iz3w Magazin # 364

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1968 international – ein grenzenloser Aufbruch

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Fünfzig Jahre iz3w t Gewalt gegen Umweltbewegte t Roma-Musik ohne Klischees

Jan./Feb. 2018 Ausgabe q 364 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


In dies er Aus gabe

. . . . . . . . .

Schwerpunkt: 1968 international

Titelcollage: G. Wick; Artwork: »Angela Davis« Painting by Carter J, »68« Handlettering by M. Wieber

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Editorial »1968 war ein beschissenes Jahr« Ein Gespräch über die Bedeutung und die Folgen einer Revolte

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Editorial

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Politik und Ökonomie 24 4

Klimapolitik: AktivistInnen auf der Klimakonferenz in Bonn

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»Das Blut der Löwen«

B F Kongolesische Studierende und das globale ’68 von Pedro Monaville

Lateinamerika: Gefahrengebiet Umweltschutz Nirgendwo werden mehr UmweltaktivistInnen ermordet als in Lateinamerika von Kristina Dietz

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»Im Feuer des Kampfes«

Die französische 68er-Bewegung und ihre antikolonialen Bezüge von Eva Beckershoff

Marokko: Casablanca, Rabat und Marrakesch Ein Streifzug durch marokkanische Metropolen von Sebastian Prothmann

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Das einflussreiche Jahr Jugend, Linke und Gegenkultur im uruguayischen 1968 von Vania Markarian

»Es ist alles durcheinander« Interview mit Makereta Waqavonovono aus Fidschi

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»Kommt herunter vom Balkon« Beobachtungen aus der 68er-Bewegung in der BRD und in Südostasien von Rainer Werning

»RWE soll Schutzmaßnahmen bezahlen« Interview mit Saul Luciano Lliuya aus Peru

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Eine Metapher, keine Wendemarke Die Rolle der Dritten Welt für und während »1968« von Arif Dirlik

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Der verspätete Aufstand

Warum es 1968 in Südafrika relativ ruhig blieb von Hanno Plass

Indien: Panzer gegen kritisches Denken Der Kampf um die Universitäten in Indien von Christa Wichterich

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Kein Nebenwiderspruch

Warum 1968 der Chicana-Feminismus notwendig wurde von Anna Sophia Clemens

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Gefahr für die Nation

1968 endete für die Frauenbewegungen Japans und Indonesiens nicht gut von Claudia Derichs

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Kommunen, Kunst und Kinderläden

Der Bewegungszyklus der 1968er Jahre als globale Kulturrevolution von Jens Kastner

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Alles ändert sich die ganze Zeit

Ein Blick auf 50 Jahre iz3w aus Sicht einer jungen Generation von Larissa Schober und Theresa Weck

Kultur und Debatte 48

Musik: »Do You Know Who I Am?« Rom*nja-Musiker*innen wenden sich gegen Exotisierung von Antje Meichsner

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Rezensionen

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Szene / Tagungen Impressum

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Editor ia l

50 Jahre, 500 Aktive, 5.000 AutorInnen 1968 war ein besonderes Jahr. Mit den damaligen weltweiten Aufbrüchen und Revolten lassen sich nicht nur Themenschwerpunkte füllen (ab Seite 14). Für das informationszentrum 3. welt und seinen Trägerverein Aktion Dritte Welt ist jenes Jahr noch aus einem weiteren Grund kein gewöhnliches: Im Frühjahr 1968 versammelten sich erstmals junge Studierende in Freiburg, um fortan die Ausbeutung der Dritten Welt zu beenden. Drunter wollten sie es – ganz im Geiste der Zeit – nicht machen. Die Anfänge der von ihnen ins Leben gerufenen Aktion Dritte Welt waren zwar eher sozialdemokratisch-reformorientiert denn revolutionär-antikapitalistisch geprägt. Aber auch sie waren beseelt von der 68er-Idee, die Welt umzuwälzen – und vor allem: das auch tatsächlich zu können! Dieser Spirit, der Wille zur radikalen Umgestaltung der globalen Verhältnisse, ist bis heute im iz3w höchst lebendig. Sicher, 50 Jahre nach 1968 ist der Glaube an diese Unmittelbarkeit von Veränderung etwas lädiert. Es gab zu viele Niederlagen, zu viele Irrungen. Man denke nur an das Elend des Befreiungsnationalismus, die immer wieder neuen Konjunkturen des Rassismus, an den Niedergang des Realsozialismus oder den neuen ‚Klassenkampf von oben’. Das linke Bewusstsein musste auch im iz3w Bescheidenheit und Selbstreflektion lernen. Das war nicht immer einfach.

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och an der Überzeugung, dass an den ungerechten Verhältnissen gerüttelt werden muss und dazu kosmopolitische Solidarität unverzichtbar ist, hat sich nichts geändert. Unser siebzigjähriger Alt-68er ist mindestens so motiviert, die Welt zugunsten einer herrschaftsfreien Assoziation Gleichberechtigter umzukrempeln, wie unsere 24-jährige Nachwuchsredakteurin. (Wer ihn reden und lachen hört, gewinnt den Eindruck, seine sozialrevolutionäre Emphase ist sogar stärker ausgeprägt. Ist wohl generationsbedingt.) In den vergangenen 50 Jahren haben sich nach unseren Recherchen über 500 Menschen aktiv im iz3w eingebracht. Für die meisten von ihnen ist diese oft Jahre währende Zeit ein prägender Teil ihrer Biographie. Hier haben sie sich politisiert und gegenseitig gebildet, hier wurden Aktionen vorbereitet, Texte diskutiert und bisweilen darüber gestritten. All das geschah mit viel Herzblut. Die Emotionen sind im Gespräch mit ehemals Aktiven noch heute spürbar. Gleiches gilt für die sage und schreibe 5.000 AutorInnen, die im Laufe der Jahrzehnte einzeln oder im

Kollektiv für die Zeitschrift schrieben. Eine Liste mit allen uns bekannten AutorInnennamen werden wir demnächst veröffentlichen. Im Februar folgt eine politische Chronik des iz3w. Im Frühjahr wird dann eine Ausstellung mit alten Plakaten und Hörstationen über fünf Jahrzehnte internationalistische Arbeit im iz3w fertiggestellt.

Die runde Fünfzig werden wir selbstverständlich ge-

meinsam mit ehemaligen und heutigen Aktiven gebührend feiern, und zwar nicht nur diskutierend. Wir freuen uns darauf! Am 14. April laden wir alle Interessierten nach Freiburg zu einer großen Geburtstagsgala. Die beliebteste Feierform der 68er ist aber bekanntlich das Open Air Festival. Da lassen wir uns nicht lumpen und laden am 9. Juni aufs Freiburger Grethergelände ein. Das zusammen mit Radio Dreyeckland organisierte Festival wird unser Dankeschön an die vielen Menschen in Freiburg und Umgebung sein, die uns über die Jahrzehnte unterstützt haben. Im Rahmen von »iz3w on tour« möchten wir im gesamten Jahr 2018 über Freiburg hinaus mit unseren LeserInnen diskutieren. Geplant sind Filmpräsentationen und Veranstaltungen in Hamburg, Berlin, Dresden, Paris und Basel. Die Themen reichen von Autoritarismus, Islamismus, Freihandel bis zu Postkolonialismus und vielem mehr. Im Oktober und November wird eine große Veranstaltungsreihe in Freiburg den Schlusspunkt des Jubiläumsjahres setzen.

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ll diese Aktivitäten machen nicht nur viel Arbeit, sie kosten auch Geld. Deshalb bitten wir alle, die es sich leisten können, um Spenden. Wir würden sie glatt als Geburtstagsgeschenk interpretieren… Last but not least möchten wir unsere Abokampagne auf Seite 59 vorstellen: Nach fünfzig Jahren ist es Zeit – für 5.000 Abos. Sie würden uns jene Unabhängigkeit sichern, die wir in der Vergangenheit genossen haben und in Zukunft mehr denn je brauchen. Schafft zwei, drei, viele Abos! die redaktion

Spendenkonto: Aktion Dritte Welt e.V., GLS Bank, IBAN: DE16 4306 0967 7913 3876 00

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Editor ial

1968 international »Für mich wichtig an der Bewegung von 1968 war die Ermutigung der iranischen Studentenbewegung durch im Ausland studierende Iranerinnen und Iraner, die mit dieser Bewegung in Kontakt gekommen waren. Dies war eine wichtige Inspirationsquelle für den Wunsch, das Regime des Schahs zu stürzen. Der Kontakt mit der 68erBewegung gab auch wichtige Anstöße, das Ausbildungssystem im Iran zu modernisieren. Auf den Sturz des Schahs folgte die Errichtung der Diktatur der Ajatollahs. Ich konnte 1987 dank glücklicher Umstände aus dem Gefängnis im Iran nach Deutschland fliehen. Hier traf ich auf viele dieser ehemaligen 68er, die mir nun halfen, in Deutschland eine sichere Bleibe zu finden. Auch der Arzt, der meine durch die Folter verursachten Leiden behandelte und dabei viel Zeit und Mühe investierte, gehörte der 68erGeneration an.« Mit diesen Worten beschreibt der heute in Konstanz lebende ehemalige Studentenaktivist Ali Schirasi einen oft in Vergessenheit geratenen, aber enorm wichtigen Aspekt von 1968: die internationale Solidarität. Heute gilt Solidarität als ein aus der Zeit gefallener Old-School-Begriff. Die damit verbundenen Demoparolen werden allenfalls noch ironisch zitiert – gerade von jenen, die sie früher voller Inbrunst skandierten. Doch im Jahr 1968, nach zwei Weltkriegen, war es revolutionär, eine über alle nationalen Grenzen hinausreichende Solidarität konkret zu gestalten. Es blieb nicht beim bloßen Theoretisieren, sondern es ging um ganz praktische Unterstützung, etwa wenn westdeutsche Wohngemeinschaften Vietnamkriegs-Deserteuren aus den USA Unterschlupf boten. Die Entstehung eines solchen Grenzen sprengenden solidarischen Geistes ist eine Zäsur gewesen, die bis heute zumindest einen Teil der Gesellschaft prägt – zum Beispiel uns im iz3w .

Die 2018 zu erwartenden medialen Rückblicke auf

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1968 werden vor allem die Ereignisse in Westeuropa und Nordamerika thematisieren. Tatsächlich war der Aufbruch von 1968 für die Demokratisierung westlicher Gesellschaften enorm wichtig. Doch wird dabei allzu oft übersehen, dass studentische Proteste und die davon ausgehenden Entwicklungen viele Länder auf allen Kontinenten prägten. Einige linke HistorikerInnen stellen sogar die These auf, dass »1968« globalgeschichtlich betrachtet sein eigentliches Epizentrum in peripheren Regionen hatte, in der damals noch voller Emphase so genannten »Dritten Welt«. Ob das Aufbegehren gegen Kolonialismus, westlichen Imperialismus und neokolonialen Kapitalismus der länder-

übergreifende Kern der 68er-Bewegungen war, ist umstritten. In jedem Fall aber waren die politischen Aufbrüche nicht auf die Zentren des kapitalistischen Westens in Nordamerika und Westeuropa beschränkt, sondern sie ereigneten sich im Senegal, in Mexiko, Japan, Indien und dutzenden anderen Ländern – auch im Ostblock. Es gab zwischen den 68er-Bewegungen starke wechselseitige Bezüge, grenzüberschreitende Interaktion und Vernetzung. Im Westen rezipiert wurden beispielsweise antikoloniale Literatur von Frantz Fanon, Amilcár Cabral und Aimé Césaire, die Schriften von Mao Tse-Tung, die in Lateinamerika entwickelte Dependenztheorie und die Befreiungstheologie.

