iz3w Magazin # 369

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Friedensprozesse – Give Peace a Chance

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t AfD pro-kolonial t Umbrüche in Georgien t Separatismus in Kamerun

Nov./Dez. 2018 Ausgabe q 369 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


In dies er Aus gabe . . . . . . . . .

Titelbild: »Children of Rubble« des jemenitischen Streetart-Künstlers Murad Subay entstand im Mai 2018 in Sanaa. Es ist Teil seiner Serie »Faces of War«.

Schwerpunkt: Friedensprozesse 20 3

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Editorial

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Kamerun: »Ein bizarrer und naiver Traum«

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Den inneren Frieden bewahren In Indonesien konnten Konflikte deeskaliert werden von Alex Flor

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Frieden ohne Gerechtigkeit Befreiungsbewegungen an der Macht im Südlichen Afrika von Reinhart Kößler

Debatte: Ein gutes Leben für alle Was kann und soll Entwicklungspolitik gegen erzwungene Migration ausrichten? von Theo Rauch

Nationalismus unter Aufsicht Der Friedensprozess in Bosnien und Herzegowina ist ethnisiert von Larissa Schober

Kanada: »We Still Say No!« Indigene Kämpfe in Kanada gehen weiter von Lukas Komm und Jenna Stabb

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Erdöl: Klimawandel oder Wirtschaftskollaps? Die subsaharischen Ölexportländer stehen vor einem großen Dilemma von Stefan Andreasson und Sören Scholvin

Ende gut – alles gut? Zwischen Äthiopien und Eritrea bricht Freundschaft aus von Eva-Maria Bruchhaus

SeparatistInnen kämpfen für einen eigenen Staat von Annika Witte Separatismus nach Drehbuch von Winfried Rust

Belohnung der Skrupellosen Das Peacebuilding in der DR Kongo bleibt bruchstückhaft von Alex Veit

Kolonialismus: War doch nicht alles schlecht damals Die AfD entdeckt den Deutschen Kolonialismus von Andreas Bohne

Never ending story Warum Friedensprozesse so langwierig sind von Larissa Schober

Politik und Ökonomie 4

Editorial

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Nur auf dem Papier In Kolumbien geht die Gewalt gegen Oppositionelle weiter von Sascha Jablonski und Christopher Altgeld

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Tränen in Energie umwandeln Wie Theaterarbeit Friedensprozesse von unten fördern kann von Isabella Bischoff und Wolfgang Albrecht

Kultur und Debatte 39

Black Atlantic: Verkauft am Kanal Das afrikanische Erbe in Panama von Oliver Schulten

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Georgien: Hier Techno, dort Popen Ein Land sucht seinen Weg in die Zukunft von Petra Kistler

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Nachruf: Ein Herz groß wie der Mond Hommage an die Internationalistin Eva Weil-Kroch von Theo Bruns und Angela Habersetzer

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Rezensionen

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Szene / Impressum


Edito r ia l

Wie man straflos einen Genozid verübt »Als das Militär in mein Dorf kam, sagten sie, wir müssten Myanmar verlassen. Sie sagten, wir gehören nicht dorthin. Ohne Vorwarnung haben sie meine Eltern vor meinen Augen erschossen.« Was der 16-jährige Nor aus Myanmar berichtet, ist alles andere als ein Einzelfall. Ein »beabsichtigter Völkermord« sei der muslimischen Rohingya-Minderheit Ende August 2017 von myanmarischen Soldaten angetan worden, fasst eine Fakten-Findungs-Kommission des UN-Menschenrechtskommissars ein Jahr danach die Ereignisse zusammen. Mindestens 10.000 Menschen seien bei den Kriegsverbrechen umgekommen und 37.000 Häuser zerstört worden. »Die grausamen Menschenrechtsverletzungen und Misshandlungen, die in den Gliedstaaten Kachin, Rakhine und Shan begangen wurden, schockieren wegen ihrer grauenerregenden Art und Allgegenwärtigkeit«, sagt die Kommission an die Adresse Myanmars. Über 900.000 Rohingya flohen ins benachbarte Bangladesch und versuchen dort im größten Flüchtlingscamp der Welt zu überleben.

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och bis heute werden die Täter und die politisch Verantwortlichen, allen voran Armeechef Min Aung Hlaing und De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi, nicht für die exzessive Gewalt zur Rechenschaft gezogen. Sie sind in Myanmar weiter wohlgelitten, denn in der Lesart des Staates handelt es sich bei dem militärischen Massenmord um die »Antwort auf einen terroristischen Angriff« und das »Aufspüren der Verantwortlichen«. Gemeint ist die Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA), die am 25. August 2017 mehrere Polizeistationen sowie ein Armeecamp im Nordwesten Myanmars überfallen und zwölf Menschen getötet haben soll. Was darauf folgte, war jedoch die kollektive Bestrafung einer gesamten Bevölkerungsgruppe. Sie ist schon allein deshalb vollkommen ungerechtfertigt, weil die meisten Rohingya sich von ARSA distanzieren und sie für ihre Misere mitverantwortlich machen. Über ARSA ist wenig Genaues bekannt. Offensichtlich wurde sie im Exil von jungen Rohingya gegründet, die sich nach der pogromartigen Gewalt gegen Rohingya durch BuddhistInnen im Jahr 2012 radikalisiert hatten. Die Gruppierung strebt Autonomie und Schutzrechte für Rohingya an und bezeichnet sich trotz ethnisch-religiöser Ausrichtung als säkular. Mit dem Islamischen Staat und Al Quaida verbindet sie laut eigenen Aussagen nichts. Dennoch kann ARSA keineswegs eine legitime Militanz zur Verteidigung der Rohingya für sich beanspruchen. Laut Amnesty International haben ARSA-Milizen im August 2017 ein Massaker

an etwa hundert Angehörigen der hinduistischen Minderheit verübt.

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uch im Falle der Rohingya gibt es also keine ganz klare Unterscheidung von ‚gut und böse‘, wie sie in vielen Medienberichten vorgenommen wird. Dennoch ist es ein entscheidender Unterscheid, ob eine in der Bevölkerung weitgehend isolierte Miliz ein Massaker begeht oder ob staatliches Militär einen Genozid verübt, der sich in die jahrzehntelange systematische Diskriminierung einer von der Bevölkerungsmehrheit gehassten Minderheit einfügt. Obwohl die Schuldfrage eindeutig ist, hat sich die so genannte internationale Gemeinschaft bislang nur zu zöger­ lichen Maßnahmen gegen Myanmar durchringen können. Papst Franziskus richtete zwar mahnende Worte ans Militär und an Suu Kyi, wurde aber von vielen Seiten wegen allzu großer Rücksichtnahme kritisiert. Facebook sperrte erst in diesem Sommer Profile, auf denen jahrelang gegen Rohing­ ya gehetzt worden war. Die EU verhängte im Frühsommer gegen sieben Generäle und Beamte ein folgenloses Ein­ reiseverbot, weitergehende Sanktionen gegen Myanmar will sie nun erst einmal in Ruhe »prüfen«. Und auch von Seiten der globalen Linken ist nur wenig Protest gegen die tödliche Gewalt an Rohingya zu vernehmen. Ob das daran liegt, dass sie hier keine gewohnten Feindbilder bemühen kann? Die einzigen, die sich ernsthaft der Rohingya annehmen, sind Menschenrechtsgruppen, humanitäre Hilfsorgani­ sationen sowie einige UN-Gliederungen. Dafür verdienen sie Respekt, doch können sie ohne Unterstützung seitens politisch Mächtiger kaum etwas gegen die fortgesetzte Diskriminierung bewirken. Ihre Hoffnungen richten sich nun auf den Internationalen Strafgerichtshof, der sich im September für befugt erklärte, die Gräueltaten an R ­ ohingya zu untersuchen, und Vorermittlungen einleitete.

