iz3w Magazin # 354

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Zugemüllt – und wer räumt den Dreck weg?

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Afrika im Comic t Repression in Indien t Ächtung von Selbstmordanschlägen

Mai / Juni 2016 Ausgabe q 354 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


In dies er Aus gabe

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Dossier: Müll Titelmotiv: Tânia Rêgo

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Türkei: »Eine neue Form von Diktatur«

D· 7 Zikamücken und Quietscheentchen Müll ist eine Metapher für die Entwicklung

der Gesellschaft von Cord Riechelmann

Im türkisch-kurdischen Konflikt agieren beide Seiten undemokratisch von Eva Savelsberg und Siamend Hajo

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Leben in der Plastisphäre

Debatte: »Ihr liebt das Leben, wir den Tod!«

Über Plastikmüll in den Meeren zirkulieren viele Mythen von Sven Bergmann

Die Kriegswaffe des Selbstmordattentats ist bis heute nicht explizit geächtet von Matthias Küntzel

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Indien: Das gallische Dorf in Delhi

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An der Jawaharlal Nehru University wehren sich Studierende gegen Hindunationalismus von Oliver Kontny

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Start-Up auf der Deponie MüllsammlerInnen organisieren sich für ihre Rechte von Martina Backes

Kambodscha: Bittersüße Ernte Der Zuckerboom hat Landgrabbing zur Folge von Christopher Wimmer

Sondermüll nach Accra Die Kontrollen für Elektronikschrott sind löchrig von Meike Bischoff

Peak Waste Das globale Müllaufkommen wächst und wächst und … von Christian Stock

Überfluss und Überschuss Wie Lebensmittel systematisch zu Müll gemacht werden von Amelie Bihl

D· 18 Kreislaufstörungen In Bangalore zeigt sich das Für und Wider von Recycling

D· 21

von Nicolas Schlitz

Bloß weg damit Industrieabfälle aus dem Bergbau landen oft im Meer von Onno Groß

Kultur und Debatte 14

Berlinale: Einige kommen durch Dokumentarfilme auf der Berlinale erzählten von Flucht von Isabel Rodde

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Berlinale: The revolution will be live von Isabel Rodde

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Comic: Kreativ gegen eine Leerstelle Die afrikanische Comicszene ist lebendiger, als der Westen ahnt von Alexander Sancho-Rauschel

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Sport: Feiern, dopen, feuern Hürden auf dem Weg der kenianischen AthletInnen von John Bwakali

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Philosophie: »Eine Form des Empowerment« Interview mit Franziska Dübgen und Stefan Skupien über Afrikanische Philosophie

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26 Rezensionen 29 Szene Impressum

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Editor ia l

Ein großes Übel Vor einigen Wochen bei einem Wahlkampfauftritt von Angela Merkel in Freiburg: DemonstrantInnen versammeln sich, um lautstark ihre Meinung kund zu tun: »Haut ab, haut ab!« Noch vor einem Jahr wäre davon auszugehen gewesen, dass sich der Protest gegen die Kanzlerin richtet: Gegen ihre knallharte Austeritätspolitik samt Demütigung der GriechInnen, gegen Bundeswehreinsätze im Ausland, gegen die Aufrüstung von Frontex und vieles mehr. Doch diesmal war es anders. Die Linken demonstrierten nicht gegen Merkel, sondern gegen deren rechte KontrahentInnen. AfD und ALFA hatten dazu aufgerufen, der Kanzlerin wegen ihrer Flüchtlingspolitik die rote Karte zu zeigen. Und so fand sich die antirassistische Szene in der ungewohnten Position wieder, einer CDU-Politikerin beizustehen. »Anti-anti heißt aber nicht pro«, kommentierte dies einer der Demonstrierenden wenig begeistert.

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er für das Grundrecht auf Asyl eintritt, sah sich im letzten Dreivierteljahr oft genötigt, Merkel gegen ihre GegnerInnen zu verteidigen. Im Vergleich zu Horst Seehofer, Frauke Petry oder Victor Orban erschien sie zumindest als kleineres Übel. Vom linksliberalen Milieu wurde die Kanzlerin gar mit Lob überschüttet. Etwa von der Toten Hose Campino, die Merkel wegen ihrer Flüchtlingspolitik am liebsten »umarmen« will: »Man darf ihr das auch schon mal sagen, dass sie das großartig gemacht hat.« Anerkennung kam selbst von Johanna Uekermann, Chefin der Jusos: »In dieser Frage muss man echt sagen, dass sie zum allerersten Mal in ihrer zehnjährigen Kanzlerschaft so etwas wie Rückgrat zeigt.« Auf internationaler Ebene wurde Merkel gar zur Lichtgestalt verklärt. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon würdigte sie als »Stimme der Moral« in der Flüchtlingskrise. Merkel versuche, »den Schutz jedes einzelnen Menschen« in den Mittelpunkt zu stellen. Und ausgerechnet der ­griechische Migrationsminister Ioannis Mouzalas sagte: »Deutschland hat in dieser Krise Europa zusammenge­halten und dazu beigetragen, dass dieses Europa der Auf­klärung nicht ins Mittelalter zurückgefallen ist.« Wie es um die deutsch-europäische Moral bestellt ist, lässt sich an Orten wie Idomeni besichtigen. In diesem griechisch-mazedonischen Grenzort knüppeln Polizisten im Auftrag der EU alle Geflüchteten nieder, die nicht länger im dortigen Elendscamp ausharren wollen. Zur Kenntlichkeit entstellt wird diese Moral auch im türkischen

Hafen von Dikili gegenüber der griechischen Insel Lesbos. Hierher werden alle Refugees »rückgeführt«, die »irregulär« nach Griechenland eingereist sind. Ob sie ihr Leben auf einer Überfahrt mit einem Seelenverkäufer riskierten, weil die europäische Abwehrpolitik ihnen keine andere Wahl ließ, spielt keine Rolle, solange im Auftrag der Kanzlerin europäische Außengrenzen »gesichert« werden. Dikili steht für einen der miesesten Deals, der je von der europäischen Politik eingegangen wurde. Ausgerechnet mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan unterzeichnete man unter Federführung von Merkel einen Pakt, der nichts anderes bezweckt, als möglichst viele Geflüchtete von EU-Europa fernzuhalten. Dafür belohnt man den »Möchtegern-Diktator« (so der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu) mit drei Milliarden Euro und hält sich mit Kritik zurück, etwa an Erdogans mörderischer Kurdenpolitik, seiner kriegstreiberischen Rolle im Syrienkonflikt und seiner MIssachtung der Pressefreiheit. Wie erpressbar Merkel geworden ist, zeigt der Fall Böhmermann: Sie gab dem Begehren Erdoğans nach, eine Anklage gegen den Satiriker gemäß §103 des Strafgesetzbuches zuzulassen – ein Affront gegen die Presse- und Meinungsfreiheit. Es ist bezeichnend, dass dieser Paragraph zuletzt von Pinochet und Khomeini bemüht wurde. Im medialen Schatten des Böhmermann-Merkel-Skandals reiste dann Außenminister Steinmeier nach Libyen, um mit der dortigen »Einheitsregierung« den nächsten Deal zur Flüchtlingsabwehr einzufädeln.

