iz3w Magazin # 370

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Weggesperrt – Gefängnisse und Strafsysteme

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Postkoloniale Niederlande t Evangelikale in Lateinamerika t Erinnern an den Vietnamkrieg

Jan./Feb. 2019 Ausgabe q 370 Einzelheft 6 6,– Abo 6 36,–


In dies er Aus gabe . . . . . . . . .

Titelbild: Filmstill aus »Lucknow Central« (Indien 2017)

Schwerpunkt: Gefängnisse 19

Editorial

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Vom Ein- und Wegsperren Warum die ganze Gesellschaft entknastet werden muss von Katrin Dietrich

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Politik und Ökonomie 4

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Vietnam: Krieg ohne Ende

Militarimus: Militärisches Disneyland

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In Jordanien sind Kriegsvorbereitungen ein lukratives Geschäft von Benjamin Schütze

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»Gefängnis ist wie eine Todesstrafe« Der Friedensprozess in Kolumbien lässt die Knäste außen vor von Ani Dießelmann

Die vietnamesische Erinnerungspolitik lässt Lücken von Christopher Wimmer

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»Hier befehle ich« In mexikanischen Knästen regiert die organisierte Kriminalität von Wolf-Dieter Vogel

Religionskritik: Gottes Wille geschieht Die neue Macht der Evangelikalen in Lateinamerika von René Thannhäuser

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»Immer wieder aufstehen« Interview mit Lutz Taufer über Gefängnisse in Brasilien und in der BRD

Brasilien: Ein politisches Monster erschaffen Warum konnte Jair Bolsonaro die Wahl gewinnen? von Fabian Kern

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Strenger als die Sharia Wie das Strafsystem in Saudi-Arabien die Erbmonarchie erhält von Jörn Schulz

Editorial

Streiken hinter Gittern Gefangene in den USA bauen erfolgreich eine Bewegung auf von Toussaint Losier

Migration: Geflüchtet oder migriert?

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Die Kategorisierungen der EU-Migrationspolitik sind haltlos von Délia Evelyne Nicoué

Für die radikale Entknastung Abolitionismus und transformative Gerechtigkeit in den USA von Melanie Brazzell

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Gefangen im Sexismus Eine Männergruppe rüttelt an den Verhältnissen im Knast von Kathi King

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»Unschuldig ihrer Freiheit beraubt« Interview mit dem Hilfsverein zum Abschiebeknast Büren

Kultur und Debatte 38

Feminismus: »Das Befreiungsprojekt dauert an« Interview mit Amina Mama über Feminismus in Afrika

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Literatur: Aus dem Archiv gegraben Das Werk der Schriftstellerin Zora Neale Hurston von Kathi King

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Postkolonialismus Tiefes Bedauern, flacher Effekt Der postkoloniale Diskurs in den Niederlanden ist ausbaufähig von Tobias Müller

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Rezensionen

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Szene / Impressum


Edito r ia l

Wir haben einen Wunsch 2018 war für das iz3w-Team ein außergewöhnlich spannendes Jahr. Zum 50. Geburtstag stellten wir rund dreißig Veranstaltungen auf die Beine. Zu den vielen Highlights zählen die Geburtsgala im April, bei der wir vielen ehemals Aktiven begegnen konnten, und das Open Air Festival im Juni, bei dem drei tolle Bands das zahlreich erschienene Publikum begeisterten. Doch auch die poli­tischen Vor­träge, Diskussionsrunden, Lesungen, Filmgespräche und Workshops waren fast ausnahmslos gut b ­ esucht. Gleich ob vonseiten anderer Medien, von unseren Leser­ Innen oder von politischen FreundInnen: Dem iz3w ­wurde in diesem Jahr enorm viel Wertschätzung entgegen gebracht. Das hat uns erfreut und motiviert. Wir sind allesamt politische ÜberzeugungstäterInnen, niemand von uns macht im iz3w nur einen Job, und alle haben wir gelernt, mit den prekären Verhältnissen klar zu kommen. In diesem Jahr kamen wir freilich manches Mal an die Grenze unserer Kräfte. Doch der große Zuspruch hat uns mehr als entschädigt. Wir bedanken uns herzlich bei allen, die uns in diesem Jahr so großartig unterstützt haben!

S

o glücklich wir über das vergangene Jahr sind, ein Wunsch bleibt vorerst noch offen. Die Zahl der Abos stieg nicht in dem Maße, wie wir es uns erhofft hatten (50 Jahre – 500 Abos). Die OptimistInnen unter uns trösten sich damit, dass es in Zeiten einer fundamentalen Printmedienkrise schon ein Riesenerfolg ist, die Auflage stabil zu halten. Sie verweisen auf die BILD-Zeitung, die gerade mal noch ein Viertel ihrer einstigen Leserschaft hat, Tendenz weiter sinkend. Doch wirklich erfreuen kann uns das nicht, dazu beunruhigt uns das grassierende Zeitschriftensterben zu sehr. Allein in diesem Jahr mussten wir uns von ZAG, Intro und Spex verabschieden. Wir wollen niemals dazu gezwungen sein, ähnlich wie die taz die Einstellung der Printausgabe zu erwägen. Bei aller Wertschätzung des Digitalen: Eine gedruckte Zeitschrift ist schon rein ästhetisch ein großer Gewinn. Man kann sie noch nach Jahrzehnten in die Hand nehmen, während dem Internet in all seinen Erscheinungsformen eine große Flüchtigkeit innewohnt.

Daher setzen wir weiter auf fundierten, über Tagesaktualität hinausweisenden Journalismus im Print. Ideen für spannende iz3w-Ausgaben gibt es zuhauf und wir können auf topmotivierte AutorInnen bauen. Sie schätzen die Zeitschrift als attraktiven Veröffentlichungsort, wie die große Zahl der Artikelangebote unterstreicht. Unser kostenloses Online-Angebot auf iz3w.org und auf Facebook möchten wir parallel zur Zeitschrift ebenfalls ausbauen. Erste Pläne sind geschmiedet. Hier gilt: Das iz3w geht mit der Zeit, damit es nicht mit der Zeit vergeht.

D

ie Zeitschrift lebendig zu gestalten und das Online­ angebot auszubauen, verlangt aber nicht nur Engagement, sondern auch Geld. Deshalb brauchen wir unbedingt mehr Abos! Wir bitten alle MitleserInnen, ein eigenes Abo ab­ zuschließen. Bestehende Normalabos auf ein Förderabo umzustellen, hilft uns ebenfalls enorm. Geschenkabos sind eine weitere gute Idee, ebenso wie aktive Abowerbung im FreundInnen- und KollegInnenkreis. Dieser Ausgabe ist eine Abo-Postkarte beigelegt, die hoffentlich vielfach zum Einsatz kommt. Selbstverständlich können Abos auch online ab­ geschlossen werden. Dank eines neuen Spendentools auf iz3w.org ist übrigens auch das Spenden denkbar einfach geworden. Mehr Abos sind zweifelsohne der beste Weg, um un­sere Unabhängigkeit zu bewahren. Als Sofortmaßnahme unumgänglich ist aber eine moderate Preiserhöhung. Seit der letzten Erhöhung vor zwölf Jahren sind allein die Kosten für Druck, Papier und Versand so stark gestiegen, dass wir sie nicht mehr auffangen können. Ab dem 1. Januar 2019 kostet daher ein Normalabo im Inland 36 Euro, ein ermäßigtes 28. Für ein Einzelheft möchten wir künftig 6 Euro. Wir bitten um Verständnis. Die politische Notwendigkeit für aufklärerischen, kri­ tischen Journalismus ist heute mehr denn je gegeben. Ob rechte Hetze in Brasilien oder in Europa: Es braucht pub­ lizistische Gegenrede. Es braucht Diskussionen über politische Alternativen, und es braucht langfristig bestehende Kristallisa­tionskerne für emanzipatorische Bewegungen. Für all das werden wir mit eurer Unterstützung auch künftig einstehen, verspricht das iz3w-team

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Rechtsabbieger: Der Jesus-Marsch im brasilianischen Cortagem

Foto: Ricardo Lima

Gottes Wille geschieht Die neue Macht der Evangelikalen in Lateinamerika Die religiöse Landschaft Lateinamerikas ist tiefgreifend im Wandel. Während die Katholische Kirche in einer Krise steckt, erfreuen sich die Evangelikalen großen Zuspruchs. Mit ihrer Macht im religiösen Feld haben sie auch ihren medialen, ökonomischen und politischen Einfluss ausgebaut. Ihre meist ultrakonservative Agenda prägt die Politik in Lateinamerika immer stärker, so wie zuletzt in Brasilien. Worauf beruht ihr Aufstieg?