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yanmar schien nach langen Jahren der Militärherrschaft auf einem guten Weg zu sein, hin zu Demokratisierung und sozialem Frieden. Für ihren gewaltfreien Widerstand gegen das Regime bekam Suu Kyi 1991 den Friedensnobel­ preis. Heute stellt sie sich vor die Mörder und heißt sogar die Verhaftung zweier Journalisten gut, die über Gewalt an Rohingya berichtet hatten. Suu Kyis Versagen verweist einmal mehr darauf, wie schwer es ist, einen Friedensprozess jahrzehntelang durchzuhalten. Mehr dazu in unserem ­Themenschwerpunkt ab Seite 20. die redaktion

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War doch nicht alles schlecht damals Die AfD entdeckt den deutschen Kolonialismus von Wissmann, gegen den arabischen Sklavenhandel, der nur militärisch beendet werden konnte, wie es in einer Postwurfsendung 2017 hieß. Damit wiederholte sie die damalige koloniale Argumentation. Ende Juni 2018 lud die AfD-Fraktion zu einem »Bürgerdialog« zur Umbenennung ein. Dieser wurde zwar abgesagt, jedoch nicht aufgrund der spontanen Proteste, sondern durch die Entscheidung des Neuköllner Rathauses. In beiden Fällen versucht die AfD sich – offensiv und nicht versteckt – an die Spitze der zumeist schon bestehenden Gegenbevon Andreas Bohne wegung und der öffentlichen Diskursräume zu stellen. Sie setzt dabei auf die partizipative Karte und beschwert sich über ein vertt Im November 2015 hielt Bernd Höcke, Landesvorsitzender der meintliches Übergehen der AnwohnerInnen. Vehikel dafür sind für Alternative für Deutschland (AfD) in Thüringen, eine seiner berüchsie Bürgerinitiativen oder Dialoge, um die öffentliche Meinung und tigten Reden. Er sagte: »In Afrika herrscht nämlich die sogenannte die Politik zugunsten eigener Interessen zu beeinflussen. Unterschiedlich ist die konkrete Vorgehensweise: Wird im Afrikanischen Klein-r-Strategie vor, die auf eine möglichst hohe Wachstumsrate abzielt. Dort dominiert der sogenannte Ausbreitungstyp und in Viertel versucht, die Vorbehalte der lokalen BewohnerInnen auszuEuropa verfolgt man überwiegend die Groß-K-Strategie, die die nutzen und sich an die Spitze bestehender Gegenproteste zu setzen, Kapazität des Lebensraums optimal ausnutzen möchte, hier lebt geht es an der Wissmannstraße darum, selbst einen Beteiligungsder Platzhaltertyp. Die Evolution hat Afrika und prozess zu etablieren und eine von der AfD Europa vereinfacht gesagt zwei unterschiedliche dominierte Gegenbewegung zu initiieren. Kolonialisten wie Hermann Reproduktionsstrategien beschert.« Dass die Partei es in Neukölln geschafft hat, Rassistische Äußerungen von AfD-PolitikerInzum ersten Mal die Diskussion um die Wissvon Wissmann gelten der nen wie diese sind ohne den deutschen Kolomannstraße in den breiteren öffentlichen AfD als respektabel nialismus nicht zu verstehen. Zumindest, wenn Raum zu holen, liegt aber auch daran, dass man einen umfassenden Kolonialismusbegriff dem im April 2016 eingebrachten Antrag zugrundelegt, der weit über die Zeit von 1884 mit dem Erwerb der Neuköllner Fraktion der Grünen für eine Bürgerbeteiligung nicht nachgekommen wurde. Dies ermöglicht nun das lokalpatriund 1919 mit dem Verlust der Kolonien hinausgeht, und der nicht nur die territoriale Besetzung von Gebieten umfasst, sondern ebenotische Auftreten der AfD. so die Konstruktion einer vermeintlichen Überlegenheit, herkunftsEtwas anders verhält es sich in Hamburg. Hier etablierte die bedingte Zuschreibungen und damit verbundene BedrohungsszeStadt, insbesondere auf Druck postkolonialer Gruppen, einen Pronarien. Spätestens mit der Bundestagswahl 2017 rückten zess für das städtische Erinnerungskonzept. Aufgrund ihrer Präsenz Migrationsbewegungen aus Afrika verstärkt in die AfD-Argumenim Hamburger Landesparlament wurde die AfD darin einbezogen. Als Ende März 2018 zum zweiten »Runden Tisch zur Kolonialismustation. Es war somit nur eine Frage der Zeit, bis sich die AfD der Aufarbeitung« geladen wurde, nahm auch der AfD-Abgeordnete postkolonialen Erinnerungspolitik und der Aufarbeitung des deutAlexander Wolf teil. Nach Protesten aus der Schwarzen Commuschen Kolonialismus zuwendete. In jüngerer Zeit lassen sich dabei deutliche Tendenzen wahrnehmen, die sich auf drei Ebenen zeigen. nity musste er jedoch den Saal verlassen. Daran gab es durchaus Kritik, denn der AfD gelang es so, sich als Opfer darzustellen, und ihren Ansichten konnte im öffentlichen Raum nicht entgegen geIm Lokalen agitieren treten werden. tt Erstens setzt die AfD auf die Ablehnung von Straßenumbenennungen und Erinnerungskonzepten auf lokaler Ebene. So wie etwa Restitution? Überflüssig! im Berliner Bezirk Mitte: Viele Jahre engagierten sich dort migrantt Die zweite Ebene der AfD-Befassung mit dem Kolonialismus tisch-diasporische und deutsche AktivistInnen für eine Umbenenbetrifft die postkoloniale Provenienzforschung und Restitution. nung der Petersallee, der Lüderitzstraße und des Nachtigalplatzes im Afrikanischen Viertel. Im April 2018 war es dann soweit, die Anfang Juli 2018 stellte die AfD im Bundestag eine Große Anfrage Bezirksverordnetenversammlung beschloss neue Namen. Die AfD zur »Aufarbeitung von Provenienzen«. Die AfD gab sich dabei viel positionierte sich gegen die Umbenennung, lud zu »Bürgerdialogen« Mühe und entwarf einen detailversessenen Fragenkatalog. In der und Kundgebungen für die Beibehaltung ein. Schließlich, so die Einleitung identifiziert die AfD drei Problembereiche: Die geringe Personal- und Finanzdecke für Provenienzforschung, die Frage nach AfD-Sichtweise, könne man nur so die Erinnerung an den Kolonia­ «konservatorischen und kuratorischen Know-hows in den Herkunftslismus aufrechterhalten. Aktuell fordert die AfD die Beibehaltung der Wissmannstraße ländern« und die Überformung der postkolonialen Aufarbeitung im Berliner Bezirk Neukölln. Als Begründung dient das »Engagedurch marxistische Ansätze. Während der erste Punkt eine Tatsache ment« des früheren Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, Hermann aufgreift, die von postkolonialen KritikerInnen ebenfalls genannt

In der postkolonialen Erinnerungspolitik findet die AfD derzeit ein neues Betätigungsfeld für ihren Rassismus. Gleich ob es um Straßenumbenennungen, die Restitution von geraubten Kulturgütern oder die Anerkennung des Genozides in DeutschSüdwestafrika geht, sie vertritt zuverlässig eine kolonialapo­ logetische Sichtweise. Wie funktioniert dies im Einzelnen und was lässt sich der AfD entgegenhalten?

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Kolonialismus

ist der Meinung, daß für die Schäden an dem Volk der Herero – das den Krieg übrigens begonnen hat – Entschädigungszahlungen fällig sind. Dabei haben wir seit 1990 870 Millionen Euro Entwicklungshilfe an Namibia gezahlt. [...] Diese enorme Summe ist aber in den Taschen irgendwelcher linksradikaler SWAPO-Seilschaften versickert, und jetzt sucht man halt nach neuen Einnahmequellen.« Ein genauer Blick auf das Zitat zeigt die verschiedenen Dimensionen der rassistischen Argumentationsstruktur: Es handele sich lediglich um einen »Aufstand«, nicht um einen Völkermord. Es wird auf die Schuld der Herero verwiesen, ohne das koloniale Unrechtsregime als Ursache auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen. Daneben suggeriert Protschka mit dem Adjektiv »offiziell« eine Hidden Agenda, um dann zu behaupten, dass Aufarbeitung nur Geldzahlungen bedeute. Ganz in der Tradition des kolonialen »Wir und die Anderen« haben »wir«, also das ‚deutsche Volk‘, bereits umfangreiche Zahlungen an »sie«, die linksradikalen Seilschaften, geleistet. Einen weiteren Schwerpunkt im Interview mit Protschka nimmt die Sorge um die deutschen Landsleute in Namibia ein, die von Landenteignungen bedroht sind. Hier wird das landsmännische Prinzip betont: Die Definition, wer als ‚Deutscher‘ anzusehen und juristisch als solcher zu behandeln ist, beruht für die AfD klar auf dem jus sanginis, also auf Abstammung. Sie inszeniert sich als Schutzmacht der ‚Deutschen‘ in Namibia (ähnlich den Buren in Südafrika). Foto: Initiative Schwarzer Deutscher

wird, nämlich dass mit dem Verweis auf Kosten und Zeit eine Hinhaltetaktik bei möglichen Restitutionsansprüchen erfolgt, zeigen die anderen Fragen, in welche Richtung es eigentlich geht: Schlicht um Rassismus und Hegemonie. Restitutionen etwa von afrikanischen Kulturgütern lehnt die AfD mit dem Argument ab, es gebe in den Herkunftsländern keine Erfahrungen und vor allem »keine westlichen Standards«. Dass es sehr wohl ExpertInnen aus den Herkunftsländern gibt, übergeht die AfD. Wie über Geschichte gelernt, wo und von wem sie interpretiert werden müsse, ist für die AfD klar: im Globalen Norden und durch den Globalen Norden. Schließlich gebe es in Afrika eine eher »orale Weitergabe der Geschichte«, nur hiesige Museumskonzeptionen seien Norm der Wissensvermittlung. Damit suggeriert die AfD,