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ass Merkel im Sommer 2015 temporär die Grenzen öffnen ließ, ist nicht im Geringsten Ergebnis einer proaktiven humanitären Politik, sondern war das einzige, was ihr in der damaligen Situation übrig blieb. Die Alternative wäre gewesen, die Geflüchteten an der deutschen Grenze niederzuschießen. Davor zurückgeschreckt zu haben, lag im Interesse einer Wirtschaft, die auf Exporte und damit auf Deutschlands guten Ruf im Ausland angewiesen ist. Der Tod der Menschen an der eigenen Landesgrenze wäre zu nah gewesen. Der Tod soll die Unerwünschten möglichst weit weg ereilen, möglichst unsichtbar bleiben. In diesem Lichte lassen sich die europäischen Werte, von denen bei Merkel so oft die Rede ist, mit drei Buchstaben zusammenfassen. Sie lauten D, A und X. Es ist höchste Zeit, die Politik dieser Kanzlerin wieder als das große Übel zu bekämpfen, das es zu jeder Zeit war, findet die redaktion

P.S.: Unser Titelbild zeigt die US-amerikanische Globetrotterin Alison Teal auf den Malediven. Von den dortigen Müllbergen war sie so geschockt, dass sie seither eine Privatkampagne gegen Plastik betreibt. Zum Titelbild unseres Mülldossiers in der Heftmitte gibt es ebenfalls eine Geschichte: 1992 fiel ein Container von einem Frachter ins Meer. Seine Ladung, 28.000 Quietsche-Entchen, sind bis heute weltweit an zahlreichen Stränden zu finden. Die Meeresforschung profitierte, weil sie dadurch viel über globale Meeresströme erfuhr. Denn: Plastikmüll verrottet so schnell nicht.

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iz3w-Dossier | Mai 2016

Zugemüllt – und wer räumt den Dreck weg?


Titelmotiv: A. Kaiser

Inhalt

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Editorial

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Start-Up auf der Deponie MüllsammlerInnen organisieren sich für ihre Rechte von Martina Backes

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Zikamücken und Quietscheentchen Müll ist eine Metapher für die Entwicklung der Gesellschaft von Cord Riechelmann

D·9

Leben in der Plastisphäre Über Plastikmüll in den Meeren zirkulieren viele Mythen von Sven Bergmann

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Überfluss und Überschuss Wie Lebensmittel systematisch zu Müll gemacht werden von Amelie Bihl

D · 12

Sondermüll nach Accra Die Kontrollen für Elektronikschrott sind löchrig von Meike Bischoff

D · 18

Kreislaufstörungen In Bangalore zeigt sich das Für und Wider von Recycling von Nicolas Schlitz

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Peak Waste Das globale Müllaufkommen wächst und wächst und… von Christian Stock

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Bloß weg damit Industrieabfälle aus dem Bergbau landen oft im Meer von Onno Groß

Es stinkt zum Himmel »Talaat Richatkun« (ihr stinkt), skandierten im Sommer und Herbst 2015 tausende Demonstrierende in Beirut. In den Straßen der libanesischen Hauptstadt hatte sich monatelang Müll zu mannshohen Haufen angesammelt. Die bisher genutzte Deponie war geschlossen worden, sie war 17 Jahre lang ohnehin nur eine schlechte Übergangslösung gewesen. Während die AnwohnerInnen der Deponie unter Smog, LKW-Lärm und Rattenepidemien litten, hatten sich einige Unternehmer und korrupte Politiker eine goldene Nase mit dem Müll verdient. Die vereinbarten Vorschläge für langfristige Lösungen hatten sie nie geliefert. Kein Wunder, dass die Müllkrise in Beirut zum Politikum wurde und eine Protestbewegung auslöste, die den Sturz der Regierung forderte. In Neapel hatte sich wenige Jahre zuvor ähnliches abgespielt. Auch hier versagten Politik und Staat beim Umgang mit dem massenhaft anfallenden Müll. Sie überließen das Feld der Mafia, die mittlerweile in ganz Italien mit Müll bessere Geschäfte macht als mit Drogen. Beirut und Neapel stehen geradezu paradigmatisch für einen Umgang mit Müll, wie er weltweit verbreitet ist. Mit dem Abtransport von Abfall und der Lagerung in Deponien machen einige Wenige gute Geschäfte, die zum erheblichen Teil illegal sind. Die Drecksarbeit an den Mülllastern und auf den Deponien bleibt mies bezahlten TagelöhnerInnen überlassen. Auf die Umwelt wird von niemandem Rücksicht genommen; die einen wollen nicht, die anderen können nicht. Im reichen Deutschland mit seinem nationalen Stolz auf Mülltrennung und Recycling sind die Verhältnisse anders, aber nicht

besser. Hierzulande firmiert die Müllbranche zwar unter dem euphemistischen Begriff »Entsorgung« und kann ohne großen Widerspruch Müllverbrennung als »thermische Wiederverwertung« verniedlichen. Aber augenscheinlich saubere Bürgersteige täuschen nicht darüber hinweg, dass Deutschland Exportweltmeister in Sachen Müll ist. Elektroschrott, giftige Schlacken oder ausgemusterte Schiffe werden massenhaft nach Ghana, in die Türkei oder nach Bangladesch verbracht, um dort »entsorgt« zu werden. Bloß weg damit! An der Vermüllung der Welt sind alle Industriestaaten des Nordens weit überproportional beteiligt. Die Grundthese unseres Dossiers über die politische Ökonomie und Ökologie des Mülls lautet: Im Umgang mit dem Müll und den Menschen, die mit ihm arbeiten müssen, verdichten sich (welt-) gesellschaftliche Verhältnisse und Ungleichheit in besonderem Maße. Wir leiten das Dossier daher ein mit einer Reportage über MüllsammlerInnen auf einer Müllkippe in Kenia. Bei diesem Blick an die Basis wird besonders deutlich: Bei Müll geht es nicht nur um Umweltprobleme, sondern mindestens genauso um soziale Fragen nach angemessener Entlohnung, Arbeitsschutz, Nichtdiskriminierung und weiteren sozialen Standards. Der Umgang mit Müll ist ein drängendes Thema für globale Umwelt-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Doch auf den Agenden internationaler NGOs und transnationaler Institutionen kommt es viel zu kurz. An diesem globalen Problem werden lokale Müllkrisen so schnell nichts ändern, befürchtet die redaktion

Gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL im Auftrag des BMZ.

