iz3w Magazin # 360

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Dazwischenfunken – Aktivismus in Freien Radios

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Fünfzig Jahre 2. Juni t Solidarisch ackern in Bogotá t Starke Frauen auf der Berlinale

Mai/ Juni 2017 Ausgabe q 360 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


In dies er Aus gabe

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Foto: Giordano Aita /Shutterstock

Dossier: Freie Radios D· 2 3

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Editorial

Editorial »Es geht ums Ganze, den Weltgeist!« Interview mit Geert Lovink über die Zukunft des Radioaktivismus

Politik und Ökonomie

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»Wir brauchen eine Dekolonisierung der Technologie« Interview mit der Medienaktivistin Maka Munoz

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Iran: Ein legendärer Schah-Besuch

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»Weder mächtig noch Machos« Interview mit Vicky Quevedo über das feministische Radio Tierra

Weltwirtschaft: Aufbruch ohne Erfolg Warum ist die Neue Internationale Weltwirtschaftsordnung gescheitert? von Jürgen Dinkel

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Es begann mit einer mp3-Datei Der internationalistische Radiodienst Onda von Wolf-Dieter Vogel

Der 2. Juni 1967 als Kristallisationspunkt internationaler Politik von Harald Möller

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»Schlag gegen die Gegenöffentlichkeit« In Argentinien kämpfen alternative Medien gegen ihre Abschaffung von Meike Bischoff

Kolumbien: »Ich esse keine Blumen!« Projekte solidarischer Landwirtschaft in der Stadtregion Bogotá von Birgit Hoinle

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»Weder legal, noch illegal, einfach nur geil« Vom Radiomachen im Amazonas von Nils Brock, Rita Muñoz und Guilherme Figueiredo

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The Great Firewall Der Trend zu digitaler Kontrolle von Arne Hintz

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»Nichts als die Wirklichkeit« Interview mit Jean-Marie Etter über Radios in Konfliktregionen

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Auf drei Männer kommt eine Frau Genderungleichgewichte in Freien Radios von Bianca Miglioretto

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Kultur und Debatte D· 26 15

»Es geht nicht nur um den Akt des Sprechens« Was das Radiomachen für Geflüchtete bedeutet von Johanna Wintermantel

Film I: Mutiger als gut ist?

»Mühsam und großartig zugleich« Studiogespräch mit Aktiven von Radio Dreyeckland

Die Berlinale zeigte starke Frauenportraits aus dem Kongo von Isabel Rodde

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Film II: Überlebende, nicht Opfer Auf der Berlinale wurden drei Filme zum Thema Vergangenheitsaufarbeitung ausgezeichnet

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Geschichtspolitik: Kontinentaler Perspektivwechsel Die Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« wird in Kapstadt gezeigt von Christa Aretz

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Grenzregime: Handlungsmacht versus Struktur Der »lange Sommer der Migration« und seine kontroversen Interpretationen von David Niebauer und Till Schmidt

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Rezensionen

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Szene / Tagungen Impressum

Literatur: »Kubas Hähne krähen um Mitternacht« … ist nicht der stärkste Roman von Tierno Monénembo von Ute Evers

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Editor ia l

Hunger ist keine Naturkatastrophe »Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.« Mit diesem drastischen Zitat des bekannten Genfer Soziologen Jean Ziegler ruft derzeit die linke Hilfsorganisation medico international zu Spenden für Ostafrika auf. Laut Angaben der UN sind dort 20 Millionen Menschen akut von Hunger bedroht. Insbesondere im Nordosten Nigerias, im Südsudan, in Somalia und im nahe gelegenen Jemen ist die Ernährungslage so verheerend, dass sie über Mangel- und Unterernährung weit hinausgeht und vielen Menschen der Tod droht. Die UN sprechen von der »größten Hungerkatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg«. Als Ursache für die Katastrophe werden von vielen Hilfsorganisationen und Medien die Dürren genannt, die am Horn von Afrika und in angrenzenden Regionen seit drei Jahren gehäuft auftreten. Etwa von der Welthungerhilfe, die die dramatische Situation vor allem auf die »immer schlechter werdenden landwirtschaftlichen Bedingungen infolge der wiederholten und anhaltenden Dürren« zurückführt. Der Hinweis auf die Dürren ist nicht falsch: In der Tat schädigen die häufig gewordenen extrem trockenen Phasen die Vegetation und die Tierwelt, nur um dann von ebenso zerstörerischem Starkregen abgelöst zu werden.

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ennoch ist diese gängige Ursachenbeschreibung irreführend. Denn sie unterschlägt, dass die aktuelle ­Hungerkrise im Wesentlichen menschengemacht ist. Hauptverantwortlich dafür, dass die Landwirtschaft die Menschen nicht mehr ernähren kann und sie sich den Kauf von Nahrungsmitteln nicht mehr leisten können, sind die Kriege in den betreffenden Ländern. Sie führen zur Vertreibung von Millionen Menschen, berauben sie jeder Einkommensmöglichkeit und ruinieren die lokalen Märkte. Die VerursacherInnen lassen sich klar benennen: In Nigeria sind es die Dschihadisten von Boko Haram, in Südsudan machtgierige Eliten und im von Mangel geplagten Syrien sind es fast alle Kriegsparteien, die den Hunger zu verantworten haben – wenn sie ihn nicht gar