Vielschichtiges Rassismusbild der AfD Zu Recht könnte hier angemerkt werden, dass die pro-kolonialen Sichtweisen und die Aktivitäten der AfD nicht überraschend sind. Auffallend sei eher, dass sie erst so spät nach ihrem Einzug in die Parlamente auftreten. Jedoch ist das Rassismusbild der AfD, das sich im Bezug auf den deutschen Kolonialismus zeigt, nicht ganz so schlicht, wie von KritikerInnen oft suggeriert wird. Es besteht aus (neo)kolonialen Denkstrukturen und Praxen, aus geopolitischen Hegemonieansprüchen, aus Dominanzgedanken und kapitalistischen Verwertungslogiken. Kontinuitäten liegen im kulturalistischen und ethnopluralistischen Rassismus, in der Aufrechterhaltung kultureller Asymmetrien und in der Kontrolle über die (neo)koloniale Warenwelt. Es geht um Ausschluss, Exklusivität und um Verteilungskämpfe, unter jeglicher Negierung der transnationalen Verflechtungsgeschichte. Unschwer ist der AfD-Populismus auch in der Kolonialismusdebatte als Stilmittel zu erkennen. Etwa durch typische Merkmale wie die Negierung der Relevanz (»Gibt es nichts Besseres zu tun?«) und das Freund-Feind-Schemata – nicht nur im kolonialen »Wir versus die Anderen«, sondern auch gegenüber KritikerInnen. Auch die Kritik an der vermeintlichen Elite, welche die BürgerInnen vom Entscheidungsprozess ausschließen wolle, ist typisch. Der Berliner AfD-Bundestagsabgeordnete Götz Frömmig behauptet beispiels-

Straßenumbenennung in Berlins »Afrikanischem Viertel«: Die Maji-Maji-Allee soll den ostafrikanischen Widerstand gegen den deutschen Kolonialismus würdigen

Kulturgüter sollten nur den BesucherInnen europäischer Museen zur Verfügung stehen. Die eurozentristische Zivilisierungsidee des Kolonialismus lässt grüßen.

Kein Genozid, keine Entschädigung Die dritte Ebene der Beschäftigung der AfD mit Kolonialismus betrifft den Genozid an den OvaHerero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia). Jahrzehntelanges Engagement namibischer Gruppen, unterstützt von hiesigen schwarzen, afrodeutschen und weißen AktivistInnen, erreichte, dass die Bundesregierung 2015 den Völkermord als solchen benannt und einen – wenn auch in seiner gegenwärtigen Umsetzung zu kritisierenden – Dialog begonnen hat. Im Juni 2018 gab der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Protschka dem rechten Magazin »Zuerst!«, das sich zunehmend als AfD-Sprachrohr positioniert, dazu ein Interview. Bereits die erste Antwort verdeutlicht die Kernmerkmale der AfDSicht: »Es geht dabei offiziell um die Aufarbeitung des sogenannten Herero-Aufstandes von 1904 bis 1908. Die Regierung in Windhuk tt

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Kolonialismus Frappierend ist, wie viele Diskurse, Ansichten und politische Argumentationen der AfD sich mit denen anderer Parteien decken. Die fehlende Positionierung zum Genozid an den OvaHerero und Nama im heutigen Namibia, die Weigerung, Restitutionen von Museumsartefakten zu diskutieren, die konfuse Kritik an Straßenumbenennungen oder das Stemmen gegen Erinnerungskonzepte im öffentlichen Raum sind auch in Parteien der Regierungskoalition sowie auf Bezirks- und Landesebene vertreten. Ein kolonialismuskritischer Perspektivwechsel ist auch mit diesen Parteien derzeit kaum zu machen. Überspitzt könnte man sagen, dass die AfD den meisten anderen Parteien ihre kolonialapologetische Politik nicht aufzwingt oder sie vor sich hertreibt, sondern hier mit ihnen übereinstimmt. Rechte, ethnopluralistische und bürgerlich-konservative AkteurInnen treffen in einem überparteilichen Block aufeinander. Foto: Berlin postkolonial

weise, Kämpfe um Umbenennungen von kolonialrassistischen Spuren im öffentlichen Raum seien selbst koloniale Attitüde, die AktivistInnen »würden sich wie Kolonialisten des 19. Jahrhunderts gebärden«. Überhaupt wird der gesamten postkolonialen Theorie eine »ideologische Überformung« vor allem durch »marxistische Ansätze« nachgesagt, etwa in der Großen Anfrage der AfD zu Provenienzen. Der gesamte deutsche und europäische Kolonialismus wird von der AfD nicht als Unrechtssystem gesehen – weder moralisch, noch menschenrechtlich. Dass viele ethnografische Sammlungen in einem kolonialen Unrechtskontext erworben wurden, will die AfD nicht

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Endlich postkoloniale Kritik ansetzen

Mit dem Aufstieg der AfD nahmen auch die Analysen über ihre Wählerstruktur zu. Darin wird das rassistische Gesinnungsbild allzu oft einseitig als sogenannter »Abstiegsnationalismus« interpretiert. Die kolonialrassistischen Kontinuitäten sind hingegen nur begrenzt ein Erklärungsmuster. Es ist jedoch nicht nur die vermeintliche Abstiegsangst der heteronormativen Mittelklasse, die zu rassis­ tischen Einstellungen führt, sondern sie beruhen auch auf kulturellen Gewohnheiten, die durch den Kolonialismus geprägt wurden. Ähnlich wie der Antifeminismus der AfD muss auch Eine legitime Forderung, die auf viel Abwehr stößt ihre kolonialrassistische Haltung thematisiert werden; sie findet sich mehr oder minder offen in begreifen. Dass Straßenumbenennungen darauf abzielen, die ihren Positionen zu Migration, Entwicklungspolitik und Nord-SüdKontinuität des Kolonialen im öffentlichen Raum aus menschenHegemonie. Doch antirassistische, antifaschistische und postkolorechtlicher Sicht zu hinterfragen, bleibt für sie ohne Bedeutung. niale Initiativen finden bisher beim Vorgehen gegen die AfD zu Zugleich geht es der AfD darum, postkoloniale Initiativen abzuwerwenig zusammen. Zu selten wird thematisiert, wie sehr die Ursache ten, zu marginalisieren und zu delegitimieren – und im Gegenzug des AfD-Rassismus auch in einem (neo)kolonialen Geschichtsbild eine eigene lokale Identitätspolitik zu initiieren und zu stärken. Es zu suchen ist. ist eine Chuzpe, dass die AfD im Berliner Der AfD sollte eine progressive ErinnerungsBezirk Mitte zum Beispiel auf die Mögpolitik entgegengehalten werden, bloße ApIhre Apologetik des Kolonialen lichkeit von Klagen gegen neu benannte pelle dazu sind nicht ausreichend. Der AlltagsStraßen hinweist, wenn der »Name nach rassismus in Sprache, Gesellschaft und muss die AfD anderen Parteien dem heutigen Demokratieverständnis öffentlichen Räumen muss benannt, bekämpft gar nicht aufzwingen negativ belastet ist«. und im Schulunterricht behandelt werden. Der angebliche »deutsche SchuldDie (post)koloniale Vergangenheit und Gekult«, eine der Zielscheiben der AfD, lässt sich im Zuge solcher genwart muss allerorts auf die Agenda gesetzt werden, in der Argumentationen endlich vom Nationalsozialismus auch auf den Wissenschaft ebenso wie in politischen Debatten. Mehr Gelder für Kolonialismus ausbreiten. Als Kronzeuge für die Mär vom unschulentsprechende Forschungen wären ein erster Schritt. digen deutschen Kolonialismus wird zum Beispiel der konservative Ob aber eine offene Diskussion mit AfD-SympathisantInnen Gründungsdirektor des Humboldt-Forums, der Kunsthistoriker Horst erfolgreich ist, darf bezweifelt werden. Personen mit einem in Stein Bredekamp, herangezogen (zur Kritik an Bredekamp siehe iz3w gemeißelten rassistischen Weltbild zu einem Perspektivwechsel zu 366). Dessen Aussage von der »hypostasierte[n] Schuld, [Exponabewegen, erscheint fast unmöglich. Erfolgversprechender ist eher, te] zu besitzen« wird gern von der AfD aufgegriffen. Zum NS-Regime den AfD-Positionen keine Bühne, etwa in Talkshows, mehr zu geben, zeigt sich dennoch ein Unterschied: Es wird nicht allein eine kolsodass ihr Rassismus sich nicht weiterverbreiten kann. lektive Unschuld und Opferrolle konstruiert, es werden sogar Helden wie Wissmann konstruiert oder angebliche positive Seiten des Kolonialismus herausgestellt. Bernd Höcke behauptet gar, dass tt Andreas Bohne ist im NGO-Bündnis »Völkermord verjährt aufgrund der deutschen Kolonialherrschaft die Deutschen in Afrika nicht!« engagiert und arbeitet im Afrikareferat der Rosa-Luxemburgeinen guten Ruf genießen. Kolonialapologetischer und chauvinisStiftung. tischer geht es kaum. iz3w • November / Dezember 2018 q 369