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Gioto, die städtische Mülldeponie von Nakuru. Foto: M. Backes

Start-Up auf der Deponie MüllsammlerInnen organisieren sich für ihre Rechte Am Rande der kenianischen Metropole Nakuru haben mehrere hundert Menschen einen ganz besonderen Arbeitsplatz: Sie verwerten Müll. Doch für ihre harte und schmutzige Arbeit auf der Deponie erfahren die MüllsammlerInnen, die sich als Waste Picker oder Waste Recycler bezeichnen, kaum Anerkennung. Ihnen bleibt nur, selbst für ihre Rechte zu kämpfen. Damit stehen sie nicht allein, auch andernorts organisieren sich MüllsammlerInnen immer besser.

von Martina Backes Ein klappriger Kleintransporter fährt über eine Hügellandschaft aus Restmüll. Schweine und Marabus warten darauf, dass der Laster seine Ladung preisgibt. »Pangani Cleaner – Garbage Collection Service Provider« steht auf einem handgemalten Schild an der Ladeklappe. Abgeladen werden soll der transportierte Müll in der Deponie Gioto, in der die kenianische Großstadt Nakuru ihren Abfall entsorgt. Am oberen Rand der Stadt gelegen, kann man von hier auf die Innenstadt sehen, sofern der Wind günstig steht und der beißende Rauch aus dem schwelenden Abfall die Sicht frei gibt. »Wir sammeln hier Eisen, Plastik, Knochen. Einige von uns sammeln Papier«, erzählt Lucie M., die seit elf Jahren auf der wachsenden Deponie arbeitet und dort eine Bleibe errichtet hat. »Alles was du hier siehst, bringt Geld, wenn es sortiert ist«. Gioto ist für mehrere hundert Menschen ein selbst gewählter Arbeitsplatz. Selbst gewählt, weil sie in der von Arbeitslosigkeit betroffenen Stadt Nakuru keinen Job gefunden haben, der ihnen ein Überleben sichert. »Mehr als

90 Prozent der MüllsammlerInnen verfügen über keinerlei weitere Einkünfte, weder Sozialleistungen oder Renten noch Geld von Familienmitgliedern. Und mehr als 80 Prozent unterhalten mit ihrer Arbeit einen Haushalt mit zwei weiteren Personen«, schreiben Grace Lubaale und Owen Nyang’oro in ihrer Studie über Waste Pickers in Nakuru.1

Zwei Dollar am Tag Ob Mumbai, Manila, Gioto oder Bogotá: Die Müllkippen der Metropolen im Globalen Süden werden oft als Kehrseite des wachsenden Wohlstandes einer konsumfreudigen Mittelschicht bezeichnet. Soziale Initiativen, Medien und Kunstprojekte berichten über den Alltag der Menschen, die den Müll meist unter erbärmlichen Bedingungen sammeln und sortieren. Zugleich mehren sich Reportagen über kleine Start-Up-Unternehmen, die als Vorzeigeobjekte einer umweltfreundlichen Recyclingindustrie gefeiert werden. Nur selten wird deutlich, in welchem Verhältnis die MüllsammlerInnen und die Recyclingfirmen zueinander stehen. Oder anders formuliert: Wie die soziale Misere der einen mit dem Erfolg der anderen zusammenhängt. Ein junger Mann hat auf der Deponie Gioto hinter einem provisorischen Zaun aus rostigem Wellblech sein Sammellager eingerichtet. Diese wenigen Quadratmeter bewacht er tags wie nachts. Hier arbeitet er, isst er und schläft er. Das Sammelgut ist ordentlich sortiert: Kleine Haufen mit Kabelbindern, große Haufen mit Elektrokabeln, Berge von Plastikflaschen, Gummi, Leder, Knochen und Glas. Seine Ausstattung besteht aus einer Hängewaage zum

