Schreit auf ! Gegen sexualisierte Gewalt
iz3w t informationszentrum 3. welt
AuĂ&#x;erdem t Katastrophen im Jemen t Aufstand in Venezuela t Geschichte der Sklaverei
Nov./Dez. 2017 Ausgabe q 363 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80
In dies er Aus gabe
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Schwerpunkt: Sexualisierte Gewalt Foto: Tarun Chawla, feminisminindia.com
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Editorial Mit sexuellen Mitteln Sexualisierte Gewalt dient der Wiederherstellung heteronormativer Machtverhältnisse von Patricia Zuckerhut
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Editorial
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Politik und Ökonomie 25 4
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Jemen: Der verdrängte Krieg 28
Syrien I: Was kommt nach dem IS?
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Syrien II: »So funktioniert es nicht«
»Es ist schlecht, eine Frau zu sein!« Interview mit Mariel Távara zu Feminiziden und Frauenrechten in Peru
Weltwirtschaft: Gewollt, geduldet, befördert
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Die Expertinnen Wie zwei Frauen aus Köln bei der Bewältigung von Gewalterfahrungen helfen von Britt Weyde
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Klimapolitik: Land unter
Die langen Schatten des Krieges Sexualisierte Gewalt hat schwere Folgen von Heide Serra und Helena Ratté
Fidschi will die Welt zur Umsetzung der Klimaziele bewegen von Andreas Kopf
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Revanche der kriminalisierten Körper Argentiniens Trans*Community wehrt sich gegen sexualisierte Gewalt von Caroline Kim
Steueroasen in EU-Karibikgebieten sind ein erfolgreiches Geschäftsmodell von Stefan Brocza und Andreas Brocza
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Knast für Frauen In China bleibt sexualisierte Gewalt fast immer straffrei von Astrid Lipinsky
Interview mit Oras Shukur über die Zukunft Syriens
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»Mädchen werden wie Sklavinnen behandelt« Interview mit der Leiterin einer Frauenrechtsorganisation aus dem Kachin-Staat
Die Demokratischen Kräfte Syriens könnten ein Zukunftsmodell sein von Kenan Engin
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Doppelt diskriminiert Sexualisierte Gewalt gegen Frauen im Kachin-Staat in Myanmar von Nora Pistor
Die Lage spitzt sich immer weiter zu, wird aber auf internationalem Parkett ignoriert von Lawrence Robinson
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Venezuela: Trügerische Ruhe Die Verfassunggebende Versammlung löst die Krise nicht von Tobias Lambert
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»No Mutilation Ground« Interview mit der Aktivistin Bintou Bojang über weibliche Genitalverstümmelung in Gambia
Ungarn: Ultimative Feindbilder Wie die ungarische Regierung Geflüchtete kriminalisiert von der Gruppe Free the Röszke11
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Ein Machtmittel Sexualisierte Gewalt in zwei (Post-)Konfliktgesellschaften von Rita Schäfer
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Klima der Angst In Tschetschenien erfahren Schwule staatliche und familiäre Gewalt von Timm Köhler
Bergbau: »Es wird Umweltschäden geben« Interview mit Umweltaktivisten über Uranabbau in Tansania
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Der blinde Fleck Wenn sexualisierte Gewalt politisch motiviert ist von Hannah Wettig
Kultur und Debatte 40
Rassismus: »Die Sicht der Opfer ist kaum bekannt« Interview mit Dan Thy Nguyen über die Erinnerung an Rostock-Lichtenhagen
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Film: Erbe der Sklaverei Die Netflix-Doku »The 13th« über Polizeigewalt und Justiz in den USA von Martina Backes und Theresa Weck
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Sklaverei: Ein vergessenes Menschheitsverbrechen Sklaverei in der Geschichte Nord- und Ostafrikas von Oliver Schulten
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Rezensionen
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Szene / Tagungen Impressum
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Editor ia l
Geiselnahme und andere Geschäfte 250 Tage sitzt der Journalist Deniz Yücel nun im türkischen Gefängnis Silivri ein, ohne dass Anklage gegen ihn erhoben wäre. Er wird unter Isolationsbedingungen festgehalten, die als »weiße Folter« bezeichnet werden. Seine Inhaftierung durch das Erdogan-Regime als »Geiselnahme« zu bezeichnen, ist keine polemische Überspitzung, sondern die präzise Bezeichnung für das, was in der Türkei hundertfach vor sich geht. Ende August verabschiedete Präsident Erdogan ein Notstandsdekret, mit dem er einen Gefangenenaustausch mit anderen Staaten anordnen kann. Denn er möchte nicht nur aller (vermeintlichen) Gülen-AnhängerInnen in der Disapora habhaft werden, sondern aller, die je ein kritisches Wort über ihn und die Zustände in der Türkei gesagt haben. Opfer dieser systematischen Geiselnahmepolitik ist nicht allein Yücel. Auch hunderte andere JournalistInnen, MenschenrechtlerInnen und SympathisantInnen der kurdischen Sache werden für Erdogans Selbstherrlichkeit missbraucht.
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egen eine solche, jeglichem internationalen Recht widersprechende Politik der Geiselnahme gibt es nur eine angemessene Reaktion: Die klare Botschaft, dass man sich nicht erpressen lässt, und massiver Widerstand auf allen Ebenen. Doch davon sind sowohl die deutsche als auch die europäische Politik weit entfernt. Sie lässt Erdogan gewähren. Bis dato ist nichts erfolgt, was als Sanktion oder harte politische Maßnahme gewertet werden könnte. Es bleibt bei warmen Worten für Yücel, Tolu, Steudtner und andere Geiseln. Für diese Zurückhaltung gibt es Gründe: Zum einen ist da der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal. Mit ihm hat sich die europäische Politik nicht nur von Erdogan abhängig gemacht, sondern sie knickt auch ein vor den RassistInnen, die an die Regierungen drängen oder dort schon sind. Zum anderen ist die Türkei ein wichtiger Wirtschaftpartner europäischer Länder. Import, Export und Investitionen sind von der verheerenden politischen Situation unbeeindruckt. Die Geschäfte boomen und man will sie sich nicht verderben lassen. Investierten europäische Unternehmen im ersten Halbjahr 2016 noch 1,69 Milliarden US-Dollar in der Türkei, so waren es 2017 im gleichen Zeitraum 2,71 Milliarden. Auch deutsche Konzerne weigern sich, nur den geringsten Druck gegenüber der Türkei aufzubauen. Jüngstes Beispiel: Die 30 DAX-Konzerne, von denen die meisten in der Türkei aktiv sind, wurden im September gebeten, sich an einer Anzeigenkampagne in türkischen Medien zu beteiligen. In ihr sollten »freiheitliche Werte« wie Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit als Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg angemahnt werden. Doch selbst diese zurückhaltenden Worte fanden keine Mehrheit bei den
Konzernen. Die Aktion musste kleinlaut abgeblasen werden. Bemerkenswertes Detail: Die Kampagne wurde nicht von einer Menschenrechtsorganisation angestrengt, die von Konzernen ohnehin nur belächelt wird, sondern von ihres gleichen: Vom Springer-Medienkonzern (bei dem Yücel als Korrespondent der WELT angestellt ist).