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Friedensprozesse Die Kriege im Jemen und in Syrien haben ihren Ausgangspunkt in innergesellschaftlichen Konflikten: Diktatur versus Protest, auch ethnische und religiöse Spaltungen spielen eine wichtige Rolle. Hinzu kommen Stellvertreterkriege. Schon diese beiden Kriege (um die es in diesem Themenschwerpunkt jedoch nicht geht) verweisen auf einen historischen Wandel: Seit dem Zusammenbruch der WarschauerPakt-Staaten ab 1989 prägen nicht zwischen-, sondern innerstaatliche Kriege das Gewaltgeschehen. Exzessives Morden und Vertreiben geschieht derzeit auch gegen die Rohingyas in Myanmar, beim Bürgerkrieg in der DR Kongo oder beim Machtkampf im Südsudan. Auch hier müssen nicht »einfach« die Interessen zweier Staaten ausgeglichen, sondern die komplexeren inneren Spaltungen in einem Bürgerkriegsland gemildert werden. Im Kongo (siehe S. 24) streitet man meist um ökonomische Ressourcen, in Myanmar ist die Konfliktursache rassistischer Hass gegen eine Minderheit. Auch Sprachgrenzen können einer Spaltung zugrundeliegen (etwa in Kamerun, S. 7). Innergesellschaftliche Zerklüftungen, wie sie durch die Ethnisierung des Sozialen in den Jugoslawienkriegen verursacht wurden, erfordern ebenfalls eine spezifische Konfliktbearbeitung (siehe zu Bosnien S. 28).

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s gibt also keine Blaupause für Friedensprozesse, sondern diese müssen den jeweiligen Gegebenheiten angepasst sein. Und noch eine weitere These wird in diesem Themenschwerpunkt immer wieder aufgestellt: Ohne Gerechtigkeit und Fortschritte bei sozialen Fragen ist an Frieden nicht zu denken. Wenn beispielsweise in abgehängten Regionen wie im Ostkongo die einzige Verdienstmöglichkeit die Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Miliz ist, dann hilft nur eine ökonomische Perspektive. Es braucht also zwingend zivilgesellschaftliche und kollektive staatliche Initiativen des Peacebuildings. Friedensschaffung und Friedenssicherung sind eigentlich Zielsetzungen nationaler und internationaler Politik. Ihnen liegt die Charta der Vereinten Nationen zugrunde. Sie bindet ihre Mitglieder – aus denen sich die klassischen Kriegsparteien rekrutieren – an die Bestimmungen des Völkerrechts. Hiermit ist eine institutionalisierte Interventionsmöglichkeit in (Bürger-)Kriege gegeben. Solche Interventionen sind vielerorts dringend nötig, weil das Machtgefälle und die Straffreiheit in Kriegsgebieten fast immer mit schweren Menschenrechtsverletzungen einher gehen. Von einer zufriedenstellenden Umsetzung des internationalen Rechts kann allerdings keine Rede sein.

Trotz aller Defizite muss aber auch gesagt werden, dass bewaffnete Konflikte immer wieder verhindert, gestoppt und heruntergekühlt werden können. Die Welt ist auch deshalb noch nicht in die Luft geflogen, weil viele Konflikte auf zivile Weise ausgetragen werden. Die damit verbundenen Friedensprozesse sind nicht so laut wie der Krieg, aber erstaunlich oft erfolgreich. Befriedet wurde beispielsweise der Nordirlandkonflikt. Er erinnert uns daran, dass kriegerische Auseinandersetzungen auch im als friedlich imaginierten Europa des späten 20. Jahrhunderts stattfanden. Doch auch wenn die Mehrheit in Nordirland sich inzwischen vom alten Grabenkampf republikanischer KatholikInnen gegen großbritische ProtestantInnen abgewandt hat, bleibt der Frieden prekär: Eine durch den Brexit geschaffene harte Grenze zwischen den beiden Irlands würde die Karten neu mischen. Ein weiteres Beispiel für erfolgreiche Befriedung ist Indonesien (siehe S. 30). Auch hier gibt es weiter Konflikte, doch auf den 17.508 Inseln des Landes läuft der Alltag heute weitgehend friedlich ab. Fast jeder Staat dieser Erde ist multiethnisch und multilingual. Kommt es zum Bürgerkrieg, heißt es gleich: Ja, ja, der Vielvölkerstaat. Sicher, der global institutionalisierte Nationalismus bringt in »Vielvölkerstaaten« wie Indonesien allzu oft Bürgerkriege hervor. Aber genauso bemerkenswert ist, dass solche bewaffneten Auseinandersetzungen eigentlich die Ausnahme sind. Auch in einer wenig perfekten Welt läuft das Zusammenleben vorwiegend ohne Gewalt ab. Tagtäglich werden unzählige Konflikte friedlich geregelt – nicht nur in Indonesien.

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ivile Initiativen tragen maßgeblich zu solchen Friedensprozessen bei. Anerkennung erfahren sie derzeit durch die Verleihung des Friedensnobelpreises an den kongolesischen Arzt Denis Mukwege und die jesidische Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad. Beide wenden sich gegen sexualisierte Gewalt in Bürgerkriegen (siehe iz3w 363). Der Gynäkologe Mukwege behandelt unermüdlich Frauen, die im kongolesischen Bürgerkrieg systematisch vergewaltigt werden. Er nennt den »genitalen Terrorismus« die »billigste Form der Kriegsführung«. Die jesidische Aktivistin Nadia Murad erlebte selbst, wie ihre Familie in Syrien vom »Islamischen Staat« ermordet wurde. Mit ihren Vorträgen und Interviews kämpft sie gegen »die organisierte Zerstörung des jesidischen Volkes« durch den IS. Beide AktivistInnen haben die Heilung von Kriegswunden zu ihrer Lebensaufgabe gemacht. Sie fordern nicht nur ein Ende der Gewalt, sondern auch den Schutz der Bevölkerung sowie die Bestrafung der Täter. Die Frage der Gerechtigkeit lässt sich von Friedensprozessen eben nicht trennen. die redaktion

Wir danken der Aktion Selbstbesteuerung für die Förderung des Themenschwerpunktes

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Nationalismus unter Aufsicht Der Friedensprozess in Bosnien und Herzegowina ist ethnisiert

Vor 23 Jahren beendete das Abkommen von Dayton den Bosnien­krieg. Seither läuft unter Aufsicht der Internationalen Gemeinschaft ein Friedensprozess, der diesen Namen kaum verdient. Mit dem Zusammenspiel von ethnischem Nationalismus und internationaler Einflussnahme ähnelt die Bundesrepublik Bosnien und Herzegowina heute mehr einem Halbprotektorat als einer selbstständigen Demokratie.

von Larissa Schober Der Bosnienkrieg 1992 bis 1995 war der blutigste Konflikt auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Er wurde zwischen den bosniakischen, serbischen und kroatischen Bevölkerungsgruppen sowie den Nachbarstaaten um die Zugehörigkeit beziehungsweise Unabhängigkeit des Landes geführt. Zwischen 97.000 und 200.000 Menschen verloren ihr Leben. Etwa zwei Millionen Menschen waren auf der Flucht, also die Hälfte der EinwohnerInnen. Sogenannte ethnische Säuberungen, Deportationen in Lager und systematische Vergewaltigungen waren Teil der Kriegsstrategien. Nach mehreren gescheiterten Friedensverhandlungen kam es im Oktober 1995 schließlich zu einem Waffenstillstand, dem ein in Dayton, Ohio, ausgehandeltes Friedensabkommen folgte. Das Abkommen mit dem offiziellen Namen General Agreement for Bosnia and Herzegowina ist ein kompliziertes Vertragswerk, das neben einem Rahmenabkommen aus zwölf Anhängen besteht. In Anhang IV findet sich die Verfassung von Bosnien.

und konfliktreich. Um ein Scheitern des Abkommens zu verhindern, wurde die Rolle des HR immer weiter ausgebaut, sodass er zu einem der wichtigsten Akteure in der bosnischen Politik wurde. 1997 legalisierte die IG auf einer Konferenz in Bonn diese weitgehenden Befugnisse des HR. Die sogenannten Bonner Befugnisse erlauben es ihm bis heute, Gesetze zu erlassen oder außer Kraft zu setzen, neue Behörden zu schaffen und gewählte AmtsträgerInnen zu entlassen. Damit kann er faktisch sämtliche gewählten Einrichtungen in Bosnien überstimmen. Gewollt oder ungewollt schuf die IG so ein Halbprotektorat. Somit kann mit dem Hohen Repräsentanten ein nicht gewählter Diplomat das Land regieren – derzeit der Österreicher Valentin Inzko.

