Jan./Feb. 2020 Ausgabe q 376 Einzelheft 6 6,– Abo 6 36,–
In dies er Aus gabe . . . . . . . . .
Titelbild: Gian Cescon/unsplash Device by Adam Skovran: dribbble.com/Skovran Composing: G. Wick
Dossier:
Smartphones
D· 2 Editorial D· 3
Wasser. Smartphone. Essen.
An mobiler digitaler Kommunikation kommt niemand mehr vorbei von Christian Stock
3 Editorial
D· 6
So smart
Politik und Ökonomie
Die Ambivalenz des Kapitalismus steckt in der Jackentasche von Andrea zur Nieden und Christoph Taubmann
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D· 8
Das Smartphone schlägt zurück
Chile: Ärger im neoliberalen Paradies In Chile weiten sich die Proteste aus von Nikolas Grimm
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Bolivien: Mit der Bibel in den Präsidentenpalast Jeanine Áñez erklärt sich zur Interimspräsidentin von Tobias Lambert
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Haiti: Gangster an der Macht Der Unmut über die Misswirtschaft explodiert von Martina Backes und Kirsten Bredenbeck
11
Kolumbien: »Wir warten nicht auf unsere Ehemänner« Kaffeeanbau und Emanzipation im Cauca von Martin Mäusezahl
Trotz Chinas Aufschwung sind die Arbeitsbedingungen schlecht von Peter Pawlicki
D· 12
Hätte, hätte, Lieferkette
Wie fair ist das Fairphone? von Elena Kolb
D· 14
Zweifelhafte Entwickler
Was bringen Smartphones bei der Armutsbekämpfung? von Sven Hilbig
D· 18
Start-ups in Silicon Savannah
Digitalisierung in der afrikanischen Landwirtschaft von Heike Baumüller
D· 21
Die perfekte Plattform
In China hat die App WeChat ungeheure Macht erlangt von Felix Lee
D· 24
Soziale Bilderwelten
Alltägliche Smartphone-Fotografie in der Côte d’Ivoire von Till Förster
D· 26
Digitalisierte Autonomie
Welche Rolle spielen Smartphones für Geflüchtete? von Sina Arnold
Kultur und Debatte 13
Debatte I: Solidarität der Differenzen Plädoyer für ein Verständnis des Solidarischen, das auf Verschiedenheit beruht von Jens Kastner
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20
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Postkolonialismus II: »Künstlerische Rebellion« Gespräch mit Abdel Amine Mohammed über postkoloniale Perspektiven
Debatte II: Privilegien berücksichtigen!
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Postkolonialismus III: »Gandhi war gewaltfreier Anarchist«
Eine Replik zu Jens Kastners Begriff der Solidarität von Adèle Cailleteau
Interview mit Lou Marin anlässlich des 150. Geburtstages von Gandhi
Debatte III: Wohin des Wegs? Der Beitrag linker Regierungen in Lateinamerika zur Geographie der Gewalt von Katja Maurer
26 Rezensionen
Postkolonialismus I: »Café Togo«
30 Szene / Impressum
Wenn aktivistische und künstlerische Praxis sich im Film begegnen von Musquiqui Chihying und Gregor Kasper
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Editorial
Mord verjährt nicht Am 7. Januar jährt sich der Todestag von Oury Jalloh zum 15. Mal. Der Asylbewerber aus Sierra Leone verbrannte 2005 in einer Polizeizelle in Dessau, während er an Händen und Füßen gefesselt war. Ein neues Gutachten nährt nun einmal mehr die schreckliche Vermutung, dass Oury Jalloh von Polizeibeamten ermordet wurde, um damit Spuren zu vertuschen. Doch der Reihe nach. Die hanebüchene Erzählung der Polizei zu dem Fall geht so: Der stark alkoholisierte Jalloh wurde gefesselt auf eine Matratze in der Zelle gelegt. Später soll er die Matratze selbst mit einem Feuerzeug in Brand gesetzt haben. Der Feueralarm wird von den dienst habenden Beamten ignoriert, die Gegensprechanlage der Zelle leise gedreht. Elf Minuten später wird die Zellentür geöffnet. Oury Jalloh stirbt an einem Hitzeschock, seine Leiche ist stark verkohlt.
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on Anfang an gab es massive Ungereimtheiten im Fall Oury Jalloh (siehe iz3w 343). So wurde beispielsweise nie geklärt, woher das Feuerzeug kam, mit dem Jalloh sich selbst angezündet haben soll. Bei seiner Verhaftung wurde keines gefunden, drei Tage nach seinem Tod tauchte es jedoch in der Asservatenliste auf. Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh hielt daher von Anfang an die Suizidthese für unhaltbar und forderte die Aufklärung des Falls. Für ihre öffentlichen Aktionen unter dem Leitspruch »Oury Jalloh, das war Mord!« wurde sie von den Strafverfolgungs behörden mit Repression überzogen. In einem Prozess musste sich der Dienstgruppenleiter Andreas S. wegen Körperverletzung mit Todesfolge verant worten, ein weiterer Beamter wegen fahrlässiger Tötung. Ende 2008 wurden beide freigesprochen. Was von dem Prozess zu halten ist, fasste der Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff so zusammen: Das Urteil sei »einfach nur ein Ende, das formal sein musste«. Er warf der Dessauer Polizei Schlam perei und Falschaussagen vor, durch die ein rechtsstaatliches Verfahren und die Aufklärung des Falls verhindert wurden. Steinhoff endete mit den Worten: »Ich habe keinen Bock, zu diesem Scheiß noch irgendetwas zu sagen.« Im Revisions verfahren wurde Andreas S. schließlich 2012 wegen fahr lässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 10.800 Euro ver urteilt. Später kam ein von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh in Auftrag gegebenes Brandgutachten zu dem Schluss,
dass der Brand in der Zelle in diesem Ausmaß nur durch den Einsatz von Brandbeschleuniger möglich war. Darauf hin leitete die Staatsanwaltschaft Dessau neue Ermittlungen ein. Im Juni 2017 wurde ihr der Fall von der Generalstaats anwaltschaft entzogen und an die Staatsanwaltschaft Halle übergeben. Diese stellte die Ermittlungen ein – und das, obwohl aus den Akten der Staatsanwaltschaft Dessau her vorgeht, dass Jalloh vermutlich getötet wurde und konkrete Verdächtige in der Dessauer Polizei benannt wurden. Anfang 2019 stellte Oury Jallohs Familie einen Antrag auf Klageerzwingung, der am 23. Oktober abgelehnt wurde. Wenige Tage später sorgte das neue Gutachten für Schlag zeilen. Der Radiologe Boris Bodelle kommt darin zu dem Ergebnis, dass Jalloh einen Schädel- und einen Rippenbruch erlitten hatte und diese Verletzungen vor seinem Feuertod eingetreten sein mussten. Damit wird ein Motiv für den Mord an Jalloh deutlich: die Vertuschung von Polizeigewalt. Bereits vor Jalloh kamen zwei Menschen in oder unmit telbar nach dem Gewahrsam in der Dessauer Wache unter ungeklärten Umständen ums Leben: 1997 wurde HansJürgen Rose wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet, kurz nach seiner Entlassung wurde er schwerverletzt nahe der Wache gefunden und starb im Krankenhaus. 2002 wurde der Obdachlose Mario Bichtemann tot in derselben Zelle gefunden, in der auch Jalloh starb. Todesursache: Schädel basisbruch. Bei den in diesen Fällen diensthabenden Beam ten handelte es sich teils um dieselben wie bei Jalloh.