1968

lässt sich nicht auf ein einziges Jahr beschränken. Die politischen Aufbrüche begannen mit antikolonialen und antimilitaristischen Bewegungen in den frühen 60ern und reichten bis in die Mitte der 70er. Mit dem Zerfall der Studentenbewegungen und der entstehenden Alternativbewegung begann eine neue Zeit. Dem Zerfall der 68er-Bewegungen folgten etwa die Schwulen- und Lesbenbewegung, die Anti-Atom- oder die Ökobewegung. Auch dies ereignete sich nicht allein im Westen. Politisch bewegt haben die 68er unmittelbar nicht allzu viel, ihre Parteien und Organisationen blieben marginal und die Repression tat ihr Übriges. Der antiautoritäre Impetus von 1968 war aber langfristig als Kulturrevolution erfolgreich, und zwar ebenfalls weltweit. Unangepasste oder subkulturelle Elemente in Musik, Literatur, Bildender Kunst und Theater bekamen einen ganz neuen Stellenwert, in Indien ebenso wie in deutschen Kleinstädten. Der Freiheitsimperativ der 68er konnte jedoch bald nicht nur kulturindustriell in die Kapitalverwertung integriert werden, sondern auch durch die Individualisierung ökonomischen Verhaltens. Die Vereinzelung auf dem Arbeitsmarkt beförderte etwa selbstausbeuterisches Kleinunternehmertum oder die Erosion von Gewerkschaften. Die Rede von der »befreiten Sexualität« verweist ebenfalls auf Defizite: Ihr lag ein heterosexistisches, männlich dominiertes Konzept zugrunde, kein universalistischer Anspruch. Früh entstand daher aus der 68er-Bewegung heraus eine Neue Frauenbewegung – auch dies ein nahezu weltweites Phänomen. In unserem Themenschwerpunkt können wir nicht annähernd alle Facetten des schillernden 1968 beleuchten. In den kommenden Ausgaben werden wir daher einiges noch vertiefen. die redaktion

Der Themenschwerpunkt 1968 international wurde gefördert durch die Aktion Selbstbesteuerung und die Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Unter Linken wie unter GlobalhistorikerInnen gibt es die Tendenz, die 1968er-Bewegung als globales revolutionäres Subjekt zu interpretieren. Zwar habe sie sich weltweit in sehr verschiedenen Ländern und Kontexten gezeigt. Doch gerade die gemeinsame antikoloniale und antiimperialistische Stoßrichtung habe die Protestierenden in den Ländern des Nordens mit jenen in der Dritten Welt geeint. Der linke Historiker Arif Dirlik warnt demgegenüber davor, die Gemeinsamkeiten zu überschätzen. Wir präsentieren hier erstmals in deutscher Übersetzung die Kurzfassung eines Essays von ihm, der in der internationalen Literatur über 1968 viel rezipiert wurde. Der redaktionell stark gekürzte Aufsatz erschien zuerst in: Carole Fink, Philipp Gassert, Detlef Junker: 1968: The World Transformed. Cambridge University Press 1998, S. 295 – 318. Eine erheblich längere ins Deutsche übersetzte Fassung mitsamt den hier entfallenen Literaturangaben steht auf www.iz3w.org tt

Ein globaler Topos: Gegen den Vietamkrieg

Foto: iz3w-Archiv

Eine Metapher, keine Wendemarke Die Rolle der Dritten Welt für und während »1968« von Arif Dirlik

19 Das Neunzehnhundertachtundsechzig, wie ich es verstehe, war keine zeitliche Verortung eines universellen Geistes oder einer universellen Tendenz, wie sie sich in verschiedener Form an unterschiedlichen Orten ausdrückte. Es besaß auch nicht überall dieselbe Bedeutung als historischer »Wendepunkt«. Aus der Perspektive Europas und der USA schufen die Intensivierung studentischer Aktivitäten in den 1968 vorausgehenden Jahren und deren Niedergang im Anschluss den Eindruck, dass 1968 eine eindeutige historische Wegmarke ist. Dies ist in der Dritten Welt nicht der Fall. Unter den Nationen der Dritten Welt, in denen es zu wesentlichen studentischen Aktivitäten kam, finden sich Brasilien, die Zentralafrikanische Republik, Chile, Ecuador, El Salvador, Äthiopien, Ghana, Indien, Indonesien, Malaysia, Marokko, Nicaragua, Südafrika, Südtt

korea, Sri Lanka, Sudan, Tansania, Thailand und Sambia. Aus einer globalen Perspektive erhält 1968 seine Bedeutung aus dem Zusammentreffen vieler Bewegungen auf der ganzen Welt, die bereits seit einiger Zeit aufkeimten und deren Gleichzeitigkeit aus dem Jahr 1968 einen historischen Wendepunkt machte. Diese Gleichzeitigkeit lässt 1968 als Höhepunkt vorhergehender Jahre erscheinen oder als Ausgangspunkt für die kommenden Jahre; daraus leitet sich nicht ab, dass die einzelnen Bewegungen, die in die Entstehung von 1968 einfließen, notwendigerweise in jenem Jahr ihren Höhepunkt erreicht hatten. Sicher gab es Gemeinsamkeiten. 1968 schien Bewegung auf Bewegung in einem Land nach dem anderen zu folgen. Überall standen Studentenbewegungen im Mittelpunkt und vermittelten

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so den Eindruck einer weltweiten Politisierung von Bildung. Das Übergewicht der Studierenden in diesen Bewegungen garantierte fast unfehlbar, dass gemeinsame Fragen in Bezug auf Bildung, Bildungsinstitutionen und deren Rolle in der Gesellschaft in vielen verschiedenen Kontexten zur Sprache kamen. In jedem der Fälle schien das Verhältnis zwischen Bildung und Politik eine brennende Frage zu sein. Kommunikation zwischen völlig verschiedenen Gesellschaften, in vielen Fällen vermischt mit organisatorischen Verbindungen zwischen den Studierenden, deuteten nicht nur auf unterschiedliche Bewegungen mit gemeinsamen Anliegen hin, sondern vermittelten den Eindruck einer organisierten Bewegung, die nationale und sogar kontinentale Barrieren überstieg. Die Gemeinsamkeiten mögen jedoch überbetont sein. Die von den Bewegungen kritisierten Missstände waren ’im heimischen Boden verwurzelt‘. In vielen Fällen hatten die Bewegungen von 1968 ihre eigenen Geschichten, die zu bedeutsamen Unterschieden in ihrer Konfiguration führten und ganz unterschiedliche Lösungen der Missstände, die sie hervorgerufen hatten, erforderlich machten. In den Worten von Suleyman Genc, einem Historiker der politischen Bewegungen der 1960er in der Türkei (seinerseits Aktivist): »Es ist nicht ganz zutreffend, Zusammenhänge zwischen den Vorgängen in Europa und denen der Türkei herzustellen. Zweifelsohne haben die Kommunikationsmedien psychologische Effekte erschaffen, die einen gewissen Grad an Übereinstimmung mit den dortigen [gemeint ist Europa] Vorgängen produzierten. Aber die sich in der Türkei abspielenden Entwicklungen waren keinesfalls Kopien der europäischen Vorgänge«.

Spaltung und Entfremdung angingen. China war auch deshalb beispielgebend, weil es, im Gegensatz zu anderen Gesellschaften, die politische Führung war, die den Versuch der Revolutionierung der Gesellschaft initiierte. Die religiöse Anbetung eines Führers, die oft komische Dimensionen annahm, schien den Radikalen, die politisch die Demokratie suchten, ein kleiner Preis zu sein.

1968 in der Volksrepublik China Man kann sagen, dass die weltweiten Aufstände von 1968 für die Volksrepublik China, die von der Welt so stark abgeschottet war, wie es für eine größere gesellschaftliche Formation in der Moderne überhaupt nur möglich war, am wenigsten relevant waren. Sicher, in jenem Jahr gab es auch in China bedeutsame Aufstände. Der am besten dokumentierte Fall ist die Tsinghua-Universität in Beijing, die zwischen April und Juli 1968 Schauplatz zugespitzter Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Fraktionen von Studierenden war, an denen schließlich auch ArbeiterInnen, die Volksbefreiungsarmee und die höchsten Ebenen der Partei- und Regierungsführung beteiligt waren. Es gab 1968 in ganz China vergleichbare Geschehnisse. Doch sie hatten wenig mit den anderswo stattfindenden Entwicklungen während dieses Jahres zu tun. Mit China beginne ich aber nicht deshalb, weil 1968 so wichtig für China wäre, sondern aufgrund der Bedeutung, die China für 1968 besitzt. Eben weil China von den weltweiten Geschehnissen in den 1960er Jahren, insbesondere nach 1966, abgeschnitten war, steht es exemplarisch für eine Situation in der Dritten Welt, in der 1968 ein Produkt intern erschaffener Konflikte war. Dennoch sollten die Vorgänge in China während dieser Jahre weltweite Auswirkungen haben, da zunächst das chinesisch-sowjetische Zerwürfnis und dann die Kulturrevolution (offiziell von 1966-69) die Volksrepublik ins Zentrum des Weltradikalismus rückte. Dies machte die chinesischen revolutionären Erfahrungen zu einem Paradigma nicht nur der Dritten Welt, sondern auch der Ersten. Von den Philippinen bis Peru, von Japan bis Nordamerika sollten Mao Tse-Tungs Marxismus und die Praktiken der Kulturrevolution eine bedeutsame Rolle in der Entstehung von 1968 spielen. Das Hervorstechendste an der Kulturrevolution war der moralische Eifer, mit dem die Maoisten Probleme gesellschaftlicher tt

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Das maoistische Paradigma bezog weitere Attraktivität aus seiner Verschmelzung mit anderen Kämpfen der Dritten Welt in den 1960ern, die gemeinsam als Vorboten einer neuen Form des Sozialismus und einer neuen Gesellschaft dienten. Von besonderer Bedeutung waren in dieser Hinsicht die Kämpfe in Vietnam und Kuba. Vietnam stellte 1968 das unmittelbarste Modell einer Revolution des Volkes dar, das auch den globalen Konflikt zwischen der Ersten und der Dritten Welt in den Vordergrund trug. Wenn China ein Paradigma für eine alternative Entwicklung bot, dann war Vietnam in den 1960ern ein Beispiel für eine Gesellschaft, die dieses Paradigma gegen die Unmittelbarkeit des Imperialismus anstrebte. Der antiimperialistische Kampf von unten in Vietnam verlieh dem volksbasierten chinesischen Entwicklungsmodell zusätzliches Gewicht, da beide Ergebnis nationaler Befreiungskämpfe gegen den Imperialismus waren. Der vietnamesische Guerillakrieg, wie er in der Tet-Offensive gegen die USA exemplarisch zum Ausdruck kam, muss jedoch von einem anderen Beispiel für den Guerillakrieg unterschieden werden, der damals durch Che Guevaras Aktivitäten in Bolivien personifiziert wurde und mit seinem Tod durch die CIA und das bolivianische Militär wenige Monate zuvor geendet hatte. Die 1968 dominierende Verwirrung bezüglich beidem war für die radikale Bewegung fatal. Denn es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einer

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1968 international militärischen Operation wie Tet, die in ihrem Einsatz von Guerillataktiken sehr gründlich entworfen worden war, und einer Guerillaoperation, die sich in der Hoffnung auf eine schlussendlich militärische Operation der nationalen Befreiung in großenteils unbekanntes Gebiet vorwagte. 1968 schufen die Bilder von Guevara, die häufig von Mao-Bildern begleitet wurden, in der Dritten

politischen Anliegen, die zu der »Boykott- und Besetzungs-Bewegung« geführt hatten und an der sich viele Studierende beteiligten, wurden von Fraktionskämpfen überschattet. Dadurch wurden die Universitäten zu Kampfgebieten, in denen sich, ähnlich wie an der Tsinghua-Universität in Beijing, bewaffnete Gruppen in anhaltenden Auseinandersetzungen gegenüberstanden. Geformt durch die politischen Konflikte, die das Land seit 1965 erschüttert hatten, wurden die Studentenbewegungen von 1968 das Medium, durch das tief sitzende gesellschaftliche Spaltungen artikuliert wurden. Wenig überraschend drängte die Bewegung in einer nach der anderen Stadt von den Universitäten auf die Straßen, wo es einen Bürgerkrieg »niedriger Intensität« gab, der bis weit in die 1970er Jahre dauerte. Wie in den Fällen Chinas und Indiens war auch in der Türkei die Beteiligung anderer Gruppen als die der Studierenden dafür verantwortlich, dass der Eindruck eines Bürgerkriegs entstand. Ab dem Februar 1968 begleiteten Arbeiterunruhen die Studentenbewegung, was schließlich zu der öffentlich stark wahrgenommenen Übernahme eines Gummiwerks im Juli in Istanbul führte. Der Klassenkonflikt (der durch Stammes- und ethnische Konfrontationen verschärft wurde) war während dieses Jahrzehnts in den ländlichen Gegenden, insbesondere im Osten der Türkei, endemisch gewesen. Auch die Studentenbewegung in der Türkei drückte sich in der Sprache des zeitgenössischen Radikalismus aus. Antiimperialismus und die Suche nach nationaler politischer und ökonomischer Autonomie waren zentral für die Grammatik dieser Sprache, die von der Kubakrise, aber insbesondere durch den Konflikt in Zypern im Jahr 1965 genährt wurde. Viele waren zunehmend besorgt, dass die Türkei nur wenig mehr als ein Faustpfand in der globalen Strategie der USA war; bei mindestens zwei radikalen Geschehnissen kam es zu gewalttätigen Reaktionen auf die Provokationen der Sechsten Flotte der USA. Der Wunsch nach einer autonomen naInspiriert von der antikolonialen Kulturrevolution: Foto: SCMP tionalen Kultur wie auch die Suche nach lokalen Revolutionen von Protest in Hongkong (1967) unten kamen am deutlichsten in den Forderungen der KurdInnen der Osttürkei zum Ausdruck. Die größte linksradikale Studentenorganisation Dev-Genç (Union der Revolutionären Jugend), die im April 1968 gegründet wurde, sollte zu einem Rekrutierungsbecken wie in der Ersten Welt den Eindruck, es gäbe eine globale Guerilla. für den Maoismus werden. Doch Mao und Che trennten Welten. Was den Fall der Türkei im Jahr 1968 charakterisiert, war jedoch Sie teilten zwar einige Ansichten, allem voran den Antiimperialismus, die Vorstellung eines Sozialismus, der auf dem Volk aufbaut, die ideologische Spaltung in den Reihen der Radikalen, die sich und den Glauben an die Fähigkeit des revolutionänicht auf die Linke beschränkte. Die ren Kampfes, eine neue revolutionäre Kultur zu entscheidenden Spaltungen waren jene Vietnam stellte das erschaffen. Was sie aber 1968 vor allem vereinte, zwischen linken Intellektuellen, rechten waren die Bilder der Ersten Welt von der Dritten islamischen Fundamentalisten (einunmittelbarste Modell einer Welt sowie die Vorstellungen in der Dritten Welt, schließlich des späteren Premierministers Revolution des Volkes dar Necmettin Erbakan) sowie rechten Nadass das, was gegen den Imperialismus an einem Ort funktionierte, ebenso gut an einem anderen tionalisten, die von Alparslan Türkeş funktionieren würde. Es erübrigt sich zu sagen, dass letzteres im angeführt wurden, dessen faschistische Ideologie durch das VerWiderspruch zu den Grundlagen des Guerillakrieges selbst steht; langen nach einem großtürkischen Reich angetrieben wurde. aber in den unbesonnenen Tagen von 1968 hatten solche subtilen Rechte politische Gruppen und ihre Aktivitäten spielten eine Unterscheidungen nicht viel Gewicht. wichtige Rolle in der Gestaltung der radikalen Bewegung von 1968 und folgender Jahre, wobei die Fundamentalisten sich im Einzugsbereich von Moscheen organisierten und die Nationalisten in 1968 in der Türkei populistischen Organisationen mit ihren Kommandozentralen. Bis tt Neunzehnhundertachtundsechzig war in der Türkei ein ereigAugust hatten einige der islamistischen Gruppen einen »Dschihad« gegen die Linke mit dem Versprechen ausgerufen, dass die Zukunft nisreiches Jahr. Beginnend im April setzte eine »Boykott- und Beder Türkei nicht wie in Vietnam oder Kuba, sondern wie in Indosetzungs-Bewegung« ein, die sich rasch von Ankara nach Istanbul nesien aussehen würde. Es waren die Guerillagruppen von Türkeş, und auf Provinzuniversitäten jeder größeren Stadt ausbreitete. Im Juni waren die Universitäten in der Türkei lahmgelegt. Die bildungsdie im August 1968 aus politischen Konflikten bewaffnete machten. iz3w • Januar / Februar 2018 q 364

