iz3w Magazin # 372

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Klimawandel – »Bitte wenden Sie jetzt«

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Afrophone Sounds t Türkischer Neo-Osmanismus t Backlash in Brasilien

Mai/ Juni 2019 Ausgabe q 372 Einzelheft 6 6,– Abo 6 36,–


In dies er Aus gabe . . . . . . . . .

Schwerpunkt: Klimawandel

Titelbild: Peder Anker

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3 Editorial 20

Brasilien: Wider den Machismo Feministinnen wehren sich gegen Präsident Bolsonaro von Uta Grunert

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Kurdistan: »Erdoğan will uns auslöschen« Interview mit der kurdischen Aktivistin Hevîdar Raco

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Chile: Ein vorprogrammiertes Desaster Die industrielle Lachszucht schadet Chiles Küsten von María Paz Villalobos Silva

Innen hui, außen pfui Chinas widersprüchlicher Kampf gegen den ­Klimawandel von Uwe Hoering

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Neo-Osmanismus II: Soft Power und Nekropolitik Die Türkei inszeniert sich als Nachfolger des Osmanischen Reichs von Oliver Kontny

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Neo-Osmanismus I: Zurück ins Osmanische Reich? Die sufistische Naqshbandiyya und türkische Religionspolitik von Oliver Schulten

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»Links-grüne Klimalüge« Mit der AfD sitzen bekennende Klimawandelleugner im Bundestag von Christian Stock

Politik und Ökonomie 4

Das Lager der Bremser Auf welche Weise verhindert die Industrie wirksame Klimapolitik? von Wolfgang Pomrehn

Energy justice now! Die Energiewende im südlichen Afrika ist umkämpft von Franziska Müller

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»Atomkraftwerke abschalten!« Interview mit der südafrikanischen Umweltschützerin Makoma Lekalakala

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Revolution der Nachhaltigkeit Kuba setzt verstärkt auf Klimaschutz von Edgar Göll

Hunger nach Land Warum die Erderwärmung der Ernährungssicherheit schadet von Martina Backes und Tina Goethe

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»Der Klimakiller ist immer der Mensch« Interview mit der Tierärztin Anita Idel

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Grüne Enteignung Klimaschutz durch Waldschutzprogramme hat hohe soziale Kosten von Chris Lang

Kultur und Debatte 37

Debatte: Fetischisierung der Praxis Dekolonialistische Theoriebildung und ihre Selbstbeschränkung von Jens Kastner

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Film: 22 Stunden Arbeit am Tag Berlinale-Filme prangern moderne Sklaverei an von Isabel Rodde

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Musik: »Der perfekte Song«

45 Rezensionen 50 Szene / Impressum

Interview mit Vik Sohonie über Musik aus Somalia und dem Sudan

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Editorial

Dreierlei Autokraten und Proteste Im noch jungen Jahr geschah etwas Bemerkenswertes in der MENA-Region (Middle East & North Africa). Gleich in drei Ländern und Gebieten, an denen der Arabische Frühling ab Dezember 2010 eher spurlos vorüber gegangen war, brachen Proteste aus: Algerien, Sudan und Gaza. Erwacht die totgesagte Arabellion wieder? Die Protestbewegungen in arabischen Ländern sind jedenfalls nicht tot. Es gibt immer wieder eine »neue Generation« in den demografisch jungen Staaten, die den alten Deal aufkündigt. Und sie scheint Schlüsse aus den vergangenen Erfahrungen zu ziehen. Von den neuen Bewegungen in Algerien, Sudan und Gaza wird jeweils genau austariert, wie weit man sich vorwagen kann.

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n Algerien geht das Spiel folgendermaßen: Der bestehende Machtapparat ist eine Bastion aus Armee, dem Führungszirkel der Regierungspartei FLN (Front de Liberation Nationale) und der nationalen Wirtschaftselite. Offiziell angeführt wird er vom greisen Langzeitpräsidenten Bouteflika, der sich nach einem Schlaganfall kaum noch artikulieren kann und nur noch selten öffentlich auftritt. Ausgangspunkt der Demonstrationen war eine gespenstische Szene: Bouteflika reichte nach Angaben seines Wahlkampfmanagers seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl am 18. April ein. Zu sehen war aber weit und breit kein Bouteflika. Trotzdem galt diese Marionette des Machtapparates als unbesiegbar. Daraufhin gingen Zehntausende gegen diese Kandidatur zur fünften Amtszeit auf die Straße, darunter viele Junge und Studierende. Auf YouTube kann man sehen, wie die Wut der Protestierenden in eine Feier ihrer selbst umschlägt. Das Regime weicht zurück und Bouteflika verzichtet auf die Kandidatur. Die Proteste gehen weiter, zielen auf einen grundsätzlichen Wandel und überschreiten die Millionengrenze. Sogar der FLN distanziert sich nun vom Chef und bezeichnet die Protestbewegung als »Quelle des nationalen Stolzes«. Immerhin scheint die ehemalige antikoloniale Volksfront noch partiell erreichbar zu sein. Bouteflika ernennt eine neue Regierung mit überwiegend neuen MinisterInnen. Gegenüber dem Militär suchen die Protestierenden – nicht unbedingt aus Überzeugung – den Schulterschluss. Nun fordert sogar Armeechef Salah den Präsidentenrücktritt und beschwört »die hei­lige Allianz von algerischem Volk und der Armee«. Bei Redaktionsschluss hat Bouteflika seinen Rücktritt angekündigt. Ein Fazit steht aber schon fest: In Algerien hat eine starke Zivilgesellschaft die politische Bühne betreten.

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m Fall von Sudan ist ein Ausgleich zwischen den seit Dezember Protestierenden und dem Regime kaum möglich. Gegen Präsident Omar al-Bashir liegen internationale Haftbefehle vor. Allein für die Kriegsverbrechen in Darfur würde er das Präsidentenamt gegen eine Gefängniszelle tauschen. Aber al-Bashir ist ein Großmeister der Niederschlagung von demokratischen Regungen. Auch jetzt beträgt die Bilanz bereits über 60 Tote. Das einzige »Zugeständnis« von al-Bashir: Die regionalen Gouverneure werden jetzt von Angehörigen des Militärs gestellt. Die aktuellen Proteste richten sich gegen die desolate materielle Versorgungslage, denn die meisten SudanesInnen können sich nicht ausreichend ernähren. Die Leute rufen Parolen wie »Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit«. Mit der Thema­ tisierung der Armut scheint man zu versuchen, die Erhebung soweit wie möglich auszuweiten – um zurück rudern zu kön­ nen, wenn es eng wird.

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nd schließlich gibt es Proteste gegen die Terrorherrschaft der Hamas im Gaza-Streifen. Das ist ein denkbar hartes Pflaster für zivilgesellschaftliche Regungen. Die Hamas inszeniert sich selbst als Widerstandsbewegung gegen Israel. Ihre KämpferInnen recken bei ihren Umzügen Sturmgewehre in die Luft und rufen »Sieg oder Märtyrertod«. Das Primat gilt der militärischen Aufrüstung, beispielsweise mit zigtausenden Raketen. Entsprechend miserabel ist Gaza regiert und ökonomisch positioniert. Mitte März begannen Unruhen innerhalb Gazas. Unter der Devise »Wir wollen leben« wenden sich Protestierende gegen die Misswirtschaft und die schlechte Versorgungslage. Obwohl eine kleine Elite im Wohlstand lebt und die Waffenlager gefüllt sind, lebt die Mehrheit in Armut. Die Hamas reagiert mit brutaler Härte und schlägt Demonstrierende krankenhausreif. Schon im Februar und Herbst 2017 gab es in Gaza Umzüge mit Forderungen wie: »Wir wollen Strom«. Das sind bisher nur Nadelstiche. Aber die Protestierenden verschaffen sich mit dem Akzent auf die Versorgungslage einen Vorteil: Solche basalen Forderungen sind immer legitim, und s­ oziale Fragen sind unvereinbar mit dem Daseinszweck der Hamas als militanter Vertriebenenverband. So wird von der Protestbewegung in Gaza bereits mit der Artikulation materieller Bedürfnisse die Systemfrage gestellt. Die drei durchaus unterschiedlichen Bewegungen zeigen, dass Hoffnung besteht. Es sind wohl sehr langwierige Prozesse, die die jeweiligen autoritären Regime abschleifen können. Aber das Jahr hat nicht nur schlecht begonnen, findet die redaktion