gezielt als Waffe zur Zermürbung gegnerischer Gruppen einsetzen. Es gibt viele weitere Ursachen für den Hunger: Unfähige und korrupte Regierungen, die nicht in der Lage oder Willens sind, die Ernährungssicherheit großer Teile der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten. Den Industrie­ staaten ist das gleich, solange die Geschäfte gut laufen. Sprechen muss man auch vom Klimawandel: In welchem Ausmaß er für die Klimaextreme verantwortlich ist, kann niemand genau sagen, aber dass er mitverantwortlich ist, sagen alle unabhängigen Fachleute. Nicht zuletzt ist die Hungerkatastrophe vom Versagen der »internationalen Gemeinschaft« mitverursacht. Nach Angaben der Vereinten Nationen fehlen 90 Prozent des Geldes, das benötigt wird, um die Hungernden vor dem Tod zu bewahren. Dabei handelt es sich um eine überschaubare Summe, um vier Milliarden Euro. Die Industrie­ länder stecken lieber Geld in die Flüchtlingsabwehr oder schauen weg, statt Nothilfe zu leisten. Warum dennoch viele Hilfsorganisationen die Hungerkrise zu einer bloßen Naturkatastrophe stilisieren, obwohl ihnen die genannten Faktoren durchaus bekannt sind, liegt auf der Hand. Zum einen wollen sie es sich nicht durch allzu politische Ursachenbeschreibungen mit den Regierungen in Süd und Nord verscherzen, auf deren Goodwill sie bei ihren Hilfseinsätzen angewiesen sind. Zum anderen ist Spendensammeln leichter, wenn statt komplexer menschengemachter Ursachen eine im Wortsinne plakative Dürre angeführt werden kann.

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s ist also verständlich, wenn medico mit den eingangs zitierten Worten die Hungerkrise politisieren möchte. Doch wirklich überzeugen können sie nicht: Einem Mord liegt eine dezidierte Absicht zugrunde, und die dürfte im Falle von Hungertod nur selten gegeben sein. Statt des allzu plakativen Mordbegriffes wäre es angemessener, von grober Fahrlässigkeit und unterlassener Hilfeleistung zu sprechen. Beides ist mehr als kriminell genug und verlangt nach entschiedenem Einschreiten, findet die redaktion

PS: Deniz Yücels legendäre taz-Kolumne »Besser« wurde hier im iz3w sehr geschätzt, wie auch viele andere seiner Texte. Umso geschockter waren wir über seine Verhaftung, die einer Geisel­nahme durch das Erdoğan-Regime gleicht. Bleibt die Hoffnung, dass er nach dem Referendum am 16. April zusammen mit den vielen anderen in der Türkei eingesperrten JournalistInnen freigelassen wird. Bis es so weit ist, rufen wir zur Teilnahme an allen #FreeDeniz-Solidaritätsaktionen auf.

PPS: In der letzten iz3w-Ausgabe erschienen zwei Debattenbeiträge von Daniel Bendix und Winfried Rust zu Degrowth. Die damit angestoßene Diskussion über PostwachstumsKonzepte geht auf www.iz3w.org weiter, und zwar mit einer Replik von Nina Treu.

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Foto: Fondation Hirondelle

In Zeiten kriegerischer Konflikte spielt das Radio insbesondere in abgelegenen Regionen eine oft wichtige Rolle. So bleibt es trotz Sozialer Medien für ländliche Gemeinden die schnellste und oftmals einzige Nachrichtenquelle. Das gilt sowohl bei gewaltsamen Auseinander­ setzungen als auch angesichts autoritärer Herrschaft. In Konfliktsituationen spielt oftmals die propagandistische Instrumentalisierung des Mediums Hörfunk eine Rolle. Aber auch die Arbeit mit dem Medium

Radio in friedensfördernder Absicht hat ihre Fallstricke. Die Fondation Hirondelle hat seit 1995 in dieser Absicht zahlreiche Radioprogramme sowie Sender unterstützt. Sie beruft sich auf Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – auf das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Informationsrecht. Wir sprachen mit Jean-Marie Etter, dem Gründer der Fondation Hirondelle, über die Aufgaben und Risiken eines Radiosenders inmitten kriegerischer Atmosphäre.

»Nichts als die Wirklichkeit« Interview mit Jean-Marie Etter über Radios in Konfliktregionen iz3w: Was bedeutet es, ein Radio in einer Konfliktregion aufzubauen? Jean-Marie Etter: Die größte Herausforderung ist es, zu überprüfen, ob die Arbeit wirklich für die Bevölkerung vorteilhaft ist. Wir würden aus diesem Grunde auf keinen Fall ein Piratenradio unterstützen. Denn in einem Konflikt ist entscheidend, dass alle über die Identität des Senders aufgeklärt sind und keine Zweifel hegen, weder die Regierung, die Konfliktparteien noch die Bevölkerung. Um es zugespitzt zu formulieren: Eine gute JournalistIn muss leicht zu verhaften sein. Sonst bist du als Reporterin für diese Situation nicht geeignet. Denn auch die ZuhörerInnen können leicht verhaftet werden, und wenn du mit ihnen sprechen willst, dann musst du ihren Lebensalltag teilen und ihre Lage mitempfinden. Das ist die Basis deiner Glaubwürdigkeit – und gleichzeitig das Hauptproblem. Partner vor Ort zu finden ist hingegen nicht schwer, schwieriger ist es, überhaupt Fördergelder für Radioarbeit in Konfliktregionen aufzutreiben. Wie entscheiden Sie darüber, ob Sie lieber mit einem Community Radio, einem öffentlichen Sender oder einem UN-Radio zusammenarbeiten? Warum haben Sie in Burkina Faso zur Zeit der Wahlvorbereitung mit einem öffentlichen Sender kooperiert? iz3w-Dossier