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Während in den meisten Gesellschaften die Geschehnisse von 1968 von Linken in Gang gebracht worden waren, war es in der Türkei eine Studentin der Fakultät für Theologie an der Universität von Ankara, die die »Bewegung des Boykotts und der Besetzung« ins Leben rief. Sie hatte darauf bestanden, im Seminar ein Kopftuch zu tragen, eine Handlung, die nicht nur juristisch den kemalistischen Säkularismus herausforderte, sondern auch dessen Legitimität infrage stellte.

1968 in Ägypten und Äthiopien

In den 1960er Jahren gärte es unter den Studierenden in ganz Afrika. Am 21. Februar 1968 beendeten Studierende in Kairo und Alexandria eine 14 Jahre dauernde Periode der Ruhe und gingen zur Unterstützung eines Streiks von ArbeiterInnen auf die Straße. Frustrationen, die aus der Niederlage im Krieg mit Israel von 1967 entstanden waren, spielten sowohl im Streik als auch in den nachfolgenden Aktivitäten der Studierenden eine wichtige Rolle. Nichtsdestotrotz boten sie die Gelegenheit, Unzufriedenheit mit dem NasserRegime zum Ausdruck zu bringen. Forderungen nach Demokratie an der Universität und in der Gesellschaft insgesamt waren unter den Studierenden stark. Parolen wie »Nieder mit dem Militärstaat« oder »Nieder mit dem Geheimdienststaat« waren auf ihren Demonstrationen zu hören. Während einige Regierungsmitglieder lahme Versuche unternahmen, die Studentendemonstrationen Kräften von außen oder Reaktionären zuzuschreiben, die durch die Revolution von 1952 aus ihren Ämtern entfernt worden waren, nahmen die Behörden insgesamt eine versöhnlerische Haltung gegenüber den Studierenden ein, die sie als »unsere Söhne und Brüder« bezeichneten. Die Konzessionen der Regierung zugunsten größerer Freiheit an den Die Revolution denken: Angela Davis und Herbert Marcuse Foto: iz3w-Archiv Universitäten, begleitet vom Versprechen größerer politischer Freiheiten, entschärften die Situation. Doch die geschlossen. Als sie wiedereröffnet wurde, führte eine erhebliche wiederhergestellte Ruhe wurde im November gebrochen, als die Zahl von Studierenden ihren Boykott der Seminare fort. Mit dem Studierenden einmal mehr auf die Straße gingen, dieses Mal als Beginn des neuen akademischen Jahres im November verfügten Antwort auf das neue Bildungsgesetz, das an die Universitätszusie über genügend Macht, um ihre Studentengewerkschaft wieder gangsprüfungen größere Anforderungen stellte. Die in der Stadt al-Mansoura am 21. November einsetzenden Demonstrationen ins Leben zu rufen. Innerhalb dieser spielten Marxisten eine wichbreiteten sich rasch aus und führten zu erheblichem Blutvergießen tige Rolle, was zur Eskalation des Studentenradikalismus nach 1968 und Zerstörung. beitragen sollte. Auch wenn der Anlass im engeren Sinne die Hochschulbildung Der Fokus auf die Modenschau als Gelegenheit für Protest verzu sein schien, nahmen auch Nichtstudierende an den Demonstlieh der Studentenbewegung von 1968 einen misogynen Charakrationen und Streiks teil. Diese zweite Runde der Gewalt im Jahr ter. Studentinnen wurden harte Vorwürfe gemacht, wegen ihrer 1968 wurde durch die »praktischen« Probleme beendet, die sich ‚beschämenden‘ Teilnahme an der Modenschau, und ein studendurch den Ramadan auftaten. Dieses Mal war die Antwort der tisches Flugblatt versicherte, dass »sie als Komplizinnen der NeoRegierung weniger nachsichtig, die Streiks zogen die Einschränkung kolonialisten in die Geschichte eingehen werden… die für die der Freiheiten nach sich, die den Studierenden zuvor zugestanden Einführung des Minirocks und dessen Auswirkungen auf die Moral worden waren. Die durch die Geschehnisse von 1968 an die Oberdieses Landes verantwortlich sind«. Wie auch im zeitgenössischen tt

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fläche gebrachten Widersprüche wurden nicht gelöst und sollten im Jahr 1970 in noch militanteren Studentenprotesten ihren Höhepunkt finden. Der Studentenaufstand in Äthiopien begann anlässlich einer scheinbar trivialen Angelegenheit und erschien nach außen hin als regressiv. Anlass war eine Modenschau, die am University College in Addis Ababa, einer von Ausländern dominierten Institution, abgehalten werden sollte. Am 30. März versammelten sich die Studierenden bei der Ras-Makonnen-Halle, wo die Modenschau stattfinden sollte. Als die Gäste ankamen, fingen einige Studierende an, Akte physischer Gewalt auszuüben; Frauen wurden geschlagen und geohrfeigt, Gäste und Teilnehmende wurden unterschiedslos mit verfaulten Eiern beworfen; einige Gäste wurden aus ihren Autos gezogen und belästigt. Studenten bespuckten Frauen, Beschäftigte und andere Universitätsangehörige. Die Polizei wurde gerufen, 38 Studenten wurden festgenommen, die Studentengewerkschaft wurde verboten und die Universität

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1968 international China geschehen, brachte die Bewegung von 1968 ein scharfes Vorgänge von 1968 spielten sich auf vielen nationalen Terrains ab und waren geprägt durch eine Vorstellung der Welt als in Drei Bewusstsein der kulturellen Dimensionen des Kolonialismus zum Ausdruck. Ein anderes Flugblatt erklärte, dass die »Modenschau Welten aufgeteilt, die damals ihre schärfste Ausprägung erreicht nichts anderes ist, als ein solches Mittel des Neokolonialismus … haben mochte. ein Instrument für die Schaffung eines Marktes für Luxusgüter. Da Aber 1968 stellte auch eine vorher nie da gewesene Globalisieder Ursprung dieser Waren in den entwickelten Nationen liegt, rung des radikalen Bewusstseins dar, die nationale Grenzen wie trägt der Ertrag vom Verkauf dieser Textilien auch die durch die Metapher der Drei überhaupt nicht zum Wachstum unseres lokaWelten implizierten Grenzen in Frage 1968 geschah eine vorher nie stellte. Das geschärfte Bewusstsein für die len Einkommens bei«. Unterdrückungs- und AusbeutungsverBei ihrer Entstehung in den frühen 1960er da gewesene Globalisierung hältnisse zwischen den Drei Welten, das Jahren befasste sich die Studentenbewegung radikalen Bewusstseins sehr viel zur Entstehung von 1968 beiin Äthiopien mit den Freiheiten der Studierentrug, wurde von einem ebenfalls geschärfden. Jene, die in den Seminaren von der Notten Bewusstsein begleitet, dass diese Verhältnisse und die daraus wendigkeit der Freiheit erfahren hatten, wurden sich zunehmend entstandenen Probleme diese Welten enger zusammenbrachte, des Mangels an Freiheiten in ihren eigenen Angelegenheiten beanstatt sie voneinander zu trennen. Das verbindende Element war wusst. Dieses gewachsene Bewusstsein wurde in diesem Jahrzehnt eine globale Unterdrückungs- und Ausbeutungsstruktur, die allernoch durch andere Belange genährt. Die verstärkte Einmischung dings in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Formen der USA in die äthiopischen Angelegenheiten nach 1960 ließ das Bewusstsein der Neokolonisierung der äthiopischen Gesellschaft annahm. Lösungen dieser Probleme in einem Kontext wurden nun wachsen. Der Krieg in Vietnam, der ein klarer Beweis für den USauch für andere Kontexte als relevant erachtet. Imperialismus in der Dritten Welt zu sein schien, führte zur IntenGleichzeitig gab es jedoch ein wachsendes Bewusstsein über die Notwendigkeit lokaler Lösungen für solche Probleme. So wie schon sivierung der Opposition. Insbesondere nach 1958, als Studierende aus anderen Staaten nach Äthiopien kamen, beeinflussten auch der amerikanische Imperialismus, der für den weltweiten Radikadie Entkolonialisierungsbewegungen anderer afrikanischer Staaten lismus eine große Rolle spielte, amerikanische Lösungen für die die Studierenden. Probleme der Welt diskreditierte, waren die vorhergehenden radiInsbesondere auf kulturellem Gebiet sollten sie erheblich zur kalen Lösungen, wie sie der sowjetische Kommunismus darstellte, Stärkung des Bewusstseins von der »Afrikanität« unter äthiopischen insbesondere nach der Besetzung der Tschechoslowakei 1968 ein Studierenden beitragen. Dies fiel mit Veränderungen in der Klassen­ weiteres Opfer von 1968. Alternative Entwicklungsparadigmen, zusammensetzung an äthiopischen Hochschulen zusammen, die wie sie die nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt Proletarisierung der Studierenden verlief parallel zur Intensivierung darstellten, ersetzten in den 1960ern zunehmend frühere kapitader studentischen politischen Opposition zur Regierung. Die Stulistische oder kommunistische Entwicklungsmodelle. dierenden waren sich der Kluft, die sie aufgrund ihrer Herkunft aus So wie Radikale der Dritten Welt von radikalen Bewegungen in ländlicher oder städtischer Armut trennte, sehr bewusst. Europa und den Vereinigten Staaten inspiriert worden waren, Die 1964 gegründete Krokodilgesellschaft führte den Marxismusnahmen Radikale der Ersten Welt Lösungen für gesellschaftliche Leninismus in die äthiopische Studentenbewegung ein. Der MarFragen der Dritten Welt als die ihren an. In bestimmten Fällen gab es direkte Verbindungen zwischen den Bewegungen von »1968« xismus in seiner maoistischen Variante war bis zum Sechsten Kongress der Nationalen Gewerkschaft äthiopischer Studenten im März und ihren »Vorgeschichten«. In anderen Fällen mögen diese Ver1967 zu einer wichtigen Strömung der Studentenbewegung gebindungen im Laufe der radikalen Aktivitäten konstruiert worden worden. Die Beschlüsse des Kongresses ignorierten die Sowjetunisein, dabei Traditionen des Radikalismus »erfindend«1. In Gesellschaften der Dritten Welt entstanden in unterschiedlichen Konon praktisch, wohingegen sie in deutlichen Worten Unterstützung und Bewunderung für Maos China und Castros Kuba ausdrückten; texten unterschiedliche Sprachen des Radikalismus, die ein geder US-Imperialismus wurde durchgehend angeklagt. meinsames Vokabular teilten, ihre Grammatik aber aus ihrer konkreten Geschichtlichkeit bezogen. Ob nun 1968 als Meilenstein Im Fall der äthiopischen Studentenbewegung spielten organiin unterschiedlichen Kontexten der Dritten Welt diente oder nicht, satorische Netzwerke eine bedeutende Rolle, da die äthiopischen Studentengewerkschaften in Europa und Nordamerika mit der so ist dieses Jahr zumindest als metaphorische Markierung von Bewegung in Äthiopien in Verbindung standen. Nichtsdestotrotz Bedeutung. war das Bewusstsein der Afrikanität bedeutsam für die Weise, in der die Ideologie der Bewegung zum Ausdruck gebracht wurde. Anmerkung Von besonderer Bedeutung war der Widerspruch zwischen den 1 Dirlik bezieht sich hier vermutlich auf das Konzept der »Erfundenen Tradition« gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen des marxistischen Historikers Eric Hobsbawm; Anm.d.Ü. des Neokolonialismus und andererseits der neokolonialen Kultur, die die Hochschulbildung beherrschte. Obgleich die Antwort auf die Modenschau von 1968 oberflächlich betrachtet trivial war, wurde sie von diesem tiefer liegenden Widerspruch ausgelöst. tt Arif Dirlik wurde 1940 in der Türkei geboren und lehrte nach seiner Einbürgerung in die USA jahrzehntelang an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten. In seiner Forschung befasste er Die Dritte Welt und 1968 sich vor allem mit politischen Ideologien im modernen China sowie tt Eine Dritte-Welt-Perspektive auf 1968 erfordert eine »Doppelvimit Globalisierung und Postkolonialismus. Eine seiner wichtigsten sion«, die sowohl global als auch lokal ist, sollen die Komplexitäten Veröffentlichungen ist »Anarchism in the Chinese Revolution« radikaler Bewegungen in diesem Jahr gewürdigt werden. Die (Berkeley 1991). Übersetzung aus dem Englischen: Lars Stubbe iz3w • Januar / Februar 2018 q 364