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Brasilien

Wider den Machismo Brasilianische Feministinnen wehren sich gegen Präsident Bolsonaro in Rio de Janeiro, verließ im Februar 2019 Brasilien. Nach einer Veröffentlichung über Morde an lesbischen Frauen sah sie sich einer Rufmordkampagne und Bedrohungen ausgesetzt. Der neue Kulturkampf wendet sich wahlweise gegen Sozialismus, Kommunismus, das »linke Pack«, gegen Political Correctness oder Minderheiten. Bewahrt werden sollen »traditionelle Familienwerte«. Progressive politische AkteurInnen und queere Lebensentwürfe, Angehörige der Landlosenbewegung, FeministInnen, Afrobrasilia­ nerInnen, Indigene, aber auch MenschenrechtsaktIvist­Innen aus von Uta Grunert dem Umfeld der Katholischen Kirche werden zu Feinden erklärt. Die Linken verdammt der neue Präsident zur absoluten Anpassung: tt »Am 8. März kommt es zu einem landesweiten Aufschrei der »Oder sie verlassen das Land oder gehen ins Gefängnis. Diese Frauen gegen die Regierung von Präsident Bolsonaro«, prognostiroten Typen werden aus unserem Vaterland verbannt«, verkündet zierten die KollegInnen von SOS Corpo, dem feministischen Institut Bolsonaro vollmundig im Wahlkampf. Brasilien verfügt bereits seit für Demokratiefragen mit Sitz in Recife. Sie sollten Recht behalten: der Männer-Fußball-WM 2014 über ein verschärftes Terrorismusgesetz, das schnelle Gerichtsurteile ermöglicht und politisch moÜber 300 große Kundgebungen und Demonstrationen fanden in tivierte Prozesse vereinfacht. Für Polizeikräfte, die im Dienst töten, Rio de Janeiro, São Paulo, Recife, Brasilia, Porto Alegre und anderen Städten statt. Insgesamt gingen weit über soll eine weitgehende Straffreiheit gelten. hunderttausend Frauen gegen den PräAm 14. März, kurz nach dem Internationalen Es weht ein neuer Wind, der sidenten und die extreme Rechte auf die Frauen­tag, jährte sich erstmals die Ermordung Straße. der linken Stadträtin Marielle Franco in Rio de mehr ein eisiger Sturm ist Janeiro. Marielle wurde nach dem Mord zur IkoFür viele ist der Wahlsieg Bolsonaros eine Folge der Amtsenthebung der sozial­ ne, weil sie als mutige Frau vieles von dem verdemokratischen Präsidentin Dilma Rousseff 2016. Bereits dieser körperte, was in der politischen Elite des Landes Widerstand her»Putsch« sei frauenfeindlich motiviert und eine Machtdemonstra­ vorruft: Aus einer Favela stammend, erlangte die Afrobrasilianerin tion der weißen und männlichen Elite gewesen. Die Frauen werfen einen Universitätsabschluss und übte ein politisches Amt aus. Sie Bolsonaro zudem vor, nur durch Manipulationen und illegalen kritisierte die will­kürliche Polizeigewalt gegen überwiegend junge Zugang zu privaten WhatsApp-Konten an WählerInnen und damit Schwarze in der Peripherie von Rio de Janeiro. Viele Frauen identi­ an die Macht gelangt zu sein (siehe dazu ausführlicher iz3w 370). fizieren sich mit ihr, weil sie Mutterschaft und das Leben als berufstätige Frau und politische Aktivistin unter einen Hut brachte, Nun höhlt Bolsonaro den Sozialstaat und die Demokratie aus. So will er mit der Reforma da Providência eine Rentenanpassung offen in einer lesbischen Beziehung lebte und sich gegen Rassismus durchsetzen, die Frauen als sozialpolitische Verschlechterung empund für Frauenrechte einsetzte. finden. Viele Frauen leisten die Erwerbs- und Familienarbeit alleine. Marielle Franco wurde von paramilitärischen Milizen ermordet. Im Januar 2019 wurden eine Reihe von Milizionären, darunter Die Furcht vor Altersarmut treibt sie nun auf die Straße, um eine mehrere ehemalige Militärpolizisten, festgenommen. Ein flüchtiger garantierte Altersvorsorge zu fordern. Den Sozialversicherungssystemen fehlt Geld, weil große Konzerne seit Jahren nicht für ihre Ex-Militärpolizist gilt als Kopf der Gruppe, die auch wegen AufArbeitskräfte einzahlen. Die Sparzwänge sollen nun auf die Rücken tragsmorden angeklagt wird. Es bestanden Verbindungen zu Flavio Bolsonaro, dem ältesten Sohn des Präsidenten. Die Mutter und die derer abgewälzt werden, von denen angenommen wird, dass sie Ehefrau des Gesuchten haben für Flavio Bolsonaro gearbeitet, der sich nicht wehren. genauso wie zwei weitere Söhne Teil der Bolsonaro-Politik-Dynastie ist. 2018 wurde er im Bundesstaat Rio de Janeiro als Senator Lebensgefährlicher Aktivismus … gewählt. Zwei Tage vor dem Jahrestag des Mordes wurden erneut tt Die Präsidentschaftswahlen haben vieles verändert. Viele zivilgezwei ehemalige Militärpolizisten festgenommen, die jetzt als Täter sellschaftliche Organisationen treffen Sicherheitsvorkehrungen, um angeklagt werden sollen. sich zu schützen. Kommunikationskanäle müssen neu abgesichert werden, bei öffentlichen Kundgebungen wird mit Gewalt und … und neue Gegenwehr Übergriffen gerechnet. Nicht jede/r will noch laut Kritik äußern. Es tt Zum Gedenken an die Stadträtin wurde in Rio de Janeiro eine weht ein neuer Wind, der mehr ein eisiger Sturm ist. Er ruft gerade unter Fortschrittlichen und Linken Angst hervor. Der linke und offen Straße nach ihr benannt. Das Straßenschild wurde noch im Wahlhomosexuell lebende Parlamentsabgeordnete Jean Wyllys hat noch kampf von Rechten zerstört. Als Antwort darauf wurde das gesamim Januar das Land verlassen, um dem permanenten Druck von te Viertel mit diesem Schild bestückt. Auch bei Demonstrationen Beschimpfungen bis zu Morddrohungen zu entgehen. Auch Mariawird es zusammen mit dem Bild von Marielle Franco als mahnenClara Dias, Professorin für Genderfragen an der Bundesuniversität des Symbol getragen.

Am 8. März gingen auch in Brasilien viele Frauen auf die S ­ traße. Sie protestierten gegen den rechtsextremen Staatspräsidenten Jair Bolsonaro und das von ihm vorangetriebene gesellschaftliche Rollback. Dieses betrifft jedoch nicht nur Frauen. Auch die Situation von Minderheiten und MenschenrechtsaktivistInnen hat sich seit dem Amtsantritt Bolsonaros im Januar massiv verschlechtert.

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Proteste im März 2019 zum ersten Jahrestag der Ermordung der feministischen Aktivistin Marielle Franco

Foto: Midia Ninja

Im Wahlkampf schloss sich eine Gruppe afrobrasilianischer Frauen 1964, den Tag des Militärputsches in Brasilien, »einen denkwürdigen Tag, den man in Erinnerung behalten sollte«. Er kritisiert die linker Parteien zusammen, die sich sementes de Marielle (»Die Saat unter Präsidentin Dilma Rousseff eingesetzte Wahrheitskommission, von Marielle Franco«) nannten. 2018 kandidierten so viele Afro­ brasilianerInnen für ein politisches Amt wie nie zuvor. Einige waren die die Morde und Gewalttaten während der Militärdiktatur dokuenge Mitarbeiterinnen der Ermordeten gewesen. Die Saat geht mentiert hat. inzwischen auf, denn viele dieser Frauen wurden gewählt und Die brasilianische Zivilgesellschaft bleibt aber auch auf den stehen nun für progressive Ziele und eine gerechtere Gesellschaft neuen Agitationsfeldern der Rechtsregierung widerständig. Die ein. Die afrobrasilianischen Bürgerrechtlerinnen Renata Souza, brasilianischen Feministinnen sind dabei jedoch keine homogene Mônica Francisco und Dani Monteiro sind Gruppe. Häufig laufen ihre Kämpfe parallel zueinannun Abgeordnete im Landtag des Bundesder ab, je nach regionalem Kontext und Schwerpunkt. Die brasilianische Zivil­ staates Rio de Janeiro. Die Historikerin AfrobrasilianerInnen wehren sich eher gegen die verheerende Situation im Strafvollzug und gegen die Talíria Petrone wurde Bundesabgeordnete, gesellschaft bleibt trotz sie saß zuvor gemeinsam mit Marielle im tödliche, rassistisch geprägte Polizeigewalt gegenüber allem widerständig Stadtrat. Die Feministin und negra setzt ihren Söhnen. LGBTIQ-AktivistInnen kämpfen für sich für die Straffreiheit von SchwangerGeschlechtergerechtigkeit und rechtliche Anerkenschaftsabbrüchen sowie für eine fortschrittliche Drogenpolitik ein. nung. Indigene Frauen im Amazonasgebiet fordern mehr territoAußerdem kämpft sie gegen die Masseninhaftierung Schwarzer riale Rechte und Selbstbestimmung, sie wenden sich zudem gegen Jugendlicher und gegen das neue reaktionäre Bildungskonzept die Inwertsetzung der Natur durch Bergbau, Holz- und LandwirtEscola sem partido. schaft oder Wasserkraft. Die erste indigene Abgeordnete aus dem Escola sem partido wird vom Bildungsminister Vélez Rodríguez Bundesstaat Roraima, Jôenia Wapixana, drängt darauf, dass indiund vom Präsidenten gleichermaßen verfolgt. Es verbannt die gene Anliegen mehr Sichtbarkeit bekommen. Auseinandersetzung mit Genderfragen, Rassismus sowie weitere gesellschaftlich relevante Themen aus dem Unterricht, mit dem Keine Rechte für Unliebsame … Vorwurf, damit würden Kinder indoktriniert. Genderthemen und tt Bolsonaro hatte im Wahlkampf erklärt, kein weiteres indigenes Geschlechtergerechtigkeit werden von der neuen Regierung mit dem Verlust moralischer Werte gleichgesetzt und deshalb bekämpft. Gebiet mit entsprechenden Schutzrechten ausweisen zu wollen. Das neue Bildungsmodell steuert über die Vergabe von FördermitPrompt meldete der Indigenenmissionsrat der Katholischen Kirche teln, welche Forschung zukünftig erwünscht ist. Die Verantwortung (CIMI) schon zu Jahresbeginn mindestens sechs Überfälle auf indifür dieses Gesetz obliegt dem neuen Bildungsminister Rodríguez. genes Land in Maranhão, Mato Grosso, Pará und Rondônia. Laut Einschätzung des Anthropologen Eduardo Viveiro de Castro will Er hat eine Eliteprofessur des Militärs an der staatlichen Universität von Juiz de Fora inne. Der Antikommunist nennt den 31. März Bolsonaro die indigene Frage ‚lösen‘, indem er deren territoriale iz3w • Mai / Juni 2019 q 372