Eigentlich unterstützen wir keine öffentlichen Sender, schon gar nicht in einem Land im Kriegszustand. Hier trifft man bisweilen auf enge Verbindungen zwischen den Behörden und den Medien. In Tunesien und Burkina Faso haben wir dennoch mit öffentlichen Sendern zusammengearbeitet. In beiden Ländern kam es zu tiefgreifenden politischen Veränderungen, die von einer starken sozialen Bewegung auf der Straße getragen wurden. In Burkina Faso spielte sich ein bewundernswerter Wandel ab, die Bevölkerung ging in die TV-Anstalten und beschlagnahmte Sender. Sie warf den Redaktionen vor, sie seien Marionetten der autoritären Regierung. Heute sehen die dort arbeitenden JournalistInnen ihre Aufgabe in einer distanzierten Berichterstattung, und dies war entscheidend dafür, dass wir hier eine Ausnahme gemacht haben. tt

Wie garantieren Sie die Sicherheit der RadiomitarbeiterInnen in Konfliktregionen? tt Die erste Regel im Sinne der Sicherheit ist die Glaubwürdigkeit des Radios. Was JournalistInnen sagen, darf nicht als voreingenommen oder parteiisch gelten. Sie dürfen den ZuhörerInnen nicht

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1991: Mit dem Ende der Apartheid dürfen erstmals Freie Radios in Südafrika auf Sendung gehen

das Gefühl vermitteln, dass sie es sind, die die Wahrheit arrangieren oder gar Lügen präsentieren. Wenn sie wirklich glaubwürdig sind und nichts als die Wahrheit berichten, wird auch die Anhängerschaft einer bewaffneten Gruppe oder das Militär größere Schwierigkeiten haben, sie zu beseitigen.

stoßen. Oft kommen die finanzielle Unterstützung und die Konzeption aus dem Westen. Was bedeutet es für einen Sender mit friedensstiftendem Auftrag, in diese postkoloniale Beziehung eingebettet zu sein? tt Der wichtigste Punkt ist, dass alle RadiosprecherInnen und alle, die vor Ort recherchieren, aus dem betreffenden Land oder sogar der Region sind. Das ist unser Konzept: Die ReporterInnen sprechen Allerdings sind die Perspektiven oft sehr unterschiedlich, jede Seite die lokalen Sprachen und berichten über die lokale Realität, sie vertritt ihre eigene Wahrheit. Wie kann ein Radio mit diesen Widersprüleben unter den gleichen Bedingungen wie die Menschen, über chen umgehen? die sie berichten. Die Beziehung zwischen MedienmacherInnen tt Nun, es gibt nur eine faktische Wahrheit. Aber es gibt viele und Publikum ist entscheidend für die Glaubwürdigkeit. Gelingt Dinge, die verschwiegen werden sollen. Das ist ein Problem, dendas, dann werden JournalistInnen aus dem jeweiligen Land nicht als Fremde empfunden, selbst wenn das Geld für ein Radio aus dem noch ist die faktenbasierte Information der beste Weg. Präsident Kabila in der DR Kongo zum Beispiel beklagte, er möge Radio Ausland kommt – was ohnehin alle wissen. Aber solange die Sendung Okapi nicht, es sei ein »fremder« Sender. Doch als das Gerücht im lokalen Kontext verortet ist, kommt der Vorwurf des Kolonialiskursierte, es habe eine blutige Schießerei im Präsidialbüro gegeben, mus oder Paternalismus nicht auf. nahmen wir uns die Zeit, herauszufinden, was eigentlich genau Vorsicht ist eher auf der anderen Seite geboten: Diejenigen, die passiert war. Tatsache war, dass die Soldaten nur Schüsse in die Luft einen Sender in einer Konfliktsituation finanzieren, verstehen nur abgegeben hatten und es keinen Anschlag gab. Kabila hörte genau sehr selten, dass ein rein an Fakten orientierter Journalismus einen zu, was das Radio zu sagen hatte, und seither verstand auch er, Wert für sich hat. Viele Organisationen finanzieren Radioprogramdass wir gut recherchierte, wahrheitsgemäße Informationen veröfme aus durchaus guten Gründen, sie wollen für Gendergerechtigkeit eintreten, bekämpfen Umweltskandale oder wollen Bildung fentlichen. Wenn die Leute sicher sind, dass ein Sender nach der fördern. Doch wenn man mit dieser Wahrheit sucht, ist das der beste Schutz überhaupt. Absicht im Kopf recherchiert, verstehen »Kommentare von unserer Selbst wenn man sich an die Fakten hält, bleibt immer die Befragten sofort, für welches Thema die Frage, wie diese interpretiert werden. Wie geht ein und welche Idee hier Geld geflossen Seite sind strikt verboten« Friedensradio mit den unterschiedlichen AkteurInnen um, ist. Die lokale Bevölkerung empfindet mit denen es in einer Konfliktsituation konfrontiert wird? derlei Programme als Propaganda aus tt Eine erste Regel ist, dass Kommentare von unserer Seite strikt dem Westen, und dann kommt das Gefühl von Kolonialismus auf. verboten sind. Wir halten uns an die Ereignisse und verbieten uns, Radio Miraya arbeitet in Sudan und Südsudan, zwei Ländern also, in sie zu kommentieren. Die Fakten müssen so genau und unmissverdenen das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit massiv verletzt wird. ständlich wie möglich kommuniziert werden, dann erläutern wir Was kann ein Sender in einer solchen Lage, in der die Atmosphäre renoch den Kontext, was an sich schon eine empfindliche Angelegelrecht vergiftet ist, noch bewirken? genheit sein kann. Natürlich gibt es unterschiedliche Seiten, Meinungen, Betrachtungsweisen, deshalb machen wir ja Radio in tt Als wir für Radio Miraya zuständig waren, das war bis 2014, also Konfliktländern. Wenn ich persönlich davon überzeugt bin, dass drei Jahre nach der Unabhängigkeit des Südsudan, gab es hohe eine bestimmte Verhaltensweise schädlich ist, muss ich das aber Einschaltraten, es war das landesweite UN-Radio. Unsere Grundnicht öffentlich über den Äther verurteilen. Stattdessen kann ich sätze beinhalteten, nur Fakten zu berichten, so ausführlich wie möglich und unparteiisch. Eine wichtige Regel war, mit Gemeinden diese Meinung mit der eines anderen Akteurs konfrontieren. im ganzen Land zu sprechen, und im Redaktionsteam mussten Ein Beispiel: In Mali stellte sich uns erst kürzlich die Frage, wie man Personen aus allen Regionen und allen politischen sowie ethnischen angemessen über islamistischen Terror berichten kann. Eine Möglichkeit wäre, die Position der Regierung mit der einer islamistischen und religiösen Lagern vertreten sein. Dieses gemischte Team ist der Gruppe zu konfrontieren. Die andere – und für die Zuhörerschaft erste Realitätscheck. Ein bestimmtes Wort kann von einer anderen viel interessantere – ist die Gegenüberstellung von zwei islamischen Gruppierung ganz anders wahrgenommen werden als das, was Positionen: Eine, die extremistisch und der Gewalt nicht abgeneigt man selber darunter versteht. So gab es auf den Redaktionssitzunist, und eine moderate, die Gewalt ablehnt. Heraus kommt eine gen immer wieder Einsprüche und wir suchten gemeinsam nach Debatte, die sich um soziale und religiöse Belange dreht, und dies Formulierungen, die von allen akzeptiert wurden. So kommt man trifft das Bedürfnis der Bevölkerung, die direkt in den Konflikt indahin, über Dinge so zu sprechen, dass sie für alle nachvollziehbar volviert ist, viel eher als die persönliche Meinung einer ReporterIn. sind und angenommen werden. Das ist absolut zentral in dieser Und auch für die anderen Regionen im Land ist diese Debatte Situation des Misstrauens. bedeutsam, denn so wird erkennbar, dass es auch innerhalb der muslimischen Bevölkerung Meinungsverschiedenheiten gibt und nicht alle der Gewalt das Wort reden. Es macht also Sinn, zum tt Jean-Marie Etter lebt in Bex, in die Nahe von Lausanne. Er hat Beispiel die Bedeutung des Begriffs Dschihad zu diskutieren. seit 1973 für Radio Suisse Romande gearbeitet, und die Fondation Hirondelle von 2006 bis Ende 2016 geleitet. Interview und Über­ Ein anderes Problem der so genannten Medienentwicklungszusamsetzung aus dem Englischen: Martina Backes. Eine Langfassung des menarbeit ist die Ablehnung, auf die AkteurInnen aus dem Westen oft Interviews und eine Audioversion stehen auf www.iz3w.org.