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Müll ­ bwiegen der Säcke mit vorsortiertem Müll, die ihm die Waste A versehen sind. Lokale Kleinunternehmen verkaufen das gefilterte Pickers abliefern. Gerade verhandelt er mit einer gut 70-jährigen Wasser für drei Shilling pro Kanister. Zur Erneuerung der Filteran­ Kundin über den Preis für einen Sack voller aussortierter Flip-Flops. lagen brauchen sie Tierknochen. Einer jungen Frau zahlt er 20 Shilling (zirka 20 Cent) für ein Kilo leerer Getränkeflaschen. »Schau hier, das ist eine PET-Flasche, da Die Mär vom Wohlstand durch Müll unten auf dem Flaschenboden steht’s. Die ist wertvoll, für PETs gibt es gutes Geld.«2 Wie genau neue Recyclingprodukte aus den sortierten Materialien Die Studie »Waste Pickers in Nakuru« besagt, dass nur sechs von hergestellt werden, wissen die MüllsammlerInnen nicht immer im 163 Befragten eine weitere verlässliche Einkommensquelle im Detail. Doch alle in Gioto wissen um die Bedeutung eines ökonoformalen Sektor haben. Wer hier Müll sortiert, lebt also davon. »Die mischen Begriffs: The Value Chain – die Wertschöpfungskette. Wenn monatlichen Reineinkünfte aus dem Sammelgut betragen rund der Preis für das gesammelte und sortierte Material schwankt, wenn 5.000 kenianische Shilling, davon gehen oft noch Gebühren für plötzlich weniger für die gleiche Menge Schrott oder Gummi gezahlt wird als noch vor einem Monat, dann hat das mit den anderen Transport und Lagerung ab.« Auf den Tag umgerechnet leben die AkteurInnen zu tun, die aus der Wertschöpfungskette des Recyclings MüllsammlerInnen in Nakuru von weniger als zwei Dollar am Tag. Ähnlich wie in anderen Arbeitsbereichen herrscht auch unter Gewinn abschöpfen. den Waste Pickers ein Gender Gap: Männer sammeln mehr MateDas Sammeln und Sortieren von Müll gehört in Kenia zu den rial und können es zudem zu höheren Preisen verkaufen als Frauen. informellen Sektoren, mehrere tausend Personen arbeiten darin. In Die Abnehmer auf der Halde und die kleinen und großen ZwischenSüdafrika sind es sogar 85.000 Menschen. Ihre Arbeit und ihre händler, die das sortierte Material an Transporteure und GroßhändExistenz ist ein Kampf zwischen Selbstermächtigung und staatlicher ler weiterverkaufen und somit einen Mehrwert aus der SammelarWillkür, wie das Beispiel der Waste Pickers im südafrikanischen Sabeit schlagen, sind in aller Regel Männer. »Viele MüllsammlerInnen solburg zeigt. Lange Jahre standen diese bei einem Privatunter­ haben acht Jahre Grundschulbildung und hatten keine Chance, nehmen unter Vertrag, das eine Lizenz der Stadtverwaltung zum auf die höhere Schule zu gehen«, schreiben Abladen von Müll auf die städtische DeLubaale und Nyang’oro. Doch sind auf Gioponie besaß. »Als unsere Deponie kurzzei»Alles, was du hier siehst, bringt to auch Personen anzutreffen, die nach der tig der Stadtverwaltung unterstellt wurde, Secondary School eine Ausbildung machten stellten wir fest, dass der Marktpreis für das Geld, wenn es sortiert ist« und dennoch keinen besseren Job fanden. sortierte Material doppelt so hoch ist wie Der Sammelgutabnehmer zeigt auf einen der Preis, den uns das Unternehmen zahlHügel aus Fahrradschläuchen, Getreidesäcken und Konservendosen. te«, berichtet der Waste Picker Simon Bata. Als die Lizenz auslief »Dann kaufe ich noch jede Art von Glas und zerrissenes Leinen, und 157 MüllsammlerInnen von der Stadtverwaltung im Jahr 2009 Gummi und Kabel. Wir sammeln alles hier, auch Knochen. Die kauft die Genehmigung dazu forderten, das Recycling auf der Deponie uns eine Firma ab, die unten in der Stadt angesiedelt ist. Sie filtern in Selbstverwaltung zu übernehmen, räumte die Polizei den Ort. Es damit Wasser, Trinkwasser.« Nakuru liegt im ostafrikanischen Rift gab Tote. Kurz darauf begann Musa Chamane von der Organisation Ground Valley. Hier ist das Grundwasser extrem fluoridhaltig. Eine lebenslange Überdosis an Fluorid greift die Zähne an und ist für KnochenWORK mit einer Bestandsaufnahme auf südafrikanischen Mülldepodeformationen verantwortlich. Viele Kinder leiden darunter, aber nien. Ab diesem Zeitpunkt wussten Simon Bata und seine KollegInnen, dass sie nicht alleine waren. MüllsammlerInnen in anderen auch Erwachsene. Erst vor wenigen Jahren wurde eine erschwingsüdafrikanischen Städten führten ähnliche Kämpfe und rangen um liche Filtermethode entwickelt. Das Fluor wird dem Wasser mithilfe von Rieselanlagen entzogen, die mit Kiesbetten aus Knochen die Anerkennung ihrer Arbeit als Dienstleistung sowie um die Lega-

Für ihre Würde weltweit Die Kämpfe der Waste Pickers sind zunehmend national und global vernetzt. 2009 wurde die Bewegung der Waste Pickers of South Africa gegründet. Bereits 2008 nahmen am ersten Weltkongress der Waste Pickers (oder Catadores, wie sie in Lateinamerika genannt werden) AktivistInnen aus 42 Ländern teil. Dies war zugleich das dritte Lateinamerikanische Treffen der Müllsammlerinitiativen aus Venezuela, Ecuador, Peru, Paraguay, Costa Rica, Puerto Rico, der Dominikanischen Republik und Bolivien – alles Länder, in denen es nationale Verbände gibt. In Brasilien entstanden erste Kooperativen bereits vor über 25 Jahren, heute gibt es dort mehr als 500 Müllkooperativen und einen Dachverband. In- und ausländische Hochschulen arbeiten stellenweise mit brasilianischen Müllkooperativen zusammen, um gemeinsam neue Technologien zu entwickeln. 2010 wurde der Nationale Verband der Indischen MüllsammlerInnen gegründet, kurz darauf ein nationales Netzwerk von Waste Pickers in Kenia. iz3w-Dossier

David Kuria und Lina Muasya trafen 2010 bei einer landesweiten Erhebung allein in Nakuru 23 Müllsammlerorganisationen an und in Nairobi 26 Gruppen. Einer der wenigen Vereine, die bisher registriert und damit als Empfänger von finanzieller Hilfe legitimiert sind, ist die Umoja Ward Garbage Collectors Association mit über 20 Müllsammelkollektiven und mehr als 200 Mitgliedern in Nairobi. Für die Legalisierung ihrer Arbeit wollen sich die MüllsammlerInnen international weiter vernetzen, schließlich haben sie mit transnational agierenden AkteurInnenen zu tun, mit Materialien, die grenzüberschreitend kursieren und mit Abfallgesetzen, die an internationale Standards und Verträge anknüpfen (sollten). »Die Rolle des Recyclings ist inzwischen anerkannt. Aber das Rückgrat des Recyclingsystems, die Arbeit der Waste Pickers, ist es nicht«, fasst Simon Bata die Gesamtsituation im Januar 2016 zusammen. Waste Pickers without Borders will sich der globale Dachverband Global Alliance of Wastepickers nennen, seit 2005 sind die Waste Pickers hier global vernetzt. Bereits am 1. März gab es am International Waste Pickers Day konzertierte Aktionen.

