Hey Alter ! – Altern in der Welt
iz3w t informationszentrum 3. welt
Außerdem t Afrikanischer Film t Friedensprozess in Kolumbien t Neuauflage der Seidenstraße
Sept./Okt. 2017 Ausgabe q 362 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80
In dies er Aus gabe
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Schwerpunkt: Alter(n)
Teehaus in Chengdu Foto: Howard Chang
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Gepriesen und vernachlässigt Die Situation älterer Menschen im internationalen Vergleich von Winfried Rust
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Editorial
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Politik und Ökonomie 24 4
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Kolumbien: Ein schwieriger Weg
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Solidarity City I: Wenn Städte rebellieren 32
Südafrika: Solidarität zwischen Ausgegrenzten 34
Jüdische SüdafrikanerInnen und die Apartheid von Hanno Plass
Wenn traditionelle Systeme ausfallen In Pakistan wurden Gesetze zur Unterstützung von älteren Menschen verabschiedet von John Emeka Akude
Solidarity City II: »Alle Menschen gehören dazu« Interview mit Harald Bauder über Sanctuary Cities in den USA
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»Wie Glasperlen aufreihen« Die Altersvorsorge im indischen Kerala wird aktiv ausgehandelt von Willemijn de Jong
Das Konzept der Sanctuary und Solidarity Cities von Janika Kuge
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Altersarmut mit System Das private Rentensystem in Chile von Kristin Schwierz
Ökonomie: Chinesische Perlenkette Die Seidenstraßen-Initiative will den Welthandel neu gestalten von Uwe Hoering
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Allzeit bereit 24 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche von Katharina Pelzelmayer
Der Friedensvertrag in Kolumbien wird nur schleppend umgesetzt von Erik Arellana Bautista
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Gepflegter Norden Wie Deutschland seinen Pflegenotstand in den Süden exportiert von Heino Güllemann
Honduras: »Es herrscht absolute Straflosigkeit« Interview mit Tirza Lanza Flores über Morde an UmweltaktivistInnen in Honduras
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Welche Rente? Die Alterssicherung ist nicht selbstverständlich von Tobias Böger
Vier-zwei-eins China verordnet größere Anstrengungen beim Familiensinn von Angelika C. Messner
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Neue Wege Welche Chancen bietet Japans hohe Altersstruktur? von Michiko Mae
Kultur und Debatte 38
Film I: »Lauf Kamerad, die alte Welt ist hinter Dir her« Das cineastische Werk des Filmschaffenden Med Hondo von Theresa Weck
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Film II: »No Land No Life« Neue Filme aus Afrika gegen Landgrabbing von Karl Rössel
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Film III: Der Gigant vor dem Sturz Cineastische Aufarbeitung der jüngeren Geschichte Südafrikas von Birgit Morgenrath
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Der Löwe ist eingeschlafen Nachruf auf Étienne Tshisekedi von Kani Kalonji
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Rezensionen
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Szene / Tagungen Impressum
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Editor ia l
Kleine Homestory Jüngst, auf einer Lesung unter Sternen in einem Freiburger Szeneort, benutzte der Moderator bei der biografischen Kurzvorstellung des Buchautors Jörg Später einen Begriff aus der Biologie: Der vorgestellte Autor einer Biografie über Siegfried Kracauer sei in vergangenen Jahren als kritischer Geist in einem Freiburger Biotop aktiv gewesen. Genauso der Moderator, und so haben sie sich kennengelernt. Dieses Hinterhofbiotop habe einen recht kryptischen Namen, iz3w. Im Hinterhof freut man sich riesig über das große Interesse, das Jörg Später, nach Jahren des prekären Durchwurstelns im akademischen Betrieb, endlich erfährt. Siegfried Kracauer – das ist kein Mainstreamthema. Und wir veröffentlichen gerade einen Themenschwerpunkt über »Alter im Globalen Süden« – das treibt hierzulande auch nicht jede/n um. Doch Hand aufs Herz: Wir verschanzen uns ja nicht mit Insiderthemen hinter Geheimnamen wie iz3w, um möglichst nicht aufzufallen. Die Biotope sind die kleinsten Einheiten der Biosphäre, und ihnen sei ihr Erhalt gewünscht. Aber für eine »Zeitschrift zwischen Nord und Süd« sind sie kein optimaler Bezug. Kracauer war ein kritischer Intellektueller, den Deutschland ins Exil und die Vergessenheit verdrängt hat. Jörg Später holt ihn auf die große Bühne zurück – und dies in einem Buch, welches das Genre der nacherzählenden Biografie weit hinter sich lässt. Die großen Zeitungen loben etwa die »geistesgeschichtliche Durchdringung eines aufgewühlten Kosmos der Intelligenz«. Jedenfalls macht das Lesen und Zuhören da wieder Spaß. Auch nicht ganz unspannend ist der Hinterhof selbst. Da ist auch immer etwas los. Unser Archivar Christian Neven-du-Mont wurde jetzt 70. Das war ein Erwachen! So versammelten wir uns kurz zuvor, und sangen für eine Videobotschaft im Hinterhof »Die Internationale« ein. »Die Müßiggänger schiebt beiseite!« und andere Textstellen rufen kritisch-historische Diskussionen hervor, textsicher ist auch kaum jemand, aber wir brachten es über die Bühne. Hat Spaß gemacht.
Warum aber hier diese Innenschau? Ein Grund ist,
dass sich eine Mitstreiterin nach 18 Jahren entschieden hat, die Redaktion zu verlassen. Martina Backes wird sich nach dem Aufbau des tourismuskritischen Projektes FernWeh, dem Konzipieren dutzender Heftausgaben und Themenschwerpunkte, dem Verfassen von Reportagen und Analysen, dem Drehen von Filmen, der Gründung
der Bildungsarbeit fernsicht und so vielem mehr in neue Sphären aufmachen. Zum Glück für uns wird sie der Magazinsendung »iz3w on air« in unserer Zusammenarbeit mit Radio Dreyeckland erhalten bleiben. Die studierte Biologin bleibt dem Biotop verbunden. Der Zutritt dorthin steht übrigens allen offen: Die monatlichen Redaktionssitzungen sind öffentlich – alle Interessierten, und damit auch Ihr und Sie, verehrte LeserIn nenschaft – sind eingeladen, mit uns zu diskutieren, Themen einzubringen, Ideen mitzuteilen, auf uns entgangene Theorien oder praktische Kämpfe für das »Gute Leben« (= Müßiggang) hinzuweisen. Für die Konzeption und Umsetzung der Themenschwerpunkte im Heft bilden sich – für die Zeit weniger Monate – eigene Arbeitsgrüppchen (= Mikrobiotope), die sich über Zuwachs freuen.
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ie Bürostimmung dort oszilliert zwischen angenehm chaotisch und vereint am Mittagstisch auf der einen Seite, und der Überforderung im prekären Projektengagement auf der anderen Seite. Eine auskömmliche 30-StundenStelle hat absoluten Seltenheitswert und auch deren Inhaber ächzen unter ihrer Last, weil in so einem ambitionierten aber randständigen Projekt alles sehr knapp gestrickt ist. Die meisten Mitarbeitenden sind im neoliberalen Selbstständigen-Status und mit Zweit- und Drittjobs unterwegs. Die Terminkoordination ist eine Wissenschaft für sich, weswegen am Ende basisdemokratisch das Sagen hat, wer da ist. Ohne die Freiwilligen, die bei uns oft den Laden am Laufen halten, und die zahlreichen Schreibenden (unsere geliebte AutorInnenschaft), sähe die iz3w ziemlich »alt« aus. Und gelobt seien hier die PraktikantInnen, die ständig frischen Wind in den Laden bringen. Wir möchten unsere LeserInnenschaft nochmals ausdrücklich einladen, sich selbst ein Bild zu machen! Unser Facebook-Auftritt oder die Homepage geben immer die nächsten Veranstaltungen oder Events an, wo man mit uns in Kontakt treten kann. Im informationszentrum dritte welt (iz3w) wiederum sind wir unter der 0761/74003 erreichbar.