6 von René Thannhäuser Seit der Kolonialzeit ist die durch die portugiesischen und spanischen Eroberer aufgezwungene römisch-katholische Religion die hegemoniale Konfession in Lateinamerika. Wenngleich die meisten Staaten Lateinamerikas laut Verfassung säkulare Staaten sind und ausschließlich Costa Rica den Katholizismus als Staatsreligion ausweist, ist die Katholische Kirche bis heute einer der relevantesten Machtfaktoren in Lateinamerika. Dort leben nicht nur 40 Prozent aller KatholikInnen weltweit, seit 2013 ist mit dem Argentinier Jorge Mario Bergoglio auch das erste Mal ein Nichteuropäer Papst. Doch Rückhalt und Einfluss der Katholischen Kirche schwinden rasant. t

Laut dem Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center waren 94 Prozent aller LateinamerikanerInnen bis 1950 katholisch. Doch seit den 1970er-Jahren verliert die Katholische Kirche massiv an Bedeutung: Beziffert das Institut für 1970 noch 92 Prozent der Gesamtbevölkerung als katholisch, so sind es im Jahr 2014 nur noch 69 Prozent. Während der Anteil der Konfessionslosen in derselben Zeitspanne von ein auf acht Prozent anstieg, sind die verschiedenen protestantischen Konfessionen auf 19 Prozent der Bevölkerung angewachsen. Es sind vor allem Strömungen USamerikanischer Herkunft wie der Evangelikalismus und die Pfingstbewegung, die sich immer größerer Popularität erfreuen.

Basis in der Unterschicht In Lateinamerika haben die Evangelikalen vor allem in Brasilien, der Karibik und Mittelamerika regen Zulauf. Laut einer Erhebung der chilenischen Organisation Latinobarómetro stellten die verschiedenen protestantischen Konfessionen (in der großen Mehrheit Evangelikale und darunter vor allem die PfingstlerInnen) 2017 in diesen Ländern mindestens zwanzig Prozent der Bevölkerung. Hier ist auch die religiöse Aktivität am stärksten ausgeprägt und der Religion wird die gesellschaftlich höchste Bedeutsamkeit zugesprochen. In Honduras stellen die Evangelikalen mit 39 Prozent t

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Religionskritik

mittlerweile die größte Konfessionsgruppe. In Guatemala wird dies hätten die später hinzugestoßenen evangelikalen und pfingstleribei gleichbleibendem Trend in naher Zukunft der Fall sein. In Meschen PredigerInnen, meist selbst aus armen Verhältnissen stammend, xiko und den Ländern des südlichen Südamerikas sind die Evangeunmittelbar an die Bedürfnisse und Interessen der Unterschichten likalen hingegen bis dato nicht zur Massenbewegung geworden. angeschlossen. In diesen Ländern benennt laut Latinobarómetro nur eine Minderheit der Menschen die Religion als bedeutsamen Faktor für ihr Widersprüchlicher Katholizismus Leben. Fanden die ersten protestantischen Missionare im 19. und Anfang tt Die Katholische Kirche hat in Lateinamerika historisch eine äußerst des 20. Jahrhunderts vor allem in den Mittel- und Oberschichten ambivalente Rolle gespielt. Sie ist stets eine der Stützen der HegeLateinamerikas Gehör, so haben die seit der Mitte des 20. Jahrhunmonie der herrschenden Klassen gewesen. Zugleich haben einzelderts in Lateinamerika missionierenden Evangelikalen vor allem in ne Stimmen oder Fraktionen innerhalb der Kirche, wie beispielsweise Bartolomé de las Casas, der erste Bischof im mexikanischen den Unterschichten ihre Massenbasis. Die Krise der Katholischen Chiapas, seit Beginn der Kolonialzeit zu den lautesten Fürsprechern Kirche und die sozialen Krisen in Lateinamerika haben die Evangelikalen für sich zu nutzen gewusst. Eine Studie der Universidad de der Indigenen, Armen und Unterdrückten gehört. Ab den 1960erJahren formierte sich die sozialengagierte bis sozialrevolutionäre Costa Rica über Jugendliche in fünf mittelamerikanischen Elendsvierteln belegt, wie verankert die Evangelikalen dort mittlerweile Befreiungstheologie, die oft im Konflikt zur Amtskirche steht. Wähsind. Unter den 1.501 befragten Jugendlichen genießen nur Sportrend der Zeit der Militärdiktaturen und Bürgerkriege in Lateinamevereine ein ähnlich hohes Ansehen wie rika stand die Befreiungstheologie dezidiert auf der die protestantischen Kirchen. 73 Prozent Seite der sozialen und revolutionären Bewegungen. Anders als Katholiken sind dieser Jugendlichen bewerteten die VerAuf die sandinistische Revolution beispielsweise Evangelikale nicht streng teilung von Reichtum in ihren Ländern hatte sie enormen Einfluss. als ungerecht. Laut David López ist jedoch die auf einen gesamtzentralistisch organisiert In Guatemala, welches dem Religions­ gesellschaftlichen Wandel zielende Botschaft der soziologen Heinrich Schäfer zufolge als Befreiungstheologie in der Praxis weniger greifbar »Vorreiter für die Entwicklung des Protestantismus in L­ ateinamerika« für Unterschichten als die Lehre der Pfingstbewegung. Die Pfingstgilt und wo der prozentuale Anteil der protestantischen Bevölkerung lerInnen, und die Evangelikalen im Allgemeinen, begreifen schon mit 41 Prozent lateinamerikaweit am höchsten ist, erreicht die die christliche Erleuchtung und »Wiedergeburt« des Subjekts als Beteiligung in protestantischen Gemeinden sowie die Unzufriedensozialen Wandel. Sie predigen eine auf das Diesseits ausgerichtete heit mit der Wohlstandsverteilung Spitzenwerte. 1882 kam mit Ethik, welche Alltagsprobleme in den Fokus rückt. dem amerikanischen Presbyterianer Juan C. Hill der erste offiziell Ein weiterer Faktor beim Erfolg der Evangelikalen in Lateinamerika ist der partizipatorische und offene Charakter ihrer Gemeinden. empfangene protestantische Missionar ins Land. Die Mission wurde von den Liberalen Guatemalas unterstützt. Die ersten PfingstIm Gegensatz zur Katholischen Kirche gibt es keine starre hierarlerInnen kamen in den 1930er-Jahren hinzu. chische Organisationsform. Und im Gegensatz zu den älteren protestantischen Konfessionen wird theologische (Aus-)Bildung 1976, während des guatemaltekischen Bürgerkrieges, kam es nicht als notwendig für die Predigt angesehen. Typisch sind die zu einem heftigen Erdbeben, in dessen Folge nordamerikanische evangelikale Hilfsorganisationen ins Land strömten. Sie drangen in Garagen- und Wohnzimmergemeinden, in denen Laienprediger­ die Lücke, welche die Katholische Kirche hinterlassen hatte. Diese Innen vor nur einem Dutzend Anwesenden predigen. Gleichzeitig sind diverse Gemeinden zu landesweiten oder internationalen war zu jener Zeit sehr stark sozial engagiert, wodurch sie die Missgunst der Herrschenden auf sich zog. Durch das Militär und Todes­ Kirchen angewachsen und haben sich zu Wirtschafts- und Medienschwadronen wurde ein Großteil ihrer LandaktivistInnen ermordet. imperien entwickelt. Viele Gemeinden treiben nicht nur einen Heute finden sich selbst in den entlegensten Dörfern Guatemalas Kirchenzehnt ein und fordern zu Spenden auf, sondern verkaufen Pfingst-Gemeinden, die unter Abwesenheit noch der grundlegendsallerlei Güter, von Ratgeberliteratur bis hin zu gesegneten Gegenten staatlichen Infrastruktur wichtige Funktionen in Bereichen wie ständen. Bildung und Gesundheit übernehmen. Der Politikwissenschaftler David López von der Universidad Unternehmerisch sehr erfolgreich Nacional de Colombia, selbst pfingstlerischer Pastor, erklärt den Erfolg der Pfingstbewegung in Lateinamerika damit, dass sie es tt Die vom Guatemalteken Carlos Enrique Luna gegründete Kirche geschafft habe, sich mit der Kultur der Unterschichten zu verbinden. Casa de Dios (Haus Gottes) ist ein Beispiel für eine zur »Mega­church« So habe die teils ekstatisch-orgiastische Gottesdienstpraxis und die angewachsene Gemeinde. Der als Cash Luna bekannte evangeliBetonung der wundersamen Wirkmächtigkeit des Heiligen Geistes, kale Prediger ist ein Vertreter des Wohlstandsevangeliums. 1994 die mystischen Bedürfnisse der lateinamerikanischen Volksreligiogründete er eine Gemeinde in Guatemala-Stadt. 2013 wurde vor sität kanalisieren und mobilisieren können. den Toren von Guatemala-Stadt das neue Kirchengebäude eingeIm Gegensatz zur befreiungstheologischen Strömung des Katho­ weiht, welches einer modernen Unterhaltungsarena gleicht und in lizismus sei der pfingstlerische Protestantismus keine Theologie für dem 11.000 Menschen Platz finden. Zur Eröffnung erschien neben die Armen, sondern eine religiöse Bewegung der Armen, so López. anderen Prominenten auch der damalige Präsident Guatemalas, Während die ersten protestantischen Missionare, meist MethodisOtto Pérez Molina. Cash Luna ist auch Autor diverser Bücher und ten, Baptisten und Presbyterianer, versucht hätten, die lateinameri­ vertreibt Devotionalien, wie etwa Schuhbänder, die über 40 Tage kanischen Eliten zugunsten eines sozialen Wandels zu missionieren, Glück bringen sollen. Dank eigener Radiosender, der Ausstrahlung iz3w • Januar / Februar 2019 q 370