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Brasilien

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von Bürgerwehren, was jedoch einen Anstieg von Gewalt zur Folge haben dürfte. Ein bedrohliches Szenario angesichts der aktuellen Zahlen über Auseinandersetzungen mit Todesfolge. Das Dekret ignoriert zudem eine vorangegangene Empfehlung des Präsidialamts für die Einschränkung des allgemeinen Waffenzugangs. Es war auf der Datengrundlage des letzten halben Jahres zu folgender Aussage gekommen: Obwohl Brasilien nur über drei Prozent der Weltbevölkerung verfügt, ist es für 14 Prozent der weltweit erfassten Mordfälle verantwortlich. Vergleichbare Zahlen gibt es nur noch in Bürgerkriegsländern wie der Republik Kongo. Nicht nur indigene Bewegungen, kleinbäuerliche Gruppen und Quilombolas (Nachfahren ehemaliger SklavInnen mit territorialen Rechten) fürchten, dass nach einer Lockerung des Waffenzugangs die Gewalt gegenüber ihren Minderheiten im Konflikt um Landund Wasserzugang zunimmt. Auch Frauen sehen sich dieser Gefahr ausgesetzt. In den ersten sechs Wochen des Jahres 2019 wurden in 188 Städten 151 Morde an Frauen und 87 gewalttätige Übergriffe registriert. Die Opfer sind in der Mehrzahl Afrobrasilianerinnen. Gewalt gegenüber Frauen ist die extremste Form patriarchaler und machistischer Dominanz und Unterdrückung. Selbst eine katholische Publikation titelte in Anspielung auf das neue Rollenbild der Hausfrau, dass kein Ort für Frauen in Brasilien so gefährlich sei wie das eigene Zuhause. Denn die Staatsanwaltschaft von São Paulo hat im zurückliegenden Jahr nachgewiesen, dass 66 Prozent der Femizide zuhause stattfinden und sie zu 70 Prozent von (Ex-)Partnern verübt werden. Handfeuerwaffen sind dabei neben Messern die zweithäufigste Waffe. Bolsonaro demontiert mit seiner Regierung bisherige Errungenschaften der sozialen Bewegungen, die Rechte erstritten haben und die nun in eine neue Rolle mit weniger Rechten zurückgedrängt werden sollen. Beispielhaft dafür steht die neue Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, die evangelikale Pastorin Damares Alves. Ihr Ministerium ist nun auch für die Auseinandersetzungen um territoriale Kämpfe von Indigenen verantwortlich, während die vormals zuständige Indigenenbehörde FUNAI institutionell weiter entmachtet wurde. Alvez will sich zwar für die gleichberechtigte Entlohnung der Erwerbsarbeit von Frauen einsetzen. Zugleich ist sie aber erklärte Abtreibungsgegnerin und wurde in den Medien mit einem »Genderbekenntnis« zur Farbe Rosa für Mädchen und Hellblau für Jungen zitiert. Die Entwicklungen in den ersten Monaten seit dem Amtsantritt Bolsonaros sind besorgniserregend. Umso wichtiger ist es, Aufmerksamkeit für die Situation in Brasilien herstellen und Alarm zu schlagen. Nichts weniger als die Demokratie, die Menschenrechte und die sozialen Rechte stehen in Brasilien auf dem Spiel. Unabdingbar ist ein auch kritischer Blick auf politische Fehler der Linken in der Vergangenheit, allerdings mit dem Ziel, einen gemeinsamen politischen Weg in die Zukunft zu suchen. Foto: Midia Ninja

Rechte rückgängig macht und in Konzessionen für private Unternehmen umwandelt. Indigene sollen sich zukünftig ohne Sonderrechte in die Gesellschaft integrieren, heißt es. Provokant fragt Sonia Guajajara, die indigene Vize-Präsidentschaftskandidatin von 2018, bei einem Treffen mit der Staatsanwaltschaft, warum Übergriffe auf indigene Territorien und deren BewohnerInnen nicht als terroristischer Akt eingestuft würden. Denn im Gegensatz dazu werden soziale Bewegungen wie der Indigenenmissionsrat und die Landpastorale (CPT) von den Rechten kriminalisiert. Auch gegenüber Frauen äußert sich Bolsonaro ablehnend. Ihm sind insbesondere politisch aktive Frauen wie Marielle Franco, ­Mônica Francisco oder Jôenia Wapixana ein Dorn im Auge. Am 29. September 2018 gingen mitten im brasilianischen Wahlkampf weltweit Millionen unter dem Slogan #elenao (»Der nicht«) gegen Bolsonaro und für Respekt und Demokratie auf die Straße. Der femi­nistische Aufbruch wurde jedoch in den brasilianischen Massenmedien bewusst totgeschwiegen. Kurz darauf kursierten manipulierte Bilder von nackten Frauen in den sozialen Medien, durch die die Aktivistinnen moralisch verunglimpft werden sollten. »So sehen böse Feministinnen aus! Nehmt sie bloß nicht ernst!« war die Botschaft. Das Frauenbild der neuen Regierungsmacht steht einer Verankerung von Frauenrechten unvereinbar entgegen. Das Kabinett besteht aus ehemaligen Militärs, VertreterInnen des agrarindustriellen Sektors und evangelikalen FundamentalistInnen. In ihrem Gesellschaftsideal steht die Frau hinter dem Mann – lächelnd und dekorativ, so wie die Präsidentengattin Michele Bolsonaro. Frauen haben in der Familie die Rolle als Ehefrau und Mutter zu übernehmen, sie haben für Kindererziehung und Karitatives einzustehen, ohne weitere Forderungen zu stellen oder Rechte einzuklagen. Jair Bolsonaro hatte sich mit den Evangelikalen schon im Wahlkampf verbündet, um mit der Unterstützung einflussreicher Prediger die Stimmen ihrer Schäfchen auf sich zu vereinen (siehe dazu ausführlich iz3w 370). Ein erfolgreiches Konzept, denn Bolsonaro wurde auch von Schwarzen, von FavelabewohnerInnen und Homosexuellen gewählt. Sie sahen in ihm den Hoffnungsträger, der ihnen versprach, Gewalt mit Gewalt bekämpfen zu können. Einig sind sich Bolsonaro und Evangelikale in ihrem Feldzug gegen die Rechte von LGBTIQ und gegen die Ausweitung des Rechts auf Abtreibung. Nachdem 2018 bereits 420 Morde an LGBTIQ verübt worden waren, wächst nun mit dem öffentlichen Hass die Angst vor einem weiteren Anstieg der Gewalt. Die Gruppe der Evangelikalen konnten die Zahl ihrer Parlamentssitze von 78 auf 91 erhöhen. Die religiösen Hardliner der Assembleia de Deus, Baptisten und Universalkirche sehen ihren Regierungsauftrag darin, ihre Moral dem Rest der Gesellschaft aufzudrängen.

… aber Waffen für alle Besorgniserregend sind auch die beabsichtigten Lockerungen im privaten Waffengesetz. Ein Präsidialdekret sieht vor, dass Über25-Jährige ohne kriminelle Vorbelastung bis zu vier Waffen im Haus haben dürfen. Das ermutigt geradezu zur Selbstjustiz und Bildung tt

Uta Grunert arbeitet in der Geschäftsstelle der Kooperation Brasilien in Freiburg. KoBra vernetzt seit knapp 30 Jahren Gruppen im deutschsprachigen Raum, die soziale Bewegungen in Brasilien unterstützen. tt

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Neo-Osmanismus

Zurück ins Osmanische Reich? Die sufistische Naqshbandiyya und die türkische Religionspolitik Seit ihrer Gründung 1923 widerstreiten in der Türkei ­säkulare und religiöse politische Strömungen. Ausgerechnet eine SufiBruderschaft, die Naqshbandiyya, ist in dieser Auseinandersetzung ein relevantes Fallbeispiel. Präsident Erdoğan ist einer ihrer Schüler.

Erdoğan bedient mit seinen Referenzen zum Neo-Osmanismus die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der die Türkei noch mächtig war und islamisch regiert wurde. Diese Rückbesinnung ist nicht neu. Schon seit dem Ende des Osmanischen Reiches und der Ausrufung der säkularen Republik Türkei unter Mustafa Kemal A ­ tatürk 1922/23 arbeiten konservativ-islamische Vereinigungen an der Rückgewinnung ihrer alten Machtposition.

von Oliver Schulten »Europa wird islamisch, so Allah will« oder »Wir haben unsere derzeitigen Grenzen nicht freiwillig akzeptiert«: Die Sammlung von als islamistisch oder nationalistisch interpretierbarer Statements des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ist umfangreich. Umfassend ist auch der Wandel der Türkei von der säkularen Republik zum autoritären Präsidialsystem unter der Vorherrschaft Erdoğans und der Regierungspartei AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei). Ein kulturpolitisches Moment dieser Rückwärtsbewegung ist der Neo-Osmanismus, das heißt die wachsende Rückbesinnung auf das Osmanische Reich. Bis zu dessen Niedergang in den frühen 1920er-Jahren erstreckte es sich zeitweise vom Balkan bis nach Arabien und über weite Teile Nordafrikas. Die Herrschaft lag in den Händen des osmanischen Hofes sowie der militärischen und geistlichen Eliten nach der Maßgabe der Scharia hanafitischer Rechtsschule – welche im sunnitischen Islam vorherrscht und gerade im ehemaligen Osmanischen Reich bestimmend war. tt

Aufstieg und Fall weltlich-religiöser Macht Ein bedeutendes Beispiel für diese Vereinigungen ist die Naqshbandiyya. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Sufi-Orden, wobei die bessere Bezeichnung Tariqa (»Pfad«) ist. Man darf sich diese Tariqa jedoch nicht als »tanzende Derwische« oder als toleranten Islam vorstellen, wie es das vorherrschende Bild des Sufismus im Westen suggerieren könnte. Die Naqshbandiyya ähnelt eher der prominenteren, missionarisch netzwerkenden Gülen-Bewegung (siehe iz3w 342). In der vom sunnitischen Islam dominierten Türkei existieren neben der Naqshbandiyya auch die sufistischen Tariqa der Tijaniyya, Quadiriyya, Bektaschi und Mevleviyya. Weltweit hat die Naqshbandiyya etwa 50 Millionen AnhängerInnen und ist mit etwa sechs Millionen AnhängerInnen die größte Tariqa in der Türkei. Neben ihren spirituellen Aktivitäten übt sie auch politischen Einfluss aus. So ist sie etwa auf die Erziehung kommender Eliten spezialisiert. Der junge Erdoğan stand längere Zeit unter dem Einfluss des Naqshbandiyya-Cheikhs Mehmed Zahid Kotku. t tt

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Das Naqshbandiyya-Mausoleum bei Buchara in Usbekistan