3 Damit sind wir beim nächsten Grund für diese Innenschau angelangt. Das zehnköpfige irgendwie-bezahlte Team hat nun wieder eine Stelle zu vergeben. Wir bitten also, die Stellenanzeige auf Seite 50 zu beachten und auch sonst zu überlegen, welcher Input in die Richtung der iz3w denn vielleicht möglich ist. So freuen wir uns über zahlreiche Zuschriften die redaktion
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Foto: Anton Ivanov / Shutterstock Ausstellungsraum des Seidenstraßenmuseums in Xian, China
Chinesische Perlenkette Die Seidenstraßen-Initiative will den Welthandel neu gestalten Weltweit investiert China große Summen in Infrastruktur und Handel. Mit der sogenannten Neuen Seidenstraße will das Land an seine einstige Bedeutung anknüpfen und die zukünftige Globalisierung prägen. Das sorgt für Interesse – und für Misstrauen.
die »Erneuerung Chinas« durch die Seidenstraßen-Initiative. BeobachterInnen wie der Wirtschaftsjournalist Tom Miller sprechen inzwischen vom »Empire Building«, die Times of India von einem »kolonialen Unternehmen«.
Neue Schiffs- und Karawanenrouten von Uwe Hoering Am Anfang war es nicht viel mehr als ein zugkräftiger Name. 2013 kündigte Chinas Präsident Xi Jinping die »Neue SeidenstraßenInitiative« an. Wenngleich der offizielle Name mit »Belt & Road Initiative« (BRI) weit weniger klangvoll ist, steht dahinter die durchaus kühne Idee, Europa, Asien und Afrika auf dem Land- und Seeweg enger miteinander zu verbinden. Inzwischen entwickelt der Aufschlag eine Dynamik, bei der China die Meinungsführerschaft für die zukünftige Globalisierung im eurasischen Raum übernimmt, mit Ausstrahlung auf Afrika und die Pazifik-Region. Dies gilt um so mehr, da sich in den USA derzeit eine protektionistische Politik abzeichnet. Bei der Seidenstraßen-Initiative handelt es sich um eine Sammelbezeichnung für ein Konglomerat bereits bestehender, geplanter oder auch nur angedachter Vorhaben, teils durch chinesische Unternehmen, teils durch regionale Initiativen. Durch den Namen werden sie zu einem großen, ambitionierten Ganzen zusammengefasst, wobei mit der historischen Reminiszenz an Chinas einstige Bedeutung angeknüpft und gleichzeitig eine Vision der Zukunftsperspektiven aufgemacht wird. So beschwört Xi Jinping wiederholt tt
Auswirkungen der Initiative zeigen sich bereits in Südostasien und in den Ländern der früheren Sowjetunion, besonders im Verhältnis zu Russland, aber auch in Europa. Ein Stichwort: Piräus. Die Übernahme des griechischen Hafens durch die staatliche Reederei COSCO (China Ocean Shipping Company) hat bislang vor allem in der Diskussion über den Ausverkauf von Griechenlands Tafelsilber durch erzwungene Privatisierung Aufmerksamkeit erhalten. Doch der chinesische Schachzug ist ein zentraler Baustein im Rahmen einer umfassenden Strategie: der maritimen Seidenstraße. Wie auf einer Perlenkette bauen chinesische Unternehmen zahllose Häfen rund um den Indischen Ozean, in Ostafrika und dem Roten Meer sowie in Mittelmeerländern aus. Oft handelt es sich dabei um wirtschaftliche Brückenköpfe wie Gwadar in Pakistan, Ausgangspunkt für den Wirtschaftskorridor nach Westchina; den Tiefseehafen Kyaukpyu in Myanmar, von dem seit 2013 Erdgas und seit 2015 Erdöl in die südwestchinesische Provinz Yunnan gepumpt wird; Mombasa in Kenia … oder eben Piräus: Neben der Modernisierung der Hafenanlagen und angegliederten Wirtschaftszonen werden Bahnlinien, Straßen und Pipelines ins Hinterland geplant oder der Bau ebensolcher vorangetrieben. So beteiligen sich chinesische Unternehmen auf dem Balkan am Bau von Brücken, tt
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utobahnen und Kraftwerken. Schnellzüge sollen bald Piräus mit A Nicht nur infrastrukturelle Herausforderungen und damit Kosten Belgrad und Budapest verbinden. sind auf dem Landweg höher als bei der maritimen Seidenstraße: Parallel zu neuen Brückenköpfen auf dem Seeweg wird auch Nationale Souveränitäten, eigene regionale Ambitionen und lokader Ausbau von Infrastruktur und Wirtschaftskorridoren auf dem le Machtinteressen sind Stolpersteine, die große Fragezeichen für Landweg vorangetrieben. Es waren zunächst westliche Unternehdie Umsetzung der gesamten Initiative aufwerfen. China entfaltet denn auch erhebliches diplomatisches Engagement und bietet men, die den Weg erschlossen haben. So schickte der US-amerikanische PC- und Druckerhersteller Hewlett-Packard (heute HP Inc.) finanzielle Unterstützung und Entwicklungsprojekte an, um Regiebereits 2010 den ersten regulären Zug auf die Strecke zwischen rungen für die Initiative zu gewinnen und Bedenken, etwa über Europa und China. Der Konzern suchte nach direkten Wegen von zu starken Einfluss, zu zerstreuen. den chinesischen Produktionsstätten zu den Absatzmärkten im Westen, die versprachen, schneller als der Seeweg und kostengünstiger als der Lufttransport zu sein. Mit der Bildung der Zollunion zwischen Kasachstan, Russland und Weißrussland im Juli 2011 verringerten sich Bürokratie und Kontrollen und damit der Zeitaufwand erheblich. Seither fahren regelmäßig Züge zwischen Chongqing und Duisburg, zahlreiche weitere chinesische Städte haben Verbindungen mit Partnerstädten wie Warschau, Lyon, Hamburg, Madrid und London aufgebaut. Mit zehn bis 15 Tagen um zwei Drittel Erstes großes Seidenstraßen-Familienfoto Mitte Mai in Peking Foto: Kreml, CC BY 4.0 schneller als der Seeweg, sind die Kosten nur noch 20 bis 25 Prozent höher. Mit der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB), die Anfang Diese Pionierleistung wurde jetzt von China aufgegriffen und zu einem Gesamtkonzept ausgeweitet. Die »Eurasische Landbrücke« 2016 ihre Geschäfte aufnahm, hat sich China ein Instrument dafür durch die Mongolei und Russland und geplante Wirtschaftskorrigeschaffen. Peking hat sich dort eine Sperrminorität gesichert, dore durch Pakistan und durch Myanmar und Bangladesch an den kann also jegliche missliebige Entscheidung blockieren. Die Bank Indischen Ozean bieten Alternativen zum Seeweg, welcher mit der stellt dreistellige Milliardenbeträge in Aussicht. Dazu kommen Straße von Malakka zwischen Sumatra und Malaysia und dem weitere Geldtöpfe, Entwicklungsgelder sowie Kredite der staatlichen Suezkanal Engpässe aufweist, die im Konfliktfall Chinas Versorgung chinesischen Banken und Fonds. beeinträchtigen könnten. Doch während die maritimen SeidenVerglichen mit herkömmlichen GeldgeberInnen öffentlicher straßen bereits recht befahren und ausgebaut sind, bestehen auf Infrastruktur und Entwicklung wie der Weltbank oder ihr regionadem Landweg deutliche infrastrukturelle Lücken und noch mehr ler Ableger, die Asian Development Bank (ADB), sind das enorme Summen. Kein Wunder, dass nicht nur die meisten asiatischen und politische Hindernisse. Erhebliche Anstrengungen und diplomatipazifischen Länder Mitglieder der AIIB geworden sind, sondern sches Geschick sind erforderlich, um die Verbindungen auszubauauch viele westeuropäische – sehr zum Unwillen der USA. Allen en und untereinander zu vernetzen. voran stieg Deutschland als größter Anteilseigner außerhalb der Region ein.