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2013: ARTA FM, das erste Community Radio in Syrien, beginnt seine mehrsprachigen Sendungen

»Mühsam und großartig zugleich« Studiogespräch mit Aktiven von Radio Dreyeckland Radio Dreyeckland wurde als Teil der Bewegung gegen das Atomkraftwerk Wyhl und der Freiburger Häuserkämpfe gegründet und galt lange als »Piratensender«. Weniger bekannt ist, wie die internationalistische Bewegung Radio Dreyeckland über vier Jahrzehnte mitgeprägt hat. Wir sprachen mit fünf Aktiven über ihre Erfahrungen mit solidarischem Radiomachen.

iz3w: Radio Dreyeckland (RDL) erhielt ab Anfang der 1980er Anfragen aus aller Welt, den Aufbau von Radios zu unterstützen: aus Kurdistan, El Salvador, Sudan, Südafrika, Neukaledonien und Surinam. Wie kam es dazu?

Sendungen »in anderen Sprachen« (IAS) am Samstag und Sonntag bereitzustellen. Für die kleinen (Exil-)Communities sind diese Sendungen deswegen so wichtig, weil es kaum sonstige Medien gibt, in denen sie ihre Themen besprechen können. Und das wird genutzt – die Zuhörerschaft ist groß! Wenn die iranische Redaktion ein Fest ankündigt, erscheinen 150 Leute, und das einzige Verbreitungsmedium war das Radio! Viktoria Balon (VB): RDL hat heute 25 Sendungen in 23 Sprachen. Für die SendungsmacherInnen ist es wichtig, nicht nur ihre Sprache, sondern auch ihre Gedanken und ihr Selbstbild dem Bild entgegenzustellen, das viele Medien über migrantische Communities verbreiten. Viele Mitwirkende der IAS haben in ihren Ländern schon journalistisch gearbeitet.