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Religionskritik von Predigten in nationalen und internationalen, religiösen und noch größer werden. Diese vertritt ultrakonservative gesellschaftsnicht-religiösen Fernsehsendern sowie der geschickten Nutzung politische Positionen und spricht sich etwa gegen jede Liberalisievon Internet und Sozialen Medien ist Cash Luna auch in Nordamerung von Ehe- und Abtreibungsrecht sowie gegen ein Diskriminierika bekannt. rungsverbot von Homo-, Bi- und Transsexuellen aus, welches sie Zu den größten Einzelkirchen des in Brasilien stark zersplitterten durch ihre wortgetreue Bibelauslegung begründen. Protestantismus gehört neben internationalen Verbänden wie den pfingstlerischen Assemblies of God auch die in Rio de Janeiro ge»Angriff auf das brasilianische Volk« gründete Igreja Universal do Reino de Deus (IURD). Diese pfingstlerische Kirche wurde 1977 vom ehemaligen Lotterieverkäufer Edir tt Stehen die Evangelikalen in Lateinamerika in gesellschaftspoliMacedo gegründet. Die Kirche hat laut eigenen Angaben allein in tischen Fragen bis auf wenige Ausnahmen am äußeren rechten Rand, so ist die wirtschaftspolitische Positionierung weniger einBrasilien bis zu acht Millionen Mitglieder und ist weltweit aktiv, so auch in Deutschland, wo sie als Universalkirche des Königreichs deutig und kann von neoliberal bis sozialistisch reichen. I­n ­Brasilien Gottes auftritt. Die IURD gibt an, einen Buchwert von 46 Milliarden stützten Teile der Evangelikalen den linken Präsidenten Lula da Euro aufzuweisen. Macedos Privatvermögen soll sich auf 960 MilSilva von der Arbeiterpartei, welcher aus Rücksicht auf diese Wählionen Euro belaufen. Die Kirche ist mittlerweile Eigentümerin oder lergruppe und ihre parlamentarischen VertreterInnen keine tiefAnteilseignerin dutzender Radiostationen, TV-Sengreifenden gesellschaftspolitischen der und Zeitungen. Neben dem karitativen EngaReformen initiierte. Während der AmtsEvangelikale stehen bis gement ist die IURD durch unzählige Skandale zeit seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff, auf wenige Ausnahmen am aufgefallen. Dazu gehören Aggressionen gegenüber ebenfalls von der Arbeiterpartei, wananderen Religionsgemeinschaften, innerhalb Brasidelten sich die Evangelikalen zu erbitäußeren rechten Rand liens vor allem gegenüber AnhängerInnen der afterten Gegnern der linken Regierung, robrasilianischen Religionen, aber auch die Tatsache, unter anderem, weil diese die gleichgedass sie in verschiedenen Ländern wegen Korruption, Betrug und schlechtliche Ehe rechtlich gleichgestellte. Die Evangelikalen spielten 2016 eine zentrale Rolle bei der im Zuge der wegen KorruptiGeldwäsche mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Dennoch ist mit Marcelo Crivela ein Mitglied der IURD seit Januar 2017 Bürgeronsverdacht laufenden Ermittlungen gegen Lula da Silva erfolgten meister von Rio de Janeiro. Absetzung Rousseffs. Die parlamentarische Mehrheit, die für die Absetzung Rousseffs stimmte, begründete ihre Entscheidung damit, Edir Macedo hatte schon 2009 bekannt gegeben, dass es sein Ziel sei, durch die Beteiligung an Wahlen einen »theokratischen dass ihre Präsidentschaft ein »Angriff auf Gott, Familie und das Staat zu schaffen«. BeobachterInnen betrachten die konservative, brasilianische Volk« sei. 2005 gegründete Partido Republicano Brasileiro (PRB) als Partei Der Rechtsextreme Jair Bolsonaro, der sich im zweiten Wahlgang der IURD. Doch auch ohne die 21 Vertreter der PRB stellen die der Präsidentschaftswahlen am 28. Oktober deutlich gegen den Evangelikalen im brasilianischen Parlament einen enormen Machtlinken Kandidaten Fernando Haddad durchsetzen konnte, hatte im faktor dar. In der letzten Legislaturperiode gehörten über 90 der Wahlkampf die Nähe zur evangelikalen Basis gesucht. Die Pastoren 513 Mitglieder des Unterhauses der überfraktionellen evangelikalen der über 7.000 Kirchen der IURD warben aktiv für ihn. Zwar ist Interessensgruppe an. Nach den Parlamentswahlen vom 7. OktoBolsonaro überzeugter Katholik, seine reaktionäre Agenda erfreut ber 2018 dürfte die »bancada evangélica« des nächsten Parlaments sich jedoch unter den Evangelikalen reger Unterstützung.

Was glauben Evangelikale und PfingstlerInnen? Die als Evangelikalismus bezeichnete theologische Strömung ist eine Bewegung innerhalb des protestantischen Christentums. Sie geht unter anderem auf den Pietismus und den Methodismus zurück, welche Lebensführung und Gesinnung, also das fromme Subjekt, gegenüber kirchlicher Einheit und reiner Lehre betonen. Die evangelikale Bewegung versteht sich als auf besondere Weise bibeltreu und ist unter anderem als Reaktion auf liberale Theologie und Säkularisierungsprozesse entstanden. Die als »Wiedergeburt« oder »Erweckung« bezeichnete persönliche Glaubensentscheidung, eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus, ein absoluter Wahrheitsanspruch und die uneingeschränkte Autorität der Bibel stehen meist im Mittelpunkt der durchaus heterogenen Bewegung. Die evangelikalen Gemeinden verzeichnen weltweit ein Wachstum und machen laut Pew Research Center mittlerweile um die 13 Prozent aller ChristInnen weltweit aus. In den USA stellen sie mit rund einem Viertel der Bevölkerung die größte Konfession. tt

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Die weltweit am schnellsten wachsende Konfession ist die Pfingstbewegung. Sie steht in fast allen theologischen Fragen in der Tradition des Evangelikalismus und wird diesem zumeist zugerechnet. Benannt nach Pfingsten, dem Tag, an dem laut Neuem Testa­ ment der Heilige Geist entsandt wurde, hat für PfingstlerInnen das Werk des Heiligen Geistes eine zentrale Bedeutung. Die Taufe im Heiligen Geist, durch welche Gaben des Heiligen Geistes wie die Zungenrede oder die Fähigkeit zur Heilung übertragen werden, wird als zentraler Akt der religiösen Wiedergeburt verstanden. Als wichtigstes Ereignis für das Wachstum der Pfingstbewegung gilt das Azusa Street Revival. In der vom afroamerikanischen Prediger William J. Seymour geleiteten Gemeinde in der Azusa Street in Los Angeles soll es zwischen 1906 und 1909 zu Krankheitsheilungen, Zungenreden und anderen Wundern des Heiligen Geistes gekommen sein. In der Gemeinde Seymours kamen mehrheitlich arme Menschen verschiedener ethnischer und kultureller Hintergründe zusammen. Von Los Angeles aus verbreitete sich die mis-