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Müllsammlerin in Gioto mit mehr als sechs Jahren Berufserfahrung

lisierung ihrer Existenzen. Viele fingen an, sich zu organisieren. »Es muss einen Weg geben, die MüllsammlerInnen in das System zu integrieren. Sonst werden sie vom Markt verdrängt«, so Bata im Januar 2016. Er befürchtet, dass die Arbeit der Waste Pickers zwischen der neuen südafrikanischen Abfallgesetzgebung und der Konkurrenz auf dem Markt um die Ressource Abfall aufgerieben wird. Mit »integrieren« meint Bata das, was der Verband der MüllrecyclerInnen von Bogotá (ARB) bereits erreicht hat: Die Anerkennung der Waste Pickers als DienstleisterInnen. Nora Padilla vom ARB hatte durch eine Klage erwirkt, dass 790 MüllsammlerInnen im März 2013 von der Stadtverwaltung erstmals ein Gehalt für den Abtransport wieder verwertbarer Festabfälle erhielten. Inzwischen zählt ARB über 5.000 Mitglieder. Inzwischen ist auch Simon Bata als Sprecher der South African Waste Pickers’ Association (SAWPA) international vernetzt, und inzwischen sind die MüllsammlerInnen in Südafrika in Kooperativen gut organisiert (siehe Kasten). AkteurInnen, gegenüber denen die SAWPA ihre Interessen vertritt, sind primär die Stadtverwaltungen, private Abfalltransporteure und Recyclingunternehmen. Auch bei der Erarbeitung und Verabschiedung neuer Abfallgesetze und -verordnungen bringt sich der Verband ein.

Arbeitsschutz? Gibt es nicht Doch es geht um mehr als einen fairen Preis für das Sammelgut und die Anerkennung des Müllsammelns als Dienstleistung. Soziale Sicherheiten im Krankheitsfall und die Gewissheit, nicht vertrieben zu werden, sowie der Zugang zu Bildung für die Kinder stehen ebenfalls auf der Agenda der sozialen Kämpfe in Selbstorganisation. Lucie M. hat neben dem Müllsammeln weitere selbst gewählte Jobs: »Ich betreue hier Kinder, die ihre Abschlussprüfung machen müssen, und Kinder, die keine Eltern haben. Wir gehen in die Stadt und suchen für sie einen Sponsor und bitten die Schulleitung, dass sie auf die Schule gehen können. Wir haben in Gioto nun 30 Kinder

Foto: M. Backes

und Jugendliche, die zur Schule gehen.« Lucie hat diese Aktivitäten zusammen mit weiteren Frauen und mit Unterstützung von WIEGO (Women in Informal Employment: Globalising and Organising) ins Leben gerufen. »Mit den jungen Leuten, die hier Müll sammeln, stellen wir Seife her und versuchen, sie zu verkaufen. Damit wir etwas Geld für sie haben.« Bis zur Anerkennung durch die Stadtverwaltung in Nakuru haben die Waste Pickers von Gioto noch einen langen Weg vor sich. Aus der Innenstadt werden sie vertrieben, auf der Müllkippe allerdings geduldet. Doch auch hier gibt es keinerlei städtische Infrastruktur, die das Sammeln und Sortieren des Mülls erträglicher machen würde: Keine Behälter, Schutzanzüge oder Atemmasken. Wer auf der Müllkippe arbeitet, ist hohen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Giftige Dämpfe belasten die Lungen, Abfälle aus den Krankenhäusern wie gebrauchte Injektionsnadeln und Verbandszeug und Abfälle aus Schlachthöfen und Industrieanlagen verursachen Infektionen. Giftige Stoffe, zum Beispiel aus Druckereien, vermischen sich mit verwertbaren Küchenabfällen. Über die Gefahren der urbanen Müllkippen wurde im kenianischen Fernsehen verschiedentlich berichtet. In der TV-Sendung Project Green 6 hieß es: »Eine Studie über die Viehhaltung im näheren Umkreis der Müllhalde kam zu dem Ergebnis, dass die Eier von Hühnern und Fleischprodukte hohe Konzentrationen von ­Dioxinen und anderen giftigen Stoffen aufweisen.« Die ebenfalls auf Müllkippen nachweisbaren polychlorierten Biphenyle (PCB) gehören zu den schädlichsten zwölf Stoffen und belasten langfristig Böden, Gewässer und die Atmosphäre. Die MüllsammlerInnen wissen um die Gefahren und gesundheitlichen Folgen ihrer Arbeit. Die globale Vereinigung der Müllsammlerinnen Waste Pickers without Borders berichtet aus Nakuru, dass einige MüllsammlerInnen Selbsthilfegruppen gebildet und Sparkonten angelegt haben. Jede Woche zahlen die Gruppenmitglieder einen kleinen Betrag ein. Wenn ein Mitglied krank wird,

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kann mit der Spareinlage die medizinische Versorgung bezahlt werden – zumindest in kleineren Fällen.