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Es war nicht allein der Vietnamkrieg, der die Protestbewegungen von 1968 entfachte. Doch spielte er eine besonders wichtige Rolle für die Politisierung junger Menschen, in Westdeutschland ebenso wie den Philippinen. Unser Autor berichtet als teilnehmender Beobachter von den Aktivitäten, Ansätzen und Problemen der damaligen AktivistInnen.

Kampagne zugunsten von Kriegsdienstverweigerern Quelle: joelsolkoff.com

»Kommt herunter vom Balkon« Beobachtungen aus der 68er-Bewegung in der BRD und in Südostasien 24

von Rainer Werning Die »68er-Bewegung« war ein weltweites Phänomen. Sie erfasste Großstädte in den USA sowie in Ost- und Westeuropa ebenso wie im damals so genannten Trikont (Asien, Afrika, Lateinamerika). Die jeweils innenpolitischen Nuancen dieser Revolte fielen sehr unterschiedlich aus. Doch all die weltweiten Proteste wurden überwölbt von dem außenpolitischen Thema schlechthin – der US-amerikanischen Aggression gegen das, was Frankreich als sein Kolonialkonstrukt tt

»Indochina« genannt hatte und womit Vietnam, Kambodscha und Laos gemeint waren. Immer wieder gab es auch in Westdeutschland diese wirkmächtigen Bilder des ersten »telegenen« Krieges aus dem fernen Vietnam in der allabendlichen Tagesschau, inklusive der »Bodycounts« von hochrangigen US-amerikanischen Militärstrategen. Mehrheitlich unterstützt wurden sie von christlich-demokratischen PolitikerInnen, in deren geschlossen antikommunistischem Weltbild (ein wesent-

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1968 international liches Relikt der Nazi-Ära) der von Washington ausposaunte Feldzug für »Freedom & Democracy« in Südostasien für bare Münze genommen und als gerecht begrüßt wurde.

erschien dieses Buch auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Vietnam – Das Trauma einer Weltmacht«. Die philippinische Variante der »68er-Bewegung« ist durch die Verquickung von besonderen internen mit externen Faktoren geprägt, die bereits auf die Gründung der Republik der Philippinen Gegen den Vietnamkrieg am 4. Juli 1946 zurück gehen. Es war bezeichnend für den neokott In Westdeutschland besonders bedeutend war zweifellos der lonialen Charakter des Staates, dass sein Gründungs-Tagesdatum auf Initiative des SDS zustande gekommene »Internationale Vietnammit dem der vormaligen Kolonialmacht USA zusammenfiel. Im Kongress« am 17. und 18. Februar 1968 in Westberlin, sowie im ersten Jahrzehnt der jungen philippinischen Republik waren die Herrschenden in Manila und ihre transpazifischen Lehrmeister in Anschluss daran die beeindruckende internationale Solidaritätsdeden USA vorrangig damit befasst, der einst starken Hukbalahap das monstration mit der südvietnamesischen Befreiungsfront FNL. Die Rückgrat zu brechen (also der Antijapanischen Befreiungsarmee, Schlusserklärung dieser Konferenz enthielt ein Sechs-Punkte-Aktidie sich später in Volksbefreiungsarmee umbenannte). onsprogramm, das auf bemerkenswerte Weise die Vorwegnahme Vor allem mittels der Vereinten US-Militär­ einer »Globalisierung von unten« bedeutete. beratungsgruppe (JUSMAG) – seinerzeit das Im Einzelnen ging es bei dem AktionsproSelbst Internationalisten gramm um »Solidarität mit der FNL« um »AufEntscheidungszentrum sämtlicher militärihielten die Philippinen für klärungsaktionen unter den GIs mit dem Ziel, scher und strategischer Belange der Regiedie Wehrkraft der US-Armee zu zersetzen«; um rung in Manila – gelang es den alten Koloeine Art Gewürzmischung die Kampagne »Zerschlagt die NATO« mit nialherren, philippinische Innenpolitik ­Aktionen und Demonstrationen gegen deren mühelos als erweiterte US-Außenpolitik zu Militärstützpunkte in Westeuropa; um die Organisierung von Hagestalten. Sachwalter eines solchen Kotaus war Mitte der 1950er fenarbeiterstreiks dort, wo »Rüstungsgüter für die US-Aggression Jahre ein ausgesprochener Darling Washingtons – der vom Verteidigungsminister zum Präsidenten aufgestiegene Ramon Magsaysay. in Vietnam verschifft« wurden; um die Einrichtung einer »Dokumentationszentrale gegen den Missbrauch der Wissenschaft zu Gleichzeitig war er ein Produkt der sich in den USA formierenden Zwecken der imperialistischen Kriegführung« (was vor allem die Public-Relations-Industrie. Ausarbeitung ausgeklügelter Aufstandsbekämpfungsprogramme Als einzige Ex-Kolonie der USA in Asien bildeten die Philippinen betraf; und schließlich um den Appell, in allen westeuropäischen in Südostasien das Zentrum strikt antikommunistischer Ideologien Ländern eine Kampagne zur Aufklärung der Bevölkerung über in der Ära des Kalten Krieges. In Manila entstand ebenfalls Mitte Konzerne (zu starten), die als »Produktionsstätten für Vernichtungsder 1950er Jahre mit der SEATO das südostasiatische Pendant zur waffen am schmutzigen Krieg verdienen«. NATO – um die Sowjetunion und die Volksrepublik China militärDie Vietnam-Großkundgebung im Februar 1968 bildete den bis strategisch einzudämmen. In den Philippinen unterhielten die USA dato größten Höhepunkt eines internationalistischen Engagements, mit dem Marinestützpunkt Subic Naval Base und der Luftwaffendas es zuvor in den 1960er Jahren der Bundesrepublik erst im basis Clark Air Field die größten außerhalb Nordamerikas gelegenen Falle zweier Staatsbesuche gegeben hatte. Das betraf den Besuch Militärbasen. Diese beiden Stützpunkte bildeten denn auch – von thailändischen des kongolesischen Ministerpräsidenten Moise Tschombé im Jahr Basen abgesehen – die größten und wichtigsten logistischen Zen1964 (er war an der Ermordung von Patrice Lumumba beteiligt, der Galionsfigur im Unabhängigkeitskampf gegen die belgische tren der US-amerikanischen Kriegführung gegen Vietnam, Laos und Kolonialmacht) und die Visite des Schahs von Persien Anfang Juni Kambodscha. Von ihnen aus waren pausenlos B-52-Bombergeschwader im Einsatz, um ihre tödliche Fracht – inklusive Giftgasen 1967, bei der der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten und Napalm – über dem verhassten »Vietcong« abzuwerfen. (Merktödlich getroffen wurde. würdig war die selbst unter internationalistischen Linken kritiklose Übernahme des Begriffs »Vietcong«. Damit waren im abschätzigsWirrungen in den USA ten Sinne seitens des US-Militärs und des südvietnamesischen Vatt In den USA selbst waren es Intellektuelle wie Noam Chomsky, sallenregimes »vietnamesische Kommunisten« gemeint. Einer der Edward S. Herman, Michael T. Klare und Howard Zinn, die Aktionen skandierten Slogans anlässlich des Vietnam-Kongresses in Westbergegen den Vietnamkrieg vollumfänglich unterstützten und mit lin lautete: »Kommt herunter vom Balkon, unterstützt den Vietcong!«) Gleichgesinnten dafür sorgten, dass etliche desertierte GIs in KanaAus westeuropäischer linker Perspektive blieben die Philippinen und ihre Rolle im Vietnamkrieg aus unerfindlichen Gründen ein da oder in skandinavischen Ländern Unterschlupf fanden und vor der drakonisch strafenden US-Militärgerichtsbarkeit geschützt waren. weißer Fleck. Ich habe es mehrfach erlebt, dass selbst politisch Unglaublich, aber wahr: Zig Jahre nach dem Kriegsende und aufgeschlossene Internationalisten im damaligen Westdeutschland die Philippinen für eine Art Gewürzmischung hielten. Die politischen der für die USA ebenso schmachvollen wie bitteren Niederlage in Prozesse dort und die Kämpfe der Studierenden, der TransportarVietnam schrieb der »Falke aller Falken«, der Ex-US-Verteidigungsbeiter, der Pachtbauern und der kritischen Intelligenz blieben minister und spätere Chef der Weltbank, Robert S. McNamara, in lange Zeit gänzlich unbekannt. seinen Memoiren 1995: »Was Vietnam betrifft, so haben wir uns geirrt, schrecklich geirrt (...) die angenommene ‚nordvietnamesische Gefahr’ ist während des Kalten Krieges vollkommen überbewertet Vielerorts in Asien worden. (...) Der Vietnamkrieg war ein furchtbarer Irrtum.« Und tt In der Volksrepublik China befand sich zu jener Zeit die Große das nach Jahren systematischer Zerstörung und Gewalt mit mehreren Millionen toten VietnamesInnen, LaotInnen und KambodProletarische Kulturrevolution auf ihrem Höhepunkt. Sie wurde schanerInnen inklusive 58.000 ums Leben gekommener GIs! 1997 neben der vehementen Kritik am Vietnamkrieg zu einer weiteren iz3w • Januar / Februar 2018 q 364

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1968 international zentralen Bezugsgröße der internationalistischen Linken. Während in Birma (heute Myanmar), Malaysia und Thailand noch kommunistische Parteien gegen die jeweiligen Zentralregierungen kämpften, herrschten in Südkorea und Indonesien mit Park Chung-Hee beziehungsweise General Suharto zwei Militärdiktaturen, die dort ganz im Sinne ihrer US-amerikanischen Mentoren äußerst erfolgreich blutige Konterrevolutionen exekutiert hatten. Im Falle Indonesiens hatten sie weit über eine Million Opfer zur Folge sowie die physische Vernichtung der vormals weltweit drittstärksten kommunistischen Partei, der PKI. Einen Sonderfall bildete Japan, wo bereits 1948 der Alljapanische Allgemeine Verband der studentischen Selbstverwaltungen (kurz: Zengakuren) als linksradikale Dachorganisation von Studenten entstanden war. Er organisierte schon während des Koreakrieges von 1950-53 Protestmärsche. Vor allem im Kampf der politischen Linken gegen den Sicherheitsvertrag mit den USA spielte der Zengakuren eine Schlüsselrolle. Auf dem Höhepunkt der Demonstrationen und Straßenschlachten mit der Polizei organisierte Zengakuren am 20. Mai 1960 die Erstürmung des Parlamentsgebäudes. Ein im Sommer desselben Jahres geplanter Besuch von US-Präsident Eisenhower musste aus Sicherheitsgründen kurzerhand abgesagt werden. Am 15. Juni 1960 wurden bei einer Großdemonstration auf dem Campus der Universität Tokio über 500 Studenten verletzt, einer getötet. Am 15. Juli trat Premierminister Nobusuke Kishi schließlich zurück. In dieser Phase zunehmender Radikalisierung spaltete sich Zengakuren in verschiedene Gruppierungen auf, die dann ihrerseits mit der Kommunistischen Partei Japans oder anderen linken Parteien sympathisierten. Wie weltweit andernorts auch, gab es 1968 breite landesweite Protestbewegungen gegen den Vietnamkrieg, gleichzeitig aber auch gegen Umweltverschmutzung und Enteignungen von Bauern sowie Widerstand gegen die rasche Urbanisierung mit all den damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Problemen. Im Oktober 1968 kam es in der Metropole Tokio zu tagelangen Unruhen, an denen sich auch ArbeiterInnen beteiligten. Das Parlamentsgebäude, Polizeistationen, die US-Botschaft und der Bahnhof Shinjuku wurden von Protestierenden angegriffen oder zeitweilig besetzt.