Besser, als eine Bank zu überfallen
Die wirtschaftlichen Triebkräfte für die Initiative sind unübersehbar: Der Weltmarkt wird krisenanfälliger, Chinas Wachstumsraten flauen ab, die Arbeitskosten in den Boom-Regionen um Shanghai, Shenzhen und Peking steigen. Damit wandern Investitionen in bislang unterentwickelte Regionen landeinwärts, zunächst nach Zentralchina und dann auch in Provinzen wie Yunnan und Xinjiang weiter westlich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese vom Staat geförderte »Go West«-Strategie über die Grenzen hinaus in die zentralasiatischen Nachbarländer und weiter durch das östliche Europa zu den Märkten in Westeuropa fortgeschrieben wird. Es geht dabei nicht nur um Infrastruktur und Handel, sondern um die Schließung von Verwertungsketten (siehe iz3w 349, Themenschwerpunkt Logistik). Die neuen Seidenstraßen sollen rohstoffreiche Regionen wie im Mittleren Osten und Afrika mit alten und neuen Produktionsstandorten und Märkten in der gesamten Region verknüpfen. Beispielsweise würden bessere Transportwege die Ländereien, die es in Osteuropa und Zentralasien gibt, für weitere Agrarinvestoren aus China ebenso wie aus Europa interessant machen. tt
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Großes Interesse ... Das erste große Seidenstraßen-Familienfoto Mitte Mai 2017 in Peking zeigt, wie erfolgreich die Werbung war: Delegationen aus mehr als 100 Ländern waren zum »Belt and Road Forum on International Cooperation« aufgelaufen. Unter den Staats- und Regierungschefs befanden sich Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan, der philippinische Präsident Rodrigo Duterte, Kasachstans Präsident Nursultan Nazabaryev oder Kambodschas Premierminister Hun Sen. Auffällig war unter anderem, wie Putin, stets an der Seite von Chinas Staatschef Xi Jinping, hofiert wurde. Die alten Rivalen aus Zeiten des Kalten Krieges könnten durch die Initiative noch enger kooperieren. Zwar hat Russland mit seiner Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) eigene Vorstellungen von regionaler Größe – doch es fehlen ihm die Mittel. Die kann China liefern. Es braucht allerdings Stabilität und Zusammenarbeit im transeurasischen Raum mit dessen eigensinnigen Despoten. Stabilität in der Region verspricht sich China von Russland – was Alexander Gabuev vom tt
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Filmstill aus: »Von heute auf morgen«, Schweiz 2013, Regie: Frank Matter Foto: cineworx
Gepriesen und vernachlässigt Die Situation älterer Menschen im internationalen Vergleich Auch der Globale Süden altert. Aber Alter(n) ist relativ. Alter wird unterschiedlich empfunden, die Altersbilder ändern sich und die Versorgungslagen sind sehr unterschiedlich. Eine alterspolitische Rundschau von Südasien über die Türkei bis in deutsche Pflegeheime.
von Winfried Rust Die GerontologInnen Gertrud M. Backes und Wolfgang Clemens zitieren für die »Lebensphase Alter« den italienischen Skirennläufer Alberto Tomba (31 Jahre): »Zu schnell geht die Jugend dahin, dann kommt das Alter. Ich bin jetzt 31, ich bin müde.« Was Alter ist, ist ziemlich relativ. Man kann Alter als die Lebensphase zwischen dem mittleren Erwachsenenalter und dem Tod fassen und biologische Faktoren ins Spiel bringen, wie den körperlichen Abbau von Zellen. Dieser setzt aber im Wechsel von Auf- und Abbau bereits mit der Geburt ein – genau wie das Altern. In den Industriestaaten ist das Rentenalter um 65 die »klassische« Altersgrenze. Dabei ist dieses Rentenkonzept sehr jung, denn es breitete sich erst seit dem späten 19. Jahrhundert beispielsweise mit der Bismarck’schen Invaliditäts- und Altersversicherung von 1889 aus. Existenzsichernd prägte es sich erst seit den 1950er Jahren in den reicheren Ländern aus. In vielen Ländern des Globalen Südens macht das Rentenalter als Altersgrenze wenig Sinn, weil eine Rente nur für eine Minderheit von Staatsbediensteten und sozialversicherten ArbeitnehmerInnen existiert. tt
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Alter ist auch deshalb relativ, weil es eine globale Alterskluft gibt. In Deutschland liegt die durchschnittliche Lebenserwartung Neugeborener heute bei 80 Jahren. Ein internationaler Vergleich wider legt jede Rede über »Eine Welt«. Denn in Ländern wie Burundi, Angola, Zimbabwe oder Tschad hingegen liegt die Lebenserwartung um 50 Jahre. Göran Therborn spricht hier von den »Killing Fields der Ungleichheit«. In einem gleichnamigen Aufsatz nennt Therborn ein Beispiel mit einem Hinweis auf Problemursachen: Im benachteiligten schottischen Stadtteil Glasgow Calton (UK) ist die Lebenserwartung um 28 Jahre niedriger als im privilegierten Glasgow Lenzie. Wer sind nun die Alten? Angesicht der 800 Millionen über Sechzigjährigen quer durch alle Klassen und Länder ist eine Verallgemeinerung fragwürdig. Dann kommt noch die »Pluralisierung des Alters« hinzu. Im Kinofilm »Wir sind die Neuen« führt sich eine Alten-Wohngemeinschaft betont jünger auf als die benachbarten StudentInnen. Ist die Kategorie Alter(n) obsolet? Nicht ganz. Wenn man Menschen nach Altersabschnitten in Kohorten unterteilt, so haben diese jeweils einen eigenen historischen Hintergrund, also kollektiv erfahrene Lebensphasen wie etwa die Jugendzeit. Das verbindet. In verschiedenen Lebensabschnitten übernimmt man unterschiedliche Rollen. Die Dritte Lebensphase ist vermehrt von Krankheit oder Verlusterfahrungen geprägt, weil Gleichaltrige sterben. In der Vierten Lebensphase, der Hochaltrigkeit, nimmt das Thema Gesundheit, Alltagskompetenz, Isolation, Pflegebedarf und Sterben in der Regel mehr Raum ein. Alter bewegt sich in einer Spanne zwischen später Freiheit und Gebrechlichkeit.
