag gera­ dezu rituell geopfert. Auch zurzeit gibt es genügend Gründe, diesem Land und seinen Leuten nicht über den Weg zu trauen. Die Gleichung, dass Krise plus Flüchtlinge Rassismus ergibt, gilt weiterhin. Die derzeitigen Krisen spielen sich zwar jenseits von Deutschland ab. Aber Pegida stellte mit seiner bizarren Fantasie von der Bedrohung des »Abendlandes« durch den Islam eine rechtspopulistische Bewegung auf die Beine, die nicht nur in Dresden großen Anklang fand. Das Ressentiment wurde bald auf das Flüchtlingsthema umgeleitet, Rechtsextreme führen es mit militanten Über­ griffen fort. Im ersten Halbjahr 2015 gab es über 200 Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte. PolitikerIn­ nen griffen das Ressentiment mit dem »Gesetz zur Neu­ bestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbedin­ gungen« auf. Im Hintergrund läuft die strukturelle Gewalt der europäischen Festungs- und Abschiebemaschinerie ohnehin auf Hochtouren. Und fast alle sich noch so anti­ rassistisch gebenden MandatsträgerInnen sind faktisch in Abschiebungen involviert. KommunalpolitikerInnen beklagen »Grenzen der Be­ lastbarkeit« und stellen Zelte zur Unterbringung auf die Wiese – Folge einer jahrzehntelangen neoliberalen Politik, mit der man die Infrastruktur in einem reichen Land kaputt gespart hat. Das Problem aber sind jetzt: die Flüchtlinge. Brandstifter wie der Seehofer von der CSU machen insbe­ sondere südosteuropäische Geflüchtete kollektiv zum alten »Scheinasylanten«. Etliche PolitikerInnen räsonieren über eigene Abschiebelager angesichts der grundverschiedenen »Gruppen« von Flüchtlingen (gemeint sind Roma) oder über immer mehr sichere Herkunftsländer. »Sicher« ist für Roma in Serbien oder Montenegro zwar nur ihre Diskri­ minierung, wie auch die jahrhundertealte Stigmatisierung der Roma in Europa überhaupt erst die Ursache für ihre Misere ist. Aber selbst ein solch simpler Gedanke ist für die Mehrheit der Deutschen zu anspruchsvoll.

E

s gibt angesichts all dessen keinen Grund für echten Optimismus. Aber ebenso falsch wäre es, die heutigen antirassistischen Widerstände kleiner zu reden als sie sind. Rassistische Positionen sind marginalisierbar. Nicht nur in der Zivilgesellschaft sind viele bemüht, die Geflüchteten und ihr Menschenrecht ins Zentrum zu stellen, auch bei MandatsträgerInnen und in den Medien gibt es diese Strömung. Die Flüchtlingsfrage ist anders als in den 1990er Jahren immerhin ernsthaft umkämpft. Das bietet Hand­ lungschancen, findet die redaktion

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Uni Freiburg 2014: Rückgabe geraubter Schädel nach Namibia

Foto: H. Wegmann

» E s geht um eine Dekolonisierung des Denkens« Interview mit Heiko Wegmann über freiburg-postkolonial.de Die Initiative freiburg-postkolonial.de (freipok) blickt auf zehn Jahre Recherchearbeit zurück. Eine koloniale Spurensuche, die nicht ohne Wirkung blieb. Heiko Wegmann über die Kon­ sequenzen des Vergessens und die Pflicht zur Erinnerung.

iz3w: Woher kam die Motivation zu solch einem Projekt in Freiburg, das nicht zuletzt in Sachen Kolonialismus als Provinz gelten kann? Heiko Wegmann: Mir ging es als Gründer des Projektes darum herauszufinden, inwieweit auch die deutsche Provinz Teil der Ko­ lonialgeschichte war. Dass man in den Metropolen Spuren findet, liegt nahe. Aber wie sah es mit dem Rest aus?

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Gegen das Vergessen, so könnte man vielleicht die Stoßrichtung der kolonialen Spurensuche beschreiben … tt Die deutsche Kolonialgeschichte ist allgemein stark in Verges­ senheit geraten. Selbst in der Schule wird sie kaum behandelt. Neben wirtschaftlicher Ausbeutung und politischer Dominanz müsste man aber auch nach dem kulturellen Erbe des Kolonialismus fragen. Dass die Geschichte des afrikanischen Kontinents eigentlich erst mit der Kolonisierung begonnen habe, ist ein verbreitetes Stereotyp. Dazu kommt eine weitere Dimension: Die Kolonisierung hatte ihren Niederschlag auch in der europäischen lokalen Gesell­ schaft. Eine Konsequenz der Vergessenheit ist, dass der Öffentlichkeit die Beschäftigung mit dem Kolonialismus und seinem Erbe oft gar nicht einleuchtet. Man muss stark in Vorleistung gehen, was Re­ cherchen und Beweisführung angeht: eine Art Bringschuld.

Wie hat man sich die Recherche in Sachen lokaler kolonialer Vergangenheit konkret vorzustellen? tt Die Recherche in den Archiven (vom Stadt- bis zum Bundes­ archiv) ist mühsam, weil da wenig Material auf dem Präsentiertel­ ler liegt, geschweige denn aufgearbeitet ist. Die Vereinsunterlagen der Kolonialvereine wären eine gute Quelle, wenn man sie denn auffinden könnte. Vieles lässt sich dagegen durch die Tagespresse oder durch koloniale Fachzeitschriften rekonstruieren, durch Werbe­ anzeigen für Kolonialvorträge und Veranstaltungsberichte. Zudem können Vorlesungsverzeichnisse, wissenschaftliche Publikationen bis hin zu Regimentsgeschichten herangezogen werden. Spannend ist, was und wie über Kolonien, Kolonialforderung und Ereignisse gesprochen und geschrieben wurde. Was lässt sich aus den recherchierten Fakten über die kolonialen ­Aktivitäten in Freiburg sagen? tt Zum Beispiel, dass es über viele Jahrzehnte eine Kolonialbewe­ gung gab, über die Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und NS-Diktatur hinweg. Und nach 1945 wurde bald wieder ein »Interessenverband Übersee« von ehemaligen Kolonialdeutschen gegründet. Die Protagonisten der Kolonialforderung waren in gesellschaftlich wichtigen Positionen. Julius Mez, ein langjähriger Vorsitzender des Freiburger Kolonialvereins, war Bankier und Prä­ sident der Handelskammer. Andere waren Professoren an der Uni und saßen gleichzeitig in vielen anderen Gremien. Prof. Ludwig Neumann war beispielsweise auch Präsident des Badischen Schwarz­ waldvereins. Sie hatten also mehr Einfluss, als die bloße Zahl der Mitglieder ihrer Vereine vermuten lässt.