ner und Aufkäufer auf der Deponie, die Transporteure, die Aufkäufer der Aufkäufer, die das Material an legale Zwischenhändler weitergeben, die dann mit Recyclingfirmen in Kontakt treten. »Den meisten Aufkäufern, also den Zwischenhändlern, die das sortierte Die grünen DurchstarterInnen und gepackte Sammelgut an formale Recyclinghändler weiterverSolange es nicht zu gewaltsamen Protesten und Polizeiaktionen kaufen, wurden unfaire Handelspraktiken nachgesagt«, schreiben kommt, berichten Medien kaum über soziale Kämpfe von MüllLubaale und Nyang’oro. »Die Waagen zeigten weniger Gewicht an. Außerdem erwähnen die Waste Pickers Kartelle, die sie zwingen sammlerInnen. Der mediale Fokus liegt in Sachen Abfallwirtschaft auf den Innovationen des Recyclings. In lokalen Fernsehreportagen würden, das Sammelgut zu extrem niedrigen Preisen abzugeben.« werden Kleinunternehmen für die Umweltfreundlichkeit ihrer Wo genau das Material vom informellen in den formellen Wirt­Firmenidee gelobt, wie etwa die Flip Flop Recycling Company, die schaftskreislauf eintritt, ist nicht immer auszumachen. Sicher ist, E-Waste Collection und Taka Taka Solutions in Nairobi. Lorna dass mit der formellen Tätigkeit Steuern anfallen, die nicht nur über Rutto, Direktorin der Firma EcoPost aus Nairobi, betont bei solchen den Verkauf von recycelten Fertigprodukten bezahlt werden, sonAnlässen gerne den Umweltaspekt ihres Unternehmens, das Pfosdern auch über Preisdumping beim Einkauf der Rohmaterialien. Dabei ist der Preis, den die MüllsammlerInnen für ein Kilo Sammelten aus eingeschmolzenem Plastik herstellt. 20.000 dieser Pfosten entsprächen 250 Hektar Wald, die für die gleiche Menge Holzpfosgut erhalten, nicht nur davon abhängig, welche sortierten Mateten gerodet werden müssten. rialien in den Start-Up-Recycling-Unternehmen gerade gefragt sind. Zwischen Waste Pickers und ihren Großabnehmern haben sich Die Firma Taka Taka Solutions besitzt inzwischen für vier Stadtweitere Akteure in die Kette der Verdienenden eingereiht: Um die viertel Nairobis die Lizenz zum Sammeln von Taka Taka (wie Abfall Kontrolle der städtischen Mülldeponie Dandora der kenianischen auf Suaheli heißt). Der Inhaber des Unternehmens, der deutsche Philosoph Daniel Paffenholz, lässt Abfall zu Gläsern, Textilien, SofaHauptstadt Nairobi kämpfen inzwischen rivalisierende Gruppen. Füllstoff und Kompost verarbeiten. Finanziell unterstützt wird das »Waffen wechseln hier ihre Besitzer. Es gibt Kartelle, die diesen Ort hier kontrollieren«, berichtet ein Pater in Kariobangi, dem Stadtteil Unternehmen von der Siemens Stiftung. Laut der Stiftung sei es ein erfolgversprechendes Modell zur Verin unmittelbarer Nähe zu Dandora. besserung der Grundversorgung in Kenia. Ende Dezember 2015 blieb der Müll in Nairobis MüllsammlerInnen wissen Bislang erscheinen große internatioInnenstadt weitgehend liegen. Der Grund: Die nale InvestorInnen und kleine Start-UpZufahrt zur Deponie Dandora ist versperrt. Die um die gesundheitlichen Unternehmen kaum als KonkurrentInnen Wege sind völlig zerstört. Zudem verlangen die ­Gefahren ihrer Arbeit auf dem Markt der boomenden AbfallKartelle Geld von den privaten Abfallentsorgern, verwertungsindustrie. Die Recycling­ideen auch wenn diese in Besitz einer Lizenz der Stadtjunger HochschulabsolventInnen, die sich in selbst gefilmten Clips verwaltung für die Nutzung der Deponie sind. »Das sind kriminelim Internet mit neuen Ideen präsentieren, werden allerdings gerne le Gruppen, die von den Vertragspartnern der Stadt nochmals 200 von ausländischen InvestorInnen aufgegriffen und in die unternehShilling verlangen«, klagt der Umweltbeauftragte der Stadt gegenmerische Praxis umgesetzt. Die Nachfrage nach den zwei Millionen über der Tageszeitung Daily Nation. Altreifen, die jährlich in Kenia anfallen, lassen künftige KonkurrenDer kenianische Dachverband für Abfall- und Umweltmanagezen höchstens erahnen. Eine sechsköpfige Gruppe von jungen ment (WEMAK) macht das Bürgermeisteramt für die Misere verTechnikern wirbt auf YouTube für ein Verfahren, das Alt­reifen und antwortlich. Seit Jahren sei die Deponie überfüllt, eine AusweichPlastik in Elektrizität umwandelt. Mit einer Waste-to-Energy-Anlage möglichkeit nicht in Sicht. »Die Abfallwirtschaft ist zu einer Melkkuh wollen sie den aus Altreifen und Plastik gewinnbaren Strom ins geworden, die von einigen hohen Beamten genutzt wird, um öffentliche Netz einspeisen – und suchen dafür nach Inves-­torInnen. Millionen zu verdienen«, so der Sprecher von WEMAK. Derweil plant das britische Unternehmen REMAPOL in Machakos Die sozialen Kämpfe in Dandora brachten nicht nur die Lage eine große Anlage zu errichten, die der Gewinnung von Gummi, der MüllsammlerInnen in die Medien, sondern vor allem die poliStahl und Textilien aus Altreifen dient. Die Gummipellets sind tische Misere der städtischen Abfallwirtschaft. In Nairobi, einer Rohstoff für diverse Produkte, die Nachfrage ist international. Stadt mit über 3,4 Millionen Menschen und 2,4 Millionen Tonnen täglichen Abfallaufkommens, ist kaum die Hälfte der vierzig städtischen Müllabfuhren im Einsatz, nur knapp ein Viertel des MüllaufGroße und kleine KonkurrentInnen kommens wird entsorgt. Die Stadt droht mit der Schließung der Die Abfallberge der südlichen Metropolen bieten sich auch aufgrund überfüllten Deponie, die Grundwasser und Stadtklima gefährlich fehlender oder schwacher rechtlicher Regelungen und laxer belastet. Derweil setzen sich die MüllsammlerInnen für den Erhalt ­Abfall­gesetze als Übungsfeld für die Recyclingindustrie an. Neue ihres informellen Arbeitsplatzes ein – und für ihre Würde. Arbeitsplätze, Einsparung von Klimagasen und Ressourcen schonen­ de Energiegewinnung – die Versprechungen der Grünen Ökonomie Anmerkungen bestimmen auch hier den medialen Diskurs über die Recycling­ 1 Waste Pickers in Nakuru. Informal Economy Monitoring Study (IEMS). Incluindustrie. Waste to Wealth und Waste to Energy sind beliebte sive Cities. Nakuru 2013 Schlagworte. Die MüllsammlerInnen kommen in dieser Erzählung 2 PET (Polyethylen-Terephthalat) ist ein thermoplastischer Kunststoff mit vielfälin der Regel nicht zu Wort. tigen Einsatzbereichen. Die weltweite jährliche Produktion liegt bei 40 Millionen Tonnen. Einer der größten Abnehmer ist die Softdrink-Industrie. Zwischen den Start-Up-Firmen, die am formalen und damit legalen Ende der Recyclingkette stehen, und den MüllsammlerInnen, die wie in Gioto am unteren Ende des Müllsektors informell tätig sind, vermitteln weitere AkteurInnen. Dazu zählen die Mittelsmäntt Martina Backes ist Mitarbeiterin im iz3w . iz3w-Dossier