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Alter(n)
Die Alten eignen sich mit zunehmender Zahl und Vitalität neue bei Menschen in Katastrophengebieten und auf der Flucht, bei der Lebensmöglichkeiten an. So fokussiert die Schwerpunktausgabe Benachteiligung von Frauen oder in der Subsistenzlandwirtschaft. über Alter der Lateinamerika-Zeitschrift ila (403) stark auf AltenSo ist unter den Klein- und Subsistenzbauern und -bäuerinnen der Altersdurchschnitt relativ hoch. Dieser Bereich ist in der Regel nicht proteste und auf erreichte Ausweitungen des Angebots für ältere Menschen. Am Rande der UN-Konferenzen über das Alter sind durch Renten abgesichert und die auf Selbstversorgung ausgerichlateinamerikanische ältere Aktive aus der Zivilgesellschaft höchst tete Wirtschaftsweise wirft kein Geld für Gesundheitsleistungen präsent. Die Zuschreibung als »altes Eisen« funktioniert nicht mehr, oder Pflegebedarf ab. Im Globalen Süden ist der Anteil der armen weil die Betroffenen es sich nicht länger gefallen lassen. Alten in der ländlichen Bevölkerung überdurchschnittlich hoch. In Literatur und Spielfilm werden oftmals alte Menschen in den Als weitere Unterscheidung könnte man fassen: Frauen leben Blick genommen. Selten definieren sie sich selbst als alt und sie länger, aber sie haben weniger davon. Die Benachteiligung von sind so verschieden wie das Leben selbst. Das hat die iz3w- Frauen nimmt im Alter existenzielle Formen an: Sie werden älter, Redaktion dazu bewogen, den Themenschwerpunkt mit Filmstills aber sie sind öfter krank. Beispielsweise zwei Drittel aller Erblindeten zu bebildern. Die Inspiration dafür kam von der Webseite www. sind Frauen, meist über fünfzig. Ihr Zugang zu medizinischer Versorgung ist schlechter als der von Männern. Frauen haben die der-andere-film.ch. Sie zeigt – neben anderen Filmthemen – eine diverse, faszinierende Bilderwelt zum Thema Film & Alter. Wer schlechteren oder keine Jobs und ihr Zugang zum Erbe ist oft beim Thema Alter(n) auf Pflegebedürftigkeit und Verfall fokussiert, nachrangig. Medizinisch könnte vielen dieser 2,5 Millionen Frauen zeichnet, bei aller Notwendigkeit, ein falsches Bild. mit einer Vorsorge oder Behandlung geholfen werden. Das gefühlte Alter ist relativ. Die über 65-Jährigen in W esteuropa Das Thema Altern beschäftigt auch die Vereinten Nationen. fühlen sich mehrheitlich nicht alt. Soweit finanziell möglich, reisen 1982 und 2002 fanden zwei Weltversammlungen zu Fragen des sie, gehen ins Kino und pflegen Kontakte. Alt sind immer die anAlterns der UN statt. Daraus resultierte ein Weltaltenplan. Er soll deren. Noch im Altenheim lästern Achtzigjährige über die »alten für das weltweite Altern sensibilisieren und die Lebenssituationen Gestalten« um sich herum. Die Kontextabhängigkeit von Alter kann verbessern. Gleichzeitig bestehen kontraproduktive Paradigmen ebenso zeitlich-historisch verortet werden, denn im UN-Altersdiskurs fort. Mit Blick auf die bis etwa 1870 war man in Deutschland mit knapp altersbezogenen Agenden von OECD, vierzig richtig alt und am Ende der durchschnittWelthandelsorganisation, Weltbank, IWF Alt sind immer die anderen lichen Lebenserwartung. Hintergründe des steilen und EU kritisiert der Gerontologe Anton Anstiegs der Lebenserwartung sind mit der IndusAmann: Die Alterung gilt als gefährliche trialisierung steigender Wohlstand, bessere Ernährung, sauberes Bürde für den Sozialstaat; sie gefährde die Produktivität des WirtTrinkwasser, öffentliche Hygiene wie Kanalisation und verbesserte schaftsstandortes; Eigenvorsorge und individuelle Verantwortung seien zu forcieren; Pensionssysteme seien in profitable Pensionsfonds medizinische Versorgung. Diese Verbesserungen greifen nunmehr umzubauen. Unter dem ausgegebenen Label der Aktivierung auch global. Die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit ist auf 69 Jahre gestiegen. Die Mehrheit aller etwa 800 Millionen über wirken hier Konstruktionen fort, die Alter(n) als Problem definieren. Sechzigjährigen lebt in den »Entwicklungs«- und Schwellenländern. Hier ist der Anschluss an gängige Altersdiskriminierungen mögDas ist die gute Nachricht: Die Menschen werden älter und sie sind lich. Alte wurden seit jeher als nutzlos stigmatisiert und diskriminiert. dabei längere Zeit gesund. Heute wird den Alten die Verantwortung für ihre Bedarfe zugeschrieben, weil sie mangels gesunder Lebensführung und finanzieller Vorsorge allein verantwortlich für ihre Probleme seien. Im Arme Alte, reiche Alte neueren Ageismus werden Alterserscheinungen als Resultat nachtt Dennoch gibt es Unterschiede. Im Norden vollzog sich die ralässiger Lebensführung stigmatisiert. Das Leitbild ist und bleibt der junge, leistungsstarke Mensch. pide Alterung im 20. Jahrhundert in relativ reichen Ländern mit einer sozialen Absicherung. Der Globale Süden altert arm. WirtDas bestehende »System« der Alterssicherung ist im Globalen schaftlich boomt dort der informelle Sektor, der keine AlterssicheSüden vorwiegend auf die Familie als Altersstütze aufgebaut. Aber rung bringt. Das hat negative Konsequenzen auf die Ausgestaltung der moderne soziostrukturelle Wandel greift auch hier. Die gemeindes Alter(n)s, weil eine verbindliche Absicherung fehlt. schaftliche oder familiale Absicherung ist brüchig. Eine Ausweitung Etwa 100 Millionen der über Sechzigjährigen im Globalen Süden von Sozialversicherungs- und Pflegesystemen kommt sehr langsam leben von weniger als 1,25 US-Dollar am Tag. Die alternde Gesellin die Gänge. Die Altenpflege erfährt auch zweierlei problematische Internationalisierungen. Zum einen weitet sie sich in die Länder schaft ist hier mit keiner flächendeckenden sozialpolitischen, gesundheitlichen und pflegerischen Infrastruktur ausgestattet. Entdes Südens aus, zum anderen internationalisiert sich die Arbeitswelt sprechend legen Organisationen und Initiativen, die sich mit der Pflege. »Menschenrechten und Alter« beschäftigen, den Akzent beim Thema Armut. Die NGO HelpAge setzt sich für »ein Existenz Internationale Politiken des Alter(n)s sicherndes Einkommen für alte Menschen und für den Aufbau einer sozialen Rentenversicherung und einer sozialen Grundsicherung« tt Gerade die sehr konservativen Regierungen in Ländern wie ein. Außerdem gilt es, die Situation alter Menschen in den armutsderzeit Indien, Thailand, Pakistan und in der Türkei lobpreisen die relevanten Bereichen zu thematisieren: in der Armutsbevölkerung, Alten und deren sorgende Familien. Tatsächlich greift der moderne iz3w • September / Oktober 2017 q 362
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Strukturwandel auch hier. Überall gibt es Dörfer, die vorwiegend von alleingelassenen Alten und einigen Enkelkindern bewohnt sind. Die ausgewanderten Jungen schicken vielleicht Geld, aber die praktische oder emotionale Fürsorge fehlt. In Indien arbeiten über 90 Prozent der Erwerbstätigen im informellen Sektor. Damit erklärt sich von selbst, dass die Alterssicherung auf tönernen Füßen steht. Frauen sind in diesem Sektor überrepräsentiert und beim institutionellen Schutz entsprechend unterrepräsentiert. Ohne Familie oder Ersparnisse sind die meisten im Pflegefall hilflos. Zwar gibt es staatliche Hilfsprogramme, die unter anderem sehr bescheidene Renten für SeniorInnen bezahlen. Die Mindestrente der indischen Bundesregierung beträgt jedoch nur etwa drei Euro im Monat. Dazu kommen eventuell Zuschüsse, auch der einzelnen Bundesstaaten und Kommunen. Alte ohne Renten können bei Getreideverteilungen berücksichtigt werden. Der behördliche Papierkrieg hält jedoch nicht wenige ältere InderInnen davon ab, selbst die Mindestansprüche geltend zu machen. Die Festung Familie ist (bei gleichzeitigem sozialpolitischem Stillstand) zwar ein Lieblingsthema des hindunationalistischen Premierministers Narendra Modi. Aber die jungen Erwachsenen ziehen Der Globale den Jobs hinterher, zum Beispiel in der Pharmazie, IT, Textilindustrie oder im Dienstleistungsbereich. Beim Mythos, im Globalen Süden kümmere sich die Familie um die Alten, ist Vorsicht geboten: Auf Normen oder einen »Generationenvertrag« kann sich niemand verbindlich berufen, im Gegensatz zu einer sozialstaatlich garantierten Existenzsicherung. Tatsache ist, dass viele Menschen, die im »falschen« Land leben, beim Verlust der Erwerbsfähigkeit bald sterben. Auch in Thailand hat sich die gesellschaftliche Struktur verändert. Die Geburtenrate ist stark zurückgegangen. Junge Frauen studieren häufiger als früher und die jungen Menschen orientieren sich auf das berufliche Fortkommen, während die Putschregierung alte Werte beschwört. Die Verstädterung lässt Alte auf dem Land zurück, während das städtische Wohnen eher in der Kleinfamilie stattfindet. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in Thailand auf etwa 75 Jahre angestiegen. Es gibt für südasiatische Verhältnisse ein gut ausgebautes System zur Gesundheits- und Altersversorgung. Ein System zur Krankenversicherung macht den Arztbesuch mit etwa 70 Cent erschwinglich. Staatsbedienstete erhalten Pensionen, des Weiteren gibt es acht verschiedene staatlich unterstützte Rentenund Pensionsprogramme. Aber die drei Viertel der thailändischen Bevölkerung, die im informellen Sektor arbeiten, werden vom Sozialversicherungssystem kaum erreicht. Viele sind auf die Sozialrente von umgerechnet zwölf Euro im Monat ab dem 60. Lebensjahr angewiesen. Der geringe Betrag steigt pro Lebensjahrzehnt um zwei Euro an. Dieses kärgliche Auskommen verhindert als Zubrot laut Weltbank oftmals die extreme Altersnot. Der Bedarf nach Alternativen zum Familienmodell ist genauso groß, wie Altenheime selten und unbeliebt sind. Pflegeeinrichtungen widersprechen der gesellschaftlichen Norm, dass die Älteren von der Familie umsorgt werden sollten. In Vietnam geht die Alterung ebenfalls mit einem Geburtenrückgang bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust der Familie einher. Hier wie in vielen weiteren Ländern erodiert die »Sitte«, dass sich die Schwiegertochter als Altersstütze der Schwiegereltern definiert und auf einen eigenen Lebensweg verzichtet. So baut das wirtschaftlich aufstrebende Vietnam, das schon seit den 1990er Jahren eine breiter angelegte Sozialversicherung kennt, den Gesundheits-
und Pflegesektor aus. Aber auch hier sind nur knapp zwei Drittel der Arbeitenden so weit versichert, dass sie die ambulanten oder stationären Pflegeleistungen bei Bedarf erhalten können. Natürlich gibt es auch andere Beispiele. Ein Artikel aus der Zeitschrift südostasien von Saskia Dworschak berichtet über »Die Alterung Vietnams« am Beispiel eines Ingenieurspaars, das den Lebensabend in einem Drei-Generationen-Haushalt am HoanKiem-See bei Hanoi ohne finanzielle Sorgen genießt. Die finanzielle Unterstützung durch die Kinder, die wiederum für ihre Ausbildung von den Eltern unterstützt wurden, ist gesichert. Auf der anderen Seite gibt es Arme, die gerade auf dem Land kaum Zugang zu medizinischen Leistungen haben. Der Anteil von Frauen an den armen Alten ist überproportional hoch, weil sie auf dem Arbeitsmarkt einen schlechteren Stand haben. Altenheime sind selten, wenig beliebt und teuer. In einer Studie über neue Wohnformen von SeniorInnen in Katmandu/Nepal schreibt Roberta Mandoki, dass Altenheime auch in Nepal negativ konnotiert und wenig verbreitet sind. Doch das Aufkommen von hilfebedürftigen Alten ohne Unterstützung führt zu einem Anstieg dieser Institutionen. Süden altert arm In einem beforschten Altenheim in Katmandu sei das Gefühl der Isolation vorherrschend. Ein Interviewpartner sagt jedoch, dass der Telefonkontakt mit der Familie, Gespräche mit den PflegerInnen und die erfahrene Hilfe ihn versöhnlich stimmen. Dabei werden dieselben Probleme wie hierzulande debattiert: Einerseits Vereinzelung alter Menschen zuhause und andererseits die Isolation der HeimbewohnerInnen vom »Leben da draußen«. Heime gelten als Schreckensvision, weil die persönliche Autonomie den institutionellen Abläufen geopfert wird. Es ist die universelle Dialektik der Altenpflege. Jede/r wünscht sich eine flächendeckende Alterssicherung, was ohne Altenheime unrealistisch ist, aber niemand will dort leben. Spannend ist, dass davon ausgehend Verbesserungen und alternative Wege gesucht werden. Der Anstieg der ambulanten Altenpflege (zuhause) ist ein Beispiel dafür.
Über die Türkei zurück nach Hause Die Türkei hat im Vergleich zu vielen europäischen Ländern eine junge und wachsende Bevölkerung, gleichzeitig steigt die Altersbevölkerung rapide an. Dafür ist das Land schlecht gerüstet. Türkan Yilmaz und Deniz Pamuk haben in einer Studie die Versorgungsstrukturen für Menschen mit Demenz betrachtet. Zuerst ist dabei festzustellen, dass Demenzerkrankungen im türkischen Pflegesystem nicht gesondert klassifiziert werden. Das Pflegepersonal in der Türkei verwendet unspezifische Einordnungen für Demenzkranke. So sind auch kaum spezifische Pflegekompetenzen anzutreffen. Dabei sind Demenzerkrankungen alles andere als ein auf einige Wohlfahrtsstaaten beschränktes Phänomen. Zwei Drittel aller Demenzkranken leben im Globalen Süden. In der Türkei wird die Altenversorgung traditionell sowie vonseiten der AKPRegierung als Aufgabe der Familie gesehen, praktisch betrifft dies die Töchter. Hier allerdings ist Demenz wohlbekannt, denn Alzheimer ist die häufigste Krankheit, die dazu führt, dass Familienmitglieder voll für die Pflege zuhause zuständig sind. Die Rechte älterer Menschen in der Türkei sind im Verfassungsartikel 61 geschützt. Die AKP-Regierung verehrt das Alter. Trotzdem kommen Yilmaz/Pamuk zu niederschmetternden Ergebnissen. So tt
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Filmstill aus: »Kirschblüten und rote Bohnen«, Japan 2015, Regie: Naomi Kawase Foto: Neue Visionen
verlangen manche Institutionen von den Familien von Demenzkranken den Nachweis, dass »keine sachliche sowie pflegerische Unterstützung von der Familie« geleistet werden kann. Das heißt, dass die Demenzpflege in den Familien bleiben soll. Demenzpflege überfordert jedoch Familien. Ohnehin fehlen in zahlreichen Provinzen Pflegeheime. Zwar sind Einzelprojekte um Fortschritte bemüht. Aber die öffentliche Sensibilisierung für das Thema ist gering. Das Ministerium für Familien- und Sozialpolitik definiert Demenzerkrankung (Yilmaz/Pamuk, Stand 2015) als »Verblödung« oder »psychische Störung«. Da wundert es nicht, dass es an wissenschaftlichen Untersuchungen, Qualifizierungen oder Fachkräften fehlt. So sei der Blick noch einmal nach Deutschland gelenkt, wo eine relativ gut ausgebaute Alterssicherung und Pflegeinstitutionen bestehen. Die Internationalisierung der Pflege produziert hier bizarre Bilder. Betritt man ein Altenheim, ist die historische Ausgrenzungspolitik zum Greifen nahe: Man sieht sich oft einer rein deutschen BewohnerInnenschaft gegenüber. Kommt man jedoch in ein Stationsbüro, trifft man auf eine bunte, international gemischte Belegschaft. Diese wirft sich in den Kampf, um personell unterbesetzt den HeimbewohnerInnen ihren guten Lebensabend zu ermöglichen. Sie arbeiten hart und scheitern täglich. Inzwischen setzt aber auch in der Sozialstruktur der Bewoh nerInnen ein Wandel ein. Die »Gastarbeitergeneration«, die geblieben ist, erreicht die Altenheime. Auch die zweite Ankunft unter Deutschen ist nicht leicht. So ziehen etwa die türkischen Migran-