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Die Internationale Gemeinschaft regiert Mit dem Abkommen erhielt die Internationale Gemeinschaft (IG) im bosnischen Friedensprozess eine zentrale Rolle und diverse Eingriffsmöglichkeiten. So wurde die NATO-Mission IFOR in Bosnien stationiert, welche die öffentliche Ordnung aufrechterhalten und Kampfverbände entwaffnen sollte. 2004 wurde sie durch die bis heute bestehende EU-geführte EUFOR Mission abgelöst. Die Organisation der Wahlen in der Nachkriegszeit wurde von der OSZE übernommen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) setzte den ersten Präsidenten der Bosnischen Zentralbank ein, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ernennt bis heute drei internationale RichterInnen des neunköpfigen bosnischen Verfassungsgerichtes. Die wichtigste Einflussmöglichkeit der IG stellt jedoch das Büro des Hohen Repräsentanten (HR) dar. Dieses wurde geschaffen, um ergänzend zur IFOR die Umsetzung der zivilen Aspekte des Friedensabkommens zu überwachen. Zunächst bestand seine Aufgabe vor allem darin, die Bemühungen der vielen zivilen Organisationen zum Staatsaufbau zu koordinieren, die konkrete Einhaltung des Friedensabkommens zu überwachen und die Konfliktparteien zur Kooperation anzuhalten. Die Umsetzung verlief jedoch langsam tt

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Nationalistische Blockaden In Kombination mit einem weiteren Fehler des Friedensabkommens führt die starke Präsenz der IG zu einer beinahe dauerhaften Blockade in der Politik des Landes. Dieser zweite Fehler ist die fast vollständige Ausrichtung der bosnischen Verfassung an ethnischen Kriterien. Um dem massiven Misstrauen zwischen den ehemaligen, nach ethnischen Kriterien sortierten Kriegsparteien gegenüber einem gemeinsamen Staat zu begegnen, wurden in der Verfassung ethnische Quoten für nahezu alle Institutionen eingeführt. So besteht Bosnien-Herzegowina seit dem Friedensabkommen aus zwei Entitäten: der Republika Srpska und der Föderation Bosnien und Herzegowina (sowie dem Sonderdistrikt Brčko). Deren Grenzen decken sich grob mit den Waffenstillstandslinien von 1995. Beide haben eigene Parlamente und Regierungen und sind in sich noch einmal föderal gegliedert. Die Föderation Bosnien ist als territoriale Vertretung der BosniakInnen und KroatInnen konzipiert, die Republika Srpska als Vertretung der serbischen Bevölkerung. Die gesamte Politik und Verwaltung sind durch ethnische Quoten bestimmt. Was das praktisch bedeutet, wird beispielhaft am Parlament des Zentralstaates deutlich. Es besteht aus zwei Kammern, dem Repräsentantenhaus und dem Völkerhaus. Die Delegierten des Völkerhauses werden zu einem Drittel vom Parlament der Republika Srpska und zu zwei Dritteln vom Parlament der Föderation Bosnien bestellt. Dabei müssen die Delegierten der Republika ethnische SerbInnen sein, die der Föderation zur Hälfte BosniakInnen und zur Hälfte KroatInnen. Für das Repräsentantenhaus gibt es solche Quoten nicht, die Mitglieder werden direkt gewählt, ein Drittel vom Territorium von Srpska und zwei Drittel von Territorium der Föderation. In beiden Kammern werden Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen, allerdings muss immer ein Drittel jeder Ethnie zustimmen, damit die Entscheidung gültig ist. Im Völkerhaus gibt es außerdem die Möglichkeit, ein ‘ethnisches Veto’ einzulegen, indem eine Entscheidung als Beeinträchtigung eines lebenswichtigen Interesse einer Ethnie deklariert wird. Dann kann die Vorlage nur angenommen werden, wenn eine Mehrheit der betroffenen Ethnie zustimmt. tt

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Foto: Larissa Schober

Fr i e d e n s p r o z e s s e

Weitere ethnische Quoten gibt es beispielsweise in den Ministerien. So dürfen maximal zwei Drittel der MinisterInnen aus der Föderation stammen und die stellver­ tretenden MinisterInnen müssen einer anderen ethnischen Gruppe als ihre Vorment haben die Teilstaaten gesetzten angehören. Das das Sagen und die Ministe­rien höchste Staatsamt, die Präund zentralen Behörden exissidentschaft, wird in Bosnien tieren bosnisch-serbisch-kronicht von einer Person beatisch dreifach. Diese Identikleidet, sondern von dreien: tätspolitik frisst zudem den jeweils einem Vertreter oder Großteil des Staatsbudgets. einer Vertreterin der drei großen Ethnien. Ebenso werEine endgültige den die Posten am VerfasÜbergangslösung sungsgericht, die nicht von internationalen RichterInnen t Das Abkommen von Daygehalten werden, zu einem ton schuf ein ethnisch segregiertes Parteiensystem. Die Drittel von Srpska und zwei Drittel von der Föderation weitreichenden Befugnisse Friedhof der Todesopfer des Genozids in Srebrenica bestimmt. Diese Liste von des Hohen Repräsentanten Quotenregelungen ließe sich führen zudem dazu, dass sich beliebig fortsetzen. PolitikerInnen aller Parteien um unangenehme Entscheidungen drücken und stattdessen natio­ Die Staatsstruktur in Bosnien beruht also grundlegend auf ethnischen Prinzipien. Deswegen wird von politischer wie auch wisnalistische Klientelpolitik betreiben können. Unbeliebte Entscheisenschaftlicher Seite immer wieder gefragt, ob Bosnien anstatt dungen werden dem HR überlassen. So befürwortet zwar der einer Demokratie nicht vielmehr eine Ethnokratie sei: Für politische Großteil der Bevölkerung einen Beitritt zur EU. Bei nötigen ReformMitbestimmung zentral ist weniger die Staatsbürgerschaft als schritten (wie etwa Kompromissen zwischen den drei Ethnien) vielmehr die Zugehörigkeit zur »richtigen« verlässt man sich aber darauf, dass der Ethnie, ergo Abstammung. HR sie irgendwann erlässt. Diese Konstellation ist zumindest diskriDie Befugnisse des HR, ebenso wie die Für politische Mitbestimmung minierend gegenüber Minderheiten. Danach ethnischen Prinzipien ausgerichist die Abstammung zentral durch, dass viele Ämter direkt an die Zugetete Verfassung, waren 1995 vermutlich hörigkeit zu einer der drei großen ethnischen nötig, um die Kriegsparteien für ein Gruppen geknüpft sind, werden beispielsFriedensabkommen zu gewinnen. Heuweise Roma und Romnija sowie Jüdinnen und Juden faktisch auste stehen sie jedoch einem weiterreichenden Frieden im Weg. geschlossen. Deren VertreterInnen klagten 2009 vor dem EuropäDabei waren sie als Übergangslösung gedacht: Richard Hoolbroke, ischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen einige dieser der für die USA an den Friedensverhandlungen beteiligt war, sagRegelungen und bekamen Recht. Daraufhin beschloss das bosnische te 1995, dass man vielleicht zehn Jahre mit diesen Regelungen Parlament 2011, eine Verfassungsreform einzuleiten, die jedoch leben müsse. Das Büro des HR sollte erstmals 2008 geschlossen bis heute nicht umgesetzt wurde. werden. Zehn Jahre später ist dieser Schritt immer noch nicht in Damit zeigt sich auch ein weiteres Problem der NachkriegsverSicht. Gleichzeitig haben die Wahlen am 7. Oktober wieder natifassung: Durch die ethnisch begründeten Vetomöglichkeiten kann onalistische Parteien aller Seiten gestärkt. Die Zukunftsaussichten fast jede politische Entscheidung blockiert werden, sodass Reformen von Bosnien und Herzegowina bleiben düster. ausbleiben. Gleichzeitig werden Entscheidungen stets einer Ethnie zugeschrieben, sodass das Bild von »den Serben/Bosniaken/Kroaten«, die schon wieder gegen »unsere« Interessen gestimmt haben, tt Larissa Schober ist Politikwissenschaftlerin und Mitarbeiterin ständig neue Nahrung erhält. Statt der Regierung und dem Parlaim iz3w. iz3w • November / Dezember 2018 q 369

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iz3w Backlist

iz3w 369: iz3w 368: iz3w 367: iz3w 366: iz3w 365: iz3w 364:

Friedensprozesse Bioökonomie Anarchismus weltweit Arbeitsrechte Pressefreiheit 1968 international

2017 iz3w 363: iz3w 362: iz3w 361: iz3w 360: iz3w 359: iz3w 358:

Sexualisierte Gewalt Altern in der Welt Tourismus & Migration Freie Radios Rechtspopulismus Dschihadismus

2016 iz3w 357: iz3w 356: iz3w 355: iz3w 354: iz3w 353: iz3w 352:

Afropolitane Kultur Fluchtursachen Separatismus Müll Olympia in Brasilien Refugees & Selbstermächtigung

2014 iz3w 345: iz3w 344: iz3w 343: iz3w 342: iz3w 341: iz3w 340:

Barrieren & Behinderungen Geschäfte mit Uran Fotografie & Macht Protest in der Türkei Asyl & Politik Brasilien

2015 iz3w 351: iz3w 350: iz3w 349: iz3w 348: iz3w 347: iz3w 346:

auch als PD

Fotos: M. Karthäuser, B. Miglioretto, D. Giancono, H. Chang, wikipedia

2018

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Sexarbeit – Akzeptanz versus Stigma Anti-Rassismus im Süden Logistik Gesellschaftskritik im Spielfilm Folter im 21. Jahrhundert Ausbeutung der Meere

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Black Atlantic

Arbeiten am Panamakanal Foto: Historische Aufnahme

Verkauft am Kanal Das afrikanische Erbe in Panama Die Nachkommen afrikanischer SklavInnen sowie von ArbeiterInnen aus der Karibik kämpfen um ihre Gleichberechtigung in Panama. Obwohl sie ein wesentliches Fundament der ­dortigen Bevölkerung, Kultur und Ökonomie sind, ist das Thema marginal.