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Dörfern her einzukreisen und schließlich einzunehmen. Als Pflichtlektüre und Vademecum galten für Kader und Interessierte gleichermaßen das »SND« und das »PSR« – das Buch »Struggle for National Democracy« und das Buch »Philippine Society and Revolution«, beide aus der Feder des CPP-Gründungsvorsitzenden José Maria Sison alias Amado Guerrero. Zur Bastion des studentischen Protests entwickelte sich der Campus der renommierten staatlichen University of the Philippines (UP) in Diliman, Quezon City. Dort gelang es der zunächst kleinen Gruppe der KM zusehends, neue Mitglieder zu werben und die Zuhörerschaft auf den zahlreichen Kundgebungen stetig zu vergrößern. An Themen mangelte es nicht: Es ging um akademische Freiheiten, koloniales Gebaren der Universitätsleitung, die Marionettenrolle der eigenen Regierung vis-à-vis den USA, den Vietnamkrieg und die tiefe Verstrickung philippinischer Verbände in diesen Krieg, um ausufernde Korruption und Vetternwirtschaft, Massenarmut und vieles mehr.

Kriegsrecht gegen Protestierende

Ab Anfang 1970 wurde »FQS«, der First Quarter Storm, zum Inbegriff von Protest, Revolte und Widerstand. Er verstand sich auch als Zweite Propaganda-Bewegung in Anlehnung an die Endjahre der spanischen Kolonialzeit (1892-98), als Personen wie Marcelo H. del Pilar, Emilio Jacinto, José Rizal und Andrés Bonifacio die ideologischen und politischen Grundlagen legten, um den verhassten Kolonialherren und Mönchsorden den entscheidenden Schlag zu versetzen. Präsident Ferdinand E. Marcos, nach einem blutigen und kostspieligen Wahlkampf 1969 wiedergewählt, hielt am 26. Januar 1970 seine »State of the Nation Address«. Unerwartet für die aufgezogenen Sicherheitskräfte hatten sich etwa 50.000 Stu­ dentInnen, ArbeiterInnen, Bauern und Personen der Mittelschicht vor dem Kongressgebäude in Manila versammelt, um ihre Version der Lage der Nation lautstark vorzutragen. Es kam zum Handgemenge und schließlich zu einer wahren Prügelorgie der zwischenzeitlich mit zirka 7.000 Mann herangerückten Polizisten und Soldaten. Zahlreiche Demonstranten wurden teils schwer verletzt. Marcos verkündete mit sonorer Stimme, »ein Mob, aufgestachelt von Kommunisten« hätte alles daran gesetzt, »Anarchie zu sähen«. »Erster Vierteljahressturm« Die Auseinandersetzungen eskalierten, als sich am 30. und 31. tt Ins Zentrum der Kämpfe auf den Philippinen rückten ab dem Januar AktivistInnen vor dem Präsidentenpalast Malacanang versammelten und sich anschickten, dort eines der Tore aufzubrechen. Jahreswechsel 1968/69 zwei bedeutsame Organisationen: Die auf Da die Polizei nicht Herr der Lage werden konnte, ließ Marcos maoistischer Grundlage neu konstituierte Kommunistische Partei der Philippinen (CPP) und die Moro Nationale Befreiungsfront Sonderkommandos aus den Provinzen herbeischaffen. Massiven (MNLF) im vorwiegend muslimischen Süden Tränengaseinsätzen folgten scharfe Schüsse des Archipels. Bereits zuvor, am 30. November in die Menge der Demonstranten. Vier Stu»Dare to Struggle, Dare to 1964, war mit der Kabataang Makabayan denten erlagen ihren mehrfachen Schuss­ (Patriotische Jugend, kurz: KM) eine politische verletzungen, Hunderte wurden verletzt. Win! Serve the People!« Gruppierung entstanden, die als spätere Diese Ereignisse waren das Fanal für landesJugend­organisation der CPP maßgeblichen weite Protestkundgebungen und DemonstAnteil daran hatte, die Studierenden und die kritische Intelligenz rationen. Seit dem Frühjahr 1970 verging kaum ein Tag im Großideologisch, politisch und organisatorisch für ihre Ziele einer volksraum Manila, an dem nicht in mindestens einem Bezirk gegen die demokratischen Revolution zu gewinnen. Regierung protestiert wurde. Politische Straßentheater wirkten wie Der KM ging es darum, »die drei Hauptübel Imperialismus, ein Magnet. Dorthin zog es nicht nur politische Agitatoren der Feudalismus und bürokratischen Kapitalismus« mittels eines GueStudierenden- und ArbeiterInnenschaft, sondern auch Leute aus rillakrieges zu überwinden. Ende März 1969 entstand denn auch gut situierten Familien, TagelöhnerInnen, Kleinbauern und städals Nachfolgerin der zwischenzeitlich aufgeriebenen Hukbalahap tische Arme. Besonders auffällig war die Hilfsbereitschaft der unterschiedlichsten Menschen, DemonstrantInnen mit Essen und die New People’s Army (NPA). Gemäß Mao Tse-Tungs Diktum galt es, im Zuge eines langwierigen Volkskrieges die Städte von den Trinken zu versorgen und sich um Verletzte zu kümmern. Einen tt

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großen Schutz und eine wichtige Hilfe lieferten Jeepneyfahrer. Sie brachten viele gefährdete politische AktivistInnen aufgrund ihrer hervorragenden Ortskenntnisse rasch in Sicherheit oder transportierten sie – notfalls auch kostenlos – an vereinbarte Treffpunkte, wo Menschen sich wieder neu formierten, um weitere Protestmärsche zu organisieren. Im Frühjahr 1971 entstand auf dem UP-Campus die kurzlebige Diliman Commune mit dem eigenen Radiosender »Bandilang Pula« (Rote Fahne) und einer gleichnamigen Publikation. Auch hier gin-

Jungs sagen Nein zum Vietnamkrieg (in Philadelphia)

gen die Sicherheitskräfte mit äußerster Brutalität gegen die Studierenden vor. Für etliche von ihnen war das der Wendepunkt, endgültig eine akademische Laufbahn und ein behütetes Zuhause aufzugeben und sich für ein Leben im politischen Untergrund oder für den bewaffneten Kampf in den Reihen der NPA zu entscheiden. Zahlreiche enge FreundInnen und wunderbare GefährtInnen aus jenen Tagen, unter ihnen namentlich Tony Tagamolila vom studentischen UP-Organ The Philippine Collegian und Babes C ­ alixto von der College Editors’ Guild of the Philippines, opferten ihr Leben für eine Sache, von deren Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit sie stets felsenfest überzeugt waren – den (notfalls bewaffneten) Kampf gegen ein Regime, das schließlich im September 1972 landesweit und mit ausdrücklichem Segen Washingtons das Kriegsrecht verhängte und mit diktatorischen Methoden alles niederwalzte, was noch Dissens und Widerstand wagte. Hätten sie noch die Wahl gehabt, eine Inschrift für ein ordentliches Grab zu wählen, hätten darauf gewiss diese drei Kurzzeilen gestanden: «Makibaka, huwag matakot! (Kämpft und fürchtet euch nicht!) Dare to Struggle, Dare to Win! Serve the People!«

Gegenwärtige Vergangenheit Was bleibt nach fünf Jahrzehnten zumindest mit Blick auf die Philippinen anzumerken? Erstens: Die im First Quarter Storm politi-

tt

sierten und sozialisierten Menschen bildeten den Kern einer jungen kritischen Generation, die jahrelang im Kampf gegen die MarcosDiktatur ideologisch hegemonial wirkten. Erst nach der Ermordung von Marcos’ schärfstem Rivalen, Ex-Senator Benigno »Ninoy« Aquino, im August 1983 schickten sich auch nennenswerte Kreise des Bürgertums an, auf die Straße zu gehen und regimekritische Töne anzuschlagen. Zweitens: Das tragischste Kapitel der philippinischen »68erBewegung« bildeten die vor allem auf Mindanao und in Luzon Mitte der 1980er Jahre durchgeführten »Säuberungen« innerhalb der CPP/NPA. »Säuberungen« ist eher ein verharmlosender Begriff für die Exekutierung von GenossInnen, die nach militärischen Rückschlägen der NPA (meist fälschlicherweise) in Verdacht geraten waren, der gegnerischen Seite zugearbeitet zu haben. Den Grund für diese kriminellen Handlungen sehe ich in militaristischen Tendenzen. Während Marcos stets schwadronierte, die CPP/NPA binnen kurzer Zeit »völlig aufzureiben«, setzten Letztere dem das Konzept des »totalen Sieges« entgegen. Wenn zwei Totalitätsansprüche aufeinanderprallen und seitens einer Linken das Gewehr höher bewertet wird als politische Richtlinien, dann schürt das einen letztlich selbstzerstörerischen Militarismus. Drittens: Die Chance, nach dem Foto: Julia Ryan Marcos-Sturz im Februar 1986 bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung ein Jahr später eine grundlegende gesellschaftspolitische Wende einzuläuten, verstrich ungenutzt. Die Linken waren zu dem Zeitpunkt zu schwach und leckten ihre Wunden. Und die Rechten erhielten unerwartet Auftrieb durch die Unterstützung solcher Ex-Bluthunde des Marcos-Regimes und prototypischer Wendehälse wie Ex-Polizeichef Fidel V. Ramos sowie dem früheren Verteidigungsminister und späteren Senatspräsidenten Juan Ponce Enrile. Viertens: Diese Konstellation begünstigte fortan die Politisierung des Militärs und die Militarisierung von Politik. Der jetzige Präsident Rodrigo R. Duterte instrumentalisiert das in seinem »AntidrogenFeldzug« und im »Kampf gegen den Terrorismus« knallhart für seine Zwecke. Auf die Neuauflage eines wie immer gearteten » First Quarter Storm« darf man gespannt sein.

Rainer Werning ist Politikwissenschaftler und Publizist mit den Schwerpunkten Südost- und Ostasien. Im Frühjahr 1973 besorgte er die deutsche Übersetzung von »PSR« (Philippinische Gesellschaft und Revolution) im Münsteraner VKT-Verlag, das all jenen als Einstiegslektüre diente, die ab Ende der 1970er Jahre mit der Gründung der Aktionsgruppe Philippinen e.V. den Kern des später bundesweiten Philippinen-Solidaritätsnetzwerks bildeten. Eine längere Fassung dieses Textes steht auf www.iz3w.org tt

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Antikolonialismus nicht nur in Paris: Studentenhaus in Frankfurt a. M.

Foto: orte-der-revolte.de

»Im Feuer des Kampfes« Die französische 68er-Bewegung und ihre antikolonialen Bezüge Verbunden mit dem Stichwort »Mai 68« wurden die Proteste und Streiks in Frankreich geradezu ikonographisch für die gesamte 68er-Bewegung. Das macht die Frage nach ihrer theoretischen Basis besonders spannend. Warum wurden gerade antikoloniale Denker wie Frantz Fanon zu ihren wichtigen Stichwortgebern?

von Eva Beckershoff Im internationalen Vergleich stellt die 68er-Bewegung in Frankreich einen Sonderfall dar. Sie wurde erst auf dem Höhepunkt der internationalen Entwicklung wahrnehmbar, überbot dann jedoch binnen weniger Wochen die Intensität der Proteste in anderen Ländern. Von einer kleinen studentischen Bewegung entwickelte sie sich schnell zu einer umfassenden Solidaritätsbewegung, die auch große Teile der Arbeiterschaft umfasste. Ausgangspunkt der 68er-Bewegung war die so genannte Drillingskrise 1956, aus der sich eine radikale Neue Linke in Frankreich formierte. 1956 veränderten drei internationale, aufeinander bezott

gene Krisen die Politik der traditionellen Linken in Frankreich. Die erste Krise wurde ausgelöst von Nikita Sergejewitsch Chruschtschows Geheimrede zur Entstalinisierung auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 in Moskau. Stalins Nachfolger machte in seiner Rede »Über den Personenkult und seine Folgen« einige von Stalins Verbrechen aus den 1930er Jahren bekannt und verurteilte diese sowie die stalinistische Bürokratie, den Personenkult und den Polizeiterror. Er sprach von einer Pluralität der Wege zum Sozialismus und kündigte eine Abkehr vom stalinistischen System an. Chruschtschows Rede führte im Oktober 1956 in Ungarn zu einem antisowjetischen Aufstand, der verbunden war mit der Forderung nach mehr Demokratie. Diese als »Ungarischer Volksaufstand« bekannten Ereignisse vom 23. Oktober 1956 endeten nach der Ablösung der Einparteiendiktatur unter Premierminister Imre Nagy mit der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes am 5. November 1956 durch die Sowjetarmee. Sie verhinderte die Neutralitätserklärung Ungarns und installierte wieder eine prosowjetische Regierung. Die zweite Krise war die Suezkrise. Der ägyptische Präsident Gamal Abd-el Nassar ließ den Suezkanal, der bis dahin von west-

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lichen Investoren betrieben wurde, verstaatlichen, was sich zu einer internationalen Krise ausweitete. Israel intervenierte aus Sorge um ein Kräfteungleichgewicht in der Region mit einem militärischen Einmarsch im Gazastreifen und auf der Sinai-Halbinsel und wurde dabei von Großbritannien und Frankreich mit Luftangriffen unterstützt. Die USA und die UdSSR übten ihrerseits mit Erfolg Druck auf die beiden europäischen Länder aus, die sich schnell aus den Kriegshandlungen zurückzogen. Die dritte Krise war die Verschärfung des Algerienkrieges durch die Sondervollmachten des französischen Präsidenten Charles de Gaulle vom 12. März 1956, die ihm weitgehende Handlungsfreiheit in Algerien einräumten und die zu einer erheblichen Verschärfung des Konflikts führten. Die Sondervollmachten wurden durch den sozialistischen Minister Guy Mollet von der linken Partei SFIO (Section française de l’International ouvrière) in das Parlament eingebracht und hatten zum Ziel, den antikolonialen Front de Libe­ration (FLN) in Algerien militärisch niederzuringen.