Michael Karthäuser (MK): Die Anfragen bekamen wir größtenteils von deutschen Solidaritätsgruppen, die mit Initiativen aus den jeweiligen Ländern kooperierten. Einige Projekte wurden realisiert, indem wir die Gruppen berieten und technisches Material lieferten. In anderen waren wir auch vor Ort. Für Radio Galibi in Surinam zum Beispiel haben wir einen Sender für die dortige IndígenaRDL bezeichnet sich als anti-nationalistisch, anti-rassistisch, antisexistisch – und damit nicht nur die politische Haltung als solche. Auch Organisation aufgebaut, samt einem 25 Meter hohen Sendemast die eigene Sprache wird genau unter die Lupe genommen. Konnte und einem Haus. Dort haben wir einen Techniker ausgebildet und dieser Selbstanspruch gegenüber den »Sendungen in anderen Sprachen« Workshops gegeben: Wie mache ich Radio, wie finanziere ich es, eingehalten werden? wie organisiere ich ein Wochenprogramm? CH: Zugegeben, oft wussten wir nicht, was genau die Inhalte In Zeiten der revolutionären Befreiungsbewegungen in Lateindieser Sendungen sind, da wir die Sprachen nicht verstehen. So und Mittelamerika solidarisierten wir uns mit lokalen Gruppen und konnten wir nicht wissen, ob nicht vielleicht die Grauen Wölfe halfen etwa beim Aufbau von Radio Kilambe im nicaraguanischen Wiwili. Es gab auch Fälle, in denen Menschen uns direkt baten, mitsenden. Dennoch überwog das Argument, migrantischen Communities grundsätzlich die Möglichkeit zu eröffnen, Radio machen Radioprojekte in ihren Herkunftsländern zu realisieren, wie beizu können. Wenn es Sexismus oder nationalistispielsweise Exilanten aus dem Sudan oder aus Ogaden, dem somalisprachigen Teil in Äthiopien. Allerdings sche Töne gab und darüber kein Dialog zustan»RDL hat heute de kam, gab es auch Sendeverbote. Das war hart. war es nicht immer leicht, die politischen Haltungen 25 Sendungen in der PartnerInnen bis ins Detail abschätzen zu können. Dennoch bleibt das Gespräch das wichtigste Mittel – unter Beachtung der Machtverhältnisse, 23 Sprachen« unserer unterschiedlichen Ausgangspositionen Weshalb habt ihr Radiosender für eine alternative Berichterstattung gewählt und nicht Zeitungen? und Gründe, uns mit einem Thema zu befassen. MK: Anfang der 1980er Jahre konnte man mit wenig Aufwand VB: Wir versuchen, weniger strikte Trennungen vorzunehmen. So Sender bauen und eine riesige Zuhörerschaft erreichen. Das war ist unsere Sendung »Balkanorama« beispielsweise ein Mix aus serbisch, kroatisch und bosnisch. Außerdem gibt es transkontinenfür politische Gruppen etwas ganz Neues. Eine Druckmaschine tale Kooperationen mit Community Radios. Auch thematisch überhätte leicht beschlagnahmt werden können, mit einem mobilen queren wir Grenzen. In der russischen Sendung zum Beispiel beRadiosender ging das nicht so einfach. Birgit Huber (BH): Die Befreiungsbewegungen wollten auch sprechen wir indische Literatur, einfach alles, was uns interessiert. Leute mobilisieren, die nicht lesen und schreiben konnten. Da ist Radio ein gutes Medium, weil man einfach sprechen, zuhören und Das Projekt InterKonneXiones stellte den Versuch dar, internationalismiteinander kommunizieren kann. tische Berichterstattung und den Austausch von Informationen zwischen Sendern in Europa und Lateinamerika zu verwirklichen. In welcher politischen Atmosphäre wurde es aus der Taufe gehoben? Woher kam der Anstoß für die Idee, mehrsprachige Sendungen zu fahren? BH: Wir haben uns 1992 bei RDL intensiv mit der eigenen Sprache Clemens Hauser (CH): Weil viele Werktätige nur am Wochenende über so genannte Dritte-Welt-Länder beschäftigt und wollten als Radio machen können, entschlossen wir uns, Sendeplätze für die Freie Radios die internationalistische Berichterstattung verbessern, iz3w-Dossier

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2017: Mit RDL begeht das erste Freie Radio in Deutschland sein 40-jähriges Jubiläum

Aufbau des Senders von Radio Galibi 1992 in Surinam Foto: M. Karthäuser

sie weniger klischeebeladen und exotistisch gestalten – was gar nicht so einfach war. Der Jugoslawienkrieg, der Genozid in Ruanda und Hoyerswerda waren dabei wichtige Ereignisse. Für eine sensiblere Berichterstattung wollten wir zudem ein Netzwerk der Freien Radios in Europa bilden und Programme austauschen, um Sendungen in fünf europäischen Sprachen zugänglich zu machen. In den 1990ern gerieten viele Bilder über den globalen Süden und die Befreiungsbewegungen ins Wanken. Wie ist InterKonneXiones damit umgegangen? BH: Verschiedene JournalistInnen kritisierten in den 1990ern die willkürliche, unsensible und sexistische Befragungspraxis. Eine Korrespondentin berichtete von der Weltfrauenkonferenz in Nairobi, wie Auslandskorrespondenten ihre O-Tongeberinnen suchten. Sie fragten einfach in die Runde: »Ist hier eine, die vergewaltigt worden ist und englisch spricht?« Und der eritreische Journalist Mekonnen Mesghena schrieb über die Rolle von Taxifahrern für die Auslandkorrespondenten, dass sie auf der Fahrt vom Flughafen in die HotelSuite befragt und als Stimme des Volkes zitiert werden. Das gab uns den Anstoß, realitätsnähere Berichte über den Trikont zu bringen. Wie habt ihr euch mit denen ausgetauscht, über die gesprochen wurde? BH: Auf dem Kongress des Weltverbandes der Freien Radios, der vorwiegend von Trikont-Ländern organisiert wird, stieß unser Projektvorschlag auf Interesse und auf Kritik zugleich: »Ohne uns zu fragen, wollt ihr euch also über die Berichterstattung über die Dritte Welt austauschen?« Klar, das war ein Denkfehler in der Konzeption. Also fingen wir an, Kontakte zu Radios im Globalen Süden zu knüpfen. Das IKX-Team war in der feministischen Solidaritätsbewegung verwurzelt, im Laufe der Zeit haben dann Migrantinnen, vor allem aus Lateinamerika, das Projekt komplett übernommen und das Konzept »Freiräume der Kommunikation für Frauen« angestoßen. Die Lateinamerikanerinnen haben in ihren Beiträgen die soziale Determinierung des Geschlechts diskutiert, lange bevor wir verstanden, was sie mit Gender überhaupt meinten. Der Begriff war uns damals neu.