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Bolsonaros Sieg ist in diesem Jahr nicht der erste Ausdruck für den politischen Machtzuwachs der Evangelikalen in Lateinamerika. Im Februar gingen die Ergebnisse der Wahlen in Costa Rica um die Welt. Dort hatte es der evangelikale Prediger Fabricio Alvarado in die Stichwahl um das Präsidentenamt geschafft. Seine Partei, die ultrakonservativ-evangelikale Restauración Nacional, zog als zweitgrößte Fraktion ins costa-ricanische Parlament ein. Fabricio Alvarado konnte mit seinem antifeministischen und homophoben

Radikalreligiös: Politiker beim »Marcha para Jesus« in Salvador (Brasilien)

Wahlkampf auch Stimmen katholischer und konfessionsloser WählerInnen gewinnen (siehe iz3w 366). Die Stichwahl im April verlor Fabricio Alvarado gegen seinen sozialliberalen Kontrahenten Carlos Alvarado dann deutlich. Fabricio Alvarado wurde vor allem in den

ländlichen und ärmeren Regionen Costa Ricas gewählt, welche bei den Wahlen 2014 noch Hochburgen der Linken waren. Seine Fraktion hat sich mittlerweile auf Grund von Korruptionsvorwürfen gespalten. Fabricio Alvarado wäre in Lateinamerika der zweite evangelikale Präsident geworden. Guatemala wird bereits seit 2016 von dem evangelikalen Ökonomen und TV-Komiker Jimmy Morales regiert. Er war für die rechtskonservative Frente de Convergencia Nacional angetreten, welche maßgeblich von pensionierten Offizieren gegründet wurde, die während des guatemaltekischen Bürgerkrieges im Dienst waren. Morales ist nicht nur Befürworter der Todesstrafe und Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe, sondern auch ein Leugner des während des Bürgerkrieges erfolgten Genozids an der indigenen Bevölkerung des Landes. Die brutalste Phase des Genozids ereignete sich in der Regierungszeit des zum Evangelikalismus kon­ vertierten Generals Efraín Ríos Montt. Er hatte sich an die Macht geputscht und wurde nach 17 Monaten von anderen Generälen wegen Unzurechnungsfähigkeit abgesetzt. Ríos Montt und Jimmy Morales pflegen, so wie die meisten lateinFoto: Casa de Dios amerikanischen Evangelikalen, gute Beziehungen zu den USA und Israel. Anfang 2018 war Guatemala das zweite Land, das der Entscheidung des US-Präsidenten Trump folgte und die Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem verlegte. Die bei der Eröffnung der guatemaltekischen Botschaft anwesende ehemalige Kongress-

sionierende Bewegung rasant, zunächst in den USA und später likalen anderer Strömungen als Häresie abgelehnt wird. Das Wohlbesonders in Afrika und Lateinamerika. Wenn die PfingstlerInnen standsevangelium interpretiert persönlichen, meist geschäftlichen zu den Evangelikalen gezählt werden, dann sind laut dem franzöErfolg in Form von Geldvermögen, als irdischen Indikator für die sischen Historiker Sébastien Fath heute 630 Millionen Menschen Gunst Gottes. Probleme wie Armut, Sucht oder Untreue werden und somit ein Viertel aller ChristInnen weltweit evangelikal. so auf mangelnde Spiritualität und in Extremfällen gar auf Besessenheit von Dämonen zurückgeführt. Das Führen eines spirituellen Die evangelikale Ethik ist durch rigorosen Moralismus geprägt. Krieges gegen die Verlockungen des Teufels und das Fördern Zumeist wird der Konsum von Alkohol und Drogen, Glücksspiel, außerehelicher Sex und Gewalt als unchristwirtschaftlicher Aktivität gehen in diesen Gelich abgelehnt. Die gepredigte Moral steht meinden Hand in Hand. Die Pfingstbewegung ist somit häufig im Kontrast zum von Elend Gepredigt wird, dass Reichtum und Erfolg für und häufig auch von Gewalt geprägten jeden erreichbar seien, zumindest bei aufrich­ die weltweit am schnellsten Alltag in den Armenvierteln. Auch die evantigem Glauben an Gott, Jesus Christus und den wachsende Konfession gelikalen Gemeinden selbst dienen den Heiligen Geist. Die VertreterInnen des Wohl­ Menschen als Zufluchtsorte. Engagement standsevangeliums sehen darin ein Empowerund Aktivität in der Gemeinde werden nicht nur gefördert, sondern ment, welches aus Armut und Elend führe. Der Soziologe Peter L. als essentieller Bestandteil der christlichen Lebensführung angeseBerger erkennt darin hingegen jene protestantische Ethik, die schon hen. Die gelebte gemeinschaftliche Solidarität kann so als Ersatz Max Weber als »Geist des Kapitalismus« beschrieben hatte: eine für selten vorhandene wohlfahrtsstaatliche Strukturen dienen. Moral der Selbstdisziplinierung, der harten Arbeit und der aufgeIn den meisten pfingstlerischen Gemeinden wird ein Wohlstands­ schobenen Befriedigung. Die Forderung, sich selbst und vor allem evangelium gepredigt, welches in dieser Form von vielen Evangedie Kinder zu bilden, ist zentraler Bestandteil dieser Lehre. (rt) iz3w • Januar / Februar 2019 q 370

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Religionskritik abgeordnete der US-Republikaner Michele Bachmann, die für ihre christlich-fundamentalistischen Positionen bekannt ist, fasste die Begründung der evangelikalen Israelsolidarität so zusammen: »Gott wird Guatemala segnen wie nie zuvor. Das steht bereits in der Bibel, Genesis 12,3: Die, die Israel segnen, werden gesegnet sein«. Jimmy

Bei den im Mai und Juni erfolgten Wahlen in Kolumbien unterstützten weite Teile der evangelikalen Gemeinde den konservativen Kandidaten Iván Duque Márquez. Dieser hatte vor allem mit seiner Ablehnung des Friedensvertrages mit der FARC-Guerilla Wahlkampf gemacht. Schon 2016 mobilisierten die Evangelikalen in Kolumbien massiv dafür, beim damaligen Referendum über die mögliche Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit »Nein« zu stimmen. Der vorgelegte Vertrag überbetone die Rechte von Frauen und LGBTI und sei deshalb von »Gender-Ideologie« geprägt, hieß es. Der Politikwissenschaftler Javier Corrales sieht in den aktuellen Entwicklungen »eine perfekte Ehe« zwischen den Evangelikalen und den Konservativen in Lateinamerika. Während die lateinamerikanische Rechte früher eindeutig das Bündnis mit der Katholischen Kirche suchte, hätte sie die damals noch wenig politisch aktiven Evangelikalen verachtet. Mittlerweile spielten die Evangelikalen für die Rechte eine genauso große Rolle wie die katholischen Milieus. Hatte die Rechte früher vor allem in der Mittel- und Oberschicht ihre WählerInnenbasis, so habe sich für diese mit dem Erstarken der Evangelikalen eine neue Bündnisoption mit Teilen der Unterschichten ergeben. Auch die Evangelikalen hätten strategisch nachhaltig Partner gesucht und gefunden, so Corrales. Neben den Parteien der Rechten betrifft dies auch die Katholische Kirche, deren Hegemonie sie ins Riesenkirche: der Megatemplo von Cash Luna in Guatemala Foto: Casa de Dios Wanken bringen. Umfragen haben ergeben, dass evangelikale ChristInnen in Lateinamerika zu einem Morales, der mit dem Slogan »Weder korrupt, noch ein Dieb« höheren Prozentsatz hinter der katholischen Morallehre stehen als Wahlkampf gemacht hatte, steht mittlerweile selbst unter Korrupdie KatholikInnen selbst. So haben in vielen Ländern Lateinamerikas tionsverdacht. KatholikInnen und Evangelikale gemeinsam gegen gesellschaftspolitische Reformprojekte mobilisiert.