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Kolonialismus

Es geht mir neben der Faktenrecherche auch zentral um eine De­ kolonisierung des Denkens, etwa um einen kritischen Blick auf die Wissensproduktion an der Uni. So lässt sich zeigen, wie Anthropo­ logen und Kolonialverwaltung bei der Beschaffung von mensch­ lichen Überresten aus den Kolonien für die Rassenforschung (siehe iz3w 331) zusammen gearbeitet haben. Welche Bedeutung kommt der Phase in Freiburg zu, in der Deutschland zwar keine territorialen Gebiete mehr in Besitz hatte, aber weiter Besitzansprüche formulierte? tt Es war für mich eine ‘Aha-Erkenntnis’, dass in Freiburg ausge­ rechnet zur NS-Zeit 1935 eine Reichskolonialtagung stattfand. Die wurde zwar schon 1932 vorbereitet, dann aber auch vom NSOberbürgermeister und dem NSDAP-Gauleiter Wagner unterstützt. Die Forderung nach Kolonien in Afrika war ja unter Nationalsozia­ listen durchaus umstritten, aber die gleichgeschaltete Kolonial­ bewegung lebte weiter.

Neben dem historischen Wissen geht es auch um die Frage, wie man damit umgeht. Und die kolonialen Bilderwelten wirken auch weiter: sei es, dass Produkte mit schwarzen Menschen identifiziert werden (»Warenrassismus«), dass Afrika nur als ländlicher Naturraum oder total exotisiert dargestellt wird oder dass im Tourismus expli­ zit nostalgisch mit der Kolonialgeschichte geworben wird. Es geht darum, rassistische Stereotype zu erkennen und einen kritischen Umgang damit zu finden. Das gleiche gilt für die Abrüstung der Sprache. Da geht es nicht um übertriebene »Gedankenpolizei«. Aber wer geschichtliche Zusammenhänge begreift, wird hoffentlich leichter bereit sein, eigene Gewissheiten, Denkmuster und auch Wörter zu hinterfragen. tt

In einigen deutschen Städten haben Umbenennungsaktionen von Straßen und Gebäuden stattgefunden, die nach Personen mit kolonialen Bezügen benannt waren. Die Initiative freedom-roads sieht darin einen Akt der Dekolonisierung. Ist dies hilfreich? tt Neben der grundsätzlichen Frage, wen man mit Straßennamen Bleiben wir beim kolonialen Wissen: Wie wurde dieses durch die Beheute öffentlich ehren will, sind die Debatten über die Umbenen­ richterstattung zur Zeit der Kolonisierung geprägt etwa über den nungsforderung schon ein Teil der Dekolonisierung. Sie verlaufen Maji-Maji Krieg in Tansania ab 1905? meist sehr kontrovers und nur selten tt Während der größeren Kolonialkriege gab es erfolgreich, aber mit der Zeit sind doch eine unglaublich dichte Berichterstattung in der einige Umbenennungen zusammen »Wer geschichtliche ZusamFreiburger Zeitung. Allerdings fand das allein gekommen. Je nach Fall kann auch eine menhänge begreift, hinterfragt aus deutscher Machtperspektive heraus statt: Kommentierung sinnvoll sein. Absurd eigene Gewissheiten« Die GegnerInnen wurden rassistisch disquali­ wird es, wenn das Erinnern an die Ge­ fiziert. Da wurden Vorstellungen eines vermeint­ schichte mit einer Um­benennung ein­ lich unentwickelten und kulturlosen Afrika radi­ fach ausradiert wird. So ­wurde in Stutt­ kalisiert. Antikolonialer Widerstand wurde als ‘Aufregung gart die Leutweinstaße in »Am ­Weinberg« umbenannt. In Berlin plündernder Banditen’ interpretiert. Lediglich bei der Frage, wie wurde dagegen das nach dem Erbauer des brandenburg-preussi­ schen Sklavenforts benannte Gröben-Ufer nach der afrodeutschen hart das Vorgehen gegen diese sein sollte, gab es Schwankungen, Aktivistin und Dichterin May Ayim umbenannt. schließlich brauchte man weiterhin Arbeitskräfte. Typisch für die Kolonialzeit war, dass die Kolonisierten kaum Möglichkeiten hatten, in die hiesige Debatte einzugreifen. Die Perspektive der Kolonisierten ist in den Quellen kaum dokumentiert. Wie groß ist die Gefahr, diese Sprachlosigkeit und den Objektstatus der Opfer kolonialer Praktiken zu reproduzieren? tt Das ist in der Tat ein Problem, in der Lokalgeschichte noch stärker als sonst. Vom Nama-Führer Hendrik Witbooi sind Briefe überliefert, die seine Sicht deutlich machen. Für Freiburg fehlen solche Quellen vollständig. Außer den Völkerschauen habe ich auch keine Hinweise auf KolonialmigrantInnen in Freiburg gefunden. Man muss die Begrenztheit der historischen Quellen aufzeigen, aber auch versuchen, heutigen Stimmen aus den ehemaligen Kolonien hier Gehör zu verschaffen. Die gibt es ja durchaus und sie fordern von uns auch eine Auseinandersetzung ein. Welche Reaktionen gibt es auf die Erkenntnisse von freipok? tt Neben der Website sind zahlreiche Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsartikel erschienen. Außerdem gab es Vorträge, Stadtfüh­ rungen, Radiobeiträge und nun einen Audioguide. Die Reaktionen reichen von großer Zustimmung bis zu kritischer Distanz. So fühlen sich manche Institutionen zu Unrecht oder zu pauschal kritisiert. Es kam aber auch vor, dass mich das Stadttheater um einen Vortrag zur eigenen (post)kolonialen Geschichte gebeten hat.