tInnen, die in Deutschland gealtert sind, immer öfter in ein deutsches Altenheim. Wie kann hier eine sinnvolle Lebensgestaltung ermöglicht werden? Dies hängt zum einen von der Finanzierung der Heime ab, sprich, ob eine individuelle Zuwendung möglich ist. Weiter kann hier der neue Ansatz einer »kultursensiblen« Altenpflege genannt werden. Immerhin ist die internationale Mischung bei den Pflegekräften eine großartige Ressource. Kultursensibilität kann allerdings nur ein Aspekt gelingender Altenpflege sein. Der gewichtigere Ansatz bleibt die Biografiearbeit, die alle individuellen Vorerfahrungen in die alltägliche Pflege einbringt. So stellen sich mannigfaltige Erfordernisse an einen bereits jetzt überforderten Pflegebereich. Noch schwierigere Aufgaben stellen sich für eine Alterssicherung im Globalen Süden, welche die »Killing Fields der Ungleichheit« beseitigt. Die Situation ist weit von dem entfernt, was Simone de Beauvoir in ihrem Buch »Das Alter« anvisierte. Bei der Frage, wie die Gesellschaft beschaffen sein müsse, die das Alter achtet, findet die Philosophin die Antwort »einfach«: Der Mensch »muß immer schon als Mensch behandelt worden sein. Das Schicksal, das sie ihren nicht mehr arbeitsfähigen Menschen bereitet, enthüllt den wahren Charakter dieser Gesellschaft; sie hat sie immer als Material betrachtet.«
Winfried Rust ist Mitarbeiter in einer Demenzwohngruppe und im iz3w . Die verwendete Literatur findet sich auf der iz3w-Webseite. tt
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Deutscher Zionismus im Nahen Osten »Jetzt aber hat der Jude mit dem katastrophalen Vorgang, den er in den Völkern miterlebte, bestürzend und erleuchtend das große Leben der Gemeinschaft entdeckt«, urteilte Martin Buber 1916 angesichts des Ersten Weltkrieges. Der Kern seines Gedanken war, dass die durch Assimilation vom eigentlichen Judentum entfremdete jüdische Minderheit Europas durch die nationale Erweckung eben jenes Gemeinschaftsgefühl erleben konnte, das es zu einem selbstbewussten und gleichwertigen Volk erwachsen ließe. Buber, wie auch eine Vielzahl deutschsprachiger AktivistInnen, erachtete die zionistische Bewegung nicht nur als pragmatische politische Lösung angesichts der Unterdrückung der jüdischen Massen in Osteuropa. Der Zionismus sollte auch eine Renaissance des Judentums einleiten. Akteure wie Martin Buber, Robert Weltsch, Franz Oppenheimer oder Richard Lichtheim betraten jedoch einen vorherbestimmten gesellschaftlichen Diskursraum. Die Studie Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland, 1890-1933 des Historikers Stefan Vogt ergründet dieses ideologische, politische und praktische Spannungsfeld zwischen völkischem Nationalismus und deutscher Kolonialpolitik. Dabei analysiert Vogt geradezu radikal den deutschsprachigen Zionismus mithilfe von postkolonialer Theorie und legt dar, wie der Zionismus sich aus einer »subalternen Position« heraus im Feld des Nationalismus in Deutschland verortete. Dieser spezifische Kulturzionismus bewegte sich zwischen völkischer Partikularität und humanistischer Universalität. Beides zielte auf eine Gleichberechtigung mit der nichtjüdischen Mehrheit hin und verneinte die aggressiven Herrschaftsimpulse des europäischen Nationalismus, so Vogts Ausgangsthese. Dies unterminierte das Streben nach Dominanz und Unterdrückung. Vogt charakterisiert die Juden Europas als eine »kolonisierte Minderheit«, die zwischen Assimilation und der schärfer werdenden Forderung nach Absonderung herausgefordert war, ihre Gleichberechtigung und Anerkennung zu erstreiten. Auf die Anerkennung als gleichwertiges Volk zu insistieren, habe stets grundsätzliche Annahmen des völkischen und nationalen Denkens reproduziert. Dabei hätten die zionistischen AkteurInnen jedoch auf die Widerlegung des antisemitischen Vorurteils gezielt. Robert Weltsch sprach sogar von einem »antinationalen Nationalismus«, der den Zionismus beseele. Diesem Kampf um Anerkennung, politischer Teilhabe und demokratische Rechte geht Vogt in verschiedenen Konstellationen nach. Die Debatte um die orientalische Herkunft der Juden war ihnen eine Möglichkeit, ihren »Kulturwert« zu belegen – und zugleich ein nicht-rassistisches Bild des Orients zu entwerfen. Die preußische »innere Kolonisation« im Osten des Reiches hingegen war ihnen ein Beispiel für die potenzielle Siedlungspolitik in Palästina. Im Ersten Weltkrieg feierten die deutschen ZionistInnen ebent
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so wie ihre deutschen und jüdischen MitbürgerInnen den nationalen Taumel, auch weil sie sich dadurch im Strom der Geschichte schwimmend begriffen: Alle Völker Europas seien nationalistisch. Das Scheitern der liberalen Emanzipationsversprechen schien den ZionistInnen umfänglich Recht zu geben, dass allein die nationale Befreiung der Juden die erhoffte Gleichberechtigung bewirken könne. Mit dem Weltkrieg führte das Erstarken des aggressiven antisemitischen Nationalismus zur Ernüchterung unter den deutschen ZionistInnen. Ihr Nationalismus solle, so ihr Selbstverständnis, frei sein von Herrschaftsgelüsten. Entschieden kritisierten sie antidemokratische und pro-faschistische Tendenzen in der jüdischen Jugendbewegung und traten jedwedem Vorstoß, Juden – individuell oder kollektiv – Rechte zu entziehen, entgegen. Letzteres sollte während des Nationalsozialismus zu einem Bündnis mit den Abwehrverbänden des nicht-zionistischen deutschen Judentums führen, welches sich jedoch als halbherzig und angesichts der Übermacht der Nationalsozialisten als erfolglos erwies. Der Nationalsozialismus unterband endgültig die Möglichkeit einer gleichwertigen Anerkennung jüdischer Deutscher. Statt Assimilation bliebe als einziger Ausweg nur noch das nationale Judentum, so der Tenor. Durchweg abgelehnt wurde ein marxistischer Universalismus, auch weil die kulturzionistische Strömung auf Sozialreform statt auf soziale Revolution setzte. Zudem reflektierte diese Haltung den eigenen Klassenhintergrund. Denn auch der zionistische Sozialismus blieb in Deutschland ohne proletarische Basis. In Palästina und dem jungen Staat Israel drückte sich der deutschsprachige Kulturzionismus durch eine liberale Gesellschaftsvorstellung und der Idee jüdischarabischer Verständigung aus. Brit Schalom, der ideengeschichtlich einflussreiche Friedensbund, war ein Resultat dieses Kulturzionismus. Stefan Vogt kommt zu dem Ergebnis, dass der »antinationale Nationalismus« des am liberalen deutschen Judentum gebildeten Kulturzionismus, der an einem spezifischen deutschen Diskursraum gebildet worden war, sich letztlich als »Illusion« herausstellte und an der machtpolitischen Realität in Palästina scheiterte. Dennoch kann dieser Kulturzionismus als bedeutsame Artikulation der jüdischen Minderheit angesehen werden, die um ihre rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Anerkennung kämpfte. Die Studie belegt diesen auf seine Art antikolonialen Kampf in der Epoche des imperialistischen Rassismus eindrücklich. Hanno Plass Stefan Vogt: Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland, 1890-1933. Wallstein Verlag, 496 Seiten, 12 Abb., 49,90 Euro. t