Von Wahlerfolg zu Wahlerfolg In Mexiko haben es die Evangelikalen mit den Wahlen am 1.Juli in die Regierung geschafft. Der Gewinner der Präsidentschaftswahl, der Linkspolitiker Andrés Manuel López Obrador, hatte ein Wahlbündnis seiner Linkspartei Morena mit der evangelikal-konservativen PES vereinbart. Dies führte zu Kritik innerhalb der mexikanischen Linken, da die PES strikt gegen jede Form der Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Liberalisierung des Abtreibungsrechtes ist. Das von López Obrador angeführte Wahlbündnis gewann die Wahlen in einem Erdrutschsieg. Die PES wird in Zukunft mindestens 55 von 500 ParlamentarierInnen des mexikanischen Unter­ hauses sowie acht von 128 SenatorInnen des Oberhauses stellen. Die Partei wird paradoxerweise jedoch ihre Registrierung im Parteien­ register verlieren, da ihr Einzelergebnis deutlich unter dem notwen­ digen Ergebnis von drei Prozent der Wählerstimmen blieb. Auch bei anderen 2018 erfolgten Wahlen in Lateinamerika konnten die Evangelikalen ihren neuen politischen Einfluss demonstrieren. In Venezuela erreichte der in den Panama Papers erwähnte evangelikale Prediger und Unternehmer Javier Bertucci im Mai, bei von niedriger Wahlbeteiligung und Auffälligkeiten geprägten Wahlen, immerhin elf Prozent der Stimmen. Er will die Venezo­ lanerInnen zu »andächtigen« ChristInnen machen, etwa durch »Entpolitisierung« und die allsonntägliche Übertragung des Wortes Gottes in Funk und Fernsehen. tt

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Nach dem Vorbild der USA Während sich in manchen Ländern Lateinamerikas das Bündnis zwischen Evangelikalen und Rechten zu verfestigen scheint, ist dies noch nicht überall beschlossene Sache. Die Beispiele Brasiliens und Mexikos zeigten, dass es eine zumindest punktuelle Zusammenarbeit der Evangelikalen mit der Linken geben kann. Auch die SandinistInnen in Nicaragua und die ChavistInnen in Venezuela haben stets die Nähe zu den Evangelikalen in den Unterschichten gesucht. Eine mögliche Zukunft Lateinamerikas lässt sich jedoch im Kernland des Evangelikalismus ablesen: In den USA sind die Evange­ likalen seit Ronald Reagans Präsidentschaft in den 1980er-Jahren, die verlässlichste WählerInnengruppe der Republikaner. Wer für die Republikaner Präsident werden möchte, muss sich der Unterstützung durch die religiöse Rechte sicher sein. Donald Trump, der nicht unbedingt den Idealen der evangelikalen Wählerschaft entspricht, hat mit Mike Pence einen bekennenden Evangelikalen zum Vizepräsidenten ernannt. Ein ähnliches Bündnis der Evangelikalen mit der politischen Rechten in Lateinamerika könnte das dortige Machtgefüge dauerhaft verschieben. Es würde eine existentielle Gefahr für die progressiven Bewegungen bedeuten. tt

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René Thannhäuser ist Soziologe und freier Journalist.

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Vietnam

Krieg ohne Ende Die vietnamesische Erinnerungspolitik lässt Lücken 43 Jahre nach seinem Ende ist der Vietnamkrieg dort, wo er ausgetragen wurde, noch immer allgegenwärtig. Allein die Spätfolgen des hochgiftigen Pestizids Agent Orange betreffen nach wie vor viele tausende Menschen. Die offizielle Erinnerungspolitik der bis heute regierenden Kommunistischen Partei bemüht vor allem das Narrativ vom heroischen Befreiungskrieg. Doch gerade in Südvietnam wird das der Realität vieler Kriegsopfer nicht gerecht.

von Christopher Wimmer »No War – No Vietnam« lautete im Frühjahr 2018 der provozierende Titel einer Ausstellung in Berlin, bei der sich internationale KünstlerInnen mit dem US-amerikanischen Krieg in Vietnam und dem Jahr 1968 auseinandersetzten. Es stimmt ja: Was wäre Vietnam ohne den Krieg? Die Frage mag zynisch wirken, doch war und ist der Vietnamkrieg einer der zentralen Bezugspunkte sowohl für die Wahrnehmung im Land selbst, als auch für die internationale ­Gemeinschaft. »Vietnam« steht in erster Linie immer noch als Chiffre für den mörderischen Krieg. Der in Vietnam als »amerikanischer Krieg« bezeichnete Vietnamkrieg folgte ab 1955 auf den Indochinakrieg, der von 1946 bis 1954 zwischen der Kolonialmacht Frankreich und der vietnamesischen Unabhängigkeitsbewegung Viet Minh ausgetragen wurde. Er wird daher auch als »Zweiter Indochinakrieg« bezeichnet. Der Vietnamkrieg weist zahlreiche Superlative auf. Er war die längste militärische Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts. Mehrere Millionen Menschen fanden dabei den Tod, darunter weit über

Vietnam ist voller Altlasten des Krieges

drei Millionen VietnamesInnen sowie hunderttausende KambodschanerInnen und LaotInnen. Aber auch 58.000 Amerikaner ver­loren ihr Leben. Ebenso kamen Südkoreaner, Australier, Thailänder und Neuseeländer sowie Mitglieder der Fremdenlegion ums Leben – sie hatten die USA unterstützt. Mehr als zwei Millionen Tonnen US-amerikanische Bomben fielen auf Laos, etwa 7,5 Millionen Tonnen auf Vietnam und Kambodscha – insgesamt ein Vielfaches dessen, was im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurde. Systematisch kam es zu Massakern, Folterungen und Vergewaltigungen. Herausgebrochenes Zahngold, das Abschneiden von Ohren und Geschlechtsteilen und nicht zuletzt die Zwangsumsiedelung von Millionen Menschen – all dies waren nicht Exzesse einzelner Individuen oder Gruppen, sondern gehörte systematisch zur Taktik des Krieges. Solche Gräuel gab es auf beiden Seiten, per Befehl angeordnet wurden sie allerdings nur von der USA – wie das Massaker von My Lai zeigt, bei dem 504 vietnamesische ZivilistInnen ermordet wurden.

Gift von Bayer und Boehringer Im August 1961 wurden auf Geheiß von US-Präsident John F. Kennedy erstmals Pflanzenvernichtungsmittel über den Wäldern Südvietnams eingesetzt. Offizielles Ziel war die Entlaubung des Dschungels, um dem Gegner seine Rückzugsmöglichkeiten zu rauben. Ebenso sollten Reisfelder zerstört werden, um die Nahrungsgrundlagen der vietnamesischen Bevölkerung zu vernichten. Doch zweifelsohne wurden die toxischen Auswirkungen auf die Menschen in Kauf genommen, vielleicht sogar beabsichtigt. Das bekannteste dieser hochgiftigen dioxinhaltigen Entlaubungsmittel war Agent tt

Foto: Project RENEW

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über Erzählungen der Eltern und Großeltern vermittelt – oder durch staatliche Schulbücher. In den Lehrmaterialien wie auch in der gesamten offiziellen Erinnerungspolitik wird nach wie vor das Bild eines Krieges gezeichnet, das sich auf eine glorreiche revolutionäre Vergangenheit stützt. Neben sozialistischen und antikolonialen werden dort auch deutlich nationalistische Töne angeschlagen. Materiell sichtbar wird dies in Form von Soldatenfriedhöfen, Kriegerdenkmälern sowie Kriegs- und

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Orange. Neben den Millionen Tonnen Bomben, die auf Vietnam geworfen wurden, setze die US-Luftwaffe mit ihren gefürchteten C-123-Maschinen während des Krieges auch rund 72 Millionen Liter Entlaubungsmittel ein. Als der Krieg 1975 beendet war, waren rund 21.000 Quadratkilometer mit Hilfe von Agent Orange in verödete Landstriche verwandelt und mit Dioxin verseucht. Die Chemikalien hierfür wurden von den US-Firmen Monsanto und Dow Chemical hergestellt, einem Gemeinschaftsunternehmen von Monsanto und der deutschen Bayer AG. Auch ein weiteres deutsches Unternehmen war an der Herstellung beteiligt: Ab 1967 produzierte das Chemie- und Pharma­ unternehmen Boehringer bei Hamburg hunderte Tonnen einer Lauge, die der Herstellung von Agent Orange diente. Trotz der technischen Überlegenheit der US-Streitkräfte befreiten am 30. April 1975 nordvietnamesische Truppen Saigon und beendeten damit den Krieg. Die Bilder der Evakuierung von US-BürgerInnen und fluchtwilligen VietnamesInnen durch Hubschrauber vom Dach der US-Botschaft in Saigon gingen um die Welt. Nordvietnam und die Nationale Befreiungsfront Südvietnams (NLF) hatten die Weltmacht USA geschlagen. Die Republik Vietnam im Süden, die von den USA zu einem Bollwerk gegen die »kommunistische Bedrohung aus dem Norden« aufgebaut worden war, konnte den nordvietnamesischen Truppen und der NLF nichts entgegenhalten.