Viele Recherchen waren nur durch privates Engagement z. B. von ­Studierenden und PraktikantInnen möglich. Läge es nicht auch in der Verantwortung der Städte, die kolonialhistorischen Fakten aufzuar­ beiten und aus den Erkenntnissen Schlüsse zu ziehen? tt In letzter Zeit gibt es da endlich Bewegung. Die Stadt München hat 2013/14 ein großes Veranstaltungsprogramm »Decolonize München« in Zusammenarbeit mit vielen Initiativen organisiert. Der Hamburger Senat hat nach vielen Jahren der Kritik 2014 be­ schlossen, seinerseits die Aufarbeitung des Kolonialismus zu begin­ nen. An der Nichtbeteiligung afrodeutscher Initiativen im dortigen Beirat gab es viel Kritik, aber vielleicht ändert sich da noch etwas. An der Universität Hamburg wurde gerade eine Forschungsstelle »Hamburgs (post-)koloniales Erbe« eingerichtet. Freiburgs Gemeinderat hat vor zwei Jahren den Wunsch geäußert, dass sich die Stadt mit der eigenen Kolonialgeschichte befassen soll. Im neuen Haushalt wurden jetzt Mittel dafür bereit gestellt. Ich fände es wünschenswert, wenn sich die Forschung über Kolo­ nialismus und Stadtgeschichte institutionalisieren würde. Im Win­ tersemester wird es von Uni und Pädagogischer Hochschule ein Seminar geben, an der PH wird auch geforscht. Es freut freipok natürlich, dass die jahrelange Vorarbeit aufgegriffen wird.

Heiko Wegmann ist Sozialwissenschaftler und gründete vor zehn Jahren die Initiative freiburg-postkolonial.de. Interview: Martina Backes tt

Ein Ziel von freipok ist, das Bewusstsein über die Nachwirkungen der kolonialen Verstrickungen bis in die heutige Zeit zu schärfen …

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Entgrenzt & grenzüberschreitend »God is not working on Sundays!« Die eindrücklichen Fotos von Leona Goldstein bebildern nicht zum ersten Mal die iz3w. Bereits für das Dossier Flucht & Asyl in der Ausgabe 341 hat die 1976 geborene Journalistin, Fotografin und Filmemacherin ihre Bilder zur Verfügung gestellt. Für die Fotoserie im vorliegenden Dossier bereiste Goldstein Ruanda. 20 Jahre nach dem Genozid hat sich nicht nur die Wirtschaft des Landes vorwärts entwickelt. Insbesondere die Rolle von Frauen in Politik und Gesellschaft hat einen grundlegenden Wandel durchlaufen. Frauen im heutigen Ruanda stellen im Parlament die Mehrheit, sie arbeiten in sozialen Netzwerken und kämpfen für Versöhnung und Gleichberechtigung. Die Bilder von Goldstein reflektieren diesen Kampf und zeigen zugleich die schmerzvolle Aufarbeitung des Genozids. Über die Frauen Ruandas hat Goldstein auch einen Dokumentarfilm gedreht: »God is not working on Sundays!« (Ruanda 2015, 84 min.). Der Filmtitel verweist auf den Appell der Frauen, nicht auf äußere Kräfte zu warten, sondern ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Mehr zur Arbeit von Leona Goldstein unter www.leonagoldstein.de

Das Dossier wurde gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL im Auftrag des BMZ und aus Mitteln des Kirchlichen Entwicklungsdienstes durch Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst.

»Solange wir streiten, sind wir auf dem richtigen Weg!« Gespräch mit María do Mar Castro Varela, Rirhandu Mageza-Barthel und Albert Scherr iz3w: Im April war in vielen Zeitungen von gewaltsamen Übergriffen in Südafrika von Schwarzen auf Schwarze berichtet worden mit der These, es handle sich um Rassismus zwischen AfrikanerInnen. Postkoloniale DenkerInnen wie Achille Mbembe und Cawo Abdi kritisieren, diese Umschreibung mache die in Armut lebenden Schwarzen zu Sündenböcken, statt die neoliberale Politik und das Erbe der Apartheid zu thematisieren. Können nur Weiße RassistInnen sein?

Rirhandu Mageza-Barthel (RMB): Aufgrund eines Forschungsaufenthaltes war ich in diesem Jahr in Südafrika, als die xenophoben Attacken stattfanden. Nachdem es 2008 bereits zu ähnlichen Vorfällen kam, wurde die südafrikanische Gesellschaft wieder mit dem Thema konfrontiert. Es gab nun eine sehr große Debatte darüber, inwiefern SüdafrikanerInnen afrophob sind. Gleichzeitig trat die Bewegung #RhodesMustFall in Erscheinung, die mit dem Sturz des Denkmals von Cecil Rhodes eine Dekolonisierung des Wissens, des Denkens und der Verhältnisse forderte. Sie hinterfragt die soziale Transformation und den politischen Wandel Südafrikas nach der Demokratisierung 1994, nicht nur in den Universitäten. Angesichts dieser diversen Auseinandersetzungen würde ich sagen, iz3w-Dossier

nein, nicht nur Weiße können rassistisch sein, wenn die Bedingungen es denn erlauben. Albert Scherr (AS): Die Frage unterstellt eine Homogenität derer, die man als »die Schwarzen« oder »die Afrikaner« bezeichnet. Damit übersieht man, dass es innerhalb von Staaten und Bevölkerungsgruppen sehr subtile Abstufungen gibt, die auch rassistisch definiert werden und die auch biologisch-rassistisch nach heller oder dunkler Hautfarbe kategorisieren. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass nur »Weiße« RassistInnen sein können: Rassismus ist immer eine greifbare Unterscheidungslogik, um Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren. María do Mar Castro Varela (MCV): Wenn man Diskurse in den Berichterstattungen zu Übergriffen in afrikanischen Ländern genauer analysiert, dann scheint der fortgesetzte koloniale Blick auf Afrika durch – und eine Logik, welche die Verhältnisse im ehemals kolonisierten Afrika als barbarisch portraitiert. Ich finde es nicht besonders produktiv, darüber nachzudenken, ob Schwarze rassistisch sein können. Es ist evident, dass alle Menschen in der Lage sind,