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Rezensionen ... Der Sound der Welt Weltmusik ist mehr eine hegemonial konstruierte Sammelkategorie an exotisierten Klängen als ein Musikgenre. Sie ist das Thema der Enzyklopädie Global Pop. Das Buch zur Weltmusik wurde herausgegeben von den Politikwissenschaftlern Claus Leggewie und Erik Meyer. In einer Zeit, in der die Vinyl-Schallplatte ihr Revival feiert und HipsterInnen die Plattenläden von New York, London, Paris und Tel Aviv nach Klängen aus Caracas, Istanbul, Kingston oder Kinshasa durchforsten, erscheint der Band zur rechten Zeit. Vierzig AutorInnen beleuchten in 44 kurzen, schnell zu lesenden Kapiteln unterschiedliche Seiten des Sounds der Welt aus musikwissenschaftlicher, musikethnologischer, musikpsychologischer und musikjournalistischer Perspektive. Der Begriff Weltmusik, der bereits auf das Jahr 1906 zurückgeht, erlebte als Kategorie seinen Höhepunkt in den 1980er Jahren. Bis heute finden wir ihn in Plattenläden, Kulturkaufhäusern und Albumkritiken, obwohl er von KritikerInnen als ein »koloniales Relikt« und ein »eurozentrischer Dinosaurier« gescholten wird. Die taz und der WDR-Sender Cosmo ziehen deshalb heute den Begriff Global Pop vor. Steckt im Begriff Weltmusik stets die Dichotomie zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ,Fremden‘ sowie die Tendenz, jegliche nicht-westliche, nicht-europäische Klänge, Genres und MusikerInnen in einen Topf zu werfen, nimmt Global Pop Transkulturalitäts- und Hybridisierungsprozesse in den Fokus. Sie vollziehen sich jenseits der »Gegenüberstellung des Westens und dem Rest der Welt«, zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Trotzdem finden sich die Zentren der Musikindustrie bis heute im Globalen Norden. Deutschland ist dabei hinter den USA und Japan der drittgrößte Player. »Noch immer funktioniert der Austausch zwischen den Metropolen des Südens und der Kulturindustrie des Nordens und nicht zwischen den Metropolen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas«, heißt es in dem Buch. Die Hauptstadt der Weltt
musik (Musiques du Monde) lokalisiert der Sammelband in Paris. Der französischen Metropole verdankt auch der Künstler Manu Chao, ein »Weltbürger mit Attitude« und »Sprachrohr für Minderheiten«, seinen Erfolg. Er thematisierte bereits Ende der 1990er Jahre das Schicksal von illegalisierten Menschen in seinem ersten Soloalbum »Clandestino«. Manu Chaos Ex-Band Mano Negra, Pionierin im hybriden Genre Mestizo, zu dem auch Ojos de Brujo und Che Sudaka aus Barcelona und Zebda aus Toulouse gehören, findet sich in ebenfalls in »Global Pop« wieder. Thematisiert werden außerdem Pop aus Japan, Heavy Metal aus Madagaskar, westafrikanischer Highlife, Klezmer, Reggae, Dub und der urbane afrobrasilianische Funk Carioca. Dieses tanzbare Soundgemisch aus portugiesischem Sprechgesang und Miami Bass aus Rio de Janeiro wurde dem Publikum außerhalb Brasiliens durch den Soundtrack zum Spielfilm »Tropa de Elite« (2012) bekannt. Das Buch spricht auch über die politische Dimension von Weltmusik: Miriam Makeba und Harry Belafonte kritisierten Rassismus in Südafrika und den USA. Inti-Illimani und Víctor Jara waren Symbole des Protests gegen die Diktatur Pinochets in Chile, und heute liefert M.I.A. den Sound gegen das europäische Grenzregime. Der Frage, ob der Protestcharakter von Weltmusik nicht auch ein notwendiges Verkaufs- und Konsumkriterium im Globalen Norden ist, wird leider nicht weiter nachgegangen. Das ist ebenso bedauerlich wie das stark eurozentrische Set an AutorInnen. Zukünftige Projekte sollten Beitragende aus dem Globalen Süden einbeziehen. Nur so kann das Schreiben über den Sound der Welt tatsächlich dessen Polyphonie wiedergeben. Patrick Helber Claus Leggewie/Erik Meyer (Hg.): Global Pop. Das Buch zur Weltmusik. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2017. 392 Seiten, 29,95 Euro.
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Begegnungen mit Vietnam Vietnam wird häufig mit dem Vietnamkrieg oder mit billigen Turnschuhen in Verbindung gebracht. Es ist ein großer Verdienst des jüngst erschienenen Buches Brennpunkt Vietnam von Günter Giesenfeld, dieses vereinfachende Bild zu hinterfragen. Der Band ist eine Aufsatzsammlung aus 40 Jahren Beschäftigung des Autors mit dem südostasiatischen Land. Giesenfeld nimmt die LeserInnen mit auf seine Reisen nach Vietnam, die er als Vorsitzender der Freundschaftsgesellschaft Vietnam und als Aktivist der Vietnambewegung der 1960/70er Jahre unternommen hat. Diese persönlichen Eindrücke und Bilder wechseln sich ab mit Texten zu Politik, Geschichte und Kultur des Landes. So stehen Texte zum Katholizismus in Vietnam neben Reiseberichten und Reportagen aus Umerziehungslagern der 1970er Jahre. Die Texte wurden zwischen 1978 und 2004 geschrieben. Sie handeln also alle von einem Land, dass es so nicht mehr gibt. Vietnam hat sich durch Industrialisierung und Globalisierung in den letzten Jahrzehnten fundamental gewandelt. Trotzdem, und das t
macht Giesenfeld in seinem aktuellen Vorwort klar, braucht es für das Verständnis des heutigen Vietnams einen Einblick in seine jüngste Geschichte. Ein zentrales Beispiel hierfür ist Vietnams Verhältnis zum großen Bruder China. Mit großem Detail- und Quellenreichtum wird der jahrhundertealte Konflikt mit China beschrieben, der bis in die Gegenwart fortwirkt. In diesem Konflikt positioniert sich Giesenfeld ebenso wie bei der Analyse der Schwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus sehr eindeutig als Freund des kommunistischen Vietnams. Das Buch ist geprägt von tiefer Verbundenheit und Freundschaft des Autors mit dem Land und seinen Menschen. Dies ist durchaus charmant, jedoch fallen dabei die kritischen Töne häufig sehr leise aus oder sind gar nicht zu hören. Wie man auch dazu stehen mag, in den Interviews und Reportagen aus der Zeit des sozialistischen Aufbaus werden dessen Geist und der Glaube an eine tatsächliche Veränderung der Gesellschaft spürbar. Das wirkt in Zeiten des alternativlos scheinenden Kapitalis-
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mus Äonen von Jahren entfernt, mag aber vielleicht dabei helfen, revolutionäre Spuren nicht abreißen zu lassen. Die Aufsätze, die sich vor allem mit dem Verhältnis zur USA sowie den Auswirkungen der Globalisierung auf Vietnam beschäftigen, sind in erster Linie als zeithistorische Dokumente zu sehen. Wer ein wenig mit der heutigen Situation in Vietnam vertraut ist, erkennt an den Artikeln, wie sehr sich das Land gewandelt hat. Wer dieses Hintergrundwissen nicht hat, wird allein durch die Texte nur bedingt schlauer werden. Hier wären weitere Texte wünschenswert gewesen, die sich mit der gegenwärtigen Politik in Vietnam beschäftigen und heutige Probleme und Entwicklungen schildern: Wer etwas zum Inselstreit zwischen China und Vietnam im südchinesischen Meer erfahren will, wird das im Buch nicht finden – schade für eine Publikation aus dem Jahr 2017. Giesenfeld, der auch als Filmemacher in Vietnam aktiv war, legt in den abschließenden Kapiteln den Fokus auf Film und Literatur. Gerade die Texte zum Film zeigen Giesenfeld als Fachmann, wenn
er klug (Hollywood-)Spielfilme über den Vietnamkrieg vorstellt und einordnet. Besonders wertvoll sind seine Einblicke in die revolutionäre vietnamesische Kinotradition und ihre Agitationszwecke. Die Themenvielfalt des Buches ist überwältigend: Die Übergriffe des Pol-Pot-Regimes, die Aggressionen Chinas an der Grenze im Norden, der Wirtschaftsboykott der USA und dessen Folgen für das Land, die politische Isolation, die Propagandakampagne gegen Vietnam wegen der Umerziehungslager, dann noch die Boat People. Giesenfeld schafft es, all dies in seinem Buch unterzubringen und dennoch Erklärungen zu liefern. Methodisch ist er hier ein Vorbild, er zwingt uns dazu, genau hinzusehen, Zusammenhänge zu entdecken und voreilige Schlüsse zu vermeiden. Dies ist vielleicht die größte Stärke des Buches. Christopher Wimmer Günter Giesenfeld. Brennpunkt Vietnam. Reportagen, Begegnungen, Reflexionen. Argument, Hamburg. 333 Seiten, 19 Euro. t