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eim Fall Oury Jalloh handelt sich um einen der größ ten Polizei- und Justizskandale seit Jahrzehnten in Deutsch land. Weitere Ermittlungen wären theoretisch möglich, sind aber unwahrscheinlich. Ein von der Fraktion der Linkspartei im Landtag von Sachsen-Anhalt geforderter Untersuchungs ausschuss wurde unlängst abgelehnt. Stattdessen hat der Rechtsausschuss des Landtags zwei Einzelpersonen beauf tragt, die Akten im Fall Jalloh zu begutachten. Viel ist davon nicht zu erwarten. Jallohs Angehörige haben deshalb angekündigt, vor das Bundesverfassungsgericht und notfalls vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen. Dabei werden sie weiterhin von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh unterstützt. Auch 15 Jahre nach seinem Tod schließen wir uns ihrer Einschätzung an: Oury Jalloh, das war Mord!
PS: Die Zeiten ändern sich und werden diverser: Ab dieser Ausgabe gendern wir nicht mehr mit Binnen-I, sondern mit *Sternchen. PPS: Kritische Medien wie die iz3w brauchen Spenden und neue Abos, um weiter unabhängig über Fälle wie den von Oury Jalloh berichten zu können. Wir bitten um freundliche Beachtung der beigelegten Karte.
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die redaktion
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Gangster an der Macht In Haiti explodiert der Unmut über die Misswirtschaft In Haiti weitet sich die Versorgungskrise aus. Dabei ist die sozioökonomische Lage ohnehin schon mehr als prekär. Die Regierung hat jeden politischen Kredit in der Bevölkerung verspielt. Umso erstaunlicher ist, dass die Machtverhältnisse den massiven Unruhen widerstehen.
von Martina Backes und Kirsten Bredenbeck Ende November sind es zehn Wochen. So lange schon fordern tausende Protestierende in ganz Haiti den Rücktritt von Präsident Jovenel Moïse. Und so kann Moïse am 18. November, wie schon im Jahr zuvor, einen Pflichttermin nicht wahrnehmen: An diesem Feiertag, dem 216. Jahrestag der Schlacht von Vertières, welche die Unabhängigkeit Haitis einläutete, versäumt der Präsident aus Sicherheitsgründen den Besuch des bedeutenden Ortes1. Die Straßenproteste hingegen währen gerade an diesem Feiertag fort. Nach zehn Protestwochen zählen die Organisation der Amerikani schen Staaten (OAS) und die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte 77 Tote, 219 Verletzte und 315 Verhaftete. Wie viele Menschenleben die politische und ökonomische Krise in Haiti aber tatsächlich kostet, lassen diese Zahlen nur erahnen. Seit Monaten herrscht ein Engpass beim Treibstoff, aber auch Gas und Kerosin sind knapp. Die Preise für Diesel und Benzin sind auf dem Schwarzmarkt um ein Vielfaches gestiegen. Ohne Transport funktioniert aber auch der Kleinhandel nicht. Die Grundnahrungs mittel verteuern sich stetig, seit das Transportsystem nahezu zu sammengebrochen ist. Zahlreiche Dieselgeneratoren stehen still, selbst Krankenhäuser sind gezwungen, sie stundenweise abzuschal ten. Bereits im September hat das Bürgermeisteramt der Millionen tt
metropole Port-au-Prince angekündigt, wegen der Dieselkrise den Müll nicht entsorgen zu können. Das Risiko von Infektionskrank heiten steigt, wenn noch mehr Abfall als üblich zwischen Straßen märkten, Wohnhäusern und Schulen vergammelt. Nur ein knappes Drittel der Bevölkerung Haitis hat – zumindest für fünf bis zwanzig Stunden am Tag – Zugang zu Elektrizität, auf dem Lande sind es nur 15 Prozent. Alleine in Port-au-Prince laufen über 50.000 Dieselgeneratoren, weil die mangelhafte Stromver sorgung des Staatsunternehmens Electricité d‘Haiti keinen norma len Betrieb zulässt. Umso mehr hängt das Land am Öltropf. Im Juli 2019 lag die Inflationsrate in Haiti bei 19,1 Prozent ge genüber dem Vorjahresmonat. Armut ist weit verbreitet. Bereits 2012 lebten fast 60 Prozent der Menschen in Haiti von weniger als zwei US-Dollar am Tag. Die Einkommen sind extrem ungleich verteilt. Weltweit übertreffen nur drei Länder den Karibikstaat in puncto Einkommensungerechtigkeit. Umso härter trifft die wirt schaftliche Krise die Bevölkerungsmehrheit, die keinerlei Rücklagen hat. Schätzungen des Welternährungsprogramms zufolge werden sich ab März 2020 rund vier Millionen Menschen in Haiti nicht ausreichend ernähren können.
»Wo ist das PetroCaribe-Geld?« Jahrelang kam billiges Öl aus Venezuela, doch mit der dortigen Krise versickerten auch die subventionierten Öllieferungen. Hinzu kam im März 2019, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) Kredite im Wert von 299 Millionen Dollar aussetzte, weil Haiti die Auflagen nicht erfüllte. Bereits im Juli 2018 hatte die haitianische Regierung – ebenfalls auf Druck von Straßenprotesten – die vom IWF als Strukturanpassung geforderte Anhebung des Dieselpreises um 47 Prozent zurückgenommen. Damit fehlt aber auch das Geld
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Port-au-Prince im September 2019
Foto: Martina Backes
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Haiti zum Kauf des Öls, das nun zu üblichen Preisen auf dem Weltmarkt same Planung mit politischen Verantwortlichen, wieder fällt auf, erstanden werden muss. Doch das ist nur die eine Seite der Misere. dass die Polizei den Anwohner*innen nicht zur Hilfe kam. Während der Demonstrationen und Proteste sind immer wieder Richteten sich die Proteste 2018 vor allem gegen die angekün digte Erhöhung der Benzinpreise, so sind die Gründe für die lan gezielte Angriffe etwa von Polizeieinheiten auf Journalist*innen zu desweiten Generalstreiks im Oktober längst komplexer geworden. beobachten. Die haitianische Journalist*innenvereinigung FPH nennt in ihrer Presseerklärung vom Die ausgesetzten Lieferungen des Bil ligöls aus Venezuela waren mit einem 30. Oktober fünfzig Journalist*innen, Selbst Krankenhäuser sind gezwungen, Strukturprogramm unter dem Namen die seit Anfang September Repres PetroCaribe2 verknüpft. Die Differenz sionen ausgesetzt sind. Sie wurden die Generatoren abzuschalten unter Druck gesetzt, an ihrer Arbeit des Preises vom günstigen Öl aus Ve nezuela zum Weltmarktpreis floss in gehindert, erlitten Verletzungen, zum einen Entwicklungsfonds, aus dem Haiti 4,3 Milliarden Dollar für Teil Schussverletzungen, und einige erhielten Morddrohungen. So wie der am 10. Oktober ermordet aufgefundene Radiojournalist den Bau von Straßen, Schulen und Infrastruktur – unter anderem Néhémie Joseph, der sich zuvor vergeblich an die Behörden gewandt Fußballstadien – zugesprochen wurden. Davon ist heute nichts zu sehen. Bauruinen und verwaiste Kies und um Schutz gebeten hatte. Die Morduntersuchungen verzeich werke in abgelegenen Regionen, denen einmal eine asphaltierte nen keinen Fortschritt. Straße versprochen wurde, sowie leere Staatskassen lassen den Unmut der Bevölkerung schon lange wachsen. Als dann der haiti anische Filmemacher Gilbert Mirambeau Jr. im August 2018 in einem Tweet fragte: »Kot kòb PetroCaribe a?