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Foto: Leona Goldstein, Filmstill aus: »God is not working on Sundays!«

Die Fotos auf dem Titelbild des Dossiers zeigen Opfer des Genozids in ­Ruanda. Erklärungsversuche für Gräueltaten wie dieser sprechen gerne von entgrenzter Gewalt. Tatsächlich ziehen Ausgrenzung, Diskriminierung, Xenophobie und Rassismus gewaltsam Grenzen zwischen Menschen und machen doch selber vor keinen Grenzen halt. Schon deshalb kann ihnen nur mit grenzüberschreitender Solidarität begegnet werden. Unser Dossier zu Anti-Rassismus im Süden zeigt anhand einiger Bei­spiele, wie Menschen Gewalt erfahren, einfach weil sie konstruierten Kategorien zugeordnet werden. Dabei verflechten sich historische und aktuelle Formen der Fremddefinition und Ausgrenzung, der institutionalisierten Gewalt und gewaltvollen Sprache. Jede verübte Gewalt im Hier und Jetzt hat eine (Vor-) Geschichte. Beim Stichwort Rassismus stellt sich umso mehr die Frage nach seiner Definition. Sollte Rassismus als historisch und global wandelbares Phänomen betrachtet werden? Oder kann er nur im Zusammenhang mit dem kolonialen, also europäischen Rassismus verhandelt werden? Eine Frage, die sich auch unsere InterviewpartnerInnen in der nachfolgenden Debatte stellen – ohne ein klares Ergebnis zu erzielen. Vielleicht ist die Frage nach der exakten Definition außerhalb des akademischen Raums aber auch nebensächlich? Wichtig ist in jedem Fall, dass sich Menschen weltweit vernetzen und gegen Diskriminierung solidarisieren. Das Aufzeigen der vielseitigen Kämpfe und Initiativen gegen unterschiedliche Formen von Menschenfeindlichkeit im Globalen Süden ist der Ausgangspunkt unseres Dossiers. Auch, damit die antirassistische Bewegung hierzulande von ihren Erfahrungen lernen kann... die redaktion


»Wöchentliche Treffen von Überlebenden und Tätern im Rahmen des Unity and Reconciliation Programs des Staats. Remera, Ruanda«

Gewalt anzuwenden und auch bestimmte Kategorien der Ausgrenzung verwenden. Genealogisch betrachtet muss man jedoch sagen, dass diese besondere Form der Gewalt, der Rassismus, eine europäische Erfindung ist. Zudem gibt es eine Tendenz, jede Form von Gewalt einer sozia­ len Gruppe gegen eine andere als Rassismus zu bezeichnen. Bei dieser inflationären Bedeutungszuweisung von Rassismus müssen wir genau schauen, welche Funktion der Rassismusvorwurf jeweils hat. Warum ist es für viele in Europa so wichtig, diesen Vorwurf zu äußern? Es verwundert doch nicht, dass es in Ländern, die über Jahrhunderte kolonialisiert wurden, und in Südafrika herrschte zusätzlich das Apartheidregime, rassistische Strukturen, Kategorisierungen und Praxen gibt. AS: Die Frage nach der der Funktion ist wichtig. Denn Rassismus ist skandalisierbar: Wer immer von Rassismus spricht, kann moralisieren, den moralischen Vorwurf an den jeweils anderen adressieren und sich damit selbst in die Position des Anti-Rassisten begeben. Ein übergeneralisierter Rassismusbegriff hilft jedoch nicht weiter. Wer alle möglichen Varianten von Diskriminierung unter einen generalisierten Rassismusbegriff packt, verliert an Unterscheidungsvermögen. Man braucht erst einmal eine abstrakte Kategorie. Die

heißt bei mir Diskriminierung. Davon ausgehend kann man in einem zweiten Schritt unterschiedliche Spielarten von Rassismen, von Nationalismen, von ethnischen Differenzkonstruktionen als bestimmte Varianten von Diskriminierung analysieren. Aber die lassen sich nicht alle unter den Rassismusbegriff packen. RMB: Wenn man verschiedene Gewaltverhältnisse und diskursive Strukturen anschaut, kann man parallele Phänomene ausmachen: Zeitgleich zu den xenophoben Attacken in Südafrika tauchten Leute wie Steve Hofmeyer als konservative Afrikaanse-Wortführer auf, mit sehr starken Gegenpositionen zum aktuellen Südafrika. Hinter ihrem Protest, dass ihre Kultur nicht geschützt sei, steht auch der Verlust ihrer früheren Privilegien. Das ist etwas ganz anderes als die Angriffe von SüdafrikanerInnen oder Menschen aus den Townships auf ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlinge. Hier geht es um sehr unterschiedliche Gewaltverhältnisse und gebrochene zwischenmenschliche Beziehungen.

iz3w: In Ruanda wird der Begriff des Rassismus auch im akademischen Kontext kaum benutzt. Hier spricht man staatlicherseits eher von ethnischem Divisionismus. Ist das aus einer postkolonialen Perspektive sinnvoll?

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Anti-Rassismus im Süden RMB: Entscheidend ist nicht, ob Ethnizität existiert, sondern wie sie genutzt wird. In Ruanda ging es im Vorlauf des Genozids um ihre Instrumentalisierung und Politisierung und um die Frage, ob Ethnizität im Vergleich zu anderen sozialen Kategorien wie Familie, Religion oder Klasse die wirkungsmächtigste Kategorie ist, auf die man rekurrieren sollte. In Ruanda führt das zu der Frage, ob Divisionismus nicht eher ein politisches Instrument ist. Einerseits setzt es die Norm, dass nicht entlang ethnischer Linien mobilisiert werden darf. Andererseits nimmt es einer historisch geschwächten Opposition, die diese Kategorie anrufen wollen würde, eine Identitätskategorie weg und stört die Möglichkeit zu dieser Art von Mobilisierung.