Afro-PanamaerInnen besser zu verstehen, ist ein Blick in die afrikanische Geschichte Panamas notwendig.

Zwei sehr verschiedene Kolonialzeiten

Archäologische und botanische Funde lassen den Schluss zu, dass bereits weit vor Ankunft der ersten Europäer Kontakte zwischen von Oliver Schulten Afrika und den Amerikas bestanden. Ein 10.000 Jahre alter Fund aus Brasilien weist afrikanische Parasiten in Exkrementen nach. tt Ab 2015 hat die UN-Generalversammlung eine »Internationale 3.000 Jahre alte Funde verweisen auf weitere frühe Kontakte: HaDekade für Menschen afrikanischer Abstammung« beschlossen. In schisch, Koka und Tabak wurden nicht nur in Ägypten, sondern den zehn Jahren sollen die unterzeichnenden Staaten für die Anauch in der Andenregion dokumentiert. Tausend Jahre alte Keramikerkennung, Rechte und Entwicklung von Menschen mit afrikanischen Figuren aus Chiriqui in Westpanama weisen deutliche afrikanische Wurzeln eintreten und Rassismus bekämpfen. Hierzu gehört eine Züge auf. Afrikanischer Reis wurde in den Amerikas bereits 1.000 Auseinandersetzung mit der eigenen Sklaverei- und KolonialgeJahre vor der »Entdeckung« durch Kolumbus angepflanzt, in Teilen schichte. Das Vorhaben wäre für Panama Afrikas stand amerikanischer Mais auf dem äußerst lohnend. Doch die umfangreiche ­Speiseplan. Selbst in den Gefängnissen »farbige« Geschichte der mittelamerikaAuch schriftliche Quellen aus dem 14. Jahrhunnischen Republik wird fast nur in wissendert belegen frühere Kontakte. Mansa Muham­ wurden die Insassen nach schaftlichen Zirkeln diskutiert. mad, Herrscher über Mali in Westafrika, schickte Hautfarben getrennt vor dem Jahr 1312 Schiffe über den Atlantik, um Dabei haben insgesamt über 65 Prozent der Bevölkerung Panamas afrikaninach kolonisierbarem Land Ausschau zu halten. sche Vorfahren. 2015 stellte die Arbeitsgruppe des UNO-MenschenVon den Besatzungen fehlte danach jede Spur. Der arabische Hisrechtsrats fest, dass die Hautfarbe für die Chancen auf eine gute toriker Umari berichtet davon, dass Abu Bakari II, ein Onkel von Ausbildung, Beruf und den Status eines Menschen in Panama Mansa Musa, eine Flotte von 400 Schiffen über den Atlantik ententscheidend ist. Dabei seien Afro-PanamaerInnen ständiger Dissandte. Nach der Rückkehr eines Schiffes wurde erneut eine Flotte kriminierung, Marginalisierung und Armut ausgesetzt. Dem stehen von tausend Schiffen losgeschickt. Keiner kehrte zurück. Im Jahr deren Kämpfe um Anerkennung entgegen. Um die Anliegen der 1513 überquerte der Spanier Vasco Nunez de Balboa die L­ andenge tt

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von Panama. Bei seiner Ankunft am Pazifik traf er auf afrikanische EinwohnerInnen. Diese konnten ihm jedoch nicht erklären, woher sie ursprünglich kamen. Außerdem besaßen die in der Nähe lebenden Cuarecas schwarze SklavInnen. Etwa 19 Millionen AfrikanerInnen wurden zwischen 1501 und 1867 in die Amerikas deportiert, wovon etwa 100.000 nach Panama verschleppt wurden. 1508 wurden die ersten 40 afrikanischen SklavInnen von SpanierInnen nach Panama deportiert und im Straßenbau eingesetzt. Die meisten Opfer des Menschenhandels kamen im heute kolumbianischen Cartagena an, wurden auf die Märkte im Land verteilt oder mussten den Isthmus zu Fuß überqueren, um in Peru weiterverkauft zu werden. Nur der Einsatz der afrikanischen SklavInnen gewährleistete den Handel zwischen den weit voneinander entfernten spanischen Besitzungen. Bezüglich der Herkunft ist die heutige schwarze Bevölkerung in zwei Gruppen unterteilt. Die eine Gruppe setzt sich aus NachfahrInnen der SklavInnen zusammen, die in der spanischen Kolonialzeit aus Afrika nach Panama deportiert wurden. Sie kamen aus dem Kongo, der Guinea-Region, Senegambia, Sierra Leone, Kamerun, Sao Tome, Mozambique, Nigeria und Angola. Die andere Gruppe sind die NachfahrInnen der ArbeiterInnen, die ab dem 19. Jahrhundert mehrheitlich aus der Karibik auf der Suche nach Arbeit ins Land kamen.

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Handel und das Geldwesen, während die afrikanische Mehrheit auf den Plantagen und in den Minen schuftete. Letztere waren 63 Prozent der EinwohnerInnen Panamas. Erschreckt durch die haitianische Revolution erließ die spanische Krone 1795 Gesetze (gracias al sacar), wonach AfrikanerInnen einen besseren Status erlangen konnten: Durch Abgaben konnten sie sich »Weiß-Kaufen«. 1824 wurde die Sklaverei im Land verboten. Die Zahl der freien Farbigen stieg auf über 45.000 an, die nun mit 9.000 EuropäerInnen und etwa 12.000 Indigenas in Panama lebten. Die Befreiung war begleitet von Übergangszeiten und Entschädigungszahlungen für Großgrund- und Plantagenbesitzer. Nun mussten die ehemaligen Sklavenhalter, vor allem 20 weiße Großgrundbesitzerfamilien in Panama, neue Arbeitskräfte suchen oder einen Lohn zahlen. Die meisten Freigelassenen weigerten sich zu bleiben. Viele kauften ein Stück Land und wurden Bäuerinnen und Bauern, andere HändlerInnen. Aus einigen bäuerlichen Niederlassungen wurden im Laufe der Jahre neue Siedlungen und kleine Städte. Da die »natürliche Ordnung« der Gesellschaft nicht aufgehoben wurde, misslang eine Integration in die Gesellschaft. Die »Rassenmischung« würde zum Untergang der Weißen führen, da die Farbigen den Weißen biologisch unterlegen seien. Weiße durften keine Farbigen heiraten oder für diese arbeiten. Erste Forderungen nach Mitbestimmung und Beteiligung kamen jedoch auf. Das Staatsangehörigkeitsrecht sollte Neue Diskriminierung demnach ausgeweitet und Farbige t Entflohene SklavInnen, Maroons gesollten voll an politischen Prozessen Der Cristo Negro in der Black Christ Church nannt, schlossen sich seit den 1520er beteiligt werden. Der Streit um die in Portobelo bei Colón Foto: D. Carmel Jahren den Indigenas an und gründeten Hautfarbe erhielt durch die Einwanparallel dazu eigene Siedlungen (Palenderung von ArbeitsmigrantInnen ques). Die im Osten Panamas gelegenen Regionen Darién und aus der Karibik neuen Zündstoff. Ab 1850 kamen etwa 200.000 Castilla de Oro galten bereits in den 1540er Jahren als Zentren der Farbige, vor allem aus Jamaika, Barbados, Trinidad, St. Lucia, MarMaroons. Die Sklavenrevolten bedrohten den Reise- und Warentinique und Guadeloupe auf Arbeitssuche ins Land. Um sich anzupassen, traten einige zum Katholizismus über und lernten Spanisch. verkehr in der Landenge, so dass der Vizekönig von Peru Truppen in das Gebiet entsandte, um die Aufstände niederzuschlagen. 1552 Diese Versuche reichten aber nicht aus, um gutbezahlte Jobs zu erreichten deportierte Mandingo-Sprechende aus Westafrika Pabekommen. In den folgenden Jahren bildeten die afro-karibischen nama. Einer von ihnen, Bayano, initiierte eine Revolte gegen die MigrantInnen die unterste soziale Schicht im Land. SpanierInnen. Im Darién gründete er unabhängige Siedlungen, die hunderte Jahre Bestand hatten. 1556 erhielten die Maroon-SiedHarte Arbeit und kaum Rechte lungen den Status kolonialer Städte innerhalb des spanischen Kolonialreiches. t In diese Zeit fiel die französische Bauphase des Panama-Kanals. Nach dem Tod von Bayano gründeten seine Wegbegleiter weiSie dauerte von 1881-1895 und kann als ein Höhepunkt des Forttere Siedlungen. Felipillo, Anton Mandingo, Domingo Congo und lebens der alten Sklaverei durch den Staat – ohne die abgeschaffte Luis de Mozambique – die Namen der Männer geben Aufschluss Rechtsform der Sklaverei – gelten. 60.000 westindische ArbeiterInnen kamen nach Panama. Als der Bau scheiterte, strandeten sie über ihre Herkunft– führten den Kampf gegen die Kolonialmacht arbeitslos im Land. In der folgenden Bauphase wurde der Kanal fort. Die Maroon-Siedlung von Villano beherbergte um 1570 über zum Massengrab für ArbeiterInnen. Ein schwarzer Arbeiter verdien2.000 Menschen. Im 17. Jahrhundert lebten 12.000 afrikanische SklavInnen in Panama und in der Hauptstadt stellten sie 80 Prozent te jährlich um die 820 US-Dollar – die Hälfte seines weißen Kollegen. der Stadtbevölkerung. Im Folgenden erhielten Maroons weitere 1904 wurden westindische Menschen per Gesetz zu unerwünschLandrechte und viele von ihnen die Freiheit. ten MigrantInnen erklärt. In diesem Jahr begann die amerikanische Phase des Kanalbaus und das Projekt fraß weiterhin Arbeiterleben, Im 18. Jahrhundert war die Gesellschaft nach der sogenannten »natürlichen Ordnung« gegliedert. EuropäerInnen bestimmten den die sich zuletzt auf etwa 28.000 Opfer summierten. iz3w • November / Dezember 2018 q 369