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Foto: Man77


Neo-Osmanismus Seit ihrer Gründung wird in der modernen Türkei um das Verhältnis von Politik und Religion gekämpft. Das Sultanat, das Kalifat, aber auch die Scharia-Gerichte wurden bis 1924 abgeschafft und die Religionsgemeinschaften verloren signifikant an Macht. Die Religionsangelegenheiten gingen an die türkische Regierung über und Religion wurde in der Verfassung als eine private Einstellung definiert. Seit den Anfängen der Republik gibt es aber auch Bestrebungen, diesen Umstand wieder umzukehren. Gerade die Bruderschaft der Naqshbandiyya arbeitet seit Jahrzehnten an der Rückkehr des Islam in Politik und Wirtschaft. Mit dem Wahlsieg der AKP wurde dies zur Regierungspolitik. Diese Kehrtwende hat allerdings eine lange Vorgeschichte. Die Naqshbandiyya entstand im 14. Jahrhundert im usbekischen Buchara. Die Tariqa steht auf der Seite des orthodoxen, sunnitischen Islam. Sie verteidigt vehement die Scharia und lehnt ebenso vehement die Lehren der Schiismus ab. Dabei wird dem Mystizismus ein zweitrangiger Platz innerhalb des Glaubenssystems zugewiesen, was für Tariqas ungewöhnlich ist. Von Beginn an verzichtete die Naqshbandiyya auf Musik, Tanz und Gesang und befolgte schweigende Zeremonien. Die Schüler (Talibé) finden in Stille zur Ekstase und zum Göttlichen. Es wurde vor allem auf die enge Beziehung zwischen Lehrer (Cheikh) und Schüler Wert gelegt. Der Mensch soll hart arbeiten und Wohlstand anstreben, lautete das Leitbild. Das Ziel ist keineswegs ein verschwenderisches Leben, sondern die Förderung von Erziehung und Gesundheit. Die Naqshbandiyya erschloss Ländereien, baute die osmanische Verwaltung aus und gründete Schulen. Dabei gewannen die Tariqas an Einfluss und Reichtum. Dem setzte die säkulare Politik Mustafa Kemals jedoch ein Ende. Die Tariqas suchten demgegenüber neue Wege der Einflussnahme. Im Februar 1925 gab es einen kurdischen Aufstand unter der Führung des Naqshbandiyya-Cheikh Said. Aus heutiger Sicht ist diese Koalition aktueller Erzfeinde bizarr. Die damalige Erhebung sollte Kemals laizistische Ordnung beenden und die kulturelle Autonomie der einzelnen Regionen, wie Kurdistan, wieder herstellen. Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands wurden Said und 47 weitere Cheikhs der Naqshbandiyya öffentlich hinge-

richtet. Zeremonielle Stätten, Heiligengräber und Schulen der Tariqa wurden geschlossen, enteignet, geplündert, zerstört oder umfunktioniert. Neben Cheikh Said arbeitete vor allem Said Nursi (1876-1960) an der Wiederkehr der Naqshbandiyya. Er eröffnete eine eigene Schule im ostanatolischen Van, in der die religiöse Lehre mit Mathematik und anderen Wissenschaften kombiniert wurde.

Einflussreiche Schüler der Naqshbandiyya Mehmed Zahid Kotku (1897-1980) übernahm 1952 die IskenderPascha-Gemeinschaft der Naqshbandiyya in Istanbul. Kotku gewann später einflussreiche Persönlichkeiten wie Arif Emre, Necmettin Erbakan, Turgut Özal, Abdullah Gül und Recep Tayyip Erdoğan als Schüler der Naqshbandiyya. Diese spielten bald eine tragende Rolle für die konservativ-islamische Elite der Türkei. Cheikh Kotku propagierte einen politischen Islam, der den Kemalismus scharf kritisiert. Die Tariqa expandierte in Wirtschaft und Bildung. Neben Reisebüros entstanden Stiftungen, Institute, Erziehungszentren, Colleges, Privatschulen, Verlagshäuser sowie eigene Firmen und Holdings. Zum Ende des 20. Jahrhunderts hatte sich aus der Tariqa ein wirtschaftliches und wissenschaftliches Netzwerk entwickelt. Die Kotku-Schüler Necmettin Erbakan und Turgut Özal trugen als Ministerpräsidenten den Einfluss der Bruderschaft bis in die höchsten politischen Ämter. Erbakan gründete 1969 die interna­ tional aktive türkisch-islamistische Millî Görüş-Bewegung (Nationale Sicht«). 1973 trat Erbakan mit der Nationalen Heilspartei (MSP) zu Wahlen an und die Iskender-Gemeinschaft sammelte Wählerstimmen. Zwischen 1973 und 1979 war die MSP Koalitionspartner verschiedenster Regierungen. Erstmals kam damit eine Partei mit deutlich islamistischen Zügen in die Regierungsverantwortung. 1975 bildeten die konservative Gerechtigkeitspartei unter Demirel, die faschistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) von Arpaslan Türkes und der MSP mit Erbakan eine Regierung. Die Forderung nach einem islamischen Staat führte schließlich zum Verbot der MSP. Beim Militärputsch 1980 wurden nicht nur Linke, sondern auch Erbakan und Türkes verhaftet. Einige Jahre tt

Die Afrikapolitik der Türkei Seit Mitte des 16. Jahrhunderts hatte sich die Kontrolle der Osmanen über die Küsten Eritreas, des Sudan, Somalias und Kenias ausgedehnt. Hier traten sie als Sklavenhändler und Kolonialherren auf. Offiziell verloren die Osmanen die afrikanischen Provinzen erst mit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Somit verbindet die Türkei mit einigen Ländern Afrikas eine 400-jährige Geschichte. In der West-Türkei leben heute noch etwa 30.000 Afro-TürkInnen, Nachkommen ehemaliger SklavInnen. Sie sind gesellschaftlich wie ökonomisch marginalisiert und ständigen Diskriminierungen ausgesetzt. Erst 2006 konnten sie sich im Verein der Afro-Türken (Afrikalılar Kültür ve Dayanışma Derneği) organisieren. Seit den 1990er-Jahren wurden 41 neue Auslandsvertretungen in afrikanischen Ländern eröffnet und die Türkei hat einen Beobachterstatus bei der Afrikanischen Union (AU). Sie nimmt an UNEinsätzen in Somalia und dem Sudan teil. In Mogadischu unterhält das türkische Militär ein Trainingslager für die somalische Armee. Auch in wirtschaftlichen Bereichen ist die Türkei verstärkt aktiv. Das Handelsvolumen mit afrikanischen Ländern wächst stark, 2017 tt

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betrug es 14 Milliarden US-Dollar. Im Sudan wurde der Hafen von Suakin gepachtet. Zudem wurden türkische Privatschulen in afrikanischen Ländern eröffnet sowie die Ausbildung von afrikanischen Imamen angeboten. Von Suakin aus soll erneut die Kontrolle über die Pilgerreise der Muslime (Hajj) aus Afrika nach Saudi-Arabien übernommen werden. Bis zur Abschaffung des Kalifats in der Türkei 1924 hatten die osmanischen Herrscher diese Kontrolle 600 Jahre lang inne gehabt. In Suakin soll nicht nur der Hafen ausgebaut, sondern auch die osmanischen Paläste für 650 Millionen US-Dollar restauriert werden. Ägypten protestierte gegen den steigenden Einfluss der Türkei am Roten Meer als Sicherheitsbedrohung. Vielleicht dachte man dabei an einen Ausspruch Erdoğans nach dem AKP-Wahlsieg 2011: »Glauben Sie mir, Sarajevo gewann heute genauso wie Istanbul, Beirut gewann genauso wie Izmir, Damaskus gewann genauso wie Ankara, Ramallah, Nablus, Gaza, die Westbank und Jerusalem gewannen genauso wie Diyarbakir.« In diesem Satz zählt Erdoğan die Hauptstädte und Regionen des alten Osmanischen Reiches auf. os