« (Wo ist das Petro Caribe-Geld?), war dies der Start für die Bewegung der PetroChal lenger. Seither fordern haitianische Aktivist*innen unter den Hash tags #PetroCaribeChallenge und #KotKobPetwoKaribea Rechenschaft von der politischen Riege. Seither wird offen ausgesprochen, was alle längst ahnten: Nicht nur eine schwache Regierungsführung oder internationale Interes sen hatten die Haitianer*innen in eine existenzielle Krise getrieben, sondern vorsätzliche Korruption, Misswirtschaft und Betrug. Bereits 2016 und 2017 waren zwei Senatsuntersuchungen zu dem Ergeb nis gekommen, dass das PetroCaribe-Geld größtenteils umgeleitet worden war. Der zweite Bericht spricht von 1,7 Milliarden Dollar, die in privaten Taschen gelandet sind. Als Ende Januar und Ende Mai 2019 der Oberste Rechnungshof die Ergebnisse der parlamentarischen Untersuchungskommissionen Departement Nippes: Lahmgelegt wegen Treibstoffmangel Foto: Martina Backes bestätigte und sich das Ausmaß der Korruption immer größer darstellte, kam es erneut zu Massenprotesten. Seit Mitte September gibt es im Land keinen Treibstoff mehr, denn der Staat kann die Barrikaden, Sit-Ins und Kampagnen hohen Treibstoffsubventionen nicht mehr begleichen. Das bringt tt Schaut man auf die medialen Bilder mit Barrikaden, brennenden die Menschen in Rage, denn die Staatskasse ist leer, weil sie von Reifen, schwarzem Ruß, zerschlagenen Fahrzeugen und Scharen einer kleinen Elite geplündert wurde. von Mopedfahrern, die mit leeren Benzinkanistern gegen die Zapfsäulen trommeln, dann scheint der Straßenprotest von Män Massaker von der Politik gedeckt nern dominiert zu sein. Sicher, Mopedfahrer und Besitzer von Pkws tt Rosy Auguste vom Menschenrechtsnetzwerk RNDDH spricht mit Ladefläche sowie die Sammeltaxis sind stark involviert. Sie von einer »Gangsterisierung des Landes«, die von den politischen stemmen den öffentlichen Personenverkehr. Sie beliefern lokale Entscheidungsträger*innen selbst vorangetrieben werde. Die Präsenz Märkte mit den Produkten aus dem Umland. Sie bringen die Kinder 9 illegaler Waffen ist in den vergangenen Monaten stark angestiegen, in die Schule. Ohne Treibstoff fehlt ihnen der Job und ihrer Familie Banden kontrollieren ganze Stadtviertel und ihre Verbindungen zu das Einkommen. Das öffentliche Leben kommt zum Erliegen. Politiker*innen sind offenkundig. So verübten wenige Tage vor der Doch die Protestformen sind vielfältiger. Sit-Ins vor dem Parla geplanten Großdemonstration im November 2018 bewaffnete ment, Camps und stadtteilbezogene Aktionen, aber auch Songs, Gangs ein Massaker in dem für politische Mobilisierung bekannten Flyer und Pamphlete beleben den Protest immer wieder neu. Armenviertel La Saline, bei dem nach Informationen der Interame Unter den Protestierenden sind zahlreiche Mitglieder politischer rikanischen Menschenrechtskommission 71 Menschen ihr Leben Bewegungen, etwa Nou pap dòmi (Wir schlafen nicht). Hier haben sich vor allem junge Menschen für den Kampf gegen die Korrup verloren. Die Polizei schritt nicht ein. Schnell wurde klar, dass zwei tion nach dem PetroCaribe-Skandal zusammengeschlossen. namhafte Politiker an der Planung des Massakers beteiligt waren. Auch die haitianische Feministin Pascale Solages steht für reflek Sie werden bis heute nicht strafrechtlich verfolgt. Für Anfang November 2019 berichtet das Menschenrechtsnetz tierten Protest. Auf bastamag.net erläutert sie, wie die Bewegung werk von einem ähnlichen Verbrechen im Stadtteil Bel Air von gewachsen ist und ein Papier mit Vorschlägen für einen politischen Port-au-Prince mit fünfzehn Todesopfern und mindestens 21 in Wandel erstellt hat. Dessen Grundlage ist ein Online-Formular, in Brand gesetzten Häusern. Wieder gibt es Hinweise auf eine gemein dem Fragen nach der Reform von Verfassung, Präsidentschaft, iz3w • Januar / Februar 2020 q 376
Haiti Armee oder Parlament von über 7.000 Menschen beantwortet Jean-Bertrand Aristide entsandt. 2017 ersetzte man die Blauhelm wurden. In einem Interview sagt sie, was die Bewegung vereint: Es soldaten durch eine UN-Polizeimission, nun wird es noch eine politische Mission geben. Unabhängig davon, dass die Friedens ist »die Ablehnung eines Systems, das auf Korruption und Straf losigkeit basiert, was zur Verschwendung von PetroCaribe-Geldern truppen keine Sicherheit gewähren konnten, zeigt der Rückzug geführt hat. Der Kampf muss Teil eines breiteren Kampfes gegen auch: Haiti mit seinen rund 12 Millionen Einwohner*innen ist die Mechanismen sein, die dieses System aufrechterhalten und weitgehend vom Aufmerksamkeitsradar der internationalen Poli erneuern, gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung«. tik verschwunden. Die systemerhaltenden Kräfte beschränken sich nicht nur auf Am 12. Januar 2020 werden die Medien wieder einen Blick auf nationale Eliten. Moïse wird außenpolitisch von den USA und Haiti werfen und der Opfer des Erdbebens von 2010 gedenken. innenpolitisch von einer militärisch hoch Vielleicht gibt es dann ein paar kritische gerüsteten Spezialeinheit protegiert. Das Nachfragen zum kaum realisierten Wieder Für viele Haitianer*innen liegt Aufbegehren gegen jene, die an der Macht aufbau. Die internationalen Hilfsorganisa kleben, hat in Haiti eine ebenso lange Ge tionen sind größtenteils weitergezogen. die Hoffnung in der Migration schichte wie die Verteilung von Pfründen Haitianische Menschenrechtsorganisationen unter den Eliten. Aufgrund der starken und Kirchen sehen die Verantwortung am Abhängigkeit des Landes von der internationalen ‚Gebergemein misslungenen Wiederaufbau auf beiden Seiten: Die staatlichen schaft‘ ist die Frage, ob die Welt sich für Haitis Lage interessiert, für Akteur*innen Haitis haben jede Glaubwürdigkeit verspielt. Interna tionale NGOs waren in Verruf geraten, weil sie über die Köpfe die Proteste essentiell. Doch die Welt wendet sich ab. In der Antwort des Deutschen Bundestages vom 7. November staatlicher Akteur*innen hinweg gehandelt hatten. Ende November verurteilte das Europäische Parlament erstmals auf eine Kleine Anfrage zur Lage in Haiti steht, »Präsident Moïse, die Menschenrechtsverletzungen. Sonst hört man nicht viel. Die seit Ende 2016 im Amt, ist grundsätzlich um eine Verbesserung der aktuelle Krise und der Kampf auf der Straße werden hier kaum Situation bemüht, konnte aber noch keine greifbaren Erfolge erzie len.« Diese Aussage bezieht sich auf Fragen, welche Auswirkungen beachtet. der Korruptionsskandal nach Kenntnis der Bundesregierung auf die Lage in Haiti hat und wie die Menschenrechtslage beurteilt wird. Anmerkungen 1 In Vertières war 1803 die entscheidende Schlacht der ehemaligen Sklaven
rebell*innen gegen französische Kolonialtruppen. Die Pläne Napoleons, die Sklaverei in den französischen Kolonien wiedereinzuführen, scheiterten damit endgültig. Haiti erlangte zwei Monate später als erste Kolonie überhaupt die Unabhängigkeit.