Nicht einmal ein vorläufiger Stopp von Waffenexpor-
ten in die Türkei wird von der deutschen Politik gewollt: »Wir haben ein Interesse an leistungsfähigen türkischen Streitkräften«, sagt CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt dazu. Die Solidarität innerhalb der NATO gebiete es, »Wünsche der Türkei nach Rüstungslieferungen grundsätzlich wohlwollend zu prüfen«. Zwischen Januar und August wurden laut Bundesregierung Rüstungsexporte in Höhe von 25 Millionen Euro genehmigt. Im Frühjahr wurden Pläne der Rüstungsschmiede Rheinmetall bekannt, an der Errichtung einer Panzerfabrik in der Türkei mitzuwirken. Nach kritischen Medienberichten dementierte der Konzern jede Beteiligung, doch das Recherchekollektiv Correctiv konnte nachweisen, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Von der Bundesregierung war dazu kein Kommentar zu hören. Zu den führenden Lobbyisten von Rheinmetall zählen übrigens Ex-Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) und Ex-Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU). In anderen europäischen Ländern sieht es nicht besser aus. Spanien vollstreckte sogar das auf hanebüchenen Vorwürfen beruhende Gesuch des türkischen Staates, den Schriftsteller Dogan Akhanlı zu verhaften. Von Seiten der EU sind ebenfalls keine ernsthaften Anstrengungen erkennbar, auf die Türkei Druck auszuüben. Zwar wird über die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei diskutiert. Aber abgesehen davon, dass die dafür erforderliche Mehrheit nicht zustande kommen würde und abgesehen davon, dass ein EU-Beitritt von der demokratischen Opposition in der Türkei als Hoffnungsschimmer gesehen wird, wäre ein offizieller Verhandlungsabbruch eine stumpfe Waffe. Denn die Verhandlungen liegen ohnehin auf Eis und gerade das Erdogan-Regime zeigt sich wenig interessiert, sie wieder aufzunehmen. Das aus Bayern und Österreich ertönende Getöse gegen den EUBeitritt ist nichts als heiße Luft. Für die Politik gilt: An ihren Taten sollt ihr sie messen, nicht an ihren Worten. Somit bleibt nur der Schluss: Die Bundesregierung kollaboriert mit einem Despoten, lässt sich von ihm erpressen und macht sich so mitschuldig, wenn tausende Inhaftierte in türkischen Knästen vor die Hunde gehen. Es sieht nicht so aus, als habe die Bundestagswahl daran etwas verändert. Was bleibt, ist anhaltender zivilgesellschaftlicher Druck. Zur Teilnahme an Aktionen für die Freilassung der Inhaftierten ermuntert daher die redaktion
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Luftangriff in Sanaa 2015
Der verdrängte Krieg Die Lage im Jemen spitzt sich immer weiter zu, wird aber auf internationalem Parkett ignoriert Im März jährte sich der Eingriff in den Bürgerkrieg im Jemen durch die von Saudi Arabien geführte internationale Koalition zum zweiten Mal. Ebenfalls seit dem Frühjahr wird das Land von einer Cholera-Epidemie heimgesucht. Zudem droht eine Hungersnot. Die Bevölkerung ist somit mit einer ‚dreifachen Tragödie‘ konfrontiert.
zu entschärfen. Im ärmsten Land der arabischen Welt scheinen zivile Opfer jedoch nur als Kollateralschäden in einem Konflikt um Einfluss und Herrschaft wahrgenommen zu werden.
Ein geteiltes Land
Die Ursprünge des aktuellen Konflikts liegen, wie so oft, weit zurück. Die von Tunesien ab Ende 2010 ausgehenden Revolutionen von Lawrence Robinson in der arabischen Welt erreichten im Februar 2011 auch den Jemen. Es kam zu massiven Protesten in der Hauptstadt Sanaa, die in der tt Diese Tragödie hat ihre Ursache im brutalen Krieg im Jemen, in Weltöffentlichkeit als Teil des ‚Arabischen Frühlings‘ interpretiert welchem auch die nahöstlichen Regionalmächte involviert sind. wurden, jedoch keine Neuheit für das Land darstellten. Vielmehr Der Krieg gilt als ‚vergessener Krieg‘ – willentlich ignoriert würde gab es seit der Einigung des Landes 1990 immer wieder Aufstände. es jedoch besser treffen, da alle KriegsDer heutige Jemen hat eine eher kurze Geparteien ihr Möglichstes tun, die Aufschichte als zentralisierter und vereinigter Staat: Bis 1990 existierten auf dem merksamkeit der Weltöffentlichkeit Bis 1990 existierten auf dem heutigen Territovom Krieg abzulenken. Die Tatsache, rium zwei Staaten, die Jemenitisch-Arabische heutigen Territorium zwei Staaten dass im Jemen alle zehn Minuten ein Republik im Norden und die Demokratische Kind an verhinderbaren Ursachen Volksrepublik Jemen im Süden, die sehr unterstirbt, ist so bezeichnend wie schockierend. Die internationale schiedliche politische und religiöse Vorstellungen entwickelten. Gemeinschaft ist bestens ausgestattet mit den nötigen humanitäErstere wurde von den USA und Saudi Arabien unterstützt, letztere als einzig marxistischer Staat der Region von der Sowjetunion. ren, ökonomischen und politischen Ressourcen, um den Konflikt tt
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Foto: I. Quasim
Jemen
Innerhalb weniger Monate rückten die Huthis aus dem Norden vor. Nach heftigen, mehrere Tage andauernden Kämpfen um eine wichtige Militärbasis außerhalb von Sanaa drangen Huthi-Kämpfer ohne weitere Auseinandersetzungen Ende September 2014 in die Hauptstadt ein. Wenige Stunden später unterzeichneten Vertreter der Huthi eine Vereinbarung mit der Regierung, die ihren politischen Forderungen entgegen kam. Besonders zu nennen sind hierbei die Absetzung des Premierministers und die rasche Bildung einer Konsensregierung. Da es kaum Widerstand gegen den Einmarsch der Huthi gegeben hatte, kamen bald Gerüchte auf, dass die Huthi eine Allianz mit ihrem ehemaligen Kontrahenten, Ex-Präsident Saleh und dessen Verbündeten im jemenitischen Militär, eingegangen waren. Dies stellt einen Wendepunkt in der jemenitischen Politik dar, an dem jahrzehntealte Feindschaften durch neue Allianzen ersetzt wurden.