Mit Marx gegen Marx

Diese drei Krisen beschädigten das Ansehen der traditionellen »alten« linken Parteien in Frankreich, die daraufhin immer weniger Legitimation in der französischen Bevölkerung genossen. Die P ­ arti communiste français (PCF) verlor durch die Bekanntmachung von Chruschtschows Geheimrede an Ansehen. Durch den stalinistischen Terror vom Kommunismus enttäuscht, wandten sich viele Ak­teur­ Innen von der kommunistischen Partei ab und suchten ein anderes Agitationsfeld für einen revolutionären Marxismus. Revolution im Weltmaßstab … Die SFIO büßte ihrerseits Glaubwürdigkeit ein durch ihren Einsatz in der Suezkrise. Ihr Generalsekretär Guy Mollet hatte dem tt Der transnationale Austausch ließ die Neue Linke in Frankreich Krieg gegen Ägypten zugestimmt und vertrat gegenüber den davon ausgehen, dass die Revolution nicht mehr als »Sozialismus französischen Kolonien eine »imperialistische Kanonenbootpolitik«, in einem Land«, wie von Stalin einst für die Sowjetunion propagiert, die viele Mitglieder der Partei nicht billigten. Nach der Niederlage sondern als »Weltrevolution« stattfinden musste. Damit wurden zwei Kernbereiche des linken Selbstverständnisses berührt – der in Dien Bien Phu 1945 während des Französischen Indochinakrieges, der Aufgabe der Kolonie Indochina 1954 und der Protekto­rate Bezug auf die Arbeiterklasse und der Internationalismus. Offen blieb Tunesien und Marokko im März 1956 vertrat die SFIO die Regiedie Frage, wie die Revolution erreicht werden könnte. Eine gemeinrungslinie von Charles de Gaulle, laut der Algerien als »Kronjuwel« same Grundlage wurde in dem Dritte-Welt-Konzept von Frantz der französischen Union angesehen wurde, das es zu halten galt. Fanon und anderen gefunden, das der Bewegung als Vorbild diente. Diese Haltung der sozialistischen Partei passte für viele AnhängerInnen nicht mit Die erfolgreichen antikolonialen Agitationen in der Die Kolonien schienen ihren Grundwerten zusammen, sodass sie Dritten Welt dienten als Beweis, dass die Revolutiam Beginn einer Kultur­ sich enttäuscht abwandten. Durch diese on kein Fernziel war, sondern unter den Kolonisierunzureichende Positionierung gegenüber ten bereits stattfand. Sie vollzog sich nicht, wie im revolution zu stehen der gaullistischen Kolonialpolitik erhielten ambivalenten kolonialen Denken von Karl Marx neue linksradikale Strömungen Zulauf, die formuliert, zuerst in den Industrieländern, sondern vielmehr in den unterdrückten Kolonien in Afrika und Asien als eine in ihrer Gesamtheit als Neue Linke bezeichnet werden. Diese Formierung war keine geschlossene Einheit, sondern eine heterogene, Art Kulturrevolution, von der die Weltrevolution fortan ihren Ausin sich nicht geschlossene Bewegung, die verschiedene Strömungen gang nehmen sollte. Um diesen Zustand zu erreichen, standen die in sich vereinte. Sie alle verfolgten eine marxistisch inspirierte Polinken Akteure in Frankreich in engem Austausch mit SprecherInnen der Dritten Welt. Zu deren Repräsentation in Frankreich und in litik mit dem Selbstverständnis einer globalen Perspektive, die sich ganz Westeuropa trugen sie maßgeblich bei. Dies geschah vor als entschieden antikolonial und antiimperialistisch verstand. allem durch Beiträge von Intellektuellen in Zeitschriften, durch Diese Neue Linke stand zugleich für eine Neuinterpretation der marxistischen Theorie, deren bisherige ambivalente Haltung zur Flugblätter und durch Publikationen in wichtigen französischen kolonialen Welt negiert wurde. Im Kommunistischen Manifest von Verlagen. 1848 betrachtete Karl Marx die weltweite Ausdehnung kapitalistiAls intellektuelle Vertreter dieses Ansatzes sind vor allem Jeanscher Wirtschaft als eng mit der kolonialen Herrschaft verbunden. Paul Sartre, Raymond Aron sowie Albert Camus zu nennen; sie alle Diese Ausdehnung wurde als progressiv im unilinearen Fortschritt prägten die Neue Linke entscheidend. Sartre kritisierte das Kolonider menschlichen Geschichte betrachtet. Marx kritisierte zwar die alsystem bereits früh, wie beispielsweise in seinem Artikel »Le coGewalt der Kolonialherren, aber die globale Verbreitung der induslonialisme est un système«, der im März 1956 in seiner eigens triellen Produktion sei ungeachtet des Kolonialismus ein Mittel zur gegründeten Zeitschrift Les Temps Modernes erschien. Er verknüpftt

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begrüßenswerten Ausbreitung der bürgerlichen Gesellschaft, die es dann in einem nächsten Schritt wieder zu überwinden gälte. Diese Denkweise wurde von der Neuen Linken abgelehnt, hatten sich doch die Zeiten im Zuge der beginnenden Dekolonisierung geändert. Die Kolonien schienen am Beginn einer Kulturrevolution zu stehen, die sich zu einer Weltrevolution ausweiten sollte. Die neue sozialistische Gesellschaftsordnung, in der der Sozialismus die Entfremdung des Menschen aufhob, sollte als Grundlage dienen. Mit dieser Maxime prägten die Kolonien die 68er-Bewegung, die nach einer neuen antihierarchischen und antiautoritären Gesellschaftsordnung ohne Zwänge strebte. Diese neue linke Bewegung stand auch für eine neue Transformationsstrategie, bei der Veränderungen im Kulturbereich einer politischen und sozialen Transformation vorausgehen konnten – so wie es in den Kolonien bereits geschehen war. Durch die Schaffung von neuen kulturellen Idealen sollten sich neue Lebensformen und Kommunikationswege ent­ wickeln. Diese Haltung fand sich in den 68er-Protesten wieder, bei denen gegen verkrustete Denkmuster und für neue Lebensentwürfe demonstriert wurde. Die Neue Linke machte sich selbst anstelle des Proletariats zum Träger des sozialen Wandels. Durch ihre Transkulturalität und ihre politische Nähe zu antikolonialen Vordenkern wie Frantz Fanon, Aimé Césaire oder Amilcar Cabral wollte sie die wichtigen Impulse für die Transformation auch der französischen Gesellschaft aussenden. Damit formulierte sie eine gesamtgesellschaftliche Utopie, die die späteren Maximen der 68er Bewegung bereits in sich trug.

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1968 international te das Kolonialsystem mit dem Kapitalismus der westlichen Welt und legitimierte die antikoloniale Gewalt als Weg zur Befreiung und als metaphysische, kathartische Größe der Kolonisierten. Seine Zeitung wurde zur Plattform der laizistischen Dritte-WeltBewegung, und die darin abgedruckten Texte von antikolonialen Vordenkern wie Frantz Fanon, zu dessen Buch »Die Verdammten der Erde« Sartre das Vorwort schrieb1, wurden zunächst für die Neue Linke prägend, später auch für die 68er Bewegung und die Arbeiterbewegung in Frankreich.

in China sowie der Kampf Che Guevaras in Kuba. Die Intellektuellen standen in den 1960er Jahren außerdem zunehmend im Zeichen des sich formierenden Strukturalismus, der die Subjekte nicht mehr, wie von Sartre propagiert, ins Zentrum stellte, sondern sie als Epiphänomene begriff und die dahinterliegenden Strukturen in den Mittelpunkt rückte. Wichtige Vertreter dieses Ansatzes waren Claude Lévi Strauss und Jacques Lacan. Sie gaben der Bewegung eine neue Stoßrichtung und der 68er-Bewegung eine weitere ideologische Basis für den Kampf gegen verkrustete Strukturen.

… mit welchem revolutionären Subjekt?

Böser Westen, guter Süden

Im Vorwort zu seinem Buch schreibt Sartre über Fanon: »Ein tt Was wurde nach 1968 aus der Neuen Linken? Einen Endpunkt ehemaliger Eingeborener französischer Zunge biegt diese Sprache zu bestimmen, fällt angesichts des länger anhaltenden Zerfalls­ zu neuen Forderungen um, benutzt sie und wendet sich nur an prozesses dieser Bewegung schwer. In jedem Fall trug die 68er-­ die Kolonisierten: »Eingeborene aller unterentwickelten Länder, Bewegung indirekt zum Zerfall der Neuen Linken bei. Die Proteste vereinigt euch!« Im Anschluss betonte er die Bedeutung von Fanon: und Aufstände 1968 in Europa zeigten vielen AnhängerInnen, dass »[..] in dieser Stimme entdeckt die Dritte Welt sich und spricht zu eine Revolution auch dort wieder möglich war, sodass sie den Bezug zum Dritte-Welt-Konzept verloren und sich wieder der sich. Man weiß, dass sie nicht homogen ist und dass man in ihr Marx’schen Mission des Proletariats zuwandten. Mitte der 1970er noch versklavte Völker trifft [...]. Im Feuer des Kampfes müssen alle inneren Barrieren zerschmelzen, die ohnmächtige Bourgeoisie Jahre begannen die Intellektuellen zudem, Selbstkritik an ihrem [...] das stets privilegierte Stadtproletariat, das Lumpenproletariat Entwurf zu üben, indem sie einräumten, zu sehr zwischen dem »bösen« Westen und der »guten« Dritten Welt unterschieden zu der Slums, alle müssen sich nach den Positionen der ländlichen haben. Massen ausrichten [...]. In diesen Gegenden Diese Selbstkritik wurde zum einen durch den [...] tritt die Bauernschaft, wenn sie sich erDie Revolution war kein hebt, sehr bald als die einzige radikale Klasse Biafra-Krieg 1967-1970 ausgelöst, bei dem auf: sie kennt die nackte Unterdrückung, sie Fernziel, sondern fand unter die sezessionistische Region Biafra in Nigeria leidet sehr viel mehr darunter als die Arbeiter sowohl von der kommunistischen Dritte-WeltKolonisierten bereits statt der Städte [...]. Wenn sie siegt, wird die natio­ Macht China wie von der westlichen Kolonial­ nale Revolution eine sozialistische sein.« macht Portugal unterstützt wurde. Diesen Indem Sartre auf diese Weise die Situation der Kolonisierten mit nigerianischen Bürgerkrieg konnten viele Intellektuelle nicht für gut der Situation der westlichen ArbeiterInnen verband, machte er das erklären, was zu einer Reflexion ihrer Haltung führte. Zum anderen Buch von Fanon für die Arbeiterbewegung fruchtbar. Einen solchen wurde diese Selbstreflexion verstärkt durch den Krieg zwischen Bezug stellte auch Aimé Césaire, der antikoloniale Begründer der Vietnam und Kam­bodscha 1979, bei dem die kommunistischen Négritude-Bewegung, her: »Which comes down to saying that Roten Khmer einen Genozid in Kambodscha begingen. Die damit the salvation of Europe is not a matter of a revolution in methods. verbundene Entwertung des Dritte-Welt-Bezugs enthob die 68erIt is matter of the Revolution, the one which […] will substitute Bewegung nicht nur in Frankreich einer ihrer wichtigsten Grundfor the narrow tyranny of a dehumanized bourgeoisie the preponlagen. derance of the only class that still has a universal mission, because it suffers in its flesh from all the wrongs of history, from all the Anmerkung universal wrongs: the proletariat.« 1 Das Vorwort von Sartre ist bis heute sehr umstritten. Viele Passagen verherr­ Sartre war einer der wenigen, die schon vor der Unabhängigkeit lichen die revolutionäre, antikoloniale Gewalt, die er als Weg zur Befreiung legitimierte. Algeriens 1962 den Dritte-Welt-Bezug in einer direkten Weise herstellten. Zuvor stand vor allem der Algerienkrieg im Fokus der intellektuellen Auseinandersetzung. Die Verlagshäuser Éditions de Literatur Minuit, Maspero und Le Seuil unterstützten viele kritische Schrift–– Ingrid Gilcher-Holtey (2008): Mai 68 in Frankreich. In: Dies. (Hrsg.), 1968 – stellerInnen, die sich in ihren Publikationen gegen den Algerienkrieg vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt am Main, S. 11 – 34 aussprachen. Sie publizierten Buchausschnitte von Henri Allegs –– Joseph Jurt (2012): Frankreich engagierte Intellektuelle: von Zola bis Bourdieu. Göttingen »La Question«, das von der französischen Regierung zensiert und verboten wurde, sowie Buchausschnitte von Francis Jeansons –– Christoph Kalter (2011): Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich. Frankfurt am Main »L’Algérie lors la loi« und von Maurice Maschinos »Le Refus«. –– René Rémond (1995): Frankreich im 20. Jahrhundert. Stuttgart Zeitschriften wie Esprit, L’Humanité und Le Nouvel Observateur unterstützten diese kritische Haltung und veröffentlichten umstrit–– Michel Winock (2007): Das Jahrhundert der Intellektuellen. Konstanz tene Artikel. Der Bezug auf die Dritte Welt verstärkte sich jedoch erst nach der Unabhängigkeit Algeriens. Als revolutionäres Subjekt wurden tt Eva Beckershoff hat Geschichtswissenschaft und Romanistik nun die entkolonisierten Nationen der Dritten Welt angesehen, in Düsseldorf und Tübingen studiert und arbeitet derzeit im Projekt­ die die angestrebte Revolution bereits vollzogen hätten und als management in der Industrie- und Handelskammer. Vorbild für die westliche Welt dienten. Anziehungspunkte waren Eine Langversion dieses Beitrags steht auf www.iz3w.org im Folgenden der Vietnamkrieg, die maoistische Kulturrevolution tt