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Rezensionen ... »Du bist mitten auf dem Weg« In seinem Reportageband erzählt Johannes Bühler fünfzehn Geschichten von Menschen, die auf der Flucht sind – nach Europa. Ort der Begegnungen ist Marokko, wo die Menschen Am Fuße der Festung (so der Titel des Buches) verharren und auf eine Chance zur Weiterreise hoffen. Von Europa trennen sie ein sechs Meter hoher Zaun oder 14 Kilometer Wasser – und das europäische Grenzregime. Allen Geschichten gemein ist die Erzählung von Flucht als etwas, das nicht einfach rückgängig gemacht werden kann, egal wie ausweglos die Situation scheint. Alle Ressourcen, seien es finanzielle oder körperliche, werden auf diese Flucht konzentriert. Der eingeschlagene Weg könne nicht einfach wieder verlassen werden, erzählt Jeanne aus Kamerun: »Erst leidest du in deinem Land. Danach ziehst du los, um dein Glück zu suchen, und auf der Reise triffst du auf ein noch viel größeres Leid als jenes, welches du bei dir zurückgelassen hast. Aber du bist mitten auf dem Weg. Du hast keine Wahl mehr. Du musst weitergehen. Du kannst nicht mehr zurück.« Den Hintergrund all dieser Lebensgeschichten schildert der Autor in kurzen Einschüben und ausführlichen Fußnoten. Der rote Faden dabei ist die so genannte Europäische Nachbarschaftspolitik. Der Deal sieht so aus: Marokko erhält Entwicklungshilfe und Visaerleichterungen für Geschäftsleute und Studierende. Im Gegenzug erklären sich die marokkanischen Behörden dazu bereit, klandestine Migration zu bekämpfen – im Rahmen eines »Mobilitätspartnerschaftsabkommens«. So stranden viele Geflüchtete in Marokko. Dort geraten sie, wie Felix aus Nigeria, in die Fänge von Menschenhandel-Netzwerke oder werden Opfer von Zwangsprostitution, wie es Nadine schildert. Werden sie beim Versuch erwischt, weiter nach Europa zu flüchten, sind sie brutalen polizeilichen Maßnahmen ausgesetzt: »Denn das ist so der Brauch, dass die Leute in die Wüste geworfen werden, wenn sie keine Papiere haben.« Massamba, der nach Marokko kam, um dort Musiker zu werden, zieht ein ernüchtertes Fazit: »Das ist kein offenes Land.«. Für seine eigene Reise von der Schweiz nach Marokko findet Autor Bühler blumige Worte: »Es ist eine laue Herbstnacht und ich fühle mich lebendig.« Dieser Reiseromantik stehen die Geschichten der Menschen, die er portraitiert, diametral gegenüber. Es sind Erzählungen, die keinen Platz lassen für blumige Metaphern und die in ihrer Sprache eine Wucht entfalten, die die Gegensätze der Reiserealitäten nicht klarer zeichnen könnte. In diesem Buch werden die Geschichten in ungeschönter Form geschildert, es kommen Menschen zu Wort, die von Schicksalen erzählen, die für jemanden mit einem »roten Büchlein«, so der Autor über seinen Schweizer Pass, nur schwer nachvollziehbar sind. Doch diese Geschichten stellen Zusammenhänge her und schlagen die Brücke von den Themen, die tagtäglich in den Nachrichten auf uns einprasseln, zu konkreten Schicksalen, die uns die Konsequenzen migrationspolitischer Entscheidungen schonungslos vor Augen tt

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führen. Trotzdem läuft das Buch Gefahr, dass das Gefühl dieser fundamentalen Ungerechtigkeit, das der Autor nach seinen Gesprächen selbst schildert, einem bloßen Ohnmachtsgefühl weicht. An diesem Punkt nicht in Fatalismus zu verfallen, sondern die diffusen Solidaritätsgefühle zu politisieren, schafft ein anderes Buch: Die Bleibenden von taz-Redakteur Christian Jakob. Er erzählt von denjenigen Menschen, die in Deutschland angekommen sind, und ihren Kämpfen gegen die Isolation und für ein humanitäres Bleiberecht. Der Autor inszeniert das zur Phrase verkommene Thema der Integration als eine »Geschichte vom Widerstand«. Diese zeichnet er umfang- und faktenreich nach; über Portraits, die Chronologie der Bewegung und die Rolle der involvierten AkteurInnen. All die Quellen lassen sich in einem ausführlichen Anhang, samt Glossar nachschlagen. Der erste und längste Teil des Buches ist denen gewidmet, die das Erstreiten ihrer Rechte zum zentralen Bestandteil ihres Lebens gemacht haben: Refugees, die hier sind, »um den Kampf weiterzuführen, den wir in unseren Ländern begonnen haben«, so Osaren Igbinoba, Gründer des The Voice Africa Forums. Gemeint sind damit Kämpfe gegen Lagerunterbringungen, für die Rechte von geflüchteten Frauen und gegen die Verharmlosung der Gefahren in den jeweiligen Herkunftsländern. Diese Menschen verbindet ihr Vorgehen gegen eine Isolation, die durch den Asylkompromiss 1992 verschärft wurde, die Geflüchteten sozial ausschließt und so »der Bevölkerung fremd und somit gleichgültig« macht, schreibt Jakob. Die Chronologie der Bewegung mitsamt ihrer Erfolge, Probleme und Zerwürfnisse schildert Jakob kenntnisreich und in packenden Worten. Im Jahr 2015 macht er das Ende des Bewegungszyklus’ aus: Entlang der Formel »Backkurse und Grillabende statt Hungerstreiks« kommt er zu einer kritischen Analyse der gegenwärtigen Flüchtlingssolidarität, in der Berührungspunkte mit politisch organisierten Geflüchteten größtenteils rar sind. Zum »asylpolitischen Rollback« fehle trotz aller Helfermentalität eine starke zivilgesellschaftliche Gegenposition. So unterschiedlich die beiden Bücher in der Art ihrer Schilderungen sein mögen, in ihrem Fazit sind sie sich wieder sehr nah. Jakob schlussfolgert, dass die Migration »auch weiterhin ihrer Einhegung voraus bleiben« wird. Lamin, der Bühler seine Geschichte erzählte, scheint dieser Position durch seine Erzählung beizupflichten: »Die Menschen sind schon immer überall auf der Welt herumgereist. Man kann die Menschen nicht davon abhalten zu reisen. Damit schafft man nur Hass und Durcheinander.« Amelie Bihl Johannes Bühler: Am Fuße der Festung – Begegnungen vor Europas Grenze. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2015. 304 Seiten, 19,80 Euro. tt

Christian Jakob: Die Bleibenden – Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren verändern. Ch. Links Verlag, Berlin 2016. 255 Seiten, 18 Euro.