Internationale Intervention Diese Allianz verfestigte sich, setzte im Februar 2015 Präsident Hadi ab und kontrollierte bald vollständig das Parlament. Hadi floh zunächst in die südliche Hafenstadt Aden und dann nach SaudiArabien, welches anschließend die Operation Decisive Storm startete, um die international anerkannte Regierung Hadis zurück an die Macht zu befördern. Decisive Storm stellt eine internationale Operation dar, an der sich die Vereinten Arabischen Emirate (VAE), Kuwait, Katar 1, Bahrain, Ägypten und Sudan beteiligen und die logistisch sowohl von den USA als auch von Großbritannien unterZwischen der Einigung 1990 und den Aufständen 2011 gab es stützt wird. Sie stoppten schließlich den Vormarsch der Huthi auf mehrere Revolten von al-Hirak, einer Sezessionsbewegung im SüdAden. Doch anstatt die Kontrolle der Hadi-Regierung über das gesamte Land wiederherzustellen, verstrickten sich die externen jemen, sowie von Huthi-Rebellen. Die Huthi sind eine religiös-politische Bewegung der Zaiditen, eines schiitischen Zweiges des Islams, Kräfte in den inner-jemenitischen Konflikt. die von der al-Huthi Familie im Norden des Jemens angeführt wird. Das Ziel der Koalition ist es, die Huthi-Rebellen, die teilweise 2011 gingen Parteien aus dem Süden und Norden auf die vom Iran unterstützt werden, zurückzudrängen. Es besteht die Straße und verlangten die Absetzung von Präsident Ali Abdullah Sorge, dass der Iran im Golf Fuß fassen könnte. Zwar betont die Saleh, der den Jemen seit seiner Gründung 1990 regiert hatte und Koalition immer wieder die Beteiligung Irans, es gibt jedoch kaum zuvor bereits zwölf Jahre Regierungschef der nördlichen Republik Anhaltspunkte dafür, dass die Unterstützung des Irans über recht begrenzte Waffenlieferungen und Trainings hinausgeht. Diese sind gewesen war. Nach massivem internationalem Druck und Immuausreichend, um Saudi Arabiens Strategie im Jemen zu behindern, nitätszusagen gab Saleh das Amt Anfang 2012 an seinen Stellvertreter Abd-Rabbu Mansour Hadi ab. Ungeachtet aber nicht um die Kontrolle der Huthis über dieses schnellen Machtwechsels gab es bald zentrale Gebiete dauerhaft zu sichern. Trotz Bisher sind 740 000 Auseinandersetzungen über die Bedeutung der massiver Luftschläge der Koalition und einem Cholerafälle dokumentiert Übergangsvereinbarungen, insbesondere da kein Waffenembargo kontrollieren die Huthi moKonsens über eine neue Verfassung erzielt werden mentan aber weiter wichtige Regionen des konnte. Landes. Die Frontlinie verläuft aktuell entlang Durch diese Zerwürfnisse gewannen die Huthi-Rebellen und der alten Grenzen zwischen dem nördlichen und dem südlichen deren politischer Arm Ansar Allah rasch an Bedeutung. Unzufrieden Jemen. mit den politischen Entwicklungen seit dem Machtwechsel, besonDie Hauptlast des Konfliktes trägt die Zivilbevölkerung. Seit der ders mit der als ungerecht wahrgenommen politischen RepräsenIntervention 2015 sind fast 14.000 Kriegstote dokumentiert, über tation und den neuen Föderalisierungsplänen, mobilisierten sie ihre 5.100 davon ZivilistInnen, darunter 1.184 Kinder. Der Großteil kam Basis und forderten eine neue Regierung. Nachdem die Regierung bei Angriffen der internationalen Koalition ums Leben, die weiterhin von den USA und Großbritannien, aber auch Deutschland und Teile der Bevölkerung durch das Streichen von Treibstoffsubven Frankreich unterstützt wird. Doch auch die Huthi-Kräfte sind für tionen gegen sich aufgebracht hatte, war die Mobilisierung auch viele zivile Opfer verantwortlich, besonders durch den gezielten jenseits der eigenen Basis erfolgreich. Im August 2014 kam es zu Beschuss von Wohngebieten, wie beispielsweise in Taiz, der stark von Huthi geführten Großdemonstrationen. Gleichzeitig starteten die Rebellen militärische Operationen. Die Regierung bot verspätet umkämpften drittgrößten Stadt des Jemens. Externer Druck, die Verhandlungen an, die Rebellen eroberten jedoch bereits ohne Zivilbevölkerung zu schützen, existiert faktisch nicht. Die aktive großen Widerstand Schlüsselgebiete wie die Stadt Amran. und weitreichende internationale Unterstützung, die die Koalition tt
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Jemen durch Waffenlieferungen und diplomatische sowie ökonomische Hilfe erhält, scheint auf absehbare Zeit gesichert zu sein. US-Präsident Obama hatte Waffenlieferungen an Saudi Arabien noch mit der Begründung eingeschränkt, dass durch diese Waffen im Jemen ZivilistInnen zu Schaden kamen. Sein Nachfolger Trump verkündete hingegen einen 110 Milliarden US-Dollar schweren Rüstungsdeal mit Riad. Das militärische Engagement im Jemen stärkt zudem terroristische Gruppen in der Region, was den Interessen der Koalition entgegenläuft. Das Machtvakuum im Jemen wurde von Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel geschickt ausgenutzt – durch taktische Vereinbarungen mit Anti-Huthi-Milizen stellt sie nun einen der stärksten Al-Qaida-Ableger dar. Einer Analyse der UN zufolge legen Al-Qaida und lokale Gruppen des Islamischen Staates im Jemen »die Grundlagen für ein Terrornetzwerk, das für Jahre Bestand haben könnte.«2
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Einrichtungen im Jemen funktionstüchtig, viele sind durch Luftangriffe der Koalition und Beschuss durch die Rebellen zerstört worden. Trotz der Warnungen der UN vor einer drohenden Hungersnot werden die Kriegshandlungen weiter vorangetrieben. 17 Millionen Menschen sind von Nahrungsmittelunsicherheit bedroht, sieben Million, beinahe ein Viertel der jemenitischen Bevölkerung, wissen schon jetzt nicht, wie sie ihre nächste Mahlzeit auftreiben sollen.