Wegsehen und ignorieren Für viele Haitianer*innen liegt die Hoffnung in der Migration. Bereits in den letzten zwanzig Jahren haben die Rücküberweisungen migrierter Haitianer*innen an ihre Familien die internationalen staatlichen Zahlungen oder wirtschaftlichen Investitionen bei wei tem übertroffen. Doch der Weg ist mühsam und kann abrupt enden (siehe Kasten). Im August hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach 15 Jahren die UN-Friedensmission in Haiti beendet. Die Friedens truppen wurden 2004 nach dem Sturz des damaligen Präsidenten tt
2 PetroCaribe ist ein von der Regierung Venezuelas 2005 initiiertes internatio
nales Abkommen im Energiebereich. Es sieht eine Präferenzregelung für Erdöl und Erdölerzeugnisse für einige karibische und lateinamerikanische Länder vor.
Martina Backes ist Mitarbeiterin im iz3w. Kirsten Bredenbeck ist Haiti-Referentin bei Brot für die Welt. tt
Stress in den USA Jean L. lebt in einem südlichen Vorort der haitianischen Haupt stadt Port-au-Prince. Er hilft den lokalen Fischern – ein Gelegen heitsjob – und schläft am Strand unter einer Plane, die Buchstaben WFP (für Welternährungsprogramm) darauf sind gerade noch er kennbar. Die Plane ist löchrig. Vermutlich ein Überbleibsel aus der Zeit, als hier Nothilfeorganisationen die Opfer des Erdbebens vom Januar 2010 in Lagern versorgten. Jean L. ist 60 Jahre alt und spricht ein Amerikanisch, wie man es aus Florida kennt. Dort hat er 40 Jahre lang gelebt, Autos zusammengeschraubt und Geld nach Haiti geschickt. Bis er vor drei Jahren zusammen mit rund 70 Landsleuten in sein Herkunftsland abgeschoben wurde. Den Grund kennt er nicht. Jean hat keinen haitianischen Pass, der US-ameri kanische wurde für ungültig erklärt. Das US-Heimatschutzministerium (DHS) will ein Programm beenden, das zehntausenden Haitianer*innen nach dem Erdbeben 2010 einen besonderen Schutzstatus in den USA eingeräumt hat te. Nach Angaben der Behörde seien die »außergewöhnlichen und vorübergehenden Bedingungen« für den Schutzstatus nicht mehr tt
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gegeben. Der Miami Herald berichtete bereits im November 2016 von über 200 Abschiebungen haitianischer Staatsangehöriger. Im November 2019 drängte das DHS erneut auf die Abschiebung von fast 400.000 salvadorianischen, honduranischen und haitianischen Staatsangehörigen, die sich im Rahmen des Programms Temporary Protected Status (TPS) vorübergehend in den USA aufhalten und dort arbeiten durften. Eingerichtet wurde das TPS, um gefährdeten Personen aus Ländern, die von Naturkatastrophen oder Konflikten heimgesucht wurden, einen Fluchtort zu bieten. Das bereits 1990 ins Leben gerufene Programm soll eine vorübergehende Abhilfe schaffen, aber die Schutzmaßnahmen wurden immer wieder erweitert, weil die Bedingungen für eine sichere Rückkehr fehlten. Nun haben die Betroffenen eine gerichtlich angeordnete Gnadenfrist erhalten: Die DHS hat sich bereit erklärt, Abschiebungen – auch die nach Haiti – auf 2021 zu verschieben. Welche Rolle dabei die unsichere Lage aufgrund der politischen Konflikte spielt, bleibt offen. Martina Backes
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iz3w-Dossier | Januar 2020
Smartphones – die Macht in der Hand
Smartphones
Hätte, hätte, Lieferkette Wie fair ist das Fairphone?
von Elena Kolb
Als das erste Fairphone 2013 auf dem Markt erschien, erre gte es viel Aufmerksam keit. Endlich ein Smartpho ne, das ohne Konfliktminer alien und Kinderarbeit hergestellt wurde! Doch konnte es den Anspruch einlösen, in sozialer wie in ökolo gischer Hinsi cht fair produziert zu sein?
September 2019: Stolz präsentiert das niederländische Sozialunternehmen Fairphone B.V. die dritte Generation seines gleichnamigen Smartphone-Modells. »Es ist kein Geheimnis: Wir wollen die Welt verändern. Fairphone stellt Mensch und Umwelt an erste Stelle«, heißt es zu diesem Anlass auf der Webseite. Für 450 Euro erhalten die Kund*innen mit dem Fairphone 3 ein Mittelklasse-Smartphone. Im Gegensatz zu den beiden vorherigen Generationen lässt es sich äußerlich kaum noch als klobiges Ökohandy identifizieren. Die Käufer*innen des Fairphones unterstützen eine Firma, die sich Recycling und Kreislaufwirtschaft, faire Materialien, nachhaltige Endprodukte und gerechte Arbeitsbedingungen auf ihre Fahnen schreibt. Fairphone B.V. entstand aus einer Kampagne der Waag Society zu Konfliktmineralien und wird heute von mehreren sozialen Investor*innen getragen. Regelmäßig werden außerdem Fremdmittel beantragt und Crowdfundings initiiert. Bisher verkaufte das Unternehmen 60.000 Fairphones der Generation Eins und 115.000 Fairphones der zweiten Generation. Bis Ende 2019 sollen 40.000 Fairphones der dritten Generation auf den Markt kommen. Das ist nicht viel im Vergleich zu anderen Herstellern. Die Geschäftsführerin von Fairphone, Eva Gouwens, vergleicht das Nischenunternehmen daher mit einem »Moskito«, das die Global Player in der Elektronikindustrie nachts nicht schlafen lässt.
Probleme ohne Mittelweg Seit das erste Fairphone Aufsehen erregte, ist viel passiert und Fairphone musste einige Niederlagen eingestehen. Der Anspruch, ein »gerechtes« Smartphone herzustellen, erwies sich angesichts komplexer Produktionsketten als utopisch. Im Impact Report vom Dezember 2018 heißt es: »Während wir sorgfältig recherchieren, sind wir oft durch die Informationen begrenzt, die Lieferanten mit uns teilen können oder wollen. Darüber hinaus gibt es für einige unserer Schwerpunktmaterialien noch keine nachhaltigen Quellen – deshalb müssen wir Wege finden, mit einem Netzwerk von Partnern verantwortungsvollere Lieferketten aufzubauen.« Fairphone legt Wert auf faire Arbeitsbedingungen bei der Endmontage. Dafür war geplant, beim chinesischen EndmontageHersteller für das Fairphone 2 einen Worker Welfare Fund einzuführen, der unter anderem den Dialog zwischen Arbeiter*innen und Management fördern sollte. Im Impact Report von 2018 heißt es dazu: »Wir sahen uns mit rechtlichen und bürokratischen Hindernissen durch Gesetze der Chinesischen Union sowie Bankanforderungen konfrontiert. Hinzu kamen Bauteilengpässe und unregelmäßige Fairphone-Produktionen, und wir waren von komiz3w-Dossier
plizierten Problemen ohne einen klaren Mittelweg umgeben.« Nach zwei Jahren der Diskussion wurde die Initiative für gescheitert erklärt. Für die Endmontage des Fairphone 3 wurde eine neue Part nerschaft mit Arima in Suzhou in China eingegangen. Die Ar beitnehmer*innen werden dort nun von Fairphone selbst zu ihren Wünschen und Verbesserungsvorschlägen befragt. Vor kurzem wurden Wahlen für eine Vertretung der Arbeiter*innen eingeführt und eine neue Kantine eröffnet. Außerdem wurde untersucht, wie hoch eine existenzsichernde Bezahlung sein müsste. Das Ergebnis: Ab November 2019 werden pro hergestelltem Fairphone 1,50 Euro zusätzlich an die gesamte Arbeiter*innenschaft ausgezahlt. Für das Fairphone 3 wurden bisher Produktionsanlagen von 76 Komponentenherstellern in China, Japan und Korea identifiziert. Doch damit sind noch nicht alle Zulieferbetriebe erfasst und es ist nicht geklärt, wo sich alle zugehörige Minen sowie Schmelz- und Veredelungsanlagen befinden. Bisher wurden nur in sechs dieser Firmen Programme zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen durchgeführt. Fairphone versucht auch, die Lieferketten der verbauten Materialen zu prüfen. Zusammen mit der Dragon Fly Initiative wurden über 40 verschiedene Materialien im Fairphone festgestellt. Die Dragon Fly Initiative aus Großbritannien setzt sich für nachhaltige Lieferketten von Mineralien ein und vermittelt Hersteller an sozial verantwortliche Lieferanten und Produzenten. Fairphone legt den Fokus auf die Lieferketten von acht Materialien, bei denen das größte Verbesserungspotential erkannt wurde: Kobalt, Kupfer, Gold, Lithium, Neodymium, Plastik, Zinn und Wolfram. Die Lieferketten dieser Rohstoffe sollen bis zum Jahr 2020 möglichst fair gestaltet werden. Am Vorzeigebeispiel Gold lässt sich der bisher größte Erfolg ablesen. Das im Fairphone verbaute Gold ist mit dem Fair-TradeSiegel ausgezeichnet. Es wird in peruanischen Minen abgebaut und ist bis zur Goldraffination in der Schweiz zurück verfolgbar. Im Shanghai Gold Exchange (SGE) kommt es jedoch zum zulässigen »Mengenausgleich«, das heißt ab diesem Zeitpunkt wird das faire Gold mit konventionellem Gold vermischt. Da alle chinesischen Lieferbetriebe, die an der Produktion des Fairphones beteiligt sind, ihr Gold über das SGE erwerben, ist ein späterer Mengenausgleich zurzeit nicht möglich. Deshalb versucht Fairphone, eine neue Goldlieferkette mit Kleinbergbau in Uganda zu implementieren und kooperiert dazu mit UNICEF und Stop Child Labour. Dieses Projekt wurde für den Responsible Business Award 2019 nominiert.