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»Do You Know Who I Am?« Rom*nja-Musiker*innen wenden sich gegen Exotisierung Seit vor rund zwanzig Jahren der sogenannte Balkanhype losbrach, gewann die Musik von Rom*nja deutlich an Präsenz. Unter dem Ballast der Stereotype, die vom Musikbusiness und dem Publikum gefeiert werden, ist jedoch kaum Platz für die Wahrnehmung realer Rom*nja und Sint*ezze und ihre politischen Anliegen.

von Antje Meichsner Seit den 1990er Jahren ist Musik von Rom*nja im Musikbusiness Mitteleuropas sehr präsent. Sichtbare Motoren waren etwa die Filme von Emir Kusturica mit der Filmmusik von Goran Bregović, die Aktivitäten der Labels Asphalt Tango Records und Crammed Disks sowie die Songs von DJ Shantel, Madonna und weiteren NichtRom*nja. Weniger sichtbar im Balkanhype sind reale Rom*nja und Sint*ezze. Sie werden in vielen – wenn auch nicht allen – Kulturprodukten dieses Hypes romantisiert und exotisiert. Das hat in der europäischen Kulturgeschichte der Mehrheitsgesellschaft seit etwa 200 Jahren Tradition. Die Popkultur setzt diese Tradition fort und modernisiert sie. Die Styles wandeln sich, Stereotype und Diskriminierung bleiben. Das Zusammenspiel von Publikumserwartung und vermeintlichen Zwängen des Musikbusiness im Kapitalismus befördern diesen Exotismus. Die Öffentlichkeitsarbeit der Musiklabels verkauft mit der Musik Identitätsangebote, Märchen und Hipness. Die Arbeit der Romani Musiker*innen wird romantisiert und romaisiert. Manche Labels halten Musiker*innen sogar an, sich selbst zu tt

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ethnisieren oder sich zumindest stereotypen Erwartungen des Publikums anzupassen. Denn das verkauft sich gut. Durch diese Praxen entsteht seit den 1990er Jahren der Eindruck, es gebe eine gemeinsame Roma-Musikkultur. In ihrer 800 Jahre währenden Anwesenheit in Europa haben sich Romani Musiker*innen jedoch hauptsächlich mit der Musik ihres direkten Umfelds beschäftigt, nicht mit der Musik von Rom*nja aus anderen geografischen Gegenden. Genauso, wie es nicht zwangsläufig eine gemeinsame ethnische Identität als Rom*nja gibt, gibt es auch keine gemeinsame traditionelle Roma-Musikkultur. Erst seit den 1990er Jahren wird durch gemeinsame Touren, Festivals und Compilationprojekte unter dem Label World Music eine allgemeine »Roma-Musik« konstruiert. Gemeinsamer Nenner und Handlungsgrundlage für kollektives Musizieren und Jammen ist dabei allerdings das improvisatorische Können als professionelle Musiker*innen – nicht die Ethnie und auch nicht die Tatsache, dass sie entlang dieser Zuordnung ethnisiert oder diskriminiert werden.

Bedürfnisse des Publikums Jeder Hype ist nur mit dem dazu passenden Publikum möglich. Auf welche Gefühlslagen, welche Bedürfnisse trifft (ethnisierte) Musik von Rom*nja? Ist es das Bedürfnis nach Traditionalität und Heimatverbundenheit, nach »identitätsstiftende[n] Momente[n], die den nationalistischen Aspekt von Heimat überwinden«, wie DJ Shantel sagt? DJ Shantel und Robert Soko sind Akteure einer Szene in deutschen Großstädten, die sich in den 1990er Jahren zum großen Teil durch Geflüchtete der Jugoslawienkriege formiert hat. Sie versuchten mittels Roma-Musik ihre Heimat Jugoslawien, die tt

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die zunehmende Brutalität und die damit verbundenen Probleme und ausgrenzenden Strukturen wahrnimmt.

Gegen Sexualisierung und Exotisierung International wahrgenommene Akteure wie DJ Shantel oder Goran Bregović sind nicht in der Lage, die Anliegen, Geschichte(n) und Traumata der Marginalisierten zu transportieren. Sie kolBerlin i Theater rk o G portieren oft nur übliche antiromaistische Steim Armee ck Roma tü S m e reotype. Besonders zynisch geschieht dies bei d elimovićin Sandra S der Exotisierung und Sexualisierung von Frauen. Versklavte Roma-Frauen im Rumänien des 19. Jahrhunderts waren den Verdamals in Nationalismen zerfiel, für sich gewaltigungen ihrer Besitzer hilflos ausgeliefert. Um sich ihre Veremotional zu »rekonstruieren«. Dabei waren sie im brechen moralisch zurechtzubiegen, konstruierten die Herrschenjugoslawischen Sinn antinationalistisch motiviert: Die Musik der den das Bild von der freizügigen Romni, die aufreizend sowie Rom*nja symbolisierte für sie den verlorengegangenen Staat ihrer enthemmt sei und Männer teilentblößt verführt habe. Diese UnKindheit – eine Projektion. Währenddessen wurden reale Rom*nja terstellungen stehen nicht nur im Widerspruch zum Verhalten rezwischen den Fronten dieser Kriege zerrieben. Nationalist*innen aler Romnja, sie sind sogar »undenkbar für eine traditionelle Romaller Lager töteten oder vertrieben sie, weil sie angeblich auf der ni«, wie Esther Quicker feststellt. Das stereotype Bild fand massiv jeweils feindlichen Seite stünden. Verwendung in Literatur, Musik, Oper, Malerei und Fotografie der Bald zog die Szene in den deutschen Großstädten massiv MenMehrheitsgesellschaften in ganz Europa. schen deutscher Herkunft an. Warum? »Die Musik klingt volkstümEine solche Konstruktion der Romni passte schon damals in die lich, zugleich aber wild, authentisch und unberechenbar, also Marketingstrategien von »sex sells / exoticism sells«. Die Sängerin keine kitschige Folklore, kein gemütliches Schunkeln, sondern hoch und Nicht-Romni Shakira zum Beispiel hat sie im Video zu ihrem das Bein und vor allem auch die Tassen«, so die Autorin Susanne Song »Gypsy« erfolgreich angewendet. Dort verführt sie – nur mit transparenten Bändern bekleidet – einen Gupta. Sind es das Unbehagen an der bürgerlichen Gesellschaft, Gefühlskälte, Entfremdung jungen Mann, «’cause I’m a Gypsy«. und die ‚Sachzwänge‘ des Neoliberalismus, die An diesen Stereotypen werden wiederum Der Sinti-Swing ist das Publikum die Sehnsucht nach expressiver reale Rom*nja und Sinte*zze gemessen: Element kultureller Identität Emotionalität auf Roma-Musiker*innen projiDie Jazzmusikerin Dotschy Reinhardt wurund politischer Strategie zieren lassen? Ist es das Arbeitsethos der bürde nach einem Konzert damit konfrontiert, gerlichen Gesellschaft mit seinen Zwängen, die sie sei keine richtige Sintezza, weil diese im bewirken, dass das Publikum »kindliche, unGegensatz zu ihr »lange Kleider, Stirnbänschuldige Freiheit«, Zwanglosigkeit und »magische künstlerische der, große Ohrringe, bauchfreie Kleidung« trügen und »verwegen, Kreativität« in alle Rom*nja und ihre Musikpraxen hinein imaginiert, wild, sexy, geheimnisvoll« seien. Reinhardt sagt über solche Anwie Rolf Cantzen vermutet? In den Clubs eignet sich das Publikum würfe: » ... diese wilde Verwegenheit, dieses Feurige, das ist angesymbolhaft vermeintliche kulturelle Ausdrucksweisen von Rom*nja dichtet.« Wenn sich Shakira mit den genannten Markern ein heißwie wildes Tanzen und offenherzige Kleidung an. Solcherlei romanblütiges und ungezähmtes Image bastelt, dann trägt sie zur tisierende und strukturell antiromaistische Projektionen auf Rom*nja, Verstetigung der sexistischen Diffamierungen von Rom*nja bei. von Nina Stoffers 2011 als »Gypsymania!« bezeichnet, haben nichts Dotschy Reinhard ist Jazz- und Bossanova-Musikerin, schreibt mit deren Lebensrealität zu tun. Songs in Romanes und hat mittlerweile mehrere Alben und zwei Das Publikum hat im besten Fall Interesse an der Musik, die von Bücher veröffentlicht. Darin erzählt sie von Begegnungen mit Rom*nja gespielt wird, und sicherlich auch am Wohlergehen der Menschen in Musikwelt, Mode und Film und setzt ihre konkrete Lebensrealität gegen stereotype Verklärungen. Sie ist seit 2016 Musiker*innen. Wo ist dann das Problem? Das Publikum kann sich Vorsitzende von RomnoKher, des Landesrats der Roma und Sinti in während des Musikkonsums in der Illusion wähnen, tolerant, interessiert, irgendwie politisch oder gar antirassistisch zu sein, und Berlin-Brandenburg. gleichzeitig nichts über real existierende Rom*nja und den virulenten europaweiten Antiromaismus wissen. Im schlimmsten Fall Eine Avantgardistin als Vorbild möchte das Publikum die gleichen Rom*nja, die es auf der Bühne bewundert, nicht als Nachbar*innen haben. Ein erheblicher Teil tt Eine Musikerin, die sich diesen Stereotypen von vornherein erder deutschen Bevölkerung nimmt Sint*ezze und Rom*nja nicht folgreich entzogen hat, ist Esma Redžepova. Sie war seit den 1960er Jahren bis zu ihrem Tod 2016 als Musikerin tätig. Sie setzte sich mit als gleichberechtigte Mitbürger*innen wahr. dem starken Willen durch, Sängerin und Musikerin zu werden – eine Der Antiromaismus in Europa hat sich seit den 1990er Jahren massiv verschärft. Die Praxen romantischer Ethnisierung von Eigenschaft übrigens, die sie mit den wenigen Frauen teilte, die in Rom*nja in der Musikindustrie führen nicht dazu, dass das Publikum dieser Zeit in der westlichen Popkultur aktiv waren. Im Jugoslawien t