Eine vermeidbare Tragödie
Im Vergleich zu anderen Konflikten hat die Lage im Jemen, die von der UN als die weltweit schlimmste humanitäre Krise bezeichnet wird, sowohl von Seiten der Medien als auch der Politik wenig Aufmerksamkeit erhalten. Anders als in Syrien sind westliche Staaten im Jemen aktiv mit der Hauptkonfliktpartei verbündet und üben weit weniger Druck auf alle Beteiligten aus, die Zivilbevölkerung zu schützen und zu einer politischen Lösung zu kommen. Im UNDie Zivilbevölkerung als Leidtragende Sicherheitsrat ist Großbritannien hauptverantwortlich für die Austt Während sich die Zahl der Kriegstoten beziffern lässt, ist es gestaltung der Reaktion des Gremiums auf die Krise im Jemen. unmöglich, genaue Aussagen darüber zu machen, wie viele MenDoch sowohl Großbritannien als auch die andren Mitglieder des Sicherheitsrats sind bisher unwillig zu handeln. Ungeachtet der schen bisher durch die indirekten Folgen des Krieges ums Leben vielen zivilen Opfer, der Teilung des Landes und der Stärkung von kamen. Durch die Zerstörung von Straßen, Krankenhäusern und Wasserversorgung sowie durch die Blockade von humanitärer Terrorgruppen hält sich der Sicherheitsrat weiter an Resolution Hilfe haben die Konfliktparteien den Großteil des Landes an den 2016, die erste Resolution zum Jemen von 2015, die Präsident Hadi Rand einer Hungerkatastrophe getrieben. 20,7 von insgesamt knapp unterstützt und den vollständigen Abzug der Huthi-Kräfte fordert. 30 Millionen Menschen der Bevölkerung Die hohe Zahl an zivilen Opfern ist der Preis, den des Jemens sind auf humanitäre Unterdie internationale Gemeinschaft, vertreten durch stützung angewiesen. den UN-Sicherheitsrat, für ihr einseitiges EingreiDie Hauptlast des Konfliktes Mittlerweile wird der Konflikt nicht nur fen in diesen komplexen Konflikt mit lokalen und trägt die Zivilbevölkerung militärisch, sondern auch auf einer bürointernationalen Akteuren zahlt. Tausende Jemekratischen und ökonomischen Ebene nitInnen sind durch diese bewusst in Kauf geausgetragen, indem die KontrahentInnen nommene Krise bereits gestorben, Millionen versuchen, die Gegenseite von Regierungsmitteln abzuschneiden. bedroht. Der Schrecken des Krieges hat bleibende Narben im Leben der Zivilbevölkerung und des ganzen Landes hinterlassen. Die Die Huthi-Saleh-Allianz baut mit dem obersten Politischen Rat in Sanaa ihr eigenes Regierungssystem auf. Die jemenitische Regierung Tatsache, dass die Bevölkerung aufgrund des rücksichtslosen Agieeröffnete als Reaktion eine ökonomische Front und verlegte die rens beider Konfliktparteien am Rande einer Hungerkatastrophe Zentralbank aus der Hauptstadt nach Aden. Diese Auseinandersetsteht, vom langsamen Tod durch Krankheit und gleichzeitig von zung führte dazu, dass Angestellte im öffentlichen Dienst im Laufe militärischen Angriffen bedroht ist, während die internationale des letzten Jahres kaum Gehalt erhielten. Daher müssen Menschen Gemeinschaft weitestgehend zusieht, macht fassungslos. Besonders, hungern, obwohl Lebensmittel in den Supermärkten verfügbar da diese dreifache Tragödie aus Krieg, Hunger und Seuchen relativ sind. Sie können sie sich schlicht nicht leisten. einfach von den Konfliktparteien gemildert werden könnte: Wichtig wären zunächst die Öffnung aller Häfen für Hilfsgüter, die Zudem behindern beide Seiten die Verteilung von Hilfsgütern. Die Koalition hat de-facto-Blockaden des Nordens eingerichtet. Sie landesweite Auszahlung von Gehältern im öffentlichen Dienst und unterbindet kommerzielle Flüge vom Flughafen in Sanaa und bedas Bestreben, bei Luftschlägen keine zivile Infrastruktur zu treffen. Die internationale Gemeinschaft, die die Koalition weitestgehend hindert die Lieferung von Hilfsgütern durch den Hafen Hodeidah, unterstützt, hat auch die Macht, eine Lösung herbeizuführen. Es der als die »Lebenslinie des Jemens« gilt, da bisher 80 Prozent aller Lebensmittelimporte über ihn abgewickelt wurden. Zuletzt hat die ist höchste Zeit, eine verheerende Katastrophe im Jemen zu vervon Saudi-Arabien geführte Koalition verhindert, dass UN-Flugzeuhindern, ehe es endgültig zu spät ist. ge, die Hilfsgüter transportierten, in Sanaa neu betankt werden Anmerkungen konnten. Des Weiteren versucht sie vermehrt, den Zugang von JournalistInnen und MenschenrechtlerInnen zur Krisenregion zu 1 Nach den diplomatischen Verwerfungen am Golf wurde Katar 2017 aus der Koalition ausgeschlossen begrenzen. 2 Abschließender Bericht des Jemen-Expertengremiums, UN Sicherheitsrat Im April 2017 brach schließlich eine Choleraepidemie im Jemen S/2011/81 aus, die von den UN als die schlimmste weltweit bezeichnet wird, mit fast 740.000 dokumentierten Fällen bis Ende September dieses Jahres. Obwohl Cholera relativ einfach zu behandeln ist, sind bereits mindestens 2.000 Menschen an der Krankheit gestorben, da sie tt Lawrence Robinson arbeitet als Wissenschaftler und Aktivist keinen Zugang zu medizinischer Hilfe oder sauberem Wasser hatim Bereich Konfliktprävention und lebt in New York. Übersetzung aus dem Englischen: Larissa Schober ten. Mittlerweile ist nur noch etwa die Hälfe der medizinischen tt
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Editor ial
Wir danken dem Fotokünstler Sujatro Ghosh für die Bilderstrecke im Themenschwerpunkt. Sein Ausgangspunkt sind die vielen Vergewaltigungen in Indien. Das Fotoprojekt zeigt Frauen, die sich mit den Masken von »heiligen« Kühen tarnen, weil diese, anders als Frauen, ausreichenden Schutz vor Gewalt genießen.