Austragungsorte des Krieges als Touristenattraktion: Cu Chi Tunnel Complex

Beschwörung glorreicher Zeiten In Hanoi, der neuen Hauptstadt des wiedervereinigten Vietnams, war man voller Hoffnung, das Land nach den jahrzehntelangen Strapazen des Krieges schnell wieder aufzubauen. Doch auch in Friedenszeiten blieb der Krieg zentraler Bezugspunkt. Zu Beginn drangen jedoch nur wenige der geschichtspolitischen Debatten im Land nach außen, denn Vietnam war in der Nachkriegszeit stark isoliert und außenpolitisch lange wenig präsent. Die Regierung unter Führung der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) prägte im Inneren ein sehr undifferenziertes Bild des Krieges, der heroisch als nationale Befreiung dargestellt wurde. »Nach der Wiedervereinigung Vietnams 1976 wurde der erfolgreiche ‘Befreiungskampf’ als Gründungsmythos instrumentalisiert«, beschreibt dies Andreas Margara in seiner lesenswerten Studie »Der Amerikanische Krieg«. »Anstelle einer kritischen Auseinandersetzung mit der 30-jährigen Kriegsvergangenheit (…) berief sich die KPV weiter auf ihre revolutionären Tugenden«, so Margara weiter. Die mehr als drei Millio­ nen getöteten vietnamesischen ZivilistInnen des Krieges wurden von ihr als »ehrwürdige Opfer« dargestellt. Die Geschichte der antikolonialen Widerstandsbewegung wurde zur zentralen machtpolitischen Legitimationsquelle für die KPV. Diese Tradition wird innerhalb der Partei noch heute hochgehalten, jedoch treten mittlerweile andere Momente hinzu. Die KPV, die das Land nach wie vor allein regiert, steht mehr und mehr für wirtschaftlichen Erfolg, an dem auch ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung teilhaben kann. Vietnam verzeichnete in den letzten Jahren stabile Wachstumsraten von über sechs Prozent, bis 2020 will die sozialistische Republik Industrieland werden. Ein weiterer Grund für die Fokussierung auf die Wirtschaftspolitik liegt darin, dass ein Großteil der Bevölkerung erst nach dem Ende des Krieges geboren wurde. Erfahrungen der Kriege werden somit nur noch tt

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Siegesmuseen, die sich stilistisch am Sozialistischen Realismus orientieren. Vielfach wirken diese reliktartig und anachronistisch, so Margara. Brüche und Diskontinuitäten der Geschichte, insbesondere auch innerhalb der Partei, werden ausgeblendet. Homo­ ge­nisierungen wie »der Staat«, »die Partei« und »das Volk« werden mehr und mehr als zentrale Bezugspunkte gesetzt. In seinem Buch »Die Partei und der Krieg« verwirft Martin Großheim jedoch das Bild einer monolithischem KPV und zeigt kenntnisreich die politischen und kulturellen Richtungskämpfe innerhalb der Partei auf.

Erinnerung gibt es nur im Plural In Vietnam gibt es derzeit in Bezug auf den Krieg drei verschiedene Diskursstränge. Zunächst das bereits erwähnte staatliche, offizielle Narrativ der Partei: Unter der Führung der KPV war der Krieg ein heldenhafter Befreiungskrieg gegen die französischen und amerikanischen Aggressoren. Diese Lesart spiegelt sich auch in den offiziellen Feiertagen wieder. Bereits 1947 führte Ho Chi Minh den Gedenktag für Kriegsversehrte und Märtyrer ein, der seit 1995 auch Gedenktag der »Heldenmütter« ist – also der Frauen, die mindestens drei Söhne im Krieg verloren haben – und am 27. Juli begangen wird. Am 2. September wird der Unabhängigkeitstag gefeiert, in Erinnerung an die Unabhängigkeitserklärung von 1945. Der 30. April als »Tag der Befreiung des Südens« feiert das Kriegsende 1975. Ein zweiter Strang ist die private und familiäre Erinnerung. Diese bezieht sich auf das individuelle Kriegsleid, das im offiziellen Narrativ der kollektiven Opferbereitschaft und des Siegeswillens des »vietnamesischen Volkes« kaum vorkommt. Ohne Zweifel war der Einsatz der Menschen während des gesamten Krieges unendlich hoch, doch wird dies nur selten von offizieller Seite gewürdigt. tt

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Vietnam Einzelschicksale finden in Museen oder Gedenkstätten selten Raum Es ist der 2004 gegründeten Vietnam Association for Victims of Agent und werden durch das Kollektiv des »Volkes« überdeckt. Die ErinOrange (VAVA) zu verdanken, den unzähligen Opfern ein Gesicht nerungen von Frauen, die nicht als Soldatinnen im Einsatz waren, gegeben und ihnen eine Plattform geboten zu haben, um auf die werden kaum beachtet. Diese fehlende Anerkennung des indiviLangzeitfolgen des Einsatzes von giftigen chemischen Substanzen duellen Leids durch die offizielle Politik macht auch das Erinnern aufmerksam zu machen. Wie viele Opfer von Agent Orange es gibt, weiß niemand genau. Die Schätzungen gehen weit auseinander. im Rahmen der Familie schwierig. Die VAVA spricht von landesweit drei Millionen Menschen. Allein in Drittens gewinnen verschiedene Formen der Kriegserinnerung der Region von Da Nang in Mittelvietnam, in der viele Kämpfe an Bedeutung, die verstärkt einen Wirtschaftsfaktor im Tourismus tobten, leiden laut der örtlichen Opfervereinigung noch immer rund darstellen. Seit der Öffnung des Landes für den Tourismus Mitte der 1990er Jahre sind viele US-Veteranen mit ihren Familien zu 5.000 Menschen an den Spätfolgen von Agent Orange. Durch die sogenannten »healing journeys« nach Vietnam gereist, wo sie die gesundheitlichen Folgen ergeben sich für die Familien auch große finanzielle Belastungen. Teure Medizin und Behandlungen seien für Orte besuchten, in denen sie gedient hatten. Daraus hat sich inzwischen ein eigener institutionalisierter Zweig des Tourismus viele Betroffene eine nahezu unlösbare Herausforderung. Laut VAVA entwickelt. Gerade an Erinnerungsorten im Süden wird die Geleben etwa 40 Prozent aller Herbizidopfer unter der Armutsgrenze. schichte so oftmals in Kommerz verwandelt. Westliche TouristInnen Unterstützung aus den USA erfahren sie kaum. Die Vereinigten können dort mit Maschinengewehren schießen und Panzer beStaaten berufen sich darauf, es sei nicht erwiesen, dass die Kranksteigen, um »realistische Kriegserfahrungen« nachzuspielen. In der heiten auf Agent Orange zurückzuführen sind. Seit den 1970er einstigen entmilitarisierten Zone um den 17. Breitengrad werden Jahren gab es hunderte von Klagen aus Vietnam gegen die USA und die Herstellerfirmen von Agent Orange, allen voran Monsanto und geführte Touren angeboten. Der kreative und kommerzielle Umgang mit dem Krieg zeigt sich auch in der medialen Vermarktung Dow Chemical. Sie wurden allesamt mit der Begründung abgewiesen, ein direkter Zusammenhang von Agent Orange und Krankheides Krieges durch Kinofilme wie »Good Morning Vietnam« oder ten sowie Missbildungen sei nicht nachweisbar. in Souvenirs wie Schlüsselanhängern aus alten Patronen. Diese drei Momente werden überdeckt durch den latenten Die USA haben bei der Aufarbeitung des Vietnamkriegs große Konflikt zwischen Nord- und Südvietnam. Immer noch ist ein Fortschritte gemacht, insbesondere hinsichtlich der Normalisierung Geschichtsbild vorherrschend, das »gute«, für Nordvietnam und der Beziehungen zum ehemaligen Kriegsgegner. Es gibt wachsenden die NLF kämpfende von »schlechten«, Respekt zwischen den beiden Nationen sowie verfür die südvietnamesische Republik stärkte Handelsbeziehungen. Dennoch sind die Bis heute gibt es in Vietnam kämpfende VietnamesInnen unterWunden noch offensichtlich, es bleibt viel zu tun. scheidet. Dieses Bild entstand wähDie USA weisen auf Menschenrechtsverletzungen zwei Klassen von Gefallenen rend des Krieges und wirkt bis heute in Vietnam hin, Vietnam fordert weiter Entschädigung für den Krieg. in Medien, Publikationen und in der In der jüngsten Zeit waren zumindest kleine Schritte aus den USA Gesellschaft fort. So wird beispielsweise der »Tag der Befreiung zu vernehmen. Nach Angaben des Think Tanks Aspen Insitute stelldes Südens« nach wie vor zwiespältig aufgenommen, da dieser Tag im Norden als Tag des Sieges gefeiert wird, im Süden dagegen ten die USA 136 Millionen Dollar für Vietnam bereit. Davon sind auch Grund zur Trauer um die gefallenen SoldatInnen besteht. 105,5 Millionen Dollar für die Sanierung verseuchter Böden vorgeDiese Trauer spielt jedoch in der offiziellen Politik immer noch sehen. Weitere 30,5 Millionen sollen in Gesundheitsprojekte fließen. keine Rolle. 31 Millionen Dollar kämen von privaten StifterInnen aus den USA. Doch direkten Schadensersatz hat die US-Regierung bis heute nicht Zwar gibt es inzwischen vorsichtige Versuche der Versöhnung. So wird in den Medien verstärkt von der »Regierung« und der gezahlt. »Armee der ehemaligen Republik Südvietnam« gesprochen und In den USA haben die Hersteller Dow Chemical und Monsanto inzwischen etwa 215 Millionen Dollar an die Opfer von Agent ­Orange nicht mehr wie jahrzehntelang despektierlich von der »Marionettenregierung«. Aber die praktische Umsetzung dieser Versöhnungsund ihre Verbände überwiesen. Das Geld bekamen jedoch lediglich politik beschränkt sich bisher auf die Visafreiheit von Auslands­ Kriegsveteranen aus den USA, Australien und Neuseeland – vietnavietnamesInnen. Ein weitergehender Schritt seitens der Behörden mesische KlägerInnen gingen leer aus. Die vietnamesischen Opfer wäre es etwa, den Angehörigen der südvietnamesischen Soldat­ bleiben somit weiterhin weitgehend ungehört und werden alleine Innen zu erlauben, deren Gräber zu pflegen und die in Vietnam gelassen. So gesehen ist der Vietnamkrieg ein Krieg ohne Ende. üblichen Trauerrituale durchzuführen. Bis heute gibt es jedoch zwei Klassen von Gefallenen. Literatur –– Martin Großheim (2009): Die Partei und der Krieg. Debatten und Dissens in Nordvietnam. Regiospectra, Berlin.