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Nix mit Sozialromantik: Produktion von Bauteilen für das Fairphone
Foto: Fairphone
Zu den Lieferketten der anderen sieben ab 2015 produzierten Fairphones der zweiten Der Kauf des Fairphones Mineralien liegen noch weniger InforGeneration heute noch 59 Prozent in Benutist eine Überzeugungstat mationen vor. Das Wolfram stammt aus zung sind. Wie Fairphone betont, verringert Kleinbergbauminen in Ruanda, Kobalt sich der CO2-Fußabdruck eines Smartphones und Zinn kommen aus der Demokratium 30 Prozent, wenn es nur zwei Jahre länger in schen Republik Kongo. Die betreffenden Minen werden als Benutzung ist als die durchschnittlichen drei Jahre eines konven »konfliktfrei« bezeichnet, das heißt, keine Kriegsparteien oder tionellen Smartphones. Milizen kontrollieren die Minen oder verdienen Geld daran. Im Die niedrigen Verkaufszahlen erschweren jedoch die DurchfühBegriff »konfliktfrei« sind allerdings nicht zwingend Arbeitslöhne, rung der Mission. So musste zum Beispiel die Ersatzteilproduktion Arbeitsbedingungen oder Verzicht auf Kinderarbeit einbezogen. für die erste Generation des Fairphone eingestellt werden, nur noch Diese Fakten verschweigt Fairphone allerdings nicht und strebt wenige Teile dafür sind im Online-Shop zu erhalten. Auch die stetig Verbesserungen an. Hardware für das Fairphone 2 wird nicht mehr aktualisiert. Nutzer* innen können aber weiterhin mit Software-Updates rechnen.
Erst reparieren, dann recyceln Neben der Schaffung fairer Lieferketten versucht Fairphone, Materialien zu recyceln. Dazu wird eine Prämie an europäische Kund*innen gezahlt, die alte Handys einschicken. Auch in afrikanischen Ländern werden Handys gesammelt. In Kooperation mit den Firmen Closing the Loop und Recell Ghana kamen im Sommer 2019 vier Tonnen alte Handys aus Ghana nach Amsterdam. Mit diesen Recyclingstrategien wurde erreicht, dass im Fairphone 3 mehr als 50 Prozent recyceltes Kupfer verwendet wurde. Zudem ist mehr als die Hälfte des verbauten Plastiks recycelt. Durch das modulare Design lässt sich das Gerät gut in Einzelteile zerlegen. Damit wird der Vorgang des Recyclings erleichtert und viele Materialien können wiederverwendet werden. Beim Fairphone 2 lag der Prozentsatz für Materialrecycling bei immerhin 28. Für das Fairphone 3 ist bisher keine Studie zum Lifecycle Assessment veröffentlicht worden. Zur ökologischen Nachhaltigkeit beitragen soll auch die Reparaturfreundlichkeit des Fairphones. Mit dem im Lieferumfang enthaltenen Schraubenzieher lässt sich das Display abschrauben und austauschen. Das Zerlegen in Einzelteile soll sogar Anfänger* innen möglich sein, die sich bisher noch nie an die Innereien eines elektronischen Gerätes gewagt haben. Viele Ersatzteile sind verhältnismäßig günstig im Online-Shop von Fairphone zu erhalten. Mit diesem Reparaturkonzept erreichte Fairphone, dass von den tt
Mitmachen und Mitreden Mit den Kund*innen steht das Unternehmen in einer intensiven Wechselbeziehung. Transparenz und Partizipation sollen die Kon sument*innen zu »Prosument*innen« werden lassen. Sie sind dazu aufgerufen, sich in der Community an Diskussionen zu beteiligen und zum Beispiel öffentlich zugängliche Reparaturanleitungen zu erstellen. Die Webseite von Fairphone ist vollgepackt mit Hintergrundinformationen zu Finanzmodellen und erfolgreichen sowie gescheiterten Partnerschaften in der Produktionskette. Schon allein aufgrund der vielen Probleme bei den Lieferketten lässt sich auch das neue Fairphone 3 nicht uneingeschränkt als »faires Smartphone« betiteln. Mittels der transparenten Kommuni kation des Unternehmens sind die Kund*innen aber zumindest in der Lage, selbst zu entscheiden, für wie »fair« sie das Gerät einschätzen. Laut verschiedener Tests ist die Technik des Fairphones im Vergleich zur Konkurrenz nicht besonders avanciert. Es zu kaufen ist also eine Überzeugungstat. Raum für Diskussionen bleibt. Gelegenheit dafür gibt es bei einem der vielen Fairphone-Stammtische, die mittlerweile deutschlandweit organisiert werden. tt
tt Elena Kolb studiert Liberal Arts and Sciences in Freiburg und interessiert sich für konstruktiven Journalismus.