Sexualisierte Gewalt »Nanu, warum so gruselige Kuhfotos in der iz3w ?«, werden sich einige LeserInnen beim Durchblättern dieser Ausgabe fragen. Um ehrlich zu sein, hat die Bebilderung des vorliegenden Themenschwerpunktes bei einigen Redaktionsmitgliedern für Stirnrunzeln gesorgt. Die ausgewählten Bilder haben einen Hintergrund, der sich in Europa nicht per Augenschein erklärt. Sie sind Teil eines Fotoprojekts des indischen Künstlers Sujatro Ghosh, das Solidarität mit Frauen zeigt, die Opfer der endemischen Vergewaltigungen in Indien wurden. Die Gewalttaten gegen sie werden oft nicht ernst genommen. In weniger der Hälfte der zur Anzeige gebrachten Fälle werden die Täter verurteilt. Der Fotograf skandalisiert angesichts der Vergewaltigungen, dass die in Indien heiligen Kühe offensichtlich einen höheren Stellenwert haben als Frauen. Und so schufen er und einige Models eine Bilderstrecke, in der Frauen Kuhmasken tragen, um sich zu schützen. Trotz mangelnder Unterstützung zeigen Frauen in Indien alle 20 Minuten eine Vergewaltigung an. Die Dunkelziffer ist weitaus höher. Die globale Dimension ist nicht nur größer, sondern auch verzweigter. In unserem Themenschwerpunkt liegt ein starker Akzent auf sexualisierter Gewalt im Kontext von Kriegen, Bürgerkriegen und ethnisierten Konflikten, etwa in Myanmar, Bosnien oder in der DR Kongo. Wir fragen, warum vornehmlich Frauen und Menschen mit queeren Genderidentitäten Opfer sexualisierter Gewalt werden. Patricia Zuckerhut plädiert in ihrem Einleitungsbeitrag dafür, nicht die gängigen Antworten zu akzeptieren, wie etwa »Männer sind halt triebgesteuert«. Vielmehr sei die Gewaltausübung als Mittel zur Aufrechterhaltung patriarchaler Machtstrukturen zu verstehen. Indien gilt als Paradebeispiel für paradoxe Entwicklungen – hier treffen traditionelle binärgeschlechtliche Rollenbilder auf emanzipatorische Bestrebungen von Frauen. So hat die weltweit größte Demokratie seit 2010 immerhin eine Frauenquote von 33 Prozent in den Regional- und
Nationalparlamenten. Auch Hannah Wettig spricht in ihrem Beitrag bezüglich des Islamismus an, dass Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt als politische Gegenreaktion oft dort stattfinden, wo gesellschaftliche Umbrüche hin zu einem emanzipatorischen Frauenbild stattfinden. Sexualisierte Gewalt ist grundsätzlich mit patriarchaler Herrschaft verbunden, und immer ist sie in einen systemischen gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Die Abwertung kann dabei sehr offenkundig erfolgen, wie beispielsweise in tschetschenischen Foltercamps, in denen Schwule systematisch misshandelt werden. Die Feminizide in Lateinamerika verweisen auf eine wiederum anders gelagerte Abwertung einer Menschengruppe. Hier geht es um Hass auf Frauen angesichts ihrer Aneignung des öffentlichen Raums. Eine staatliche Variante der Diskriminierung zeigt sich in China, wo Feministinnen strafrechtlich verfolgt werden, weil sie sexuelle Übergriffe anprangern. Frauenrechte existieren dort wie auch anderswo zwar auf dem Papier, die Realität sieht aber anders aus. Die Folgen sexualisierter Gewalt sind schwer abschätzbar. Sie können zum Tod führen, wie bei der 23-jährigen Studentin in Indien. Auch wenn die Betroffenen überleben, haben ihre Traumata meist Langzeitwirkung und werden teilweise sogar an die nächste Generation weitergegeben, wie Heide Serra und Helena Ratté ausführen. Weitere psychosoziale Folgen der Ausgrenzung und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts stellt Caroline Kim anhand der LGBTIQ*-Community in Argentinien dar. Die zuletzt genannten Projekte und die begleitende Fotostrecke zeigen jedoch, dass es auch Kräfte gibt, die der Gewalt entgegen stehen und Frauen weltweit, die aufbegehren. die redaktion
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Foto: Sujatro Ghosh
Revanche der kriminalisierten Körper Argentiniens Trans*Community wehrt sich gegen sexualisierte Gewalt der emotionalen Agenda unseres Landes«, reklamiert Violeta Alegre, Trans*Aktivistin und Verantwortliche der Abteilung Diversität im Programm gegen sexualisierte Gewalt bei der Universität San Martín. »Der Tod einer Transe interessiert die Gesellschaft nicht besonders, es gibt keine Massendemos. Es sind immer nur wir selbst, die nach unseren Toten fragen.« Wenn Medien doch darüber berichten, dann skandalisierend, viktimisierend und mit einer Grausamkeit, die jener ähnelt, mit denen die Gewalttaten begangen von Caroline Kim werden. »Die Erfahrung des Todes und der Verlust von Freundinnen und tt »In meinem Kopf ist ein Friedhof voller Namen« ist auf einem Bekannten ist alltäglich für uns«, sagte Lohana Berkins, die Anfang 2016 verstorbene Pionierin der argentinischen Travesti-Bewegung. Plakat bei einer Demonstration gegen transphobe Gewalt in der Dabei sterben die meisten Trans*Frauen in Argentinien aus verargentinischen Hauptstadt Buenos Aires zu lesen. Es ist bereits die meidbaren Gründen wie sexuell übertragbaren Krankheiten oder zweite Demonstration innerhalb eines Jahres, die anlässlich einer Reihe von Morden stattgefunden hat – ein Gritazo, Folgekrankheiten. Laut der im Jahr 2017 ein Aufschrei der Trans*Community gegenüber der vom Menschenrechtsministerium der Hate Crimes sind die zunehmenden extremen Gewalt an Trans*Frauen Stadt Buenos Aires zusammen mit Orzweithäufigste Todesursache ganisationen der Community erstellten und Travestis 1 in Argentinien. Studie »Die Revolution der SchmetterZwar hat es eine in den letzten Jahren erstarkte von Trans*Frauen linge« sind allerdings Hate Crimes die neue feministische Bewegung geschafft, Genderpolitik radikal auf die politische Agenda zu bringen zweithäufigste Todesursache. Sie werden und gesellschaftliche Debatten über die verschiedenen Formen oftmals mit einer extremen Brutalität gegen jene Körper ausgeführt, sexualisierter Gewalt anzustoßen. Dennoch bleibt transphobe die historisch als Objekte des Anormalen moralisch disqualifiziert Gewalt immer noch weitgehend unsichtbar. »Wir sind nicht auf und als bedrohlich konstruiert wurden.