Black Atlantic In der Kanal-Zone gab es Städte ausschließlich für Weiße, wie wurden gegründet, um gegen die anhaltenden Diskriminierungen Cristóbal, und Städte für Schwarze, wie Silver City. Oft wurden die zu protestieren. Die Kongresse beinhalteten Themen wie den Beitrag der Afro-PanamaerInnen zur nationalen Kultur, ArbeitsrechArbeiterInnen als silver und golden bezeichnet, für schwarz und te, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ethnien im Land, weiß. In Cristóbal wohnten die weißen »gold-roll«-Angestellten. die Auswanderung von Afro-PanamaerInnen in die USA und interSie wurden in US-Dollar im Goldstandard ausbezahlt, und nicht in nationale Kämpfe, etwa gegen die südafrikanische Apartheid. der lokalen Silberwährung. Selbst in den Gefängnissen des Landes wurden die Insassen nach Hautfarben getrennt untergebracht. Zahlreiche Organisationen arbeiteten mit indigenen Gruppen 1905 eskalierte die Situation und es kam zu schweren »Rassenunzusammen. Unter der Regierung Torrijos (1968-81) wurden staatruhen«. In Panama-City gerieten streikende jamaikanische Arbeiliche Verwaltungsstellen erstmals für Farbige zugänglich. Auch terInnen mit der Polizei aneinander. Militärmachthaber Manuel Noriega, der afrikanische Vorfahren hatte, setzte sich für die Belange dieser Gruppe ein. Als der DiktaIn den folgenden Jahrzehnten änderte sich an den Lebens- und Arbeitsumständen der Farbigen nichts. Eine Delegation aus den tor 1989 von den USA abgesetzt wurde, verbuchten viele AfroUSA beschrieb 1975 die Lage der Farbigen in der Kanalzone als PanamaerInnen dies als herben Rückschlag. katastrophal. Sie fühlten sich an die Südstaaten der 1920er Jahre erinnert. Die Kanalverwaltung versprach Reformen: Die RassentrenDie alltägliche Benachteiligung bleibt nung in den Quartieren sollte aufgehoben werden, Schulen für alle Kinder zugänglich sein, höhere Posten in der Verwaltung auch an tt Zum Jahrtausendwechsel lebten 81 Prozent der farbigen BevölFarbige vergeben werden und alle Kanal-ArbeiterInnen gleiche kerung weiter in Armut, wobei die meisten im Eisenbahn- und Löhne erhalten. Kanalbau sowie auf den Plantagen des Landes arbeiteten. Die kaDie ökonomische Segregation bildete sich in der Politik ab. ribischen EinwanderInnen und deren Sprache, das englische Kreol, Eusebio A. Morales, ein prägender Staatsmann Panamas nach der werden bis heute nicht als eigenständig anerkannt. Ebenso wird Unabhängigkeit von Kolumbien 1903, warnte 1919 vor der »masihr Beitrag zur Geschichte und Entwicklung des Landes von offizisenhaften Einwanderung« von AsiatInnen eller Seite negiert. Spanisch bleibt die offizielle und Farbigen aus der Karibik, welche Amtssprache und die spanische Kultur domiSchülerInnen wurde das Panama »negativ ethnisch« veränderten. niert das öffentliche Leben. Der Publizist Orlando Alfaro warnte 1923 Afro-PanamaerInnen sind nach wie vor am Tragen von »typisch-afrikani­ vor der Gefahr der Schwarzen und dem Obersten Gericht, in der Nationalversammlung schen Frisuren« verboten und im Kabinett unterrepräsentiert. 2008 saß Untergang der Weißen. BesucherInnen des Landes würden den Eindruck gewinnur ein farbiger Minister im Kabinett. In ihren nen, dass nur noch Schwarze in Panama lebten. Da diese sich nicht Wohngebieten wird kaum von staatlicher Seite investiert; Regieder spanischen Kultur anpassen könnten, würden sie immer Fremrungs- und soziale Einrichtungen fehlen weitgehend. Farbige komde bleiben. Er rief die Staaten Lateinamerikas auf, Panama gegen men auf dem Arbeitsmarkt kaum in höhere Positionen; Jobs mit die »schwarze Übermacht« zu unterstützen. Ab 1926 wurde jedem Kundenkontakt werden selten an sie vergeben. Weiterhin werden Farbigen der kein Spanisch sprach die Einreise nach Panama unsie im Erziehungs- und Gesundheitswesen diskriminiert. SchülerIntersagt. Den bereits in Panama lebenden Farbigen wurden die nen wurde 2012 das Tragen von »typisch afrikanischen Frisuren«, Staatsbürgerschaft verwehrt und nur bestimmte Arbeiten erlaubt. wie eng anliegende geflochtene Zöpfe, verboten. In Schulbüchern finden Afro-PanamaerInnen kaum Platz. In den Medien werden Außerdem durften sie das Land nicht mehr betreten, wenn sie es Farbige mit Alkohol- und Drogenkonsum sowie mit Kriminalität in einmal verlassen hatten. Kinder, die nach 1928 geboren wurden, Verbindung gebracht und nur selten positiv dargestellt. Der Polizei erhielten keine panamaische Staatsbürgerschaft. Bald lebten etwa 50.000 karibische ArbeitsmigrantInnen ohne Staatsbürgerschaft wird Racial Profiling vorgeworfen. Neben dieser alltäglichen Disim Land. Sie konnten weder Land erwerben, noch zur Schule gehen kriminierung existieren in Panama aktuell Formen der modernen oder vor Gericht ziehen. Sklaverei: 15.900 Menschen, etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung, sind von Zwangsarbeit, Menschenhandel und Zwangsprostitution Mit dem Aufstieg der Brüder Harmodio und Arnulfo Arias in die Landespolitik erlebte die »Rassenfrage« eine weitere Eskalationsbetroffen. stufe. Im Parlament und in der Presse wurde offen gegen die Farbige stehen nach wie vor am Rand der Gesellschaft und »Vermischung der Rassen« gewettert. Arnulfo Arias war als Gesundmüssen täglich um ihre Rechte kämpfen. Panama sollte die UNheitsminister für die Sterilisierung von afrikanischen Männern Dekade für Menschen mit afrikanischen Wurzeln nutzen, um die verantwortlich. 1940 wurde er – ein begeisterter Anhänger Hitlers angesprochenen Probleme öffentlich zu diskutieren, an gemeinsaund Mussolinis – Präsident des Landes. Englischsprachige Angehömen Lösungen zu arbeiten und ein gesellschaftliches Klima zu rige der »schwarzen Rasse«, der »gelben Rasse« und den »Rassen« schaffen, in dem Rassismus keinen Nährboden mehr findet. Hier aus Kleinasien, Indien und Nordafrika wurde die Einreise untersagt. steht das Land auf allen Ebenen vor großen Herausforderungen. AusländerInnen wurde per Gesetz verboten in höheren Positionen Da Sklaverei und Kolonialismus international als Verbrechen gegen die Menschheit eingestuft sind, müssen sich die kommenden Rezu arbeiten. Neuen karibischen EinwanderInnen wurde erneut die Staatsangehörigkeit verwehrt und schließlich trat Arias für die gierungen Panamas deutlich dazu positionieren und auch über Deportation aller Farbigen aus Panama ein. Bis 1960 hat es nur ein Entschädigungen für begangenes Unrecht nachdenken. Farbiger in die Nationalversammlung des Landes geschafft, während die Arnulfo Arias zu Ehren genannte Partido Arnulfista/ Partido Panameñista noch heute eine erfolgreiche Partei ist. tt Oliver Schulten ist Experte für afrikanische Geschichte und lebt in Wuppertal. Eine Literaturliste über Afro-Panama findet sich Afro-PanamaerInnen organisierten in den 1970er und 1980er Jahren Kongresse und Demonstrationen. Eigene Organisationen auf der iz3w-Webseite zur Ausgabe 369. iz3w • November / Dezember 2018 q 369