Früher mussten Kassetten per Post verschickt werden, heute werden Audiodateien digital transferiert. Und Austauschbesuche sind, finanziert über Freiwilligendienste, einfacher geworden. Was sind heute Themen des Medienaktivismus im internationalen Kontext? Fabian Kern (FK): In Lateinamerika haben sich Radios mittlerweile in starken regionalen Netzwerken organisiert. Anfragen aus diesen Netzwerken an RDL beziehen sich zum Beispiel auf die Frage, wie man Handy- oder Radionetzwerke in ländlichen Gebieten aufbauen kann, die von staatlichen Providern nicht abgedeckt werden. Es geht viel darum, wie sich ein Community Radio von staatlichen und privaten Anbietern unabhängig machen kann, oder auch um Freie Software. Ernüchternd ist, was wir aktuell aus lateinamerikanischen Ländern erfahren: Bevor es zu einer Umsetzung der rechtlichen Fortschritte kommen kann, die in den letzten Jahren im Bereich Medienfreiheit gemacht wurden, wird die Legalisierung durch den Aufschwung der Rechten wieder gedrosselt. Wie seid ihr mit eurer Rolle als Weiße AkteurInnen in den Süd-Nord-Kooperationen umgegangen? CH: In den Sendungen IAS gab es natürlich ein Machtgefälle zwischen den Redaktionen und mir als Gruppenkoordinator von RDL. Wir entscheiden über Geld und Sendeplätze, und sie kommen als Leute, die Radio machen wollen. Wissen wir besser, was richtig ist? Wir sind ein fortschrittliches, demokratisches Projekt, aber begegnen wir uns wirklich auf Augenhöhe? Wenn ich gesagt habe, lasst uns reden, hieß es oft: Wir wollen als linkes Projekt vorwärts schreiten und uns nicht aufhalten mit Sozialgedöns. Aber diese Konflikte zu lösen, ist gleichzeitig mühsam und großartig, weil wir in der Auseinandersetzung viel über uns lernen mussten. FK: Als die Brasilianerinnen Luisa und Livia hier für mehrere Monate zu einem Austausch auftauchten, haben wir schnell realisiert, dass die beiden im Gegensatz zu uns eine journalistische Ausbildung und viel mehr Plan in Bezug auf Recherche und Beitragsgestaltung hatten. Herkunft spielt dabei keine Rolle. Sie sind die Expertinnen, die inhaltliche Schwerpunkte setzen, und ich der Techniksklave, der die Sendung ins Netz stellt.

t Birgit Huber nahm von 1992 bis 1997 am Projekt InterKonneXiones teil, heute koordiniert sie das Gruppenradio bei RDL. Clemens Hauser koordinierte viele Jahre die Sendungen in anderen Sprachen, heute ist Viktoria Balon dafür zuständig. Fabian Kern verbrachte ein Jahr bei der Freien Nachrichtenagentur in Brasilien und gestaltet die brasilianisch-deutsche Podcastreihe +1c@fé. Michael Kartäuser installierte nicht nur bei Radio Dreyeckland die Technik fürs Radiomachen. Langfassung und Audio siehe iz3w.org. Gesprächsleitung: Martina Backes.

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Rezensionen ... Zeitreise durch die Apartheid Alles unter Kontrolle – der Machtapparat des südafrikanischen Apartheidregimes setzte, ähnlich wie andere totalitäre Staaten, auf umfassende biometrische Messungen. Schon früh, ab 1948, wurden sie mit einer endlosen Flut rassistischer Gesetze erzwungen. So ist auch der Titel von Imraan Coovadias Roman Vermessenes Land symbolisch. Er bezieht sich nicht nur auf die Einführung des metrischen Systems Anfang der 1970er Jahre oder auf die geographischen Grenzziehungen zwischen weißen Villenvororten und infrastrukturell vernachlässigten urbanen Randzonen, so genannten Townships, in denen die schwarze Bevölkerung zusammengepfercht wohnen musste. Bis zu ihrem Niedergang Anfang der 1990er Jahre erfasste und kontrollierte die aufgeblähte Apartheidbürokratie die schwarze Bevölkerungsmehrheit. Wohnort, Arbeitsplatz, Ausbildung, Familien- und Eheleben – alles wurde registriert und reglementiert. So spielt ein Teil des Romans in einem Wanderarbeiterwohnheim, wo ein junger Mann seine Ausweispapiere verloren hat. Wenn er ohne Dokumente von der Polizei erwischt wird, droht ihm Gefängnishaft. Denn nur schwarze ArbeiterInnen mit gültigem Arbeitsvertrag durften sich in den Städten aufhalten. So ist er von der Willkür der Zuarbeiter des Regimes abhängig, etwa von Ordnungsstiftern, die aber nicht eingreifen, wenn Menschen allein auf Verdacht hin Opfer eines Gewaltmobs werden. Spitzel und SpionInnen, HeuchlerInnen und ProfiteurInnen der rassistischen Gesellschaftsordnung durchziehen diesen Roman; in unterschiedlichen Situationen und Personenkonstellationen tauchen sie auf. Mal erscheinen sie in feinem Zwirn, wie ein weißer autorit