Giftopfer in der Armutsfalle Neben dieser mangelnden Wiederversöhnung nach innen gibt es weitere offene Wunden. Auch wenn Vietnam mit dem ehemaligen Kriegsgegner USA freundschaftliche Beziehungen pflegt, ist das Thema Agent Orange noch lange nicht geklärt. Über 40 Jahre nach dem Krieg sind die tragischen Folgen nach wie vor sichtbar. Hunderttausende Menschen sind krank, viele Nachkommen haben schwerste Missbildungen. Das Dioxin ist teilweise noch immer in der Nahrungskette vorhanden und schädigt das Erbgut über Generationen hinweg. tt

–– Andreas Margara (2012): Der Amerikanische Krieg. Erinnerungskultur in Vietnam. Regiospectra, Berlin. –– Patricia M. Pelley (2002): Postcolonial Vietnam. New Histories of the National Past. Duke University Press, Durham.

Christopher Wimmer hat Soziologie, Politik und Geschichte studiert. Aktuell arbeitet er als Freier Journalist und promoviert in Berlin.

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Edito r ia l

Gefängnisse und Strafsysteme In Deutschland leben etwa 63.000 Menschen hinter Gittern. Das entspricht der Bevölkerung einer mittelgroßen Stadt – deren Zusammensetzung allerdings einen außergewöhnlich hohen »Ausländeranteil« hat. Die NGO Prison Insider schätzt die globale Gefängnisbevölkerung auf 10.350.000 Menschen. Obwohl es so viele sind, spricht kaum jemand von ihnen. Die Gesellschaften sind erleichtert, dass man Probleme im Gefängnis scheinbar wegschließen kann. Für die Inhaftierten ist ein Aufenthalt im Gefängnis eine existenzielle Frage. Doch auch auf die Menschen draußen übt es einen starken Einfluss aus. Der Philosoph Michel Foucault nannte das Gefängnis eine »Schule der Gesellschaft« und beschrieb es als latentes, ultimatives Disziplinierungsmittel. So ist, wie Foucault in »Wahnsinn und Gesellschaft« schreibt, »die sichtbare Festung der Ordnung« inzwischen auch ein »Schloß in unserem Bewußtsein« geworden.

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m kollektiven Bewusstsein spukt das Gefängnis in unterschiedlicher Form umher. Wir haben den Themenschwerpunkt nicht von ungefähr mit Filmstills aus dem umfangreichen Genre »Gefängnisfilm« bebildert. Es gibt Spielfilme wie »Papillon«, die in sozialkritischer Absicht die Tristesse und Gewalt hinter den Gefängnismauern einfangen. Die immer auch im Unterbewusstsein herumspukende Freiheitssehnsucht spiegelt sich im Motiv der Gefängnisrevolte (etwa bei »Terror in Block 11«). Höhepunkt des Genres ist der Gefängnisausbruch, aufwändig durchgeführt etwa in »Flucht aus Alcatraz« oder slapstickhaft dargestellt in »Down by Law«. So marginal radikale Gefängniskritik heute auch sein mag, der gelungene Ausbruch aus der totalen Institution des Gefängnisses wird vom Publikum goutiert. Der Gefängnisfilm legt noch weitere Sehnsüchte im Publikum frei. Lady Gaga verlegt sich im Musikvideo zu »Telephone« ins Frauengefängnis, um zu zeigen, was für ein subversiver Feger sie ist. Der Knast wird zur reinen Projektionsfläche, dort wird wilder getanzt als im Club. Die Beschränktheit solcher kulturindustrieller Phantasmen einmal beiseitegelassen, lässt sich festhalten: Das Aufmischen der gesetzten Kategorien von Gut und Böse, Drinnen und Draußen, Verbrechen und Wohlanständigkeit ist stets verdienstvoll. Beim Thema Knast stellt sich die Frage nach dem Sinn. Der Knast barbarisiert die Gesellschaft, weil er einen Tabubruch vollzieht: Er setzt mit der Bewegungsfreiheit von Menschen ein fundamentales Menschenrecht aus. Das Knastleben macht in der Regel die InsassInnen zu schlechteren Menschen mit schlechteren Perspektiven. Das kann eigentlich niemand wollen. Folglich stießen wir bei unserer Recherche in der Unibibliothek auf eine Flut gefängniskritischer Literatur – selbst bis in die Regale der Juristik hinein. Die Treffer kamen vor allem aus den 1970er und 80er Jahren.

»Freiheit statt Strafe« (1986) war in der sozialen Arbeit sowie in den Sozialwissenschaften ein weit verbreitetes Anliegen – aus den oben genannten Gründen. Aber dann brach die Trefferquote ein. Sowohl Knastkritik wie auch das Knastleben allgemein verschwanden in den 1990er Jahren wieder in ihrer Schattenwelt. »Die Debatte um die Abschaffung der Knäste ist tot«, sagte uns dazu nicht ohne Bedauern ein langjähriger Aktivist des »Knastfunk« von Radio Dreyeckland. Die Knastkritik habe in vielen europäischen Ländern immerhin die Justizvollzugsreformen mit bewirkt. Heute hätten Felder wie Resozialisierung, Entkriminalisierung und Prävention einen höheren Stellenwert. Im Gespräch mit einem gefängniskritischen Sozialarbeiter kommen noch andere Aspekte zur Sprache: »Man muss schon ganz schön viel Scheiße bauen, um heute in Deutschland einzufahren« oder »ein paar von denen will ich draußen nicht begegnen«.

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ewiss, Straftaten lösen sich mit der Humanisierung oder gar Abschaffung von Knästen nicht in Wohlgefallen auf. Wenn es um Gewalt gegen Menschen geht, bedarf es schon weitergehender Mittel als freundlicher Ermahnungen. Doch im Falle vieler anderer Straftaten ist eine Entkriminalisierung absolut sinnvoll, etwa bei Drogengebrauch oder bei Ersatzfreiheitsstrafen für Schwarzfahren. Und auch die großen Freiheitsziele müssen immer wieder neu diskutiert werden. In den Artikeln und Rezensionen dieses Themenschwerpunktes spuken sie weiter umher, ebenso wie auf einer neuen Webseite, auf die wir gestoßen sind: entknastung.org. »Korruption, Gewalt, skrupellose Ausbeutung – Mexiko hat ein Strafsystem, das den gesellschaftlichen Verhältnissen im Land entspricht«, schreibt unser Autor Wolf-Dieter Vogel über Gefängnisse in Mexiko. Auch in anderen Länderartikeln bedingen kritikwürdige gesellschaftliche Verhältnisse, was als Verbrechen geahndet wird. Eine prominente Rolle spielen in vielen Artikeln die Armut oder die Diskriminierung von Schwarzen, die nicht nur im US-Gefängnissystem auf die Spitze getrieben wird. Außerdem dienen Knäste gerade in autoritären Regimen der Herrschaftssicherung. »Wehe den Dissidenten!« lautet die Botschaft etwa der saudischen Justiz.