Funktionalität der Ökonomie eher behindert. Noch komplizierter wird es mit Blick auf die Migration: Es handelt sich um eine auf Nationalstaatlichkeit basierende Ausgrenzung, die sich manchmal, aber nicht immer, mit rassistischen Momenten vermischt.

iz3w: Wenn Konflikte im Globalen Süden als ethnische dargestellt

iz3w: Welche Bedeutung kommt einer postkolonialen Perspektive im

MCV: Allerdings besteht nach wie vor eine internationale Arbeitsteilung. Im Westen kann Rassismus von kapitalistischen Strukturen als Störfaktor erlebt werden. Aber es gibt eine gnadenlose Ausbeutung der Arbeitskraft im globalen Süden, Abertausende von Menschen, die zum Beispiel in Textilfabriken in Bangladesch 14 bis 16 Stunden täglich arbeiten müssen und trotzdem unter dem Existenzminimum leben.

Rahmen transnationaler Solidaritätsarbeit zu? werden, wird von linker Seite kritisiert, das eigentliche Problem sei Klassizismus und man müsse die materiellen Verhältnisse anschauen. Wird das der AS: Die gegenwärtigen Verhältnisse und ideolo»Analytische Fragen werden Komplexität von Konflikten gerecht? gischen Diskurse sind historisch imprägniert und spielen auch in den Erfahrungszusammenhängen moralisch überkodiert« RMB: Ruanda war vor dem Genozid der Akteure eine Rolle. Ein Beispiel: Über die Proprimär ein Agrarstaat. Das Buch »Rwanblemlagen von Roma oder Sinti kann ich nur spreda and Burundi« von René Lemarchand von 1970 hat versucht, chen, wenn ich die Geschichte der NS-Diskriminierung als hoch die Unabhängigkeitsrevolution von Ruanda im Vergleich zu Burunrelevante Hintergrunderfahrung zur Kenntnis nehme. Und ich kann di in den 1950er und 60er Jahren entlang von Klassenstrukturen nicht mit afrikanischen Flüchtlingen in Dialog treten, ohne zu reszu erklären. Trotz der sozialen Stratifizierung, die dort damals pektieren, dass für ihre Realitätswahrnehmung die Erfahrung des existierte, entsprechen die Klassen und die Revolution nicht den kolonialen und postkolonialen Rassismus eine zentrale Rolle spielt. üblichen westlich-kapitalistischen Phänomenen. Wenn der Weiße jedoch per se Repräsentant der kolonialen Unterdrücker ist und Legitimität ständig bestritten wird, kommt es zu AS: Es gibt zwei Ebenen: Strukturelle Klassenverhältnisse und kolVerwerfungen innerhalb der Solidaritätsbewegungen. Wichtig ist, lektive Identitäten. Diese sind vielfach verschränkt, aber nicht zwischen analytischen und moralischen Kategorien deutlich zu identisch. Wenn aus einer marxistischen Perspektive argumentiert unterscheiden. Viele Diskussionen laufen gegenwärtig schief, weil wird, die Ebene ethnischer, kultureller oder religiöser Identitäten analytische Fragestellungen sofort moralisch überkodiert werden. sei nur ein abgeleitetes Element, unterschätzt dies deren Eigen­ dynamik. Die Verschränkung funktioniert immer dann gut, wenn RMB: Wichtig ist, wie Menschen in Solidargemeinschaften handeln. politische Machtstrukturen, Identitäten und ökonomische UngleichNach den Erfahrungen der transnationalen Frauenbewegung fragen heitsstrukturen konvergieren. Bei den Konflikten im ehemaligen wir: Wie geht man mit Differenzen um? Wie mit GleichheitsansprüJugoslawien zum Beispiel findet man eine komplexe Gemengelage chen und Forderungen nach Gerechtigkeit? Was bedeutet eine von ökonomischer Ungleichheit und ethnischen Konflikten. Man Praxis im Sinne von Anerkennungs- oder Verteilungsgerechtigkeit? Und finden sich Asymmetrien nur in Nord-Süd-Verhältnissen oder muss nach dem Zusammenwirken zu fragen. auch in Süd-Süd-Beziehungen wieder? Welche Machtpositionen MCV: Die größte Gefahr besteht darin, Komplexität zu reduzieren. innerhalb dieser Beziehungen könnten einem gemeinsamen HanDas gilt auch für die marxistische Sicht, die Klasse zur wichtigsten deln im Wege stehen – oder dieses befördern? Kategorie erklärt. Die Etablierung von rassistischen Systemen durch die Kolonialisierung hatte historisch betrachtet die Funktion, AusMCV: Ich denke, wir müssen uns wie bei der Frage der Repräsentation einfach den Dilemmata stellen und anerkennen, dass Wissen beutung zu legitimieren. Gruppen, die im rassistischen Kategorinie neutral ist. Und dass politische Aktionen immer auch Scheitern ensystem die unterste Stufe einnahmen, wurden maximal ausgeund Konflikte bedeuten und nicht Harmonie. Das heißt, solange beutet. Bekanntlich kannten die spanischen und portugiesischen gestritten wird und streiten auch möglich gemacht wird, sind wir Kolonisatoren nicht nur zwei oder drei »Rassen«, sondern etablierauf dem richtigen Weg. ten ein »Kastensystem« mit über zwanzig differenten Kategorien. Das Encomienda-System des 16.Jahrhunderts, wonach die Konquistadoren nicht nur das Land, sondern auch die Bevölkerung verwalten durften, wurde schon 1550 in Frage gestellt. Das Beispiel tt María Do Mar Castro Varela forscht und lehrt u. a. zu zeigt, das sich die Ausbildung des globalen Kapitalismus vom ­postkolonialer Theorie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Rassismus nicht trennen lässt. Rirhandu Mageza-Barthel forscht und lehrt u. a. zu Genderpolitiken in Ruanda und afrikanisch-asiatischen Beziehungen an der Goethe-Universität Frankfurt. Albert Scherr forscht und lehrt u. a. AS: Im gegenwärtigen modernen Kapitalismus ist das Verhältnis zu Rassismus und Migration an der Pädagogischen Hochschule von Rassismus und kapitalistischer Ökonomie jedoch viel gebroFreiburg. Dies ist der Auszug eines längeren Gespräches. chener und komplexer. Es gibt ein strategisches Interesse globaler Die Langfassung ist auf unserer Homepage abrufbar: ökonomischer Akteure, rassistische Konflikte zu vermeiden. In den www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/350_Anti-Rassismus Industriegesellschaften wird Rassismus zum Störfaktor, der die iz3w-Dossier