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Rezensionen ... Mythos eines Partisanen Vladimir Perić alias »Valter« war während des Zweiten Weltkrie ges Partisan und Sekretär der Kommunistischen Partei Sarajevos. 1919 im serbischen Prikepolju geboren, leitete er jahrelang den Widerstand gegen die deutsche Besatzung. In der Nacht vor der Befreiung Sarajevos kam er am 6. April 1945 ums Leben, als er mit anderen Partisan*innen die Stadt vor der Zerstörung durch die deutschen Truppen verteidigte. An seiner Beerdigung nahmen über 15.000 Menschen teil, vier Jahre später erhielt er posthum den Orden des Volkshelden der Födera tiven Republik Jugoslawien. Die Erinnerung an ihn wurde zu einem der wich tigsten Partisanenmythen in Jugoslawien. Der gleich namige Film »Valter verteidigt Sarajevo« von 1972 erfreute sich großer Beliebtheit und avancierte vor allem aufgrund seiner Popularität in China zu einem der meistgesehen Filme weltweit. Das Narrativ des Films, das Valter mit der multikulturellen Stadt Sarajevo in eins setzt, wurde über die Jahre immer wieder aufgegriffen. So trugen auf den großen Antikriegsdemonstrationen kurz vor Ausbruch des Bosnienkrieges viele Menschen Plakate mit der Aufschrift »Ich bin Valter«, als Zei chen gegen ethnischen Nationalismus. Vom Mythos Valter erzählt auch der Comicband Valter verteidigt Sarajevo von Ahmet Muminović. Es handelt sich dabei um die bekanntesten und weitverbreitetsten Comics Jugoslawiens. Ursprünglich als einzelne Episoden in den 1970er Jahren erschienen, versammelte eine Neuauflage von 2014 diese in einem Band. Er tt
wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und allein in China bisher über acht Millionen Mal verkauft. Dem kleinen Wiener Ver lag bahoe books ist zu verdanken, dass dieser Sammelband nun erstmals auch auf Deutsch vorliegt. Der Band erzählt in sechs Episoden von Valters Kampf gegen die deutsche Besatzung Ende 1944. Storytelling und Zeichenstil sind an den klassischen Kriegs- und Abenteuercomics der 1960er und 70er Jahre orientiert: Klare Panelaufteilung, Texte, die sehr explizit beschreiben, was auf den Bildern sowieso zu sehen ist, viel Pathos und männliche Helden, die jede Situation meistern. Das mag für heutige Lesegewohnheiten irritierend sein, als historisches Dokument ist der Band dennoch auf der Metaebene spannend. Er gibt einen Einblick in die Popkultur und Mythenbildung Jugoslawiens und erzählt von einer historischen Figur, die in Westeuropa kaum bekannt ist, im ehemaligen Jugoslawien jedoch bis heute einen wichtigen Bezugspunkt darstellt. Der Comic wird durch ein ausführliches Vorwort und historische Fotografien des realen Valters ergänzt. Dies hätte mehr kritische Einordung vertragen, dennoch ist der Band als historisches Zeug nis wärmstens zu empfehlen. Larissa Schober Ahmet Muminović: Valter verteidigt Sarajevo. bahoe books, Wien 2018. 120 Seiten, 14 Euro.
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Der jüngste Staat Europas Vor gut zwanzig Jahren endete der Kosovokrieg. In Deutschland ist er kaum noch präsent. Doch die Region bleibt bis heute instabil und umkämpft. Serbien kontrolliert weite Teile im Norden des Landes, die EU überwacht mittels der EULEX-Mission, die Türkei agiert als »Schutzmacht« der türkischen Min derheit und Saudi-Arabien missioniert. Auch die ökonomische Situation des Landes ist prekär. Die Lage ist kompliziert und die Geschichte der Region noch viel mehr. Gerade in Deutsch land haben viele Linke eindeutige Positionen zum Kosovokrieg, das Wissen über die Region hält sich zugleich jedoch in Grenzen. Wer das ändern möchte, dem sei das Buch des Politik wissenschaftlers Thomas Schmidinger über Kosovo – Geschichte und Gegenwart eines Parastaates empfohlen. Schmidinger erzählt darin kenntnisreich die wechselhafte Geschichte der Region. Dabei ar beitet er sich von der Peripherie des Osmanischen Reiches über den Zweiten Weltkrieg, Jugoslawien und dessen Zerfallskriege bis in die Gegenwart vor. Er räumt dabei mit vielen Mythen auf und tt
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tappt nicht in die Falle, einseitig Stellung zu beziehen. Sehr ver dienstvoll ist sein detaillierter Überblick über die verschiedenen Ethnien vor Ort, die er jedoch nicht essentialisiert, sondern vielmehr ihre Konstruktion materialistisch auseinander nimmt. Obwohl das Buch auf seiner Dissertation beruht, ist es gut lesbar, und es wurde mit neuerem Material ergänzt. Be sonders spannend sind Ausschnitte aus 25 Interviews mit verschiedenen kosovarischen Akteur*innen, die Einblicke in den Referenzrahmen vor Ort geben. Das Buch bietet ausreichend Hintergrundinformationen, um die Interviews auch dann kritisch einordnen zu können, wenn man sich bisher noch nicht viel mit der Situation im Kosovo beschäf tigt hat. Den Kosovokrieg selbst behandelt Schmidinger nur in einem Kapitel, auch das Kapitel »Welche Zukunft des Kosovo?« ist kurz geraten. Davon abgesehen ist das Buch als fundierte Einführung in die Geschichte einer unter beleuchteten Region zu empfehlen. Larissa Schober Thomas Schmidinger: Kosovo – Geschichte und Gegenwart eines Parastaates. bahoe books, Wien 2019. 202 Seiten, 17 Euro.
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iz3w • Januar / Februar 2020 q 376
Die mörderische Vorgeschichte des Vietcong »Ho, Ho, Ho Chi Minh« hallte es 1968 durch die Straßen der Metropolen, und in der BRD riefen die antiautoritären Studierenden bei ihren Demonstrationen den Bürger*innen in ihren Häusern zu: »Runter vom Balkon, unterstützt den Vietcong!« Doch war dieser Vietcong wirklich so unterstützenswert? Oder setzte sich hier nur wieder einmal die schlechte Konsequenz eines manichäischen Gut- und Böse-Antiimperialismus durch – der Feind meines Feindes ist mein Freund? In seiner 1996 in Frankreich und erst 2018 auch auf Deutsch erschienenen Autobiographie Im Land der gesprungenen Glocke berichtet Ngô Văn von der Vorgeschichte des Vietnam kriegs. Geführt wurde er zwischen den USA und Südvietnam auf der einen Seite und der Demo kratischen Republik Vietnam (Nordvietnam) und der Nationalen Front für die Befreiung Südviet nams (Vietcong) auf der anderen. Ngô Văn wurde 1913 als Sohn eines Bauern in der Nähe von Saigon in der damaligen fran zösischen Kolonie Kotschinchina geboren. Mit 14 Jahren begann er zu arbeiten und ab den 1930er Jahren engagierte er sich im antikolonialen Widerstand. Sein Lebensbericht setzt ein mit seiner Verhaftung 1936 und der Beschreibung der brutalen Folter durch die französischen Koloni alisten und deren einheimische Unterstützer. Die französische Kolonialherrschaft unterdrückte erbarmungslos jegliche Form ei genständigen politischen Handelns, ob marxistischer, nationalisti scher oder mystischer Ausrichtung. 1930 hatte sich die Kommunistische Partei Indochinas vornehm lich aus in Moskau ausgebildeten stalinistischen Kadern gebildet. Schon früh entstanden innerhalb der KPI oppositionelle Strömun gen, die sich an den Positionen Leo Trotzkis orientierten. Sie kriti sierten die Ausrichtung der KPI an der nationalen Unabhängigkeit – der Sozialismus sollte erst später folgen – und propagierten eine Gleichzeitigkeit von sozialer Revolution und staatlicher Selbstän digkeit. Als diese trotzkistische Fraktion dennoch ein Bündnis mit den Stalinisten einging und im Rahmen des Laval-Stalin-Paktes vollständig vom Klassenkampf und dem Kampf gegen den franzö sischen Imperialismus schwieg, gründete eine Gruppe um Ngô Văn die Liga der internationalistischen Kommunisten zum Aufbau der IV. Internationale. Diese war immer noch am Trotzkismus orientiert, kritisierte aber die an den Interessen Moskaus ausgerichtete Politik der KPI und ihrer trotzkistischen Verbündeten. In den Wirren gegen Ende des Zweiten Weltkrieges – inzwischen hatte Japan Indochina besetzt und wurde wiederum von Großbri tannien besiegt und verdrängt – nutzten die Stalinisten, die sich inzwischen Liga für die Unabhängigkeit Vietnams (Viet Minh) nannten, das politische Vakuum und ergriffen die Macht. Im Kampf gegen die zurückkehrenden französischen Kolonialisten entledigten sie sich ihrer früheren trotzkistischen Verbündeten und machten Jagd auf alle linken Oppositionellen. Der Führer der Stalinisten, Ho Chi Minh, hatte die Parole ausgegeben: »Sie müssen politisch ausgerottet werden«. Für die Viet Minh waren die Trotzkisten die »Zwillingsbrüder des Faschismus«. Auch die rätedemokratische Erhebung der Minenar beiter von Hong gay-Cam pha und die spontanen Landenteignun tt