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Foto: R4BIA

später gründete Erbakan die Wohlfahrtspartei RP (Refah Partisi), Verbot trat er in die Tugendpartei ein. Ab 2002 war Gül Ministerdie 1995 die Mehrheit der Stimmen erlangte und Erbakan 1996 präsident und danach Außenminister. Während dieser Tätigkeit forderte er die diplomatischen Vertretungen auf, die Millî Görüşfür ein Jahr zum Ministerpräsidenten machte. Er kündigte an, die Bindungen zu Europa zu lockern und eine Wirtschaftsgemeinschaft Bewegung im Ausland zu unterstützen. 2007 wurde Gül gegen mit arabischen Staaten anzustreben. Dann zwang das Militär Erden Widerstand des Militärs zum elften Präsident der Republik bakan wegen »islamistischer Aktivitäten« zum Rücktritt. 1998 gewählt. 2014 wurde er von Erdoğan abgelöst. wurden die Wohlfahrtspartei und 1999 die ähnlich positionierte Tugendpartei FP (Fazilet Partisi) vom Verfassungsgericht verboten. Um Gottes Willen an die Macht Aus der Tugendpartei entwickelte sich die AKP. tt Erdoğan besuchte eine Imam-Hatip-Schule. Dabei soll er durch Erbakan gilt heute als Begründer der modernen, nationalistisch besondere Religiosität aufgefallen sein und pflegte enge Kontakte ausgeprägten islamistischen Bewegung in der Türkei. Nach seiner Auffassung beutete der Westen die muslimische Welt, vor allem die zu Zahid Kotku. Erdoğan folgt dessen Lehren bis heute. Bis 1981 Türkei, seit Jahrzehnten aus. Dahinstudierte er Wirtschaftswissenschafter stecke eine weltweit operierende ten und engagierte sich in der Millî »zionistische Verschwörung«. DageGörüş-Bewegung Erbakans. Mit 22 gen sollte die Türkei eine Union aller Jahren wurde er Vorsitzender der islamischen Staaten der Welt grünJugendorganisation der MSP und den. Zur Beerdigung von Erbakan stieg schließlich zum Vorsitzenden im Jahr 2011 kamen sowohl Vertreder Wohlfahrtspartei auf. Das Beter der ägyptischen Muslim-Bruderzugssystem von Erdoğan war immer schaft als auch der palästinensischen der Islam. 1998 rezitierte er aus eiHamas. Auch bei späteren AKPnem Gedicht: »Die Demokratie ist Treffen waren diese beiden radikalein Mittel, (…) eine Straßenbahn, islamistischen Gruppierungen Ehvon der wir abspringen, wenn wir rengäste. am Ziel sind«. Daraufhin wurde Einen vergleichbaren Einfluss auf Erdoğan wegen »islamistischer Aktidas religiös-nationalistische Selbstvitäten« zu zehn Monaten Gefängnis Erdoğan zeigt mit dem R4bia-Zeichen seine Nähe zu den verständnis der Türkei hatte Erbaverurteilt. ägyptischen Muslimbrüdern kans Naqshbandiyya-Mitschüler Erdoğan und Gül gründeten 2001 Turgut Özal. Er war 1977 Abgeorddie AKP und 2002 gewann diese neter der MSP und erzielte 1983 mit seiner Mutterlandspartei Partei die politische Macht. Damit erhielten die Naqshbandiyya (ANAP) über 45 Prozent der Stimmen. Von 1983 bis 1989 war er und der politische Islam Zugriff auf die höchsten Kreise der türkiMinisterpräsident und zwischen 1989 und 1992 Präsident der schen Politik. Da die AKP ganz offensichtlich das kemalistische Erbe Türkischen Republik. Özal selbst trat öffentlich für eine »Großrückgängig machen wollte, entging sie 2008 nur knapp einem Türkei« ein. Während seiner Amtszeit hob Özal das Verbot der Verbot. Propagierung der Scharia auf und verschaffte so den BruderschafDie Naqshbandiyya gehört zum Fundament jener restaurativen ten mehr Spielraum. Kräfte in der Türkei, die den ohnehin sehr hindernisreichen Weg des Landes zu einer fortschrittlichen republikanischen Ordnung Nun konnten sie aus dem »privaten Bereich« heraustreten und erfolgreich umkehrten. Die Renaissance der Naqshbandiyya und verstärkt Stiftungen und Vereine gründen. Ebenso wurde die religiöse Erziehung der Gesellschaft wieder des politischen Islams insgesamt setzte offen praktiziert. Der Imam Fethullah Güum 1950 ausgerechnet mit der Einfühlen erlangte zu dieser Zeit mit seiner islarung des Mehrparteiensystems ein. Der Orden nimmt nicht nur im mischen Reformbewegung eine breite Der Orden betreibt jedoch nicht nur Inneren der Türkei massiv Einfluss Öffentlichkeit und sein Netzwerk von im Inneren der Türkei eine massive Bildungszentren erstreckte sich über zahlEinflussnahme, sondern ist auch interreiche Staaten. Vor allem Özal setzte sich national vernetzt, bis hin zur Verbindung mit bewaffneten Milizen im Kaukasus, Afghanistan, Syrien für die Gülen-Bewegung ein. 1993 besuchte Özal das Mausoleum des Naqshbandi in Buchara und spendete 45.000 US-Dollar für und dem Irak. Diese Tariqa, die auf internationaler Ebene kaum dessen Wiederaufbau. jemand kennt, ist mit ihren weltweit 50 Millionen AnhängerInnen eine der größten der Welt. Naqshbandiyya ist gewiss nicht die Özal prophezeite, dass wenn die Türken keine Fehler machen würden, das 21. Jahrhundert ein türkisches Jahrhundert sein würde. alleinige »Schaltzentrale« der türkischen Restauration, aber ein Dieses Zitat wirkt wie ein Kommentar zur aktuellen Außenpolitik relevantes Fallbeispiel für die religiös-konservativen Netzwerke, die der Türkei. Die alten osmanischen Provinzen im Nahen Osten, dem seit Jahrzehnten an diesem Umschwung arbeiten. Auch aufgrund Balkan und in Afrika rücken wieder in den Fokus der Politik Erdoğans ihres Wirkens ist der politische Islam zur stärksten politischen Kraft – sogar militärisch (siehe das Interview zum türkischen Militärüberin der Türkei geworden und führt die Republik in die Diktatur. fall auf Afrin, Seite 12). Mitte der 1990er-Jahre trat eine neue Generation von Naqshbandiyya-Schülern auf den Plan. Hierzu zählen zuvorderst Abdullah tt Oliver Schulten ist Experte für afrikanische Geschichte. Zwei Gül und Recep Tayyip Erdoğan. Abdullah Gül kam 1991 als AbgeLiteraturlisten über »Afrika und die Türkei« und über »Naqshbanordneter der Wohlfahrtspartei ins türkische Parlament. Nach deren diyya« finden sich auf der iz3w-Webseite unter Ausgabe 372. iz3w • Mai / Juni 2019 q 372

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Edit o r ia l

Klimawandel An kaum einem anderen technischen Gerät lassen sich die Verrücktheiten des Klimawandels und seiner Bekämpfung so gut aufzeigen wie an Klimaanlagen. Für viele Menschen sind sie unverzichtbar geworden, um mit dem Temperaturanstieg fertig zu werden. Dies gilt gerade für Länder des Südens, wo alle der dreißig Metropolen mit den weltweit höchsten Durchschnittstemperaturen liegen. In den urbanen Hitzeblasen ist das Leben ohne Kühlung die Hölle, Lebensmittel verderben rasant und Krankheiten breiten sich aus. Wer sich keine Air Condition leisten kann, wie fast alle ärmeren Menschen, ist der Hitze in aller Härte ausgesetzt. Zugleich tragen Klimaanlagen in erheblichem Ausmaß zum Klimawandel bei. Sie sind Stromfresser, und solange Elektrizität nicht klimaneutral produziert wird, verursachen sie klimarelevante Emissionen. Laut einem Forscherteam der Universität Birmingham soll sich bis zum Jahr 2050 die Zahl der Kühlsysteme weltweit auf über 14 Milliarden vervier­ fachen – mit verheerenden Folgen für die Reduzierung von Klimagasen, aber zur Freude der Elektrokonzerne. In Südostasien werden bereits in zwanzig Jahren 40 Prozent des Stroms für Klimaanlagen gebraucht, so die Prognose.

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as Beispiel der Klimaanlagen veranschaulicht: Die negativen Folgen des Klimawandels treffen nicht alle Menschen gleichermaßen hart. Wohlhabende verfügen über genügend Mittel für wirksame Bewältigungsstrategien, sie können ihren Wohnort verlegen oder sich anderweitig schützen. Reiche Länder sind in der Lage, Schutzmaßnahmen wie etwa Dammbau zu ergreifen oder die Auswirkungen unvermeidlicher Katastrophen effektiv zu lindern. Ein Hurrikan in Florida zeitigt bei vergleichbarer Zerstörungskraft weit weniger drastische Langzeitfolgen als ein Zyklon in Mosambik. Durch den Klimawandel verstärken sich die seit der Kolonialzeit ohnehin schon bestehenden eklatanten Ungerechtigkeiten im Nord-Süd-Verhältnis noch einmal enorm. Um es aufs Wesentliche herunterzubrechen: Klimarelevante Emissionen wurden und werden vor allem von Reichen verursacht – nicht nur, aber vor allem in Ländern des Nordens. Die negativen Folgen des Klimawandels treffen hingegen arme Menschen mit besonderer Unerbittlichkeit – vor allem, aber nicht nur in Ländern des Südens. Daher nehmen wir in diesem Themenschwerpunkt eine transnationale, antikoloniale Perspektive auf Klimawandel und Klimapolitik ein, bei der Fragen nach sozialer Gerechtigkeit im Vorder-

grund stehen. Diese kommen in den hegemonialen Debatten ums Klima viel zu kurz. Ebenfalls unterbelichtet in diesen Debatten sind herrschafts- und kapitalismuskritische Ansätze. Das ist erstaunlich, denn die Verursachung des Klimawandels durch die Ausbeutung fossiler Rohstoffe, durch ressourcenintensive Landwirtschaft und durch Umweltzerstörung ist eng verwoben mit der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie. Und auch bei der gängigen Klimapolitik dominieren die Kapitalinteressen einer »Green Economy«, die Fixierung auf High-Tech-Lösungsansätze sowie neokoloniale Instrumente wie zum Beispiel Emissionsschutzzertifikate. Demgegenüber pochen wir auf eine radikal sozial-ökologische Perspektive, in der die globale soziale Frage nicht gegenüber Umweltgesichtspunkten untergeordnet wird. Diese Sichtweise ist nicht neu, doch muss sie immer wieder neu in die Debatten über Klimawandel eingebracht werden.

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ebildert ist dieser Themenschwerpunkt mit Fotos von den Schulstreiks gegen die unzureichende Klimapolitik. Die weltweite Fridays for Future-Bewegung ist historisch einzigartig: Noch nie haben in über 120 Ländern so viele und so junge Menschen zeitgleich demonstriert – weitgehend spontan und dabei ebenso radikal wie kreativ und witzig. Anders als viele Erwachsene – und erst Recht die »Profis« in der Politik – haben sie die einhelligen Warnungen der KlimaforscherInnen verstanden und ernst genommen. Die SchülerInnen lassen sich nicht mehr einlullen von Sonntagsreden und Versprechungen, die niemals auch nur annähernd erfüllt werden. Sie wenden sich gegen die Individualisierung von Klimawandelbekämpfung durch ‚grünen‘ Konsum, und sie haben ganz konkrete Forderungen wie den Ausstieg aus der Kohle. Sie sind misstrauisch gegenüber dem aktuellen Medienhype und dem Lob durch PolitikerInnen, die schon tags darauf wieder vor der Autoindustrie kuschen. Und sie spotten über hirnlose KlimawandelleugnerInnen ebenso wie über altgewordene Zyniker­Innen, die meinen, eine junge Generation patholo­ gisieren zu müssen, nur weil ihr ihre Zukunft nicht egal ist. Die Fridays for Future haben binnen weniger Monate einen Klimawandel in der Öffentlichkeit herbeigeführt, der bei der Planung dieses Schwerpunktes nicht absehbar war. Überraschungen dieser Art lieben wir. die redaktion

Wir danken den ElektrizitätsWerken Schönau für die Förderung des Themenschwerpunktes

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Foto: Greg Martin

Klimawandel

Großbritannien

Das Lager der Bremser Auf welche Weise verhindert die Industrie wirksame Klimapolitik? In den USA wie in Deutschland arbeiten mächtige Industrieverbände und interessierte Superreiche daran, die Klimapolitik massiv zu beeinflussen. Weitgehend bekannt ist, dass sie sich dazu unseriöser Institute bedienen. Doch welche weiteren Mittel wenden Verbände und ihnen nahe stehende PolitikerInnen an, um ihre Interessen durchzusetzen?

wie American Enterprise Institute, Heartland Institute oder Competitive Enterprise Institute verbergen sich Lobbyorganisationen, die mit Desinformationskampagnen insbesondere in den USA das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Klimawissenschaften zu untergraben versuchen.