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Filmstill aus »Private Revolutions«

Jung, weiblich, ägyptisch Die Doku »Private Revolutions« porträtiert vier Frauen aus Kairo von Anna-Theresa Bachmann Die Dokumentation »Private Revolutions« der 36-jährigen Öster­ reicherin Alexandra Schneider ist in einem Zeitraum von knapp zwei Jahren entstanden, in dem sich Ägypten durch weit reichen­ de politische und gesellschaftliche Umbrüche verändert hat. Jedoch stehen in dem Film nicht etwa die Demonstrationen gegen die Übergangregierung des Militärs nach Husni Mubaraks Abdankung, die Parlamentswahlen vom November 2012 oder die Wahl des Muslimbruders Mohammed Mursi zum Präsidenten im Vordergrund. Sondern es geht um die Frage, wie sich diese historischen Ereig­ nisse auf die Leben von vier jungen Frauen in Ägypten auswirkten. Die Protagonistinnen könnten dabei kaum unterschiedlicher sein. Für die junge Politikwissenschaftlerin Fatema hat die Versorgung und Betreuung ihrer Kinder und ihres Mannes oberste Priorität. An zweiter Stelle folgt ihre Anstellung bei der Freiheits- und Gerech­ tigkeitspartei der Muslimbrüder, in deren PR-Abteilung sie arbeitet. Mit müden Augen und einem immer gleich bleibenden Lächeln erzählt sie von ihrem stressigen Tagesablauf. Sie trägt es auch dann noch auf den Lippen, als sie Schneider verkündet, dass die Partei einen erneuten Vertrag über Bildrechte fordert, um den Rahmen für die Filmarbeiten in ihren Räumlichkeiten abzustecken. Es ist das letzte Mal, dass Fatema innerhalb oder außerhalb ihres teuer ein­ gerichteten Hauses vor Schneiders Kamera tritt. Die kargen Wände im Kinderzimmer ihrer Söhne, die Sharbat liebevoll mit selbst gemalten Wandbildern zu verschönern versucht, stehen dazu im krassen Gegensatz. Sie wohnt mit ihrer Familie in einem der zahlreichen Armenviertel der Stadt. Sharbat geht nicht nur gegen eine Diktatur in der Politik auf die Straße, sondern be­ gehrt auch gegen einen Diktator zu Hause in Gestalt ihres Eheman­ tt

nes auf. Beides verursacht Missgunst innerhalb ihrer Nachbarschaft, deren BewohnerInnen sich zudem daran stören, dass Sharbats Söhne bereits wissen, wie man eine Gasmaske richtig trägt. Denn ihre Kinder nimmt sie zu den Protesten kurzerhand mit. »Wenn ihr sterbt, habe ich wenigstens meine Ruhe«, entgegnet darauf ihr Mann. Keine Kinder haben hingegen Amani und May, die ihre Umge­ bung durch den Fakt, dass sie unverheiratet sind, mächtig vor den Kopf stoßen. Die Nubierin May, die aus einer erfolgreichen Ban­ kiersfamilie stammt, hängt ihren gut bezahlten Job an den Nagel, um ein Sozialprojekt in der konservativen Heimat ihrer Eltern im Süden Ägyptens auf die Beine zu stellen. Einen eher ungewöhnlichen Karriereweg hat auch Amani hinter sich, die bereits im Alter von Mitte 20 nicht nur ihren eigenen Verlag gegründet und ein Buch geschrieben hat, sondern auch eine Radiostation mit dem Namen »Banat Wa Bas« (Nur für Mädchen) betreibt. Mit Hilfe beider M ­ edien möchte sie Aufklärungsarbeit über die Situation junger Frauen in der arabischen Welt betreiben. Ein für sie persönlich sehr wichtiges Thema ist dabei die weibliche Genitalverstümmlung, eine grausa­ me Praxis, die sie selbst als Kind über sich ergehen lassen musste, wie sie Regisseurin Schneider anvertraut. Als Amani eines Tages ihr Büro verwüstet auffindet, wird ihr klar, dass sie sich mit ihrer Arbeit auch in Gefahr bringt. Schneider begleitet die vier Frauen zusammen mit ihrem Film­ team auf einfühlsame Weise – während des Hochgefühls des Eifers und der Euphorie ebenso wie in Momenten herber persönlicher und politischer Rückschläge. Die Dokumentation lebt aber nicht nur von den mitreißenden Geschichten der vier Frauen, sondern

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Film auch von den Aufnahmen Kairos, jener riesigen Metropole, die abgesehen von den nahe gelegenen weltberühmten Pyramiden oftmals nur wenig Glanz zu bieten hat. Unkommentiert ziehen Aufnahmen schmaler Gassen, unverputzter Häuser und der alltäg­ lichen Verkehrsstaus an den ZuschauerInnen vorbei. Auf der einen Seite vermisst man in »Private Revolutions« erklä­ rende Worte über größere Zusammenhänge, die den Verlauf der politischen Geschehnisse oder deren Hintergründe verdeutlichen. Auf der anderen Seite verschafft die so gewonnene Stille Zeit für den eigenen Gedankenfluss und Verschnaufpausen, die angesichts einer Reihe bedrückender Aussagen notwendig sind. Außerdem rückt der Fokus dadurch noch näher auf die vier Frauen, die hier auf subjektive Weise ihre Versionen der Geschichte erzählen. Etwas irritierend wirkt dabei die nicht ganz geklärt scheinende Rolle der Regisseurin: Sie hält sich zunächst eher zurück, um dann gegen Ende der Dokumentation doch im Bild zu erscheinen. Vielleicht möchte Schneider dadurch aber auch zeigen, wie intensiv sie die Frauen und die Ereignisse beschäftigt haben (siehe Interview im Kasten). Eine Empfindung, die wohl die meisten ZuschauerInnen nach 98 Minuten an sich selbst wahrnehmen werden.