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Europa ist farbenblind Die Präsenz derjenigen, die aus Europas Vergangenheit und Gegenwart gelöscht wurden, wieder in die europäische Geschichte einzuschreiben, ist das ambitionierte Ziel von Fatima El-Tayeb. Sie ist Schwarze Deutsche und mittlerweile in den USA lehrende Professorin für Literatur, Ethnic Studies und Critical Gender Studies. In Anders Europäisch will sie »Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa« untersuchen – so der Untertitel des Buches. Ihre Schlüsselthese dabei: Alle Länder Europas setzen auf »Weißsein« als Norm und etablieren ein wirkmächtiges System visueller Markierungen, die Nicht-Weiße als nicht-europäisch festschreiben. Für El-Tayeb ist Widerstand deshalb eine alltägliche Überlebensnotwendigkeit. Mit dem Ziel, Ethnizität zu queeren, also Stile und Genres zu vermischen, will sie kulturellen Widerstand ausüben. Doch bevor El-Tayeb die Verbindungslinien zwischen den Aufständen in den Banlieues in Frankreich 2005, feministischem Aktivismus und queeren Performances aufzeigt, spannt sie einen großen theoretischen Bogen, der nicht immer leicht nachzuvollziehen ist. Sie entlarvt die europäischen Diskurse rund um MigrantInnen als diskriminierend und kritisiert sie aufgrund ihrer »Sprache des Ausschlusses«. Deshalb spricht sie auch von »rassifizierten Minderheiten und Migrantisierten« als Synonym für »Fremde«, auch wenn deren Ankunft in Europa zwei, drei oder viele Generationen zurückliegt. Diese minorisierten EuropäerInnen werden zu ‚rassifizierten’ Anderen, also als ‚anders europäisch’ markiert. Zur Analyse verwendet El-Tayeb keine im europäischen Diskurs üblichen Instrumente, sondern die kritische Rassismustheorie und die Queer-of-Color-Kritik aus dem US-amerikanischen Raum sowie das auf der karibischen Créolité beruhende Diaspora-Konzept. Ihre Fußnoten zu Begriffen wie Othering, Racelessness, Kreolisierung oder Diaspora sind mit das Beste, was in letzter Zeit zu diesen komplexen Themenfeldern zu lesen war. So klar, wie sie hier Europa als »farbenblinden« Kontinent beschreibt oder die Rassismusverleugnung in Europa gerade in Bezug auf die Diskussionen um den Islam in modernen Gesellschaften analysiert, fehlt die auf den Punkt gebrachte Analyse jedoch manchmal in den theoretischen Kapiteln. El-Tayeb will zwar durch ihre vielfältigen Ausführungen von Black Atlantic bis hin zu Postkolonialen TheoretikerInnen die transnationale Perspektive schärfen, doch damit überfrachtet sie ihr Theoriegebäude. Spannend ist ihre Analyse immer dann, wenn sie die Diaspora als gegensätzliches Konzept zu dem der Migration entwickelt. Denn in der Diaspora gibt es kein lineares Bewegen vom Heimatort zum Zielort, es gibt keine gemeinsame Herkunft, sondern nur einen gegenwärtigen Zustand. Diaspora begreift ElTayeb deshalb konsequent als postethnisch und translokal. Und auch historisch kritisiert sie Europas Eigendefinition als »homogene Vorkriegs- und multikulturelle Nachkriegsgesellschaften«, denn Diasporaprozesse setzten auch in Europa schon viel früher ein. So werden die beiden Weltkriege im europäischen Gedächtnis als eindeutig westliche Angelegenheit dargestellt und die Verbindung von Krieg und Kolonialismus geleugnet. Dass diese Sicht der Dintt

ge ein komplettes Weiß-Waschen der kolonialen Vergangenheit impliziert, hat spätestens 2009 die Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« des Rheinischen JournalistInnenbüros gezeigt. Kolonialismus wird nicht nur in diesem Zusammenhang fälschlicherweise als etwas erinnert, das nur außerhalb Europas stattgefunden hat. Der Rassifizierung von Religion, muslimischen EuropäerInnen und weiblichen Körpern widmet El-Tayeb das Kapitel »Säkulare Unterwerfungen«. Scharf kritisiert sie darin Ayaan Hirsi Ali oder Necla Kelek, die »zu den ersten minorisierten Frauen überhaupt (gehören), denen eine Stimme in europäischen Angelegenheiten gewährt wurde. Allerdings nur dann, wenn sie über die islamische Bedrohung sprechen.« Fast schon erschreckend visionär ist folgende Aussage angesichts der Übergriffe in der Silvesternacht 2015 in Köln zu lesen: »Es geht hier nicht um die Frage, ob es notwendig ist, gegen Sexismus in muslimischen Gemeinschaften vorzugehen, sondern um die Instrumentalisierung dieses Ziels für die Unhörbarmachung und Spaltung von Muslim_Innen, bei gleichzeitiger Betonung, dass Europa ganz anders und überlegen ist.« El-Tayeb kritisiert, dass bestehende feministische Organisationen in den Debatten um »die muslimische Frau« kaum angesprochen werden und stellt in diesem Zusammenhang die Hijab-tragende, queer-feministische Muslima Asmaa Abdol-Hamid vor, die Mitglied der Dänischen Sozialistischen Partei ist und auf der Kombina­tion ihrer vielfältigen Identitäten besteht. AbdolHamid lehnt es für ihre queere Identität ab, Religion überhaupt als Grundlage für die Kontrolle von Sexualität zu betrachten. Sie trägt – wie viele andere Beispiele in El-Tayebs Buch – zum Queeren von Ethnizität bei, indem sie mit Widersprüchen und Unmöglichkeiten arbeitet. So auch das niederländische multiethnische queere Kollektiv Strange Fruit, eine 1989 vornehmlich von SexarbeiterInnen gegründete Selbsthilfegruppe. Strange Fruit begreift den Körper als Schauplatz unterdrückter Performativität und nimmt ihn als Grundlage für Queer-of-Color-Theorie und -Aktivismus. Hier schließt sich der Bogen zu den anderen von El-Tayeb vorgestellten Widerstandsformen wie beispielsweise die Hip-HopKultur seit den 1970ern oder die Gayhane-Partys im legendären Club SO36 im Berlin der 1990er Jahre. El-Tayeb begreift Hip-Hop als diasporische Lingua Franca, die es schafft, Bündnisse über Ländergrenzen, ethnische Unterschiede und Sprachbarrieren hinweg einzugehen. Von der zentralen Rolle von Alltagskultur und Musik in der Diaspora vermag El-Tayeb meisterlich zu erzählen und spannt dabei den Bogen zurück zu den Strategien der Rassifizierung in der Festung Europa, die sich auf eine strikte Trennung von Körper und Geist beruft. Rosaly Magg Fatima El-Tayeb: Anders Europäisch. Rassismus, Identität und ­ iderstand im vereinten Europa, Unrast Verlag, Münster 2015, 357 W Seiten, 19,80 Euro. tt

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