Desinformation mit System von Wolfgang Pomrehn Seit Ende der 1980er Jahre wird auf internationaler Ebene über Klimaschutz verhandelt. Genauso alt wie die Verhandlungen selbst sind die Bemühungen verschiedener Industrielobbys, Klimaschutzmaßnahmen zu verzögern und die Abkommen zu verhindern oder zumindest zu verwässern. Im Rahmen der Gespräche über die 1992 unterschriebene UN-Klimaschutzrahmenkonvention drängte zum Beispiel die Global Climate Coalition Saudi Arabien und andere Ölförderländer dazu, dem vergleichsweise unverbindlichen Vertrag beizutreten, um den weiteren Verhandlungsprozess beeinflussen zu können. Bei der Global Climate Coalition handelte es sich um eine Organisation, in der die großen Unternehmen der US-Automobilindustrie, des Ölgeschäfts und der Kohle, aber auch europäische Konzerne wie BP und Shell vertreten waren. In den USA hatte die Arbeit der Global Climate Coalition maßgeblichen Anteil daran, dass es dort nie zu einer Ratifizierung des 1997 ausgehandelten Kyoto-Protokolls kam, des ersten Abkommens mit verbindlichen Klimaschutzzielen. Doch im Laufe der Zeit überwog offensichtlich der Imageschaden, den eine allzu offensichtliche Opposition gegen Klimaschutzmaßnahmen mit sich brachte, den politischen Mehrwert. 2001 wurde die Coalition aufgelöst, nachdem BP bereits 1996 und Shell 1998 ausgetreten waren. Das Scheitern der Coalition heißt jedoch nicht, dass die Wühlarbeit in den letzten beiden Jahrzehnten weniger geworden wäre. Sie hat sich lediglich in ein weitgespanntes Netzwerk aus Institu­ tionen und selbsternannten Instituten verlagert, das sich bemüht, die Finanziers im Hintergrund zu halten. Hinter schillernden Namen tt

Finanziert werden sie unter anderem von den Brüdern Charles und David Koch, Multimilliardäre, die für ihre Unterstützung der rechten Tea-Party-Bewegung bekannt sind und unter anderem erhebliche Beteiligungen am besonders klimaschädlichen Teersandgeschäft in Kanada haben. Die Kochs sind aber bei weitem nicht die einzigen Geldgeber. 2014 veröffentlichte der US-Umweltsoziologe Robert J. Brulle eine Studie1, wonach im Untersuchungszeitraum 2003 bis 2010 an 91 Lobbyorganisationen, die auf Desinformation in Sachen Klimapolitik und -wissenschaften spezialisiert sind, über 900 Millionen US-Dollar aus einem Netzwerk von 140 US-amerikanischen Stiftungen floss. Allgemein gebe es die Tendenz, dass die Unterstützung nicht mehr direkt aus der interessierten Industrie, sondern von schwerreichen Privatpersonen wie den Koch-Brüdern mit entsprechenden geschäftlichen Interessen fließe, so Brulle. In Europa ist diese Lobby-Szene beispielsweise durch die Global Warming Policy Foundation in Großbritannien und das EIKE (Europäisches Institut für Klima und Energie) in Deutschland vertreten. EIKE arbeitet eng mit dem unter anderem von den Koch-Brüdern unterstützten US-amerikanischen Heartland Institut zusammen, das zudem von 1997 bis 2006 vom Ölkonzern ExxonMobil 675.000 US-Dollar bezog.2 Spezialität des Heartland Institutes sind Schmutzkampagnen, in denen UmweltschützerInnen und Wissenschaftler­ Innen mit TerroristInnen verglichen werden. Die genannten Organisationen bezeichnen sich zwar gerne als Institute, sind aber weder an Universitäten angegliedert noch betreiben sie Forschungsarbeit, jedenfalls nicht auf dem Gebiet der Klimawissenschaften. Ihre SprecherInnen und die von ihnen präsentierten »ExpertInnen« haben zwar allerlei akademische Grade, die tt

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Foto: Sarah Hassan Belgien

aber vor allem dazu dienen, das Publikum zu blenden, wie es Naomi Oreskes und Eric M. Convey 2010 in ihrem Buch »The Merchants of Doubt« beschreiben. Wissenschaftliche Kompetenz und entsprechende Publikationen in einem der für die Klimawissenschaften maßgeblichen Felder sucht man bei ihnen meist vergebens. Wie Oreskes und Convey berichten, wurden die Klima-Desinformationskampagnen in den USA mit den gleichen Methoden und zum Teil sogar mit dem gleichen Personal durchgeführt wie zuvor Kampagnen der Tabakindustrie oder der Reagan-Adminis­ tration zwecks Durchsetzung des SDI-Programms zur »Raketen­ abwehr«. Zwei der maßgeblichen Köpfe, Frederick Seitz und S. Fred Singer, waren hochrangige Mitarbeiter der Regierung unter US-Präsident Ronald Reagan und eifrige Verteidiger seiner Politik der Aufrüstung gegen die Sowjetunion, die die Welt in den 1980er Jahren an den Rand eines Atomkrieges brachte.

Leere Versprechen von Kanzler Kohl Im Gegensatz zu den USA haben sich in Deutschland die großen Konzerne und die Spitzenverbände der Industrie lange mit Obs­ truktion zurückgehalten und gar gute Miene zum aus ihrer Sicht bösen Spiel gemacht. Die Richtung hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl bereits 1990 vorgegeben. Er hatte das Thema Klimaschutz sofort besetzt und versprach vollmundig eine weitreichende Reduktion der Treibhausgase. Um 25 Prozent wolle man bis 2005 die Emissionen, gemessen am Niveau von 1987, senken, beschloss im Sommer 1990 das westdeutsche Kabinett. Daraus wurde nichts. 2005 standen die Emissionen bei 872 Millionen Tonnen CO2 , was gegenüber 1987 nur einem Minus von 17,7 Prozent entsprach, und das, obwohl zwischenzeitlich die Zahlen auf die neue Bundesrepublik bezogen wurden und man sich also stillschweigend die Deindustrialisierung des Ostens als Klimaschutz auf die Fahnen schrieb. Zu Kohls Klimapolitik gehörte ein wirtschaftsliberaler Ansatz, der die Industrie aufforderte, Eigeninitiative zu ergreifen, um so gesetzliche Regelungen zu vermeiden. Die Unternehmen verstanden den Wink mit dem Zaunpfahl nur zu gut. 1995, als Wirtschafts- und Verkehrsminister gerade den zu ehrgeizigen Bundesumweltminister Klaus Töpfer ausgebremst hatten, der daraufhin durch die wenig ambitionierte Angela Merkel ersetzt wurde, verkündete der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) eine Selbstverpflichtungserklärung. Im Gegenzug verzichtete die Regierung auf eine tt

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seit langem vorbereitete Wärmenutzungsverordnung, mit der Heizungen und Abwärme effektiver genutzt werden sollte. Auch auf die Einführung einer damals schon seit über zehn Jahren diskutierten CO2-Steuer wurde verzichtet. Was der BDI als Gegenleistung dafür versprach, war ein schlechter Witz: Man werde »auf freiwilliger Basis (…) besondere Anstrengungen unternehmen, (die) spezifischen CO2-Emissionen bzw. den spezifischen Energieverbrauch bis zum Jahre 2005 (Basis 1987) um bis zu 20 Prozent zu verringern«. Nicht die absoluten Emissionen sollten also gesenkt werden, sondern nur die Emissionen pro Wirtschaftsleistung. Da aber Wirtschaftswachstum damals wie heute neben dem »freien Markt« der große Fetisch der herrschenden ökonomischen Lehre war und ist, war klar, dass der Mehrwert für das Klima allenfalls sehr begrenzt sein würde. Zudem versprach die Industrie im Grunde genommen keine »besonderen Anstrengungen«, sondern bestenfalls ein »weiter so wie bisher.« Die Energieeffizienz wird nämlich im ganz normalen industriellen Erneuerungsprozess stetig erhöht. Zwischen 1970 und 1987 hatte die westdeutsche Industrie zum Beispiel allein durch die üblichen Modernisierungsmaßnahmen und das Schrumpfen besonders energieintensiver Branchen den spezifischen Energieverbrauch um 40 Prozent gesenkt. Zudem war das Bezugsjahr geschickt gewählt, denn es war mit 1987 das Jahr, in dem die gesamtdeutschen Emissionen ihren historischen Höchststand erreicht hatten. 1995 war längst klar, dass allein durch die punktuelle ­Modernisierung und massive Deindustrialisierung Ostdeutschlands die Emissionen erheblich zurückgingen. Entsprechend konnte die Industrie diese Selbstverpflichtung ohne irgendeine Anstrengung einhalten. Der Bevölkerung war Aktivität vorgetäuscht und viel wertvolle Zeit war vertan worden.