Argentinien nimmt hinsichtlich der Gesetzgebung zu LGBTIQ*Rechten weltweit eine Vorreiterrolle ein. Dennoch sind Menschen mit Trans*Identitäten extremer sexualisierter Gewalt ausgesetzt und von sozialer Teilhabe ausgeschlossen. Die Trans*Community kämpft lautstark dafür, diesen Widerspruch aufzuheben.
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Sexualisierte Gewalt Aktivist*innen kämpfen für die Anerkennung transphober Morde vor Gericht als Travestizide, um die Taten innerhalb einer sozialen und strukturellen Problematik machistischer Gewalt einzuordnen. Travestizid müsse als Figur etabliert werden, die sich von der des Feminizids unterscheidet, so die Forderung. Dies soll die spezifische Exklusion sichtbar machen, der Trans*Frauen und Travestis in Argentinien in allen Lebensphasen ausgesetzt sind.
me zur Inklusion. »Der Staat hat zwar Identität und Rechte anerkannt, aber ohne Instanzen der ökonomischen und sozialen Umverteilung ist es nicht möglich, von Menschenrechten für die Trans- und Travesti-Community in Argentinien zu sprechen«, erklärt sie. »Es ist Verpflichtung des Staates, Politikprogramme zu schaffen, die den Zugang zu Gesundheit, Bildung, formaler Arbeit und politischer Partizipation ermöglichen.« Auch die Sicherheitskräfte üben durch Schikane, entwürdigende Personenkontrollen in der Öffentlichkeit und willkürliche Verhaftungen unverändert institutionelle Gewalt Transphobie mit System aus. Noch bis 2006 galten in Buenos Aires sogenannte Polizeivertt Menschenrechts- und trans*aktivistische Organisationen sprechen ordnungen durch die Trans*Identitäten prinzipiell kriminalisiert in diesem Sinne oft von »sozialem Travestizid«, der sich in einer wurden. »Mitglieder der Community werden auch heute noch durchschnittlichen Lebenserwartung von 35 Jahren für aufgrund von Praktiken verfolgt, die aus der Epoche des argentiTrans*Personen gegenüber 77 Jahren in der Mehrheitsgesellschaft nischen Staatsterrorismus stammen, wie die ‚skandalöse Präsenz widerspiegelt. Die oft frühe Entfremdung aus den Familien, der in der Öffentlichkeit’ oder das Tragen der Kleidung des anderen baldige Austritt aus einem diskriminierenden Schulsystem aufgrund Geschlechts. Und die Justiz deckt die Verstöße der Polizeikräfte feindlicher und demütigender Erfahrungen und die damit verbungegen die Menschenrechte«, empört sich Malacalza. Sie hat an denen drastischen Zugangsbeschränkungen zum formellen Arbeitsdem im Jahr 2015 in der Provinz Buenos Aires verabschiedeten markt führen dazu, dass die Prostitution 2 für viele Trans*Frauen die Gesetz mitgearbeitet, das eine Beschäftigungsquote von einem einzige Möglichkeit darstellt, ein Einkommen zu erzielen. Laut der Prozent für Trans*Personen im Öffentlichen Dienst einführen soll »Revolution der Schmetterlinge« arbeiten 70,4 Prozent der – auch, um Alternativen für die Straße als Arbeitsplatz zu schaffen. Trans*Frauen und Travesti in der Prostitution, bei den 18 bis 29-JähSeither liegt das Gesetzesprojekt brach und wartet auf seine Regrigen sind es neun von zehn. Gegenüber der Vorgängerstudie von lementierung. 2005 haben sich alle Daten stark verbessert, insbesondere im Bereich Neben Programmen zur Inklusion müssen die progressiven Bildung. Aber noch immer produziert die systematische DiskrimiGesetzesinitiativen auch mit der sozialen und kulturellen Anerkennung von Identitäten außerhalb männlicher und weiblicher Logiken nierung eine strukturelle Gewalt, die dann wieder so konkret wird, einhergehen, mit einem Genderkonzept, das die Binarität aufbricht dass sich diejenigen, die über 40 Jahre werden, als »Überlebende« und um multiple Geschlechter erweitert. Das ist auch der Widerbezeichnen. Dabei gilt Argentinien nicht nur in Lateinamerika als spruch, den das »beste Gesetz der eines der Länder mit der fortschrittlichsten Gesetzgebung Welt« in sich trägt, so Violeta A legre. Mit dem Gesetz hört »Wir brauchen die Anerkennung hinsichtlich Genderpolitik und Rechten von LGBTIQ*-Personen. Bereits 2010 wurde eine Reform des Zivilrechts unserer Identität, der Identität T. der Travestismus auf ein durchgeführt, die die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. Auch im Ausweis muss es ein T wie Verbrechen zu sein Es folgte das im Mai 2012 verabschiedete Gesetz zur GeTrans* geben. Gerade wir Travestis schlechteridentität, von Organisationen und Aktivist*innen greifen die verpflichtende Hegemoder Trans*Community selbst geschrieben und erkämpft, durch das nie von männlich und weiblich an. Wir sprechen aus einer anderen alle Menschen ihr selbst definiertes Geschlecht ohne jedwede Art von Weiblichkeit, die nicht Frau sein will. Der Neuentwurf dazu Voraussetzungen in Behörden und Ausweisdokumenten anerkennen liegt im Trans.« lassen können. Das Gesetz wurde international als kleine RevoluEs bleiben viele Herausforderungen, doch eine wichtige Weiche ist gestellt: Mit dem Gesetz hört der Travestismus auf, ein Verbrechen tion gefeiert, auch wenn es konzeptionelle Lücken aufweist. Aber es bedeutet eine Annäherung an eine andere Art institutionelle zu sein. Dadurch ändert sich der juristische Status der Trans* Sicherheit: »Natürlich ist das mit dem Namen wichtig, aber es geht Community, die Konstruktion der Identität T muss allerdings weium die Anerkennung unserer Identität«, erklärte Diana Sacayán, terhin erkämpft werden und – darauf hat Lohana Berkins hingeeine der wichtigsten Referentinnen der Travesti-Bewegung, Vorwiesen – ohne dabei den kritischen Wert des Andersseins zu kämpferin und Gesetzesmutter kurz vor ihrer Ermordung im Okverlieren. Berkins hat ihren Compañeras beigebracht, auf Grausamtober 2015. »Und in dieser Anerkennung der Identität liegt das keit mit Zärtlichkeit zu antworten. Die selbstdefinierte Rache der Eingeständnis des Staates, dass er vorher unsere Rechte systematisch Travestis: Glücklich zu sein und alt zu werden. verletzt hat, indem er uns das Recht abgesprochen hat, Subjekte Anmerkungen und Staatsbürgerinnen dieses Landes zu sein.« Dieses Eingeständnis ist der Anfang einer nun geführten Debatte über eine staatliche 1 Der Begriff Travesti entstammt einem argentinischen Kontext. Er unterscheidet sich vom angelsächsischen Transgenderbegriff und auch von dem anderer Entschädigung für die erlittene institutionelle Gewalt für Menschen, Regionen Lateinamerikas. Ursprünglich negativ besetzt wurde der Begriff von die in den letzten Jahrzehnten aufgrund ihrer Geschlechteridentität Aktivist*innen umgedeutet und hat heute eine dezidiert politische Konnotation. Der Travestismus hinterfragt den Sinn einer dominanten Genitalkultur und oder sexuellen Dissidenz unrechtmäßig inhaftiert wurden. ist mit Ideen von Widerstand, Aufbegehren, Würde und Freude verbunden.