Alles schon mal gehört »Was bislang niemand wissen mochte: Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse der anderen...« Dieser Satz sagt viel über das von Stephan Lessenich anvisierte, ökologisch-selbstkritische Lesepublikum seines Buches Neben uns die Sintflut aus. Der Münchner Soziologe beschreibt anschaulich die Auslagerung der negativsten Effekte der Wohlstandsgesellschaften des globalen Nordens. Er wird dabei nicht müde, neben den ökonomischen, sozialen und kulturellen auch die ökologischen Aspekte dieses Prozesses darzulegen. Hilfreich ist dabei der Begriff der Externalisierungsgesellschaft, die »seit jeher von der Arbeit und den Ressourcen anderer, von der Abwälzung sozialer und ökologischer Schäden auf Dritte« lebt. Mit diesem Begriff wird betont, dass es im Kapitalismus keine GewinnerInnen ohne das notwendige »Außen« der VerliererInnen gibt: »Das Externalisierungsleben steht und fällt mit seiner Exklusivität«. Auch die in diesem Kontext vollzogene Analyse der so genannten »Flüchtlingskrise«, die sich für Lessenich »immer mehr als eine Krise der Humanität der europäischen Get

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tärer Lehrer eines elitären Jungeninternats und ein Hochschullehrer, der sich für Gerüchte über seinen schwulen Bruder rächen will. Oder Frauen und Männer unterschiedlicher Hautfarbe geben sich als revolutionäre KameradInnen aus, um dann heimtückisch MitkämpferInnen an die mörderische Geheimpolizei auszuliefern. So bricht der Autor die Heldengeschichten von einst und führt den LeserInnen vor Augen, wie perfide das alte Regime auch seine GegnerInnen instrumentalisierte. Das Buch bietet somit weit mehr als ein Kaleidoskop der Apartheidgesellschaft. Die zehn Kapitel fächern den Alltag und die Emotionen schwarzer, weißer und indischer ProtagonistInnen aus der Hafenmetropole Durban auf. Imraan Coovadia ist hier aufgewachsen, und da er sich genauer mit der Geschichte dieser Einwandererstadt am Indischen Ozean zwischen 1970 und 2010 auseinandersetzt, erschließen sich en passant neue Sichtweisen auf zeithistorische Details, gesellschaftliche Zustände, ökonomische und kulturelle Querverbindungen zwischen den offiziell getrennten Welten. Mehrere ProtagonistInnen durchkreuzen subtil rassistische Grenzziehungen sowie Gender-Ordnungen und Klassenunterschiede. Coovadias Roman ist somit ein wichtiges Gegengewicht zu essentialistischen Kulturnationalismen. Denn er hält allen sozialen Gruppen den Spiegel vor. Rita Schäfer Imraan Coovadia: Vermessenes Land. Das Wunderhorn, Heidelberg 2016. 354 Seiten. 26,80 Euro. t

sellschaften entpuppt«, sowie das Aufzeigen der Grenzen individuellen (Konsum-)Protests zählen zu den Stärken des Buches. Es steht nichts Falsches in Lessenichs Buch. Doch das Werk schwächelt, wenn es darum geht, seine Intentionen zu verdeutlichen. Einerseits will Lessenich »Unsichtbares sichtbar machen, Unausgesprochenes aussprechen, Ausgeblendetes zur Geltung bringen«. Andererseits schreibt er selbst über die von ihm präsentierten Inhalte: »Alles schon mal gehört. Alles schon mal gesehen. Dann aber alles wieder vergessen.« Das Problem sei demnach nicht Unkenntnis, sondern »ein verallgemeinertes Nicht-wissen-Wollen«. Diese Spannung zwischen Aufklärung und In-Erinnerung-Rufen wirkt sich nicht zuletzt auf die politische Botschaft des Buches aus, die vage bleibt. Zwar bietet Lessenich konkrete Vorschläge an, »von einer mit den Privilegien der Zentrumsökonomie brechenden Revision des Welthandelsregimes, einer effektiven Besteuerung weltweiter Finanztransaktionen und einem Umbau der reichen Volkswirtschaften in Postwachstumsökonomien bis hin zu … einer transnationalen Rechtspolitik, die globale soziale Rechte wirkungsvoll verankert.« Zu der dafür notwendigen Politisierung, die er selbst als »das A und O wirklicher Veränderungen« be-