gen der Bauern wurden von den Viet Minh niedergeschlagen. Der Stalinismus erwies sich wieder einmal als brutales Bollwerk gegen die soziale Revolution. Und trotzdem idealisierten die linken Bewe gungen des Westens kaum eine nationale Befreiungsbewegung so sehr wie den stalinistisch imprägnierten Vietcong. Der richtige und notwendige Protest gegen den mörderischen Krieg des US-Militärs gegen die Bevölkerung Vietnams, Laos und Kambodschas führte die westliche Linke fast vollständig an die Seite derjeni gen Kräfte, die in Indochina die soziale Revolution un terdrückt hatten. Ngô Văns Buch endet mit einer langen Aufzählung der Schicksale seiner Kampfgefährt*innen, von denen die meisten dem stalinistischen Terror zum Opfer fielen. Er selbst flüchtete ins Exil nach Paris, wo er als Elektriker arbeitete und in seiner Freizeit Forschungen über seine Heimat betrieb. In Frankreich kam er in Kontakt mit den rätekommunistischen Kreisen um die Gruppe Socialisme ou Barbarie. 2005 starb er 91-jährig in seinem Exil. Ngô Văns Lebensbericht kommt der Verdienst zu, den Mythos des Vietcong demontiert zu haben. Das Buch liest sich jedoch durch die Vielzahl der erwähnten Per sonen etwas schwierig. Um einen Überblick zu gewinnen, empfiehlt es sich, zuerst die Chronologie der Kolonialgeschichte Vietnams zu lesen, die die beiden Herausgeber an Ngô Văns Text angefügt haben. Gleiches gilt für ihr erhellendes Nachwort und die hilfreichen Anmerkungen. Trotz dieser Einschränkungen bleibt »Im Land der gesprungenen Glocke« ein wichtiges Buch, das die Erkenntnis fördert, dass nicht jeder Feind meines Feindes auch ein Freund sein muss. Jens Benicke Ngô Văn: Im Land der gesprungenen Glocke. Die Leiden Indochinas in der Kolonialzeit. Aus dem Französischen von Daniel Fastner, hg. von Christoph Plutte und Tilman Vogt. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 256 Seiten, 26 Euro. tt
iz3w • Januar / Februar 2020 q 376
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Rezensionen ... Feministischer Battle-Rap Seit 2006 provoziert und revolutioniert die deutschtürkische Rapperin Reyhan Şahin unter dem Namen Lady Bitch Ray mit ihrem »musikalischen und lyrischen Vagi na Style« die Rap-Szene in Deutschland. Ihre Vorbilder sind die US-Stars Lauryn Hill, Missy Elliot und Lil‘ Kim. Von sich selbst sagt sie: »Ich deutete den Begriff Bitch positiv um und führte ihn wie einen neuen Tampon als erste in den Deutschrap ein. Ob Deutschrap es zugeben mag oder nicht. Ich habe ihn mit feministischen Themen entjungfert.« Neben ihrer Hip-Hop-Karriere forscht Şahin als Sprachwissen schaftlerin und publizierte 2014 ihre Promotion zur »Bedeutung des muslimischen Kopftuchs«. Als sexpositive Feministin stieß sie nicht nur im heteropatriarchalen Deutsch-Rap, sondern auch in der weißen Dominanzgesellschaft und deren Universitäten auf massive Widerstände. Dem Kampf, diese zu überwinden und gleichzeitig Rückschau zu halten, widmet sich Dr. Bitch Ray in vier Kapiteln in ihrem Buch Yalla, Feminismus!. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Begriff Intersektionalität, der die auf den ersten Blick etwas eklektisch wirkenden Kapitel über die deutsche Rap-Szene, das muslimische Kopftuch und Şahins Erfahrungen in der Wissen schaft vereint. Unter Intersektionalität versteht Şahin, angelehnt an Kimberlé Wiliams Crenshaw, das Sich-Überlappen von verschiedenen Diffe renzkategorien wie Klasse, ‚Rasse‘ und Geschlecht, dem wiederum spezifische Diskriminierungserfahrungen folgen können. Wie dies konkret aussieht, hat Şahin als Kind von alevitisch-türkischen Arbeitsmigrant*innen in Deutschland, als Rapperin und Akademi kerin in unterschiedlichen Sphären aufgrund ihrer multiplen Iden titäten selbst erfahren. Als Şahin 2006 mit »subversivem Feminismus via explizitem Sex-Rap« auf die Bühne der deutschen Hip-HopSzene trat, erfuhr sie als Künstlerin rassistische Hasskommentare tt
und Vergewaltigungsdrohungen, zugleich aber auch Ausgrenzung aus der türkischen und mus limischen Community. Parallel dazu musste sie feststellen, dass die ver meintlich neutrale und objektive Wissenschaftswelt sich als »Fuckademia« herausstellte, in der auch 2019 noch weiße alte Männer das Sagen haben, und die ihre Doppelkarriere als feministische Rap perin störte. Die Folge waren auch hier Sexismus und Rassismus, teils unsichtbar durch Ausschlüs se bei Stellen und Förderungen, teils offen und existenziell, wie der Angriff auf ihr Stipendium als Doktorandin bei der Rosa-LuxemburgStiftung. Şahins Buch ist ein mehrdimensionaler queerfeministischer Battle-Rap, in dem sie kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie teilt gegen sexistische Rap-Kollegen aus und verdeutlicht, dass Machis mo nicht nur bei Gangstern existiert, sondern weiße bürgerliche Künstler wie Cro, Max Herre oder Die Fantastischen 4 ebenfalls sexistische Texte und Videos produzieren. Auch auf Ausgrenzung und mangelnde Solidarität unter Rapperinnen weist Şahin hin. Anhand der Bloggerin Kübra Gümüşay verdeutlicht Şahin, dass Kritik an Rassismus, Sexismus und Homophobie immer intersekti onal sein muss. Es reiche nicht aus, wie Gümüşay antimuslimischen Rassismus zu kritisieren und andererseits Sexismus, Antisemitismus und Homophobie in der AKP oder bei Millî Görüş zu verschweigen. Offen bleibt, an welches Publikum sich Şahins Buch richtet. Ihre Mischung aus sexpositivem Porno-Rap, Empowerment und akade mischer Theorie bedarf jedenfalls Leser*innen mit den von Şahin thematisierten »hybriden Identitäten«. Patrick Helber Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray: Yalla, Feminismus! Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 316 Seiten, 20 Euro. tt
Zeitwohlstand statt BIP Ein gutes Leben – wie ermöglichen wir es für alle? Wenn Diskussionen sich um Umweltzerstörung, Ge schlechterungerechtigkeit oder globale Machtstruk turen drehen, kommen Debattierende schnell auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Wirtschaft. Und es wird nicht lange dauern, bis eine Person den Begriff »Degrowth« oder »Postwachstum« als Lösungsvor schlag in den Raum wirft. Klingt gut, aber bei der konkreten Umsetzung verlieren sich Gespräche dann oft in schwammigen Äußerungen. Ein wenig Klarheit in die Postwachstums-Debatte bringen möchte das Buch Degrowth/Postwachstum zur Einführung von Matthias Schmelzer und Andrea Vetter. Seit der ersten Degrowth-Konferenz 2008 hat sich eine Szene entwickelt, die bezweifelt, ob weiteres Wirtschaftswachstum in reichen Ländern erstrebenswert ist. Schmelzer und Vetter versuchen, internationale Strömungen zusammenzufassen und ein fluides Gespräch voller verschiedenster Vorstellungen zu Papier zu bringen. tt
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Postwachstum drückt vieles aus. Zum einen ist es eine offene Kritik an der Hegemonie des Wirtschafts wachstums, mit der eine generelle Wirtschafts- und Gesellschaftskritik einhergeht. Die Verfechter*innen von Degrowth betrachten Wirtschaft häufig eher als ideologische Konstruktion denn als Wissenschaft. Zum anderen ist es aber auch ein Konzept für einen wünschenswerten gesellschaftlichen Transformati onsprozess, basierend auf sieben Ebenen der Kritik: Ökologie, Sozialökonomie, Kultur, Kapitalismuskritik, Feminismus, Industrialismuskritik und Süd-NordBeziehungen. Bei ihren Erklärungen des Konzepts verlieren sich Schmelzer und Vetter in vielen Wiederholungen. Spannend wird es am Ende des Buches, wenn sie konkrete Vorschläge listen, wie Postwachstum in die Realität umgesetzt werden könnte. Vertreter*innen der Bewegung haben zum Beispiel vorgeschlagen, bezahlte Arbeitszeiten zu redu zieren oder ein Grund- und ein Maximaleinkommen einzuführen.