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der 1960er Jahre galt es als unehrenhaft, dass Romnja öffentlich, etwa in Cafés (Kafanas) und Nachtclubs, für Kleingeld musizieren. Redžepovas Eltern wollten, dass sie jung heiratet, aber sie verweigerte sich der arrangierten Ehe. Der Musiker Stevo Teodosievski – ihr Mitmusiker, Manager und späterer Ehemann – konnte die Eltern überzeugen: Esma und er praktizierten Musik als Kunstform, als professionelle Bühnenmusik, und schufen damit eine komplett neue Sphäre für Musik von Rom*nja in der Öffentlichkeit, die frei vom Stigma der »Caféhaus-Sängerin« und ihrer Dienstleistungsmusik war. mus Esma Redžepova hat damit eine große Bedeutung als Vorreiten Rassis und gege g n u il e rin und Vorbild für viele Rom*nja, die später formale musikalische rt r Umve « kickt fü Ausbildungen, auch an Hochschulen, genossen und als Musiker*innen -Fraktion e e rm -A »Roma tätig waren. Sie war in Jugoslawien die erste Romni und Musikerin, weite Anerkennung der Rom*nja als ethnische Mindie in Romanes sang, Platten veröffentlichte, im Fernsehen auftrat derheit kämpft. »Djelem, djelem« wurde dort zur Hymund auch bei Nicht-Rom*nja kommerziellen Erfolg hatte. Trotz ihrer Avantgardistinnenrolle begriff sich Redžepova als ne der Bewegung gewählt. Dafür hatte der Rom und Chansonnier traditionelle Romni. Sie war die erste, die im Fernsehen den tradiŽarko Jovanović einen neuen, politischen Text auf die Melodie tionellen Dimije (bzw. Šalvari, sehr weite geraffte Frauenhosen) dieses traditionellen Liedes verfasst, der den Porajmos (der Genozid an den Sint*ezze und Rom*nja) und insbesondere die Vertreibung trug. Dieser war jedoch aus modernen Stoffen gefertigt und beund Ermordung der Rom*nja durch die Schwarze Legion (kroatische gleitet von modernen Accessoires sowie selbst gestalteten Kopfbedeckungen. Im Video von »Romano Horo« tanzt sie im Minikleid Ustascha-Faschisten) beschreibt. den Twist, ihre Band trägt schwarze Rollkragenpullover, und auch stilistisch schließt das Ansambl Teodosievski in diesem Stück an Aktivismus für Bürgerrechte Northern Soul, Rhythm and Blues und die Beatmusik der 1960er tt Dotschy Reinhard hat wichtige Vorläufer. Das Publikum, das in Jahre an. In der gleichen Session wurde das Video zu »Čhaje Šukarije« (von Esma Redžepova und Medo Čun) produziert, dort sieht man deutschen Großstädten zum Balkansound das Tanzbein schwingt, ahnt meist nicht, dass deutsche Sint*ezze eine umfangreiche Musie im Dimije. siktradition haben. Sint*ezze verschlossen sich nach dem Porajmos Sorgsam entwickelte Esma ihre Bühnen-Persona: Sie performte vor der deutschen Mehrheitsgesellschaft. In dieser Zeit tradierten immer in Kleidung, die von der Öffentlichkeit als angemessen und sie den Sinti-Jazz, so wie er von Django Reinhardt und Stephane dezent betrachtet wurde – ebenso wie ihre Art zu tanzen. Ihr AufGrappelli in den 1930er Jahren entwickelt worden war. 1967 trat treten steht damit dem romantisierten und sexualisierten Zerrbild entgegen, das in Europa über Jahrhunderte von »der Romni« der Geiger Schnuckenack Reinhardt mit seiner 16-köpfigen Grupkonstruiert wurde. Indem sie ihr Image sorgfältig selbst bestimmpe ans Licht der erstaunten Öffentlichkeit der BRD. Daraufhin folgten ab Ende der 1970er Jahre eine ganze Reihe Compilations, te und indem sie die Kontexte ihrer Arbeit kontrollierte, entzog sie Alben, Konzerte, Festivals und Begegnungsveranstaltungen von sich aktiv antiromaistisch-sexistischen Zuschreibungen. und mit Sinti-Musiker*innen. Eine weitere Zuschreibung an Roma-Musiker*innen ist die des Gleichzeitig forderten die Sint*ezze und Rom*nja in der BRD orientalisierenden und exotisierenden Othering. Esma vertrat vehement ihre Verwendung des Synthesizers, auch wenn das der ihre Rechte ein, ihre Bürgerrechtsbewegung erstarkte. Mit »Lass Vorstellung des westlichen World-Music-Publikums von »reiner, Maro Tschatschepen« (lasst uns unser Recht fordern) rief 1977 das Häns’che Weiss Quintett die Mitglieder der Sinti-Community zu authentischer« Roma-Musik widerspricht. Für sie bedeutete »auAktivitäten auf. Das Praktizieren und Konsumieren thentisch« und »traditionell« ganz klar, dass sie ihre Musik mit modernen In­ von Sinti-Swing spielte dabei eine wichtige Rolle als Element kultureller Identität und politischer Strategie. strumenten spielt und mit Innovationen Gipsy Mafia positionieren Die Liedermacher Rudko Kawczynski und Tornado anreichert. Esma sang in allen Sprachen sich in ihren Texten als Rosenberg texteten als Duo Z seit den 1970er Jahren Jugoslawiens sowie in Griechisch, TürAnarchist*innen programmatisch und offensiv Songs über den Raskisch, Hebräisch und Hindi. Sie stellte klar: Sie ist als Weltbürgerin in mehreren sismus gegen Rom*nja und Sint*ezze. Kawczynski gab Ende der 1980er Jahre seine Tätigkeit als Musiker Sphären zu Hause. auf, um als Politiker zu kandidieren und sich ganz dem Roma-­ Eines der Lieder, das Esma Redžepova sang, ist »Djelem, djelem«, Aktivismus zu widmen. 1989/90 war er aktiv beim Kampf der die Hymne der internationalen Roma-Bewegung. Die Initiative für diese internationale Bürgerrechtsbewegung ging großteils von Rom*nja gegen ihre Abschiebung aus der BRD. jugoslawischen Rom*nja aus, die in den 1970er Jahren relativ gute In der DDR gründete Hans Lauenberger 1985 die Band SintiBedingungen hatten sich zu politisieren. 1971 fand der erste inSwing-Berlin. Sie erfreute sich großer Beliebtheit beim Publikum, wurde zur Kultband und konnte 1987 sogar ein Album beim ternationale Roma-Kongress der Romani Ekhipe in London statt. Staats-Label Amiga veröffentlichen. Dennoch erlitt der Sohn Janko, Rom*nja verschiedener Untergruppen und geografischer Herkunft fingen an, über Staatsgrenzen hinweg zusammen gegen ihre der nicht Django heißen durfte, in der Schule massive rassistische Diskriminierung zu kämpfen. Beim zweiten Kongress 1978 in Genf Übergriffe. Anschließend wurde er – nicht die Täter – in ein Heim für Schwererziehbare eingesperrt. Die Bürgerrechtler*innen Reimar wurde die International Roma Union gegründet, die für die weltiz3w • Januar / Februar 2018 q 364


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Musik und Hannelore Gilsenbach intervenierten bei Bildungsministerin Margot Honecker und appellierten an das antifaschistische Selbstverständnis der DDR – immerhin handelte es sich bei Janko um einen Enkel von Überlebenden des Porajmos. Erst nach einem halben Jahr wurde er wieder nach Hause entlassen. Heute spielt er sowohl Sinti-Jazz als auch moderne Formen des Jazz.

sich dazu, nachdem ihr Vater in den Vorstand des Zentralrats der Sinti und Roma gewählt worden war. Sie veröffentlichte 2006 ihre Autobiografie »Kokolores«. Dragan Ristić und seine Band Kal machen seit 1996 EthnoRockabilly (oder »Rock’n’Roma«). Die Band lebt in Serbien. Ristić setzt sich als Aktivist dafür ein, dass Rom*nja am modernen Leben teilnehmen können. Er ist beteiligt an den Kampagnen »Do You Know Who I Am?« und »Yes, That’s Me«, die gegen Vorurteile kämpfen, die ‚junge‘ Roma-Kultur der Mehrheitsgesellschaft vermitteln sowie Rom*nja und Nicht-Rom*nja einander näher bringen Musik mit politischen wollen – mit Fotoausstellungen, Konzerten, Kino und Diskussionen. Bezugspunkten Ristić ist außerdem Autor, Schauspieler und Produzent für Theater t Esma Redžepova ist also nicht die Einzige. In und Film. Zusammen mit seinem Bruder Dušan Ristić gründete er ihrer Generation und unter jüngeren Leuten gibt es viele Rom*nja, 2001 im serbischen Valjevo die Amala-Schule für Roma-Kultur. die sich als solche in der Öffentlichkeit positionieren und politisch Dragan Ristić kritisiert immer wieder Akteur*innen wie Goran Bregović dafür, dass sie behaupten, Autor*in von Liedern zu sein, für die Rechte von Rom*nja einstehen und kämpfen. deren Autorenschaft Roma-Musiker*innen für sich beanspruchen. Die tschechische Musikerin Věra Bílá singt in Begleitung ihrer Band Kale. Erst im Alter von 45 Jahren ging sie 1995 mit dem selbst Er spricht damit eine strukturelle Ungleichheit an – auch im Hinblick komponierten und getexteten Album »Rompop« an die Öffentauf das Sampeln von Romamusik in elektronischer Musik: »Den lichkeit. Sie lieferte damit das Stichwort für ein ganzes Genre, das Roma-Musikern fehlt es leider oft an Bildung und dem richtigen Wissen, sich selbst und ihre Kultur zu promoten und sich im Musikteils schon seit den 1980er Jahren in der ČSSR, später in TschechiBusiness richtig zu positionieren.« Auf ihrem Album »Romology« en praktiziert wurde: Popmusik in Romanes. Die österreichische Lovarica Ruža Nikolić-Lakatos sang seit ihrer und mit dem Track »Gadzo DJ« reflektieren Kal das musikwirtschaftliche Missverhältnis. Kindheit auf Familienfesten. Auf Anregung einer Musikethnologin Die Wiener Feministinnen Sandra Selimović und Simonida performte Ruža mit ihrem Mann Mišo Nikolić erstmals vor einem Nicht-Roma-Publikum, was großes Interesse an traditionellen Selimović treten unter dem Namen Mindj Panther als Rapperinnen auf. Der Bandname ist eine Kombination aus Black Panther und der indirekten Übertragung des Begriffs Pussy Riot ins Romanes. Sie engagieren sich mit ihrer Musik und auch sonst gegen Rassismus und Kapitalismus, rufen die Wiener Roma-Community dazu auf, keine rechten Parteien zu wählen und setzen Statements gegen das Bettelverbot in Wien. Die Mitglieder von Mindj Panther sind in der feministischen Gruppe IniRromnja aktiv und arbeiten hauptsächlich als Theatermacherinnen. Im Herbst 2017 hatte das Stück »Roma Armee« am Berliner Gorki-Theater Premiere, in dem beide federführend mitwirken. Gipsy Mafia gehören zur jüngeren Rap-Generation in Serbien. Die Gruppe existiert seit 2006. Die beiden MCs sind die Brüder Skill und Buddy, die als Kinder mit ihrer Familie nach Deutschland kamen und nach einigen Jahren abgeschoben wurden. Die Feministin DJ Koki begleitet die beiden an den Turntables. Gipsy Mafia positionieren sich in ihren Texten als Roma-Aktivist*innen Gruppe »KAL« Foto: Dragan Ristić und Anarchist*innen. Sie treten nicht nur in Clubs, sondern auch auf antirassistischen Demonstrationen auf. ­Lovara-Liedern und an Ruža als Musikerin nach sich zog. Im folgenDas ist nur eine kleine Auswahl an Musiker*innen. Noch viele mehr den komponierte und textete sie – wie auch die bildende Künstletreten öffentlich als Rom*nja auf, ohne die eigene Identität zu rin Ceija Stoijka – neve Gjila. Das sind nicht-traditionelle neue Lieder, verleugnen. Damit sind sie medienwirksame Role Models – nicht die auch als Chansons bezeichnet werden können. Seit Mitte der nur zur Unterhaltung der Mehrheitsgesellschaft, sondern vor allem zum Empowerment der Leute in den Rom*nja-Communities. 1990er Jahre veröffentlicht sie Alben und tourt mit ihrer Band Ruža Nikolić-Lakatos and The Gypsy Family weltweit. Ihr Mann nennt sie »Botschafterin«, weil durch ihre Musik in der Mehrheitsgesellschaft tt Antje Meichsner hat Ende der 1990er Fanfare Ciocărlia in IndieInteresse und Verständnis für die Rom*nja entstanden sind. Marianne Rosenberg ist seit ihrem 14. Lebensjahr in den 1960er Clubs erlebt. Sie ist in der Gruppe »Gegen Antiromaismus« aktiv, Jahren Schlagersängerin. Sie wurde in dieser Zeit mit ihrer Arbeit produziert die Sendereihe »Radio RomaRespekt« und gab 2016 zusammen mit Kathrin Krahl den Sammelband »Viele Kämpfe und Hauptverdienerin ihrer Familie, die so der Armut entkam. Auf Rat vielleicht einige Siege« heraus. Eine längere Fassung dieses Textes mit ihres Vaters verbarg Rosenberg, dass sie Sintezza ist. Er war Überden hier entfallenen Literaturhinweisen steht auf www.iz3w.org lebender des Porajmos. Erst Anfang der 1990er Jahre bekannte sie iz3w • Januar / Februar 2018 q 364

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ISSN 1614-0095


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