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Fidel Castro: Die Geschichte sprach ihn frei Im November 2016 starb Fidel Castro im Alter von 90 Jahren. Ein Anlass, auf eine bereits 2010 erschienene und 2016 noch einmal neu als Taschenbuch aufgelegte Comic-Biographie über Castro zu verweisen. Wer allerdings hofft, über Reinhard Kleists Biographie Nachhilfe in kubanischer Geschichte zu bekommen, wird nur bedingt fündig. Zwar ist Fidel Castros Leben eng mit Kuba verbunden, jedoch liegt der Fokus des Buches auf seiner Persönlichkeit und weniger auf dem detailgetreuen Vermitteln der Ereignisse rund um die Revolution ab 1953. Durch die Handlung führt der deutsche Journalist Karl Mertens, der während der Revolution nach Kuba geht, um aus erster Hand von den Ereignissen und über die »Bewegung des 26. Juli« zu berichten. Natürlich verliebt er sich in eine revolutionäre Kämpferin und in die Revolution selbst. Er bleibt in Kuba und berichtet weiter. Die LeserInnen folgen ihm und Castro durch Stationen wie den Guerillakampf in der Sierra Maestra, den Sturz Batistas, die kommenden 40 Jahre Reformen, das Handelsembargo durch die USA, die Annäherung an die Sowjetunion, die Verfolgung politisch Andersdenkender und zuletzt Castros Aufenthalt im Krankenhaus. Nicht zu kurz kommen auch die Jugendzeit Castros und die Ereignisse vor der Revolution. Es ist schwierig, über Kuba nicht wertend zu schreiben. Auch wenn die Figur Mertens mit der Revolution und Castro stark sympathisiert, schafft es Autor Kleist aber, die Widersprüche um die Regierungsführung Castros einzufangen und eine differenzierte Auseinandersetzung anzuregen. So kommen immer wieder Stimmen aus der Bevölkerung zur Wort. Wem ein tieferer Einblick in die kubanische Bevölkerung und ihre Auffassung der kubanischen Revolution am Herzen liegt, dem sei ebenfalls von Kleist dessen Graphic Novel »Havana« empfohlen. Spätestens bei diesem Buch t

schreibt, hat er aber wenig zu sagen. Er verbleibt in der Rolle des »Moralphilosophen«, die er gleichzeitig von sich weist. Lessenich beanstandet, dass die Themen, die er in seinem Buch aufgreift, gleich wieder verschwinden, wenn sie einmal »in ‚Brennpunkten‘ nach der Tagesschau« oder »in Radiofeatures öffentlich-rechtlicher Kultursender« auftauchen. Warum der Effekt seines Buches ein anderer sein soll, erschließt sich mir nicht. Dabei stellt Lessenich wichtige Fragen, beispielsweise: »Wie für mehr Gleichheit im globalen Maßstab streiten, ohne die berechtigten Ansprüche auf Gleichheit … im nationalen Kontext zu missachten? Wie auch die schlechter Positionierten in den reichen Gesellschaften als Profiteure der Externalisierungsgesellschaft ansprechen – und sie gleichwohl in ihren Sorgen vor weiterer sozialer Benachteiligung gegenüber den Bessergestellten um sie herum ernst nehmen?« Antworten darauf zu finden, obliegt wohl weiter denjenigen, die in entsprechenden sozialen Bewegungen engagiert sind. Gabriel Kuhn

wird klar, was sich bei der Castro-Biographie nur andeutet: Kleist blickt selbst romantisierend auf die Revolution. Er kommt zu einem wenig überraschenden, aber doch differenzierten Urteil: Auch wenn die Revolution mit Menschenrechtsverletzungen verbunden war, ist die Bevölkerung heute hoch gebildet und vollständig alphabetisiert – und nicht zu vergessen das gute Gesundheitssystem für alle. Die Bevölkerung wird allerdings zu einem spartanischen Lebensstil mehr oder minder gezwungen. Dass nicht alle KubanerInnen mit dem Kuba der Revolution und den dazu gehörenden Mängeln einverstanden sind, wird durch Lara, die Gefährtin des Protagonisten verkörpert. Zwar kämpfte sie selbst für die Revolution in der Sierra Maestra, sie hält es aber im Kuba der Lebensmittelknappheit und Repressionen nicht mehr aus und reist aus, sobald sich ihr die Möglichkeit bietet. Karl Mertens bleibt innerlich zerrissen zurück, was sein Verhältnis zur Revolution angeht, und blickt besorgt in die Zukunft. Castro übergibt die Regierungsgeschäfte an seinen Bruder Raul. Es ist umstritten, wie viel Einfluss Fidel vom Krankenhaus aus auf dessen Politik hatte. Unbestritten ist jedoch, dass sich erst mit Fidel Castros Tod in Kuba einiges verändert. Eine Revolution durch einen bewaffneten Kampf wie in den 1950ern wird es vorerst nicht mehr geben. Nicht nur in Kuba haben sich die Utopien verändert. Personenkult und Revolutionsromantik nehmen in Zeiten, in denen sich soziale Bewegungen sowie Transformations- und Utopiebegriffe diversifizieren, einen anderen Stellenwert ein. Doch gerade nach dem Tod Castros lohnt es sich, einen Blick in Kleists Biographie zu werfen. Sie zeichnet ein inspirierendes Bild von einer der kämpferischsten und idealistischsten Persönlichkeiten der jüngeren Geschichte. Kampfgeist und Idealismus sind die Grundvoraussetzung von sozialer Veränderung – wie auch immer die Zukunft aussehen mag und wer sie gestaltet. Swetlana Hildebrandt Reinhard Kleist: Castro. Taschenbuchausgabe, Carlsen-Verlag, Hamburg 2016. 282 Seiten, 10,99 Euro. t

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Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Hanser, Berlin/ München 2016. 224 Seiten. 20 Euro. t

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