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Rezensionen ... Sprich mit Noam Chomsky Zuversicht in Zeiten des Zerfalls lautet der Titel eines Buches, das auf einem Gespräch von C.J. Polychroniou mit Noam Chomsky beruht. Seit mehr als vierzig Jahren gilt der Linguist Chomsky als scharfsinniger Kritiker des Weltgeschehens, er zählt zu den bekanntesten US-amerikanischen Intellektuellen. Die beiden unterhielten sich über zahlreiche Themen: Die US-Außen- und Innenpolitik der letzten Jahrzehnte und deren aktuelle Krisen, die Anti-Terror-Kriege und die Interventionen im Irak und Afghanistan unter Bush und Obama, die atomare Aufrüstung, die Klimakatastrophe, das verkorkste Gesundheitssystem und die Wahl von Donald Trump. Chomskys Analysen zielen auf die Kerndoktrinen dominierender US-Politiken der letzten Jahrzehnte. Seine Einsichten in Missstände des politischen Systems werden von grundsätzlichen Debatten um Demokratie, Sozialismus und Herrschaftslosigkeit begleitet, in denen er Realpolitisches mit tiefgehenden Fragen nach der Würde des Menschen verbindet. Ein radikaler Wandel hin zu einer freieren, rational handelnden Gesellschaft ist für Chomsky längst zur Notwendigkeit geworden. In den Überlegungen, wie dieser Wandel ablaufen müsste, wird seine Sympathie für den Anarchosyndikalismus deutlich. Der Argumentation des russischen Anarchisten Michail Bakunin folgend, plädiert Chomsky dafür, »die Keime einer künftigen Gesellschaft innerhalb der existierenden auszusäen« und »die herrschenden Institutionen als die Wurzel der Probleme« anzupacken. Der zuversichtlich klingende Titel kann angesichts der schonungslosen, gelegentlich apokalyptischen Darstellungen Chomsky falsche Erwartungen wecken. Die Frage, »warum wir trotz Terror, Trump und Turbokapitalismus optimistisch bleiben sollten«, beantwortet Chomsky erst im letzten Satz des Gesprächs: »Wir haben zwei Möglichkeiten: Wir können unserem Pessimismus freien Lauf lassen, uns geschlagen geben und selbst dazu beitragen, dass das Schlimmste eintreten wird. Oder wir sind optimistisch, nutzen die durchaus vorhandenen Chancen und tragen so möglicherweise dazu bei, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln. Viel Auswahl haben wir also nicht.« Auf alternative Projekte und Widerstandsbewegungen geht Chomsky nicht ein – es bleibt bei bereits bekannten, theoretischen Überlegungen über die »Macht der Regierten« und die »Wandelbarkeit des Systems«. Letztere klingen allerdings realitätsfern neben den nüchternen Analysen der globalen Entwicklungen in Sachen Klimawandel, Aufrüstung und Terrorismus. Laut Chomsky liegen »zwei dunkle Schatten« über allen Betrachtungen: Die Umweltkatastrophe und Atomkriege. »Die reichsten und mächtigsten Gesellschaften mit einzigartigen Privilegien wie die USA und Kanada führen begeistert das Rennen an, an dessen Ende nur ein Sprung über die Klippen stehen kann. Sie tun das genaue Gegenteil dessen, was rationales Denken nahe legen würde – vorausgesetzt, wir ignorieren die aberwitzige Rationalität des ‚real existierenden Kapitalismus’.« Für Chomsky ist der Kapitalismus t

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nicht per se zum Scheitern verdammt, die Ausformung, die er angenommen hat, allerdings schon. Ebenso sei »nicht die Menschheit und ihr Fortschritt der Grund für die Umweltzerstörung, sondern eine bestimmte sozioökonomische Entwicklung, die nicht unbedingt kapitalistisch sein muss.« In einem eigenen Kapitel stellen Polychroniou und Chomsky den Regierungsstab Trumps vor und prognostizieren eine Richtung, in die sich US-amerikanische Politik bewegen könnte. Insbesondere bei Klimawandel und Atomkrieg ist diese für Chomsky klar: Es lauert der Abgrund. In Sachen Klimawandel setze die Welt ihre Hoffnungen auf Rettung seit der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 auf China. Und zur zukünftigen Linie der USA bei der Aufrüstung atomarer Waffen sei Trumps Kommentar auf Twitter aufschlussreich: »Die USA müssen ihr nukleares Potenzial massiv verstärken und ausweiten, bis die Welt in Sachen Kernwaffen zur Vernunft kommt.« Isoliert sei die USA mit Trump allerdings nicht nur in Fragen globaler Erwärmung und der Aufrüstung nuklearer Waffen, sondern auch bei der »Unterstützung israelischer Verbrechen gegen Palästinenser und Araber« und im Streit um den AtomDeal mit dem Iran. Die Isolation der USA gehe allerdings noch weiter: Lateinamerika, der »Hinterhof der USA«, habe sich längst unabhängig gemacht, und Trump sei derweil dabei, die zaghaften Annäherungsversuche Obamas Richtung Kuba wieder zu kappen. Für Chomsky deutet die Entwicklung auf die »Entstehung einer neuen Weltordnung« hin, in der die USA isolierter dastehen denn je. Mit besonderer Intensität zieht Chomsky über Trumps Israel unterstützende Haltung her. Einmal mehr kritisiert er Israel für seine Siedlungspolitik im Westjordanland aufs schärfste. Dabei verharrt Chomsky in seiner einseitigen Sichtweise auf Israel als »Schurkenstaat«, für die er schon in der Vergangenheit oft kritisiert wurde. Seine Publikationen sind bekannt für provokative Analysen, insbesondere in Bezug auf die USA und Israel. KritikerInnen werfen ihm eine vereinfachte Welteinteilung in »gut« und »böse« vor. Chomsky nehme »den Verdammten der Erde« in seinen Analysen die Handlungsmacht, indem er ihre Handlungen als Reaktion auffasse, auf das, was der Westen und Israel ihnen seit Jahrzehnten antun. Dennoch: Chomskys klare Einblicke in das Schlamassel unserer Zeit rütteln auf und desillusionieren. Sie machen Mut, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Mischa Homlicher Noam Chomsky, C.J. Polychroniou: Zuversicht in Zeiten des Zerfalls. Warum wir trotz Terror, Trump und Turbokapitalismus optimistisch bleiben sollten. Unrast-Verlag, Münster 2018. 216 Seiten, 16 Euro. t

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Illustrationen: Banksy

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Kinder, Essen ist fertig! Der Mensch nimmt im Laufe eines 80-jährigen Lebens 120 000 Mahlzeiten zu sich. Essen ist heute politischer als je zuvor: Während die einen jeden Tag darüber nachdenken müssen, wie sie ihre Kinder satt bekommen, und in manchen Weltregionen Hunger als Kriegswaffe eingesetzt wird, zerbrechen sich andere den Kopf darüber, welches Superfood am besten in ihren Diätplan passt. Wie sollen in Zukunft 8 Milliarden Menschen satt werden? Mit Kunstfleisch aus der Petrischale, mit Fisch aus Unterwasser-käfigen und Tomaten aus der Sahara? Wir schauen auf die Äcker und in die Töpfe und trauern mit den Imkern um das Bienensterben. Mit Essays und Reportagen von Jitendra Choubey, Christiane Grefe, Manfred Kriener, Hilal Sezgin u.a. und einem Interview mit Benny Härlin. 112 Seiten, inklusive Karten und Grafiken


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