Die Binarität aufbrechen Für Laura Malacalza, Koordinatorin der Beobachtung von sexualisierter Gewalt der Ombudsstelle der Provinz Buenos Aires, liegt die Diskrepanz zwischen progressiver Gesetzgebung und extremer Gewalt und sozialer Ausgrenzung im Fehlen begleitender Programtt
2 Es wird der Begriff Prostitution statt Sexarbeit verwendet, da sich die Mehrheit des Kollektivs einer abolitionistischen Position verschreibt und im Falle der Transfrauen und Travestis Prostitution nicht als Arbeit anerkennt, sondern immer von einer erzwungenen Situation der Ausbeutung ausgeht.
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Caroline Kim ist Redakteurin der Lateinamerika Nachrichten.
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»Die Sicht der Opfer ist kaum bekannt« Interview mit Dan Thy Nguyen über die Erinnerung an Rostock-Lichtenhagen Im August jährte sich das rassistische Pogrom von RostockLichtenhagen zum 25. Mal. Unter anderem wurde dabei ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische VertragsarbeiterInnen, das so genannte Sonnenblumenhaus, von einem vielköpfigen Mob in Brand gesteckt. Die Polizei sah tatenlos zu. Nur dank des entschlossenen Handelns der Eingeschlossenen und mit viel Glück kam niemand ums Leben.
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Unter welchen Umständen können die vietnamesischen Opfer über die Gewalt sprechen, und was hindert sie daran? tt Zuerst einmal war die Situation der vietnamesischen Vertrags arbeiterInnen in den 1990er Jahren prekär. Das öffentliche Bild war das einer vietnamesischen Zigarettenmafia. Sie waren in den Augen der Meisten Kriminelle, Illegale. Die meisten der Opfer durften aufgrund der Rückführungsverträge gar nicht in Deutschland sein. Ein öffentlicher Auftritt hätte eine Abschiebung nach sich gezogen. Das hat sich erst 1997 auf der Bundesinnenministerkonferenz geiz3w: Dan Thy, du hast bereits 2014 das Theaterstück »Das Sonnenändert. Dazu kam, dass die Menschen in der DDR nur so viel Deutsch blumenhaus« entwickelt, in dem die Überlebenden über ihre Gewalt lernen durften, wie es für die Arbeit notwendig war. Viele schämten erfahrungen im August 1992, aber auch über ihre Kindheit im kriegssich, öffentlich zu sprechen, weil ihr Deutsch so schlecht war. Der geschüttelten Vietnam, ihr Leben als VertragsarbeiterInnen in der DDR strukturelle Rassismus in Deutschland hat sie daran gehindert, ihre und den Kampf um Anerkennung im vereinten Deutschland berichten. Rechte einzufordern. Die ehemaligen Vertragsarbeitenden haben Wie bist du zu diesem Thema gekommen? zudem sehr schlechte Erfahrungen mit weißen JournalistInnen gemacht. Ihre Aussagen wurden verfälscht, im falschen Kontext Dan Thy Nguyen: Mein Kollege Iraklis Panagiotopoulos und ich dargestellt oder man hat sie nicht beschützt, wenn sie nach den Interviews rechter Gewalt ausgesetzt waren, weil die Neonazis durch wollten eigentlich ein Theaterstück über menschlichen Wahnsinn die Berichterstattung ihren Wohnort kannten. machen. Wir hatten uns nicht vorgenommen, Rostock-Lichten hagen 1992 zu bearbeiten. Durch In den 1990er Jahren gab es einige Betroffene, eine Internetrecherche stießen wir die sich geäußert haben. Aber nahezu alle sind auf die rassistischen Anschläge. sehr enttäuscht von der deutschen Gesellschaft »Die rassistische Gewalt wird als Schnell zeigte sich, dass die Sicht der und Politik und haben sich inzwischen aus der Serie von Einzeltaten betrachtet« Opfer so gut wie nicht bekannt war. Öffentlichkeit zurückgezogen. Aus Frustration, Stattdessen überall präsent waren weil es immer noch keine Gerechtigkeit gibt. die Sicht der TäterInnen und der Versuch zu erklären, warum Menschen zu potentiellen MörderInnen Wie sähe denn Gerechtigkeit aus? tt Es bedarf sowohl einer juristischen als auch einer politischen werden oder Lynchjustiz betreiben. Das steht in einem völligen Aufarbeitung, insbesondere der Rolle von Polizei und Medien. Das Ungleichgewicht zu der Frage, was mit den betroffenen Menschen passiert ist. Warum ist das so? Warum will man die Täter verstehen, wäre nur die Basis, um herauszufiltern, wie Gerechtigkeit aussehen könnte. Abgesehen davon wäre eine wissenschaftliche Aufarbeitung aber nicht die Opfer? Warum versucht man Gewalt zu vermenschnötig. Da sind so viele Stränge, die man in einem Interview, in einem lichen? Wir haben beschlossen, diesen Fragen nachzugehen. Theaterstück unmöglich alle fassen kann. Ist der Ausschluss von Opferperspektiven bei der Aufarbeitung ein Einzelfall? Wie wird mit der Erinnerung an das Pogrom in den Familien der Opfer umgegangen? tt Nein! Die wenigsten kennen auch nur zwei Namen der Opfer des NSU-Komplexes, aber alle kennen die TäterInnen. Bei den tt Ich habe eine junge Frau Anfang Zwanzig kennen gelernt, die im meisten rassistischen Pogromen, auch in Mölln, Solingen und spanischen Fernsehen zufällig Aufnahmen davon sah, wie ihre Mutter sie über das Dach des Sonnenblumenhauses rettete. In ihrer Hoyerswerda, werden gesamtgesellschaftliche AufarbeitungsproFamilie wurde nicht über die erfahrene Gewalt gesprochen. Andezesse nur von einigen wenigen AkteurInnen vorangetrieben. Die rerseits geben Betroffene, die eine Form gefunden haben, in der rassistische Gewalt wird zudem als Serie von Einzeltaten betrachtet und nie als zusammenhängender Komplex. Man versucht SinguÖffentlichkeit