So scheinen die Geschichten am Ende der Dokumentation noch längst nicht auserzählt. Vielmehr fragt man sich, wie der Alltag der vier Frauen heute aussieht, wie sich ihre Projekte und Träume in einem Ägypten verwirklichen lassen, dessen politische Neuordnung nach den turbulenten letzten Jahren höchst kritisch zu hinterfragen ist. Dennoch bleibt in Form der hier vorliegenden Dokumentation die Erinnerung daran bestehen, dass die großen Revolutionen ohne die nicht weniger wichtigen privaten undenkbar sind. »Ich hoffe, dass wir in zehn Jahren die Früchte der Revolution ernten«, sagt Sharbat und wendet ihren Blick ab. Man möchte mit ihr hoffen. Private Revolutions – Jung, Weiblich, Ägyptisch. Regie: Alexandra Schneider. Österreich 2014, 98 Min. Englisch, Arabisch (Dt./Eng. UT) www.privaterevolutions-film.com tt Der Film lief bereits in Österreich und wird ab Herbst 2015 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen sein und vorher z.B. auf der dokfilmwoche Berlin Kreuzberg. tt

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Anna-Theresa Bachmann ist Mitarbeiterin im iz3w.

»Wir wurden direkt bedroht« Alexandra Schneider über die Dreharbeiten von »Privat Revolutions«

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»Private Revolutions« erzählt die Geschichten von vier Frauen, deren Lebensrealitäten sehr unterschiedlich sind. Wie sind Sie auf sie ­gestoßen? tt Als im Januar 2011 die Revolution in Ägypten losging, ver­ folgte ich im Internet aufmerksam die vielen Berichte, gerade auch von kleinen Online-Plattformen. Mir ist aufgefallen, dass es bei den Protesten ausnehmend viele, oft sehr couragierte Frauen gab, die nicht in mein Bild von der «muslimischen Frau« passen wollten. Das hat mich neugierig gemacht: Was treibt diese Frauen an? Wie reagiert ihr Umfeld darauf? Die Kontakte zu vier Protagonistinnen entstanden in Folge privater Kontakte oder durch ägyp­ tische FilmemacherInnen, aber auch dank politischer Organisationen wie den Grünen in Österreich und dem Österreichischen Kulturform in Kairo, die uns sehr unter­ stützt haben. Während der Revolution 2011 und den anschließenden Ereignissen kamen immer wieder Gerüchte über ausländische Verschwörungen auf, woraufhin westliche JournalistInnen und Filmteams angegriffen wurden. Sie haben die Protagonistin Sharbat häufig auch zu Demonstrationen begleitet. Haben Sie sich in eine Situa­tion gebracht, in der Sie sich bedroht fühlten? tt Mehrmals gab es unmittelbar neben uns Schlägereien oder wir wurden direkt bedroht. Einmal waren die Straßenschlachten rund um das Hotel so eskaliert, dass scharf geschossen wurde und wir die Nacht woanders verbringen mussten. Das alles hat

uns schon sehr zugesetzt. Besonders der von Ihnen angespro­ chene Verdacht hat uns oft bei der Arbeit behindert. Diese Ängste wurden ja von der ägyptischen Regierung massiv ge­ schürt, zum Beispiel durch Fernsehwerbespots, die vor auslän­ dischen Spionen warnten. Es gibt in Ihrem Film eine Szene, in der Sharbat von ihren NachbarInnen verbal angegriffen wird, mit dem Verweis auf das ausländische Kamerateam, das sie seit Tagen begleitet. Wie schätzen Sie die Verantwortung eines Filmteams gegenüber den ProtagonistInnen ein? t Grundsätzlich haben wir immer gemeinsam mit den Frauen entschieden, wann wir filmen und wann nicht. Wir haben auch im Team viel diskutiert: Auf welche Weise können wir arbeiten, so dass wir uns und die Frauen nicht zusätzlich in Gefahr bringen? Natürlich lenkt die Kamera Aufmerksamkeit auf die Frauen oder weckt sogar Neid, wie im Fall von Sharbat. Anderseits können die Protagonistinnen dank der Kamera eben auch ihre Botschaft mit vielen Menschen teilen. Bleiben Sie weiterhin mit Ägypten verbunden? tt Ich hätte große Lust, in ein paar Jahren wieder dort zu drehen. Derzeit wäre ein Film wie »Private Revolutions« jedoch nicht möglich. Das würde das momentane Regime, glaube ich, zu verhindern wissen.

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Das Interview führte Anna-Theresa Bachmann.