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ie Knäste dieser Welt sind Orte der Überbelegung, Verwahrlosung, Menschenrechtsverletzungen, Folter und der Zerstörung von Lebensperspektiven. Es bleibt wichtig, das hinter den dicken Mauern Verborgene sichtbar zu machen – und nach Befreiung zu sinnen. Nicht nur für die Gefangenen, sondern für die ganze Gesellschaft. Die nächste Gelegenheit dazu bietet sich bei den Knastkundgebungen an Silvester. die redaktion

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»Unschuldig ihrer Freiheit beraubt« Interview mit dem Hilfsverein zum Abschiebeknast Büren iz3w: Der Abschiebeknast in Büren (Westfalen), auf Behördendeutsch

die Anzahl der Gefangenen steigt, die durchschnittliche Belegungs»Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige«, war bis 2015 dauer jedoch sinkt. Nach den jüngsten Zahlen liegt die Haftdauer zugleich eine JVA. Was hat sich seitdem geändert? im Mittel bei 33 Tagen. In der Realität ist sie wesentlich höher. In der Verein Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren: 2014 hat Beratung sprechen wir oft mit Menschen, die zwei bis drei Monate der Europäische Gerichtshof beschlossen, dass Strafgefangene und ihrer Freiheit beraubt sind, in Einzelfällen über sechs Monate. Abschiebegefangene nicht zusammen untergebracht werden dürfen. Daraufhin musste das Abschiebegefängnis in Büren geschlossen Gibt es in Büren Maßnahmen zur Resozialisierung? werden. Nordrhein-Westfalen hatte für einige Monate keine eigene tt Sinn und Zweck der Haft ist die Abschiebung. Die Menschen Abschiebehaft mehr, die Gefangenen wurden nach Berlin gebracht. sollen so lange verwahrt sein, bis die Ausländerbehörde einen Pass Weil die Fahrtzeiten so lang waren, wurde Abschiebehaft nur als besorgt und den Flug organisiert hat. Da die Betroffenen keine Ultima Ratio angewendet, also so, wie es im Gesetz vorgeschrieben Straftat begangen haben, ist eine Resozialisierung nicht vorgesehen ist. Damals waren weniger als zwölf Menschen aus NRW in Abschieund macht auch keinen Sinn. Aber unserer Ansicht nach dürfen behaft. Die rot-grüne Landesregierung hat sich jedoch sehr dafür Menschen nicht unschuldig ihrer Freiheit beraubt werden. Zwar gibt es Freizeitangebote, diese können dem Tag eingesetzt, dass der Knast in Büren wieder jedoch keine Struktur geben. Viele Inhaftierte haben öffnet. Seitdem steigt die Zahl der Inhaf»Die Abschiebehäftlinge tierten, aktuell auf 140 Menschen. Angst vor dem, was sie im Herkunftsland erwartet. Nach der Wiedereröffnung waren die Langeweile und Frustration bestimmen die Tagesstehen vor dem Nichts« Haftbedingungen zunächst gut: tagsüber ordnung. Zudem werden die Einschlusszeiten in den Zellen durch den Personalmangel immer länger – die freier Hofgang, Abschließen der Zelltüren Betroffenen stecken bis zum Abschiebetermin hinter Gittern. Abnur nachts. Die Anstaltsleitung bemühte sich, eine angenehmere Atmosphäre zu schaffen. Mittlerweile wurden die Haftbedingungen schiebehaft ist ein unmenschlicher Aspekt einer rassistischen Asyl- und verschärft. Hofgang und Zellenaufschluss wurden wegen PersonalEinwanderungspolitik und muss abgeschafft werden! mangel stark eingeschränkt. Immer mehr Menschen werden in extrem belastende Isolierhaft gesperrt. Derzeit wird ein GesetzentWelche Perspektiven haben die Einsitzenden? wurf der schwarz-gelben Landesregierung diskutiert, der den Volltt Die einzige »Perspektive« durch die Ausländerbehörden ist die zug verschärft. Er bleibt teilweise sogar hinter den Standards des Abschiebung. Der Umgang der Einzelnen damit ist jedoch sehr Strafvollzugs zurück. Die Unterbringungseinrichtung selbst soll unterschiedlich. Einige wenige freuen sich, in ihre Herkunftsländer große, eigene Handlungsspielräume bekommen, ohne eine wirkzu kommen, andere haben begründete Todesangst. Zwischen diesen same Kontrollinstanz. beiden Polen gibt es alles. Hinzu kommt die Ungewissheit, wann genau die Abschiebung vollzogen wird. Das zermürbt, oft liegen die Was wird den Menschen vorgeworfen, die in Büren einsitzen? Nerven blank. Manche hoffen, mittels rechtlicher Schritte doch noch tt Abschiebehaft erleichtert Abschiebungen für die Ausländerbein Deutschland bleiben zu können. Leider oft vergeblich. hörde. Diese kann jemanden präventiv in Haft nehmen lassen, wenn der »begründete Verdacht« besteht, dass die Person unterIn jüngerer Zeit häufen sich Vorwürfe in Büren werde gegen die Rechte der Gefangenen verstoßen. Sogar von Folter wird gesprochen. tauchen könnte. Wenn ich sage, dass ich morgen einen Diebstahl tt Kürzlich hat die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter ihren begehe, darf ich heute nicht inhaftiert werden. Im Ausländerrecht Bericht über Büren veröffentlicht. Sie hat in wesentlichen Punkten ist aber eine verdachtsabhängige Inhaftierung durchaus möglich. unsere Aussagen bestätigt. So werden zum Beispiel Menschen ohne Anders als in einer JVA sitzt in Büren niemand wegen einer Straftat gesetzliche Grundlage in Isolierhaft eingesperrt, nach unserer Beein. Es handelt sich um reine Zivilhaft, ähnlich der Zwangsunterbringung in einer Psychiatrie. obachtung über Wochen und Monate hin. Fixierungen sind in der Isolierhaft zum Teil auch bei nicht vorliegender Selbstgefährdung Was unterscheidet den Abschiebeknast von einer JVA? angewendet worden. Es ist fast Routine, dass sich neue Inhaftierte tt Die Menschen in Strafhaft haben oft eine Zukunft, etwa wenn nach dem Betreten der Einrichtung komplett entkleiden müssen sie in bestehende Strukturen entlassen werden. Die Abschiebehäftund der Schambereich in Augenschein genommen wird. Es gibt linge stehen vor dem Nichts, im schlimmsten Fall vor dem Tod. eine Abteilung, in der einige Inhaftierte grundsätzlich bei ToilettenGemeinsam ist dem Abschiebeknast und einer JVA, dass Menschen gängen gefilmt wurden und sie lediglich eine Papierunterhose ihrer Freiheit beraubt werden. tragen dürfen. Unser Verein sucht Unterstützung dafür, solche Vorfälle öffentlich zu machen. Wir besuchen die Menschen in AbWie lange sitzen die Menschen im Durchschnitt in Büren ein? schiebehaft, um uns so weit wie möglich für sie einzusetzen. tt Dazu gibt es keine zuverlässige Statistik. Die Einrichtung veröffentlicht nur auf direkte Nachfrage Zahlen, für die wir als Hilfsorganisation bis zu 250 Euro zahlen müssen. Sie sind außerdem tt Der Verein Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren unstimmig. So erhalten Gefangene, die länger in Büren sind, mit setzt sich seit 1994 für Abschiebhäftlinge ein. Das Interview führte Kathi King. der Zeit eine neue Buchnummer. Damit zählen sie doppelt, sodass iz3w • Januar / Februar 2019 q 370

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ISSN 1614-0095

E 3477

t iz3w – informationszentrum 3. welt Kronenstraße 16a, D-79100 Freiburg www.iz3w.org

ZEITUNG FÜR SOZIALISTISCHE BETRIEBS- & GEWERKSCHAFTSARBEIT

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Kriegsführung 4.0 Die »moderne Kriegsführung« entwickelt sich in riesigen Schritten. W&F legt den Schwerpunkt auf diejenigen technologischen und taktischen Neuerungen, die auf eine grundlegende Umwälzung militärischer Angelegenheiten hindeuten: das militärische Agieren im Cyberund Informationsraum sowie die immer weitere Automatisierung von Kriegsgeräten und Entscheidungsprozessen.

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