Koloniales Proletariat? Seinen ersten Genozid verübte das Deutsche Reich zwischen 1904 und 1908 an den Herero und Nama in »Deutsch-Südwestafrika«. Beide Gruppen setzten sich militärisch gegen die Ausbeutung und Diskriminierung durch deutsche KolonialistInnen zur Wehr. Die Reichsregierung reagierte mit einem Expeditionskorps, geführt von General Lothar von Trotha, der die Vernichtung der Aufständischen befahl. Die Herero wurden mit ihren Frauen und Kindern in die Omaheke-Wüste getrieben und dem Tod durch Verdursten und Verhungern überlassen. Gefangene Herero und Nama internierten die Deutschen in Konzentrationslager, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten und an Erschöpfung, Krankheiten und Unterernährung starben. Christiane Bürger untersucht, wie die Geschichtswissenschaft im geteilten Deutschland von 1945 bis in die 1980er Jahre mit diesem Genozid umging. Eine hervorragende Analyse, die speziell wegen des bis in die Gegenwart widersprüchlichen Umgangs der Bundesrepublik mit den geerbten Kolonialverbrechen von großer Aktualität ist. Bürger betont, dass in der DDR die Geschichtsschreibung stets den Zweck hatte, das anti-imperialistische Selbstverständnis zu bekräftigen. Gleichzeitig sollte die Kolonialismuskritik das DDR-Regime afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen und postkolonialen Staaten als PartnerInnen empfehlen. Laut der marxistischen Sichtweise vieler HistorikerInnen waren die Herero und Nama ProletarierInnen. Ihr Befreiungskrieg wurde als Klassenkampf betrachtet, auf den das Kaiserreich mit einem Genozid reagierte. Die Forschung in der DDR scheute sich dabei nicht, Verbindungen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus aufzuzeigen. Bürger verdeutlicht aber, dass trotz antikolonialer und antirassistischer Forderungen auch die DDR-Forschung in einer eurozentrischen Perspektive feststeckte und koloniale Diskurse unterschwellig fortschrieb. t
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Die kolonialkritische Geschichtsschreibung war wegen der Unterstützung des südafrikanischen Apartheitsregimes in der BRD lange unpopulär. Auslöser einer größeren Debatte war der Fernsehfilm »Heia Safari – die Legende von der deutschen Kolonialidylle«, den die ARD 1966 zeigte. Er konfrontierte ein Massenpublikum mit den Kolonialverbrechen und förderte die wissenschaftliche Debatte. Studentische Proteste, wie beispielsweise der Sturz des WissmannDenkmals 1968 in Hamburg, sensibilisierte die westdeutsche Öffentlichkeit zunehmend für das Thema Kolonialismus. Im Jahr 1984 erfuhren allerdings erneut kolonialrevisionistische und apologetische Publikationen, die die These des Völkermords bestritten, verstärkte Wahrnehmung. Bürger geht leider nicht darauf ein, weshalb relativierende Positionen gerade in den 1980er Jahren aufkamen und ob sie möglicherweise in Verbindung mit dem Historikerstreit 1986/1987 über die Singularität des Holocausts stehen. Bereits der Titel Deutsche Kolonialgeschichte(n) demonstriert, dass historische Forschung nie linear abläuft, sondern Geschichtsbilder parallel zueinander existieren. Wichtige Erkenntnisse, wie die These vom Genozid, haben ihre Ursprünge in der Forschung der DDR. Diese lag trotz ihrer ideologischen Vereinnahmung in Teilen nah an den heutigen Paradigmen, was unterstreicht, dass die Arbeit der DDR-HistorikerInnen nicht nur auf die Legitimation des Regimes reduziert werden darf. Patrick Helber Christiane Bürger: Deutsche Kolonialgeschichte(n). Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und BRD. transcriptVerlag, März 2017, 320 Seiten, 39,90 Euro.
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Rezensionen ... Ein moralisches Vorzeigeprojekt »Ich brauche mal ein bisschen Ruhe von den guten Deutschen«: Tuvia Tenenbom gesteht am Ende seiner Entdeckungsreise durch Deutschland erschöpft ein, dass er sich nach all dem, was er im Rahmen seiner neuesten Reportage Allein unter Flüchtlingen erlebt hat, nach Erholung sehnt. Die Deutschen, die der israelischamerikanische Autor bei seiner Reise getroffen hat, sind nämlich keineswegs so gut, wie sie zu sein meinen. Das gilt auch für die hilfsbereiten VerkünderInnen der deutschen Willkommenskultur, die sich selbst und dem Rest der Welt die Aufnahme von Geflüchteten als edle Geste eines wieder gut gewordenen Volkes verkaufen wollen. Dabei geht es ihnen mehr darum, die eigene moralische Integrität unter Beweis zu stellen, als um die Menschen, die vor Not und Elend fliehen. Dies wird an einigen Stellen beinahe ungefragt zugegeben, an anderen Stellen wiederum geschickt von Tenenbom aufgedeckt. Etwa wenn er den Flüchtlingsdeal mit dem islamistischen Despoten Erdoğan anspricht, damit in der Regel aber auf Desinteresse oder Unkenntnis stößt. Bei den Gesprächen mit Geflüchteten in Unterkünften von Hamburg-Harvestehude über Beelitz bis Passau wird deutlich, dass es ihnen häufig am Nötigsten fehlt. Eindrucksvoll beschreibt Tenenbom, mit welchem psychischen und physischen Leid die Unterbringung in Massenunterkünften verbunden ist. Diese finsteren Zustände waren im Schatten des »Wir schaffen das« und der Willkommenskultur für viele Anlass genug, mal wieder richtig stolz auf Deutschland zu sein, was das Ausmaß dieser kollektiven moralischen Selbstbefriedigung deutlich macht. Menschen auf der Flucht werden von der Mehrheit seiner GesprächspartnerInnen nicht als Subjekte mit unveräußerlichen Rechten angesehen, die in einem universalistischen Verständnis zu schützen wären. Vielmehr verkommen Geflüchtete in den Helferphantasien der Deutschen zu Objekten, die (falls sie es überhaupt bis nach Deutschland schaffen) darauf hoffen müssen, dass ihnen die Gnade der GastgeberInnen zuteil wird. Der Gedanke verwundert nicht, wurde er doch mit der Verfassungsänderung 1993 fest im deutschen Recht verankert, womit ein wirklicher Rechtsanspruch auf Asyl ausgehebelt wurde. t
Immer wieder sieht sich Tenenbom bei seinen Begegnungen unangenehmen Situationen ausgesetzt. Etwa, wenn es zu antisemitischen Äußerungen durch Flüchtlinge kommt und die umstehenden Deutschen entweder versuchen, das Gesprächsthema so schnell wie möglich zu wechseln oder sogar mehr oder minder offen ihre Zustimmung signalisieren. Eine nicht geringe Zahl von Menschen, das wird im Buch deutlich, will immer noch nicht wahrhaben, dass es sich bei Flüchtlingen nicht um bessere Menschen handelt, die sich zum eigenen moralischen Vorzeigeprojekt modellieren lassen. So gut es Tenenbom in einigen Gesprächen gelingt, seine Gegenüber mit geschickten Nachfragen in Bredouille zu bringen, so wenig aufschlussreich und kritisch wirken andere Interviews. So etwa die Begegnung mit dem neurechten Aktivisten Götz Kubitschek, der letztlich als undogmatischer konservativer Intellektueller dargestellt wird. Im Laufe des Buches hebt Tenenbom immer wieder hervor, wie sich das Unbehagen der Massen gegen »rechte Querdenker« richte. Dass sich der ‚Volkszorn’ in Form von Brandanschlägen und gewalttätigen Übergriffen durch Neonazis oder ‚besorgte’ AnwohnerInnen in erster Linie gegen Flüchtlinge richtet, geht dabei unter. Trotz dieser Auslassungen kann »Allein unter Flüchtlingen« einiges abgewonnen werden, besonders durch die zahlreichen erheiternden Momente. Wie schon bei Tenenboms vorherigen Büchern »Allein unter Deutschen«, »Allein unter Juden« und »Allein unter Amerikanern« gefällt der unbeschwerte, pointierte und polemische Schreibstil. Wer allerdings vermutet, die neueste Reportage verliere aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu den vorherigen so langsam an Ausgefallenheit, liegt nicht falsch. Weil Tenenbom aufschlussreiche Einsichten in die deutsche Realität gibt, kann die Lektüre dennoch empfohlen werden. Moritz Pitscheider Tuvia Tenenbom: Allein unter Flüchtlingen. Suhrkamp, Berlin 2017. 234 Seiten, 13,95 Euro. t
Herausforderung Islamismus
Möglichkeiten der Präventionsarbeit
Fachtag für Lehrkräfte, JugendsozialarbeiterInnen und alle Interessierten am Freitag, 13. Oktober 2017, ganztägig, im ArTik Freiburg Infos und Anmeldungen: info@turuq.org www.turuq.org
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ISSN 1614-0095
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t iz3w – informationszentrum 3. welt Postfach 5328 • D-79020 Freiburg www.iz3w.org
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