Heute schlechter als 1990 Noch dreister war die Automobilindustrie. Auch ihr gelang es, mittels einer Selbstverpflichtung gesetzliche Regelungen hinauszuzögern, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch auf EU-Ebene, auf der sich die verschiedenen Bundesregierungen mit dem Verweis auf die Selbstverpflichtung lange gegen gesetzlich fixierte Vorschriften sperrten. Dafür hatten die Automobilhersteller 1995 versprochen, den »durchschnittlichen Kraftstoffverbrauch der in Deutschland produzierten und verkauften Fahrzeuge bis 2005 um 25 Prozent« zu reduzieren. Tatsächlich nahm der durchschnitttt

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Klimawandel liche Verbrauch pro 100 Kilometer nach Angaben des Umweltbunanderem mit Verweis auf ihre schwere wirtschaftliche Lage. Nach desamtes (UBA) von 1995 bis 2005 von 8,8 auf nur 7,8 Liter dem RWE und E.on noch zu Beginn des Jahrzehnts Traumprofite Kraftstoff ab. Das entspricht einem Minus von 11,4 statt der vereinfuhren, können sie seit einigen Jahren kaum noch Dividenden sprochenen 25 Prozent. Weitere elf Jahre später waren es 7,2 Liter ausschütten. Ihre Probleme sind allerdings nicht nur Ergebnis des auf 100 Kilometer, also ein Minus von 18 Prozent. Das Versprechen von ihnen größtenteils verschlafenen Wandels in der Stromversorgung ist also immer noch nicht eingelöst, ohne dass jemand auf die Idee (2018 hatten die Erneuerbaren Energieträger bereits einen Anteil von gut 40 Prozent an der Stromerzeugung). Sie sind auch Resultat käme, die Autoindustrie dafür zur Rechenschaft zu ziehen. einer kurzsichtigen Shoppingtour, die die beiden Konzerne im verOhnehin handelt es sich nur um ein hohles Versprechen, denn zugleich werden immer mehr Neuwagen abgesetzt, und insbesongangenen Jahrzehnt nach der Liberalisierung des EU-Strommarktes dere die schweren, viel Kraftstoff verbrauchenden SUV (Geländein einigen Nachbarländern unternahmen und die ihnen schließlich wagen für die Stadt) verkaufen sich gut. Auch hier war der Trick: hohe Milliardenverluste mit alten Kohlekraftwerken bescherte. Viertens wären da die Interessenverbände der deutschen IndusDas Versprechen bezog sich nicht auf die absoluten, sondern nur trie, insbesondere der BDI, der Deutsche Industrie- und Handelsdie spezifischen Emissionen. So wundert es kaum, dass nach Angaben des Umweltbundesamtes 2016 hierzulande rund vier Prozent kammertag (DIHK) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Alle drei waren in der Kohlekommismehr Kraftstoff verbraucht wurden als 1995. Entsprechend übersteigen die Emissionen aus dem Straßenverkehr inzwischen wieder sion vertreten, um einen »überhasteten Ausstieg aus der Kohleverstromung« auszuschließen, wie es BDA-Hauptgeschäftsführer Stefdas Niveau von 1990, nachdem sie zwischenzeitlich etwas zurückgegangen waren. fen Kampeter formulierte. Und um mehr Geld rauszuschlagen: »Eine Auch sonst sieht es mit den deutschen Kompensation der zu erwartenden StromTreibhausgasemissionen nicht gut aus. Seit kostensteigerungen ist für uns Voraussetzung Die Unternehmen täuschen zehn Jahren stagnieren sie, von leichten für die Zustimmung zu einem politischen Schwankungen abgesehen, bei rund 900 Ausstieg aus der Kohleverstromung«, stellten Aktivität bei der Verringerung Millionen Tonnen CO2-Äquivalent jährlich. die drei Verbände klar. von Emissionen nur vor Davon sind rund 800 Millionen Tonnen CO2 Während man bei Bündnis90/Die Grünen und der Rest andere Gase, die entsprechend vom Grünen Kapitalismus träumt und viele ihrer Klimawirksamkeit in CO2 umgerechnet werden. Das ist im Linke den Klimaschutz aus dem gleichen Grunde eher beargwöhnen, Vergleich zu 1990 eine Reduktion um 28 Prozent, aber seit zehn sieht die Realität noch immer recht grau aus. Die neuen Unternehmen der Wind- und Solarenergie spielen im Gesamtkonzert des Jahren herrscht auf hohem Emissionsniveau Stillstand. Der direkte Kapitals bisher bestenfalls die dritte Geige und verfügen über keine Anteil der Industrie an den Emissionen liegt immer noch bei 200 wirksame Lobby. Das bekam die Solarindustrie Anfang der 2010er Millionen Tonnen CO2-Äquivalente jährlich und ist seit 2014 sogar wieder deutlich angestiegen. Jahre zu spüren, als die seinerzeitige schwarz-gelbe Regierung den Hinzu kommen noch die Emissionen aus dem Stromverbrauch Solar-Boom abwürgte und der jungen Industrie das Rückgrat brach. der Industrie, die in den Statistiken gewöhnlich der Energiewirtschaft Aktuell steht die Windindustrie vor einer ähnlichen, wenn auch zugeschlagen werden. 2016 wurden nach UBA-Angaben in Deutschnicht ganz so dramatischen Situation. Die Umstellung der Förderung land netto insgesamt 516 Milliarden Kilowattstunden (516 TWh, auf ein Ausschreibungssystem bei gleichzeitiger Beschränkung der Terawattstunde) elektrische Energie verbraucht. Fast die Hälfte, 226 Ausbaumenge gefährdet nicht nur den Fortschritt der Energiewende, sondern bringt auch die Hersteller in Schwierigkeiten. UnterTWh, benötigte die Industrie, 149 TWh Handel und Gewerbe, 129 TWh private Haushalte und elf TWh der Verkehr. 226 TWh verursachen nehmen sind zwar noch nicht gefährdet, zumal auch relativ viel für beim derzeitigen Kraftwerksmix weitere 151 Millionen Tonnen Emisden Export gearbeitet wird, aber die ersten Werksschließungen und sionen. Damit wäre die Industrie für knapp 40 Prozent der deutschen Massenentlassungen hat es bereits gegeben. Ein weiterer Beleg Treibhausgasemissionen durch Stromerzeugung verantwortlich. dafür, dass das Gerede von den Arbeitsplätzen, die durch Umweltschutz gefährdet würden, nichts weiter als eben das ist: Gerede und billige Propaganda. Die herrschende Politik verteidigt lediglich Wandel verschlafen, Fortschritt verhindern die immer noch tonangebenden alten, überkommenen Konzerntt Grob gesagt lassen sich vier Blöcke innerhalb des Kapitals idenstrukturen und nimmt dafür die Zuspitzung der diversen Krisen, tifizieren, die sich gegen Klimaschutzmaßnahmen stemmen. Erstens nicht zuletzt der Umweltkrise, billigend in Kauf. die Immobilienbranche, die sich seit vielen Jahren gegen strengere Anmerkungen Auflagen zur Gebäudesanierung sträubt. Dabei zeigt sie sich durchaus kreativ, wenn es darum geht, die schließlich doch noch erlas 1 Robert J. Brulle (2014): Institutionalizing Delay: Foundation Funding and the Creation of U.S. Climate Change Counter-Movement Organizations. Climatic senen schwachen Auflagen dazu einzusetzen, Mieten in die Höhe Change, Volume 122, Issue 4, S. 681–694. zu treiben. 2 Laut Union of Concerned Scientists, Global Warming Sceptics Data Bank. Zweitens hat die Automobilwirtschaft ein starkes Interesse daran, https://bit.ly/2YaC7Jg dass das Verkehrssystem auf den Individualverkehr ausgerichtet bleibt und die Autos zudem noch möglichst lange mit Verbrennungsmotoren fahren. Während eine ganze Reihe von Ländern inzwischen Deadlines diskutiert (im Gespräch sind 2025 bis 2040), tt Wolfgang Pomrehn lebt als freier Journalist in Berlin. 2007 ab denen keine Wagen mit Verbrennungsmotoren mehr zugelassen erschien von ihm »Heiße Zeiten – Wie der Klimawandel verhindert werden, ist derlei hierzulande noch immer undenkbar. werden kann«. Er veröffentlichte für PowerShift und die Rosa-­ Drittens agieren die alten, ökonomisch längst angeschlagen EnerLuxemburg-Stiftung verschiedene Broschüren über Rohstoffpolitik giekonzerne und Kraftwerksbetreiber gegen Klimapolitik, unter und den Strompreis. iz3w • Mai / Juni 2019 q 372

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Rezensionen ... Wider die Ideologie der Unterdrückung Bildung für nachhaltige Entwicklung hat Eingang in die meisten Schulgesetze gefunden. Der »Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung« der Kultusministerkonferenz stellt Nachhaltigkeit und Globales Lernen sogar ins Zentrum unterrichtsgestalterischer Überlegungen. Dies könnte auf den ersten Blick als Siegeszug einer Pädagogik für den Globalen Süden gedeutet werden. Einem der »Vordenker des globalen Lernens«, Ernest Jouhy, ist nun ein Sammelband ge­ widmet. Mitherausgeber Bernd Heyl benennt darin die Anforderungen Jouhys an eine Pädagogik für die »Dritte Welt« so: Es sollen kooperative Forschungsansätze sowie transnationale und interkulturelle Ansätze hin zu »einem solidarischen und friedlichen Handeln« gefördert werden. Jouhy analysierte die Gemeinsamkeiten kolonial geprägter Erziehungssysteme und sprach sich für solidarische Hilfe und Bildung aus, die zur Überwindung der »Verinnerlichung der Unterdrückerideologie« beitragen sollte. Jouhy steht für ein optimistisches Bildungsverständnis. Die Überwindung der kapitalistisch geprägten Entwicklung sei nicht möglich, »ohne dass das Bewusstsein der Unterdrückten all die materiellen und ideellen Kompetenzen sich angeeignet, die die wissenschaftlichtechnische Revolution entwickelt hat.« Jouhy sah zwar den Doppelcharakter der Bildung, jedoch überwog für ihn, dass »Massenbildung auf Dauer das explosive Bedürfnis nach Veränderung« erzeuge. Durch Bildung entdecke der Mensch »nicht nur seine Abhängigkeiten, sondern auch seine Möglichkeiten«. Dem Band gelingt es, Jouhys Leben und Denken anschaulich und auf hohem Niveau auszubreiten. Schon durch die Themen wird die Aktualität deutlich: Sebastian Voigt illustriert den Lebensweg Jouhys im 20. Jahrhundert anhand deutsch-französischer Geschichte vor dem Hintergrund des Holocaust bis zum reformpädagogischen Aufbruch der 1960er-Jahre. Jouhys Geschichte tt