über ihre Geschichte zu sprechen, diese auch an die larität aufzuzeigen und so zu tun, als hätten die einzelnen Taten nächste Generation ihrer Familie weiter. Man muss beachten, dass diese Menschen nicht nur von dem Pogrom traumatisiert sind, und auch Opfer und TäterInnen nichts miteinander zu tun. Das ist sondern auch vom Umgang der Bundesrepublik mit ihnen und von der rote Faden, der sich von den 1990ern bis heute durchzieht. der Vertragsarbeit in der DDR, die eine Form moderner Sklaverei war. Auch wir konnten in dem Theaterstück die Opfer nur selektiv zu Wort kommen lassen. Genau wie im gesamtgesellschaftlichen Diskurs ist innerhalb der Opfer die Stimme der vietnamesischen Gibt es eine doppelte Diskriminierung, die MigrantInnen aus der ehemaligen DDR in der heutigen weißen, westdeutsch dominierten MehrVertragsarbeiterInnen deutlich privilegiert gegenüber der Stimme heitsgesellschaft erfahren? der Roma, die zusätzlich von Antiziganismus betroffen sind. Ihre Perspektive kennen wir nicht, was auch daran liegt, dass es viel tt Ja. Die vietnamesische Community in Deutschland hat sehr schwieriger war, Kontakt zu dieser Community herzustellen. unterschiedliche Erfahrungen gemacht, die vom Kalten Krieg beiz3w • November / Dezember 2017 q 363
Rassismus
Premiere hatten, hat sich keiner für unser Theaterstück über das Sonnenblumenhaus interessiert. In den letzten Jahren, nach Freital und durch die »Flüchtlingskrise«, war der Ansturm enorm. Wir freuen uns besonders über die Schulklassen. Dazu braucht es Engagement auch von Seiten der Regierung. Es braucht Aufarbeitung nicht nur aus der linken, sondern gerade auch aus der konservativen Richtung. In der Polizei und in den Medien müsste selbstkritisch die eigene Rolle in den 1980er und 90er Jahren von Innen aufgearbeitet werden. Einzelne PolitikerInnen müssen zur Verantwortung gezogen werden. Zum Glück leben alle Betroffenen noch. Wir haben keine Chance mehr auf Gerechtigkeit, wenn sie alle gestorben sind. Foto: I. Panagiotopouls
stimmt waren. In Westdeutschland angekommene VietnamesInnen wurden unbürokratisch aufgenommen, weil sie Feinde des Sozialismus waren. Die »Freunde des Sozialismus«, die in die DDR gekommen waren, wurden nach der Wiedervereinigung dagegen jahrelang kriminalisiert und illegalisiert. In der vietnamesischen Diaspora entstand eine massive soziale und kulturelle Spaltung, die erst langsam wieder überbrückt wird. Die VertragsarbeiterInnen hatten keine Chance auf Gleichberechtigung im vereinigten Deutschland.
Theaterregisseur Dan Thy Nguyen
Wie ist die Zusammenarbeit zwischen antirassistischen Initiativen und den Opfern oder Diasporaverbänden? t In Teilen der antirassistischen Szene existiert das Narrativ, dass durch das Eingreifen von linker Seite Schlimmeres verhindert worden sei. Aus Sicht der Opfer kam die Linke jedoch gar nicht vor. Nicht Linke haben Tote verhindert, sondern sie selbst. Sie berichten sogar davon, dass sie betrunkenen Linken helfen mussten, das Haus zu verlassen. Eine Selbst reflexion der Szene hat meiner Meinung nach nicht stattgefunden. Nach wie vor ist sie weiß geprägt und spricht über die Opfer statt mit ihnen. Es gibt kaum Kontakt zwischen antirassistischen Bündnissen und Opfern.
Macht es für die Erinnerungskultur einen Unterschied, ob ein Pogrom Wie schätzt du den Beitrag des Spielfilms »Wir sind jung, wir sind stark« in Ost- oder Westdeutschland stattfand? für die Erinnerung an Rostock-Lichtenhagen ein? tt Rassistische Gewalt gab es auch in Solint Er betrachtet nur die TäterInnenperspektive. gen und Mölln, aber am meisten empört Zudem kann er keine historische Realität erklären und begeht in Teilen Geschichtsverfälschung. wird sich über Rostock-Lichtenhagen und »Es gibt kaum Kontakt Das Problem ist, dass es der einzige Film zu dem die Ostdeutschen. Letztendlich ist es westzwischen antirassistischen deutsche Arroganz, die den Anschein erweThema ist. Es wird so getan, als könne dieser Bündnissen und Opfern« cken will, dass der Rassismus aus OstFilm alle Fragen beantworten. Dabei verfolgt er deutschland kommt. Wie im Kalten Krieg nur wenige Menschen, aber es gab hunderte kommt das Böse von drüben. Die Tatsache, Neonazis und tausende Applaudierende. Das dass die rechte Gewalt in Ostdeutschland massiv ist, darf aber nicht Problem der aktuellen Aufarbeitungskultur zeigt sich darin, dass dazu benutzt werden, Westdeutschland so darzustellen, als sei es man zu viel in den Film hinein projiziert. frei von Rassismus. Was braucht es, um in Deutschland eine Erinnerungskultur zu rassistischer Gewalt aufzubauen? tt Wichtig ist, in allen Teilen der Bevölkerung Interesse für das Geschehen zu wecken. Durch die aktuellen rassistischen Anschläge, die denen von damals ähneln, haben wir nun bedauerlicherweise die Chance, das Thema einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wir können eine kritische Masse erreichen. 2014, als wir
Dan Thy Nguyen ist freier Theaterregisseur, Schauspieler, Schriftsteller und Sänger in Hamburg. Neben dem preisgekrönten Theaterstück »Sonnenblumenhaus« tourt er mit dem Stück »Denken Was Tomorrow« durch Deutschland, das die Fluchtgeschichte seiner eigenen Familie als Boat People thematisiert. Das Interview führte Emilia Henkel. tt
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Die Wochenzeitung
Jungle World
Es bleibt kompliziert