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...Rezensionen Afrikanische Identitäten und Abgrenzungen Identitätszuschreibungen und -konflikte sind für viele politische und sozioökonomische Probleme in afrikanischen Ländern aus­ schlaggebend. Wie dieser Befund sich konkret gestaltet, davon handelt das aktuelle Themenheft der südafrikanischen Zeitschrift Africa Insight. Regionaler Schwerpunkt ist das südliche Afrika, zudem werden Fallstudien zu Ruanda, Libyen und Nigeria hinzugezogen. Nach einer programmatischen Einleitung der HerausgeberInnen geht es im ersten von vier Teilen um Wissen und Macht. Die Aus­ einandersetzung mit der Wissensproduktion in den Afrikawissen­ schaften umfasst postkoloniale Positionen, aber auch Pluralisierun­ gen der Diskurse. Hier wird die Wissensproduktion und -kontrolle ebenso in Frage gestellt wie die These, Diversity sei ein Schlüssel zur Überwindung von Hegemonie. Viel wichtiger seien emanzipa­ torisches Wissen und kritische Wissenschaft. Ausdrücklich wird die Verantwortung der Forschenden angemahnt, eine von afrikanischen Intellektuellen vorgebrachte Forderung, die weit über Stellenbe­ setzungen nach Hautfarbe und Herkunft hinausgeht. Von Herrschaftsverhältnissen in der Academia führt der zweite Teil des Themenheftes zu Gender und Körper. Die AutorInnen prangern geschlechtsspezifische Gewalt in Konflikten an, etwa in Ruanda und Libyen. Durch die Detailanalysen und den Vergleich der Fallstudien treten strukturelle Gemeinsamkeiten und Spezifika in verschiedenartigen Konfliktkonstellationen und politisch gelenk­ ten Prozessen des »Othering« südlich und nördlich der Sahara zu Tage. Auch die Rolle staatlicher Institutionen im Umgang mit hohen Gewaltraten wird untersucht. Hier konzentriert sich die Analyse auf Südafrika, das einerseits bei geschlechtsspezifischen Gewaltraten weltweit führend ist, andererseits aber eine international vorbildli­ che geschlechtergerechte Verfassung hat. Diese Kluft zeigt sich insbesondere hinsichtlich der Gleichstellung von Menschen unter­ schiedlicher sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität und der extremen homophoben Gewalt. Das diskriminierende »Othe­ ring« schwarzer Lesben, an dem sogar MinisterInnen mitgewirkt haben, und künstlerische Gegenstrategien sind deshalb besonders wichtige Themen in diesem Heft. Im dritten Teil richten die AutorInnen ihren Fokus auf die Ver­ antwortung von Regierenden im »Othering« unter Bezug auf Ethnizität und Nationalität, eindrucksvoll illustriert an Beispielen tt

aus Ruanda und Simbabwe. Detailliert wird nachgewiesen, wie malawische FarmarbeiterInnen vom Mugabe-Regime in Simbabwe nach dessen Farmaneignungen ab 2000 systematisch diskriminiert und gedemütigt wurden. Auch der Gewalteinsatz staatlicher Si­ cherheitskräfte war eine Form des »Othering«, denn den vertrie­ benen FarmarbeiterInnen aus Malawi wurde unterstellt, die Oppo­ sitionspartei in Simbabwe zu unterstützen. Faktisch waren viele ArbeiterInnen aber staatenlos, vor allem wenn bereits ihre Großel­ tern als Arbeitskräfte nach Simbabwe gekommen waren. Manche versuchten, Mitgliedskarten der dortigen Regierungspartei oder einen – weniger verdächtigen – mosambikanischen Pass zu erwer­ ben, um sich vor den Schergen des Mugabe-Regimes zu schützen. Diese Beobachtungen führen zum vierten Schwerpunkt des Heftes: Den Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika, die mit der politischen Unabhängigkeit die Regierungsmacht übernahmen. Hier wird die Fortsetzung struktureller Gewaltmuster aus der Kolo­ nialzeit ebenso nachgewiesen wie der Absolutheitsanspruch nati­ onalistischer Diskurse, die toleranten Demokratien entgegenstehen. »Othering« in Form von Anfeindungen der politischen GegnerInnen zählt zu den Machtstrategien und Herrschaftsmechanismen der heutigen Regierenden. Zur Legitimation ihrer autoritären Regime beanspruchen sie Deutungshoheit über die Geschichte, insbeson­ dere über die Interpretation der Unabhängigkeitskriege, aus denen sie als SiegerInnen hervorgingen. Gerade in der Diffamierung anderer Befreiungsgruppen, die zwar für die Abschaffung der Apartheid und des Kolonialismus wichtig waren, aber keine Regierungsposten erhielten, zeigt sich das auf Exklusion setzende Selbstverständnis der neuen Herrschen­ den. Es sind Mechanismen, die auch Handlungsansätze und –gren­ zen zivilgesellschaftlicher AkteurInnen beeinflussen. Insgesamt bietet das interdisziplinäre Themenheft viele Ansätze zur Reflexion über »Othering« im Kontext politisierter und umstrittener Identi­ täten. Rita Schäfer Henning Melber und Heidi Hudson (Eds.): Contextualizing African Identities. Othering and the Politics of Space. Africa Insight, Special Issue, Vol. 44, No. 1, 2014. 208 Seiten. tt

iz3w-Backlist

337: Arabische Frauenbewegungen 336: Armut 335: Wissenschaft global 334: Antiziganismus 333: Krise & Kapitalismus 332: Stadt für alle 331: Restitution geraubter Gebeine 330: Arabischer Frühling 2.0

349: Leidbranche Logistik 348: Gesellschaftskritik im Spielfilm 347: Folter im 21. Jahrhundert 346: Ausbeutung der Meere 345: Barrieren & Behinderungen 344: Geschäfte mit Uran

343: Fotografie & Macht 342: Protest in der Türkei 341: Asyl & Politik 340: Eigentor Brasilien 339: Faschismus international 338: Fairer Handel

Einzelheft: € 5,30 Hefte 322 bis 333: € 4,– / ältere Hefte: € 3,–

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ISSN 1614-0095

E 3477

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INTERNETSEITE UND DATENBANK www.filme-aus-afrika.de

DATENBANK ZUM AFRIKANISCHEN KINO > Infos zu mehr als 600 Filmen und 300 RegisseurInnen > Filmempfehlungen nach Ländern, Produktionsjahren und Themen > Links zu Afrika Film Festivals in aller Welt

AFRIKA-VERANSTALTUNGEN VON FILMINITIATIV KÖLN > Jenseits von Europa – Special: African Diaspora Cinema, 17. – 27.9.2015 > Festival Jenseits von Europa XIV – Neue Filme aus Afrika, 15. – 25.9.2016

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