jüdischer Herkunft, sozialistischer Weltorientierung und undogmatischer Positionsbestimmung steht beispielhaft für sein Werk und einen Teil der westdeutschen Linken. Edgar Weick stellt Jouhys Verständnis von emanzipatorischer Bildung dar. In weiteren Beiträgen gehen Voigt und Weick den in der Forschung bisher wenig beachteten Erzählungen und Gedichten Jouhys nach. Im zweiten Teil des Buches nehmen Orginalschriften Jouhys die LeserInnen mit auf eine Reise durch sein Denken. Leider findet sich dort kein Primärtext zur Pädagogik der »Dritten Welt«. Es bleibt der Verweis auf Jouhys Essaysammlung »Bleiche Herrschaft – dunkle Kulturen«. Was bedeutet Jouhy uns heute? Nach Jahrzehnten der Alphabetisierungsprogramme, der Bildung städtischer Eliten und des Technologietransfers haben sich die globalen und nationalen Ungleichheiten verfestigt und nicht solidarisch aufgelöst. Auch durch die »Bildung für nachhaltige Entwicklung« stellte sich kein grundlegender Sinneswandel ein. Jouhys Verständnis von einer Pädagogik für die Emanzipation ging weit über die heute praktizierte Bildung für nachhaltige Entwicklung hinaus, auch wenn er den grundsätzlichen Sinn von Entwicklung nicht in Zweifel zog. Gerade angesichts des Scheiterns der Entwicklungspolitik müssten Jouhys Bildungsoptimismus und seine Sicht auf technologische Entwicklung heute kritisch hinterfragt werden. Und was Jouhys Bezug auf Identität und Heimat für eine Pädagogik des globalen Südens bedeuten könnte, insbesondere vor dem Hintergrund zahlreicher Konflikte zwischen lokaler Identität und nach wie vor westlich geprägter Bildungsorganisation, wäre eine weitere Untersuchung wert. Tobias Cepok Bernd Heyl/Sebastian Voigt/Edgar Weick (Hg.): Ernest Jouhy. Zur Aktualität eines leidenschaftlichen Pädagogen. Brandes & Apsel, Frankfurt a.M. 2017. 263 Seiten, 24,90 Euro. t

Deutschlanddepression Im März 2018 wurde das Innenministerium auf Betreiben von Horst Seehofer in ein »Heimatministerium« umgewandelt, es heißt jetzt Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat. Die Journalistinnen Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah nahmen dies zum Anlass, den Band Eure Heimat ist unser Albtraum herauszugeben. In ihm sagen sie mit zwölf weiteren AutorInnen Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Homophobie, denen sie von der weißen Mehrheitsgesellschaft im Alltag ausgesetzt sind, den Kampf an. In Essays mit Überschriften wie »Arbeit«, »Essen«, »Liebe«, »Privilegien«, »Sex«, »Sprache«, »Vertrauen« oder »Zuhause« schildern sie ihre individuellen Erfahrungen mit und ihre Verletzungen durch Diskriminierung. Dieser treten sie als schreibendes Kollektiv »für eine gleichberechtigte Gesellschaft« und mit »Alltagssolidarität« entgegen. tt

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Diese subjektive, wenig theorielastige Herangehensweise der AutorInnen schafft beim Lesen Empathie und macht das Buch zu guter Einstiegsliteratur für Menschen, die bisher kaum mit antirassistischen Texten in Berührung gekommen sind. So werden Begriffe wie White Gaze (weißer Blick), Alterisierung oder Intersektionalität niedrigschwellig erläutert, wie zum Beispiel in Reyhan Şahins (auch bekannt als Lady Bitch Ray) Battletext gegen »Orient-Voyeurismus« und für weibliche sexpositive Sprache. Leider bietet kaum einer der Texte Gesellschaftsanalysen, die über identitätspolitischen Antirassismus hinausgehen. Stattdessen wiederholen viele Texte Bekanntes und vermeiden eine radikale Gesellschaftskritik. Fatma Aydemirs Provokation »Ich will den Deutschen

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ihre Arbeit wegnehmen. Ich will nicht die Jobs, die für mich vorgesehen sind, sondern die, die sie für sich reservieren« kritisiert nicht die vermeintliche Alternativlosigkeit von Kapitalismus, Konkurrenz und Lohnarbeit, unter der marginalisierte Menschen besonders zu leiden haben, sondern ist im Endeffekt ähnlich affirmativ wie der erfolgreiche Schwarze Rapper im Mercedes Benz. Besonders beim Thema Antisemitismus bleiben die Beiträge eindimensional. Israelbezogene Judenfeindschaft, bei der Menschen aus marginalisierten Communitys häufig der weißen Mehrheitsgesellschaft in nichts nachstehen, bleibt unerwähnt. Stattdessen erhält Sasha Marianna Salzmann im Beitrag »Sichtbar« viel Platz, um »Juden in der AfD« zu kritisieren und Jasbir Puars Konzept des »Homonationalismus« zu erläutern. Unsichtbar bleibt dabei, dass Puar Israel regelrecht verteufelt und dortige Freiräume für s­ chwule,

lesbische, bi- und transsexuelle Menschen als bloße Strategie der Ablenkung von der Besatzung interpretiert. Max Czolleks »Gegenwartsbewältigung« ist die Kurzfassung seiner berechtigten Kritik des »Integrationsparadigmas« aus seinem Buch »Desintegriert euch!«. Von dessen Erfolg wollte der UllsteinVerlag wohl ebenfalls ein Stückchen abbekommen. Schließlich hat man auch dort in Zeiten von #MeTwo und #Unteilbar gemerkt, dass es kein Widerspruch ist, neben Heinz Buschkowskys Wut­ bürger-Warm-up »Neukölln ist überall« auch Antirassismus zu verkaufen. Wohl bekomm’s! Patrick Helber Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Ullstein Verlag, München 2019. 208 Seiten, 20 Euro. t

Später waren wir alle klüger In seiner Dissertation Botschafter der Revolution beschreibt Christian Helm die 1977 entstandene westdeutsche Solidaritäts­ bewegung, die den Befreiungskampf gegen die Somoza-Diktatur in Nicaragua und die sandinistische Revolution von 1979 bis 1990 unterstützte. Sichtlich beeindruckt hat ihn die soziale und flächendeckende Breite der damaligen Solidarität von »Schülergruppen in Lörrach bis zu Landkommunen in Schleswig-Holstein«, von linken ChristInnen bis zur Friedensbewegung. Wer sich von 1.890 Fußnoten nicht abschrecken läßt, dem oder der liefert Helm eine flüssig geschriebene Chronologie. Gegenstand der Untersuchung ist vor allem die transnationale Kommunikation, die gegenseitige Beeinflussung der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN und der Solidaritätsbewegung. Die Recherche in nicaraguanischen Archiven erwies sich als schwieriger als in Deutschland. So wird weniger die Kommunikation mit »der« FSLN zum Thema, als vielmehr mit denjenigen ihrer Repräsentanten, die sich am meisten um eine solche Kommunikation bemüht haben und dafür auch am besten gerüstet waren. Dazu zählen insbesondere der Priester, Dichter und Kulturminister E­ rnesto Cardenal sowie der frühere Ausländerreferent des Kölner AStA, Enrique Schmidt Cuadra. Sie beide kommen häufiger vor als alle neun Revolutionskommandanten zusammen. Im Fußnotenberg überwiegen bei weitem deutsche Quellen. Das iz3w darf sich geschmeichelt fühlen, 109 Mal werden Dokumente aus dem iz3w-Archiv zitiert, 31 Mal Beiträge aus der Zeitschrift blätter des iz3w. Nimmt man die Archive des Verbunds Archiv³ hinzu, stellen sie die Mehrheit der schriftlichen Quellen. Es dürfte wenige wissenschaftliche Arbeiten geben, die so konsequent auf unsere Archive zurückgriffen. Hier hat Helm Pionierarbeit geleistet. Das bei uns Gesammelte lässt aber Fragen offen. So zitiert Helm zustimmend einen Brigadisten, »das Verbindende« zwischen FSLN und Solidaritätsbewegung sei »die gemeinsam geteilte Utopie« gewesen. An dieser Formulierung ist nicht nur die Tautologie zu bemängeln, auch der Begriff Utopie, wörtlich »Nicht-Ort«, führt tt

in die Irre. Bei der Nicaraguasolidarität mit ihren vielen Revolutions­ touristInnen, BrigadistInnen und AufbauhelferInnen ging es ge­rade um konkrete Orte, um ein Terrain, auf dem das Ersehnte Realität werden, man es sehen, anfassen, aufbauen und verteidigen kann. Seltsamerweise werden aus den Archiven nur Dokumente aus den 1970ern und 80ern herangezogen, manchmal nur bis 1984. Dementsprechend kommt fast nur die damalige Perspektive der AkteurInnen vor. In einem historischen Roman wäre das legitim, in einer Doktorarbeit ist es ein Mangel, denn später waren wir alle klüger. Präsident Ortega wurde Ende der 1980erJahre einmal gefragt, was seine langfristige Zielvorstellung für Nicaragua sei. Er antwortete: »Ein tropisches Schweden«. Seine Landsleute, die mit Schweden wohl nur den freundlichen Olof Palme und Pipi Langstrumpf verbanden, beschwerten sich nicht, wohl aber die ausländischen Solidaritätsbewegten: Schweden sei ein kapitalistisches Land mit einer viel höheren Selbstmordrate als Nicaragua, mit dem sozialdemokratischen Volksheim sei es längst vorbei usw. usf. ... Auch aus heutiger Sicht, in der alle Machtmittel, die die Revolution erobert hat, zwar noch oder wieder in Händen der FSLN sind, aber das Freiheitsversprechen eine Diktatur und die Comandantes reiche Unternehmer geworden sind, mag sich mancher fragen, ob das gemeinsame Ziel verloren gegangen oder ob es von der Führung der FSLN vielleicht nie geteilt worden ist. Christian Neven-du Mont Christian Helm: Botschafter der Revolution. Das transnationale Kommunikationsnetzwerk zwischen der FSLN und der bundesdeutschen Nicaragua-Solidarität 1977 – 1990. Verlag De Gruyter Oldenbourg 2018. 411 Seiten, 68 Euro. t

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