iz3w • Januar / Februar 2020 q 376
Floskeln mit Spannungsbogen »Geh so weit weg wie möglich, sie werden dich sonst kalt ma chen.« Diesem Ratschlag seines Anwalts folgt Aurelio Blanco nicht, als er aus dem Gefängnis entlassen wird. 15 Jahre hat er dort ge sessen, um seinen Schwiegervater, den Bauunternehmer Carlos Flores, zu decken. Blanco ist der gefügige Trottel der Familie. Seinen Lebensstandard verdankt er seinem Ziehvater Flores. Als dieser zwei Familien verschwinden lässt, um den Weg für das Bauprojekt »Olinka« freizumachen, hält der ergebene Blanco den Kopf hin. Aber sein Schwiegervater wie auch seine Frau Alicia lassen ihn fallen. Gedemütigt und einsam will er sich nach seiner Freilassung das ver sprochene Geld von der Familie holen. Antonio Ortuño platziert seinen Roman Die Verschwundenen mitten im organisierten Verbrechen. Hauptfiguren sind die Mitglieder einer Bauunterneh merfamilie in Guadalajara, die mit Mord, Korruption und Geldwäsche Profit aus dem Wachstum der me xikanischen Metropole schlagen. Die drei Tage von Blancos Freilassung bis zum Zusammentreffen mit Carlos Flores bilden den Span nungsbogen des Romans. Dazwischen baut Antonio Ortuño Rück blenden ein, die die Vergangenheit der Familie und die Vertreibung der Menschen durch »Olinka« beleuchten. Berechnende Deals und Machtkämpfe prägen die Geschäfte wie auch die Psyche und Be ziehungen der Familienmitglieder. Die undurchsichtigen Charak tere sorgen bis zum großen Showdown am Ende des Buches für Spannung. Zwischendurch driftet der Roman jedoch immer wieder in Richtung Telenovela ab. Zum Beispiel als der neue Freund von Blancos Ex-Frau Alicia am Heiligen Abend die Besitzverhältnisse im tt
Familienclan neu ordnen will. Ein Tequila nach dem anderen es kaliert die Situation, bis Alicia zur Pistole greift. Die Bereitschaft zur Gewalt wirkt jedoch übertrieben, die Emotionen aufgesetzt und platt. Augen sprühen vor Wut, Alicia bebt vor Empörung – das ist einfallslos geschrieben und wirkt wegen der Floskeln unrealis tisch. Aufgesetzt bleiben auch die sexuellen Bezüge, die Ortuño in die Handlung einstreut. So ist schwer vorstellbar, dass eine Frau, die brutal vergewaltigt wurde, noch im Krankenhaus sexuellen Kontakt zu ihrem Nachbarn sucht und dabei sagt: »Ich werde mich mit dir einschließen und wir werden dortbleiben, bis du genug von mir hast«. Es sind allerdings gerade die Brüche in den Cha rakteren, die sie unberechenbar in ihren Handlungen machen und so beim Lesen Spannung aufbauen. Verstärkt wird diese durch Abneigung, Ekel und an deren Emotionen, die man den Charakteren gegenüber empfinden kann. Stellenweise gelingt es Ortuño, die Welt einer Familie zu öffnen, die eiskalt agiert und doch mit menschlichen Herausforderungen wie Ein samkeit, Versagensängsten und Liebe zu kämpfen hat. In diesen Momenten vermittelt er einen Eindruck davon, wie Alltagsleben und Verbrechen in Guadalajara zusammengehören könnten. Die Szenen und Charaktere sind jedoch so grob gezeich net, dass die Erzählung eine Fiktion aus Strichmännchen bleibt. Inwieweit dieses Verbrechermilieu etwas mit den realen Verhält nissen in Guadalajara zu tun hat, bleibt offen. Isabel Röder Antonio Ortuño: Die Verschwundenen. Verlag Antje Kunstmann, München, 2019. 255 Seiten, 20 Euro.
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das argument Zeitschrift für PhilosoPhie und soZialwissenschaften
Über Einnahmen aus Ökosteuern könnten soziale Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden. Vetter und Schmelzer erzählen von lokalen Wirtschaftsinitiativen, sich an der Gemeinwohlökonomie orientieren, und schlagen vor, das Bruttoinlandsprodukt als Indikator für Wohlstand abzuschaffen. Schmelzer und Vetter erwähnen immer wieder, dass Postwachstum ein Prozess ist, der noch lange nicht ausgereift oder zu Ende gedacht ist. Sie nennen wichtige Kritikpunkte daran, zum Beispiel das ambi valente und ungeklärte Verhältnis zum Staat und die offene Frage, wie sich eine deutsche Postwachstumsgesellschaft auf europäische Wirtschaftskonstellationen auswirken könnte. Bis zum avisierten »Zeitwohlstand« und einem Miteinander für alle ist es noch ein langer Weg. Aber wie Schmelzer und Vetter beto nen, stellt die Postwachstumsdebatte zumindest die richtigen Fragen. Elena Kolb Matthias Schmelzer/ Andrea Vetter: Degrowth/Postwachstum zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2019. 256 Seiten, 15,90 Euro. tt
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Frauen erzählen
c.wolf: Gibt es noch Wege aus der Gefahr? f.haug/w.haug: Den DDR-Sozialismus historisch-kritisch erinnern d.weber: Schielende Blicke, Geschwätzigkeit – Geschichte(n) von unten herland – ein realutopisches Projekt f.haug: Im Spannungsfeld von Alltagsreden und Kunst hofmann/ivanova/Krahl: Lesen Hören Erzählen simoni/santos: Trotzige Tränen s.sKubsch: Geflüchtete Frauen erzählen u.schröter: Vom sozialistischen Patriarchat K.weber: Zu Dick Boers »Hiob« t.veerKamP: Abschied von den Erzählungen über das Christentum Einzelheft: Jahresabo (3 Hefte):
14 €/12 € (erm.) 30 €/24 € (erm.) zzgl. Versand
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ISSN 1614-0095
E 3477
t iz3w – informationszentrum 3. welt Kronenstraße 16a, D-79100 Freiburg www.iz3w.org
e s k e K t t a t s n e d n nterstützung Spe t h c u a r b t i e k g i Unabhäng
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den n e p s / g r .o w 3 z .i w ww
iz3w Backlist
2019
2018
iz3w 369: Friedensprozesse iz3w 368: Bioökonomie iz3w 367: Anarchismus weltweit iz3w 366: Arbeitsrechte iz3w 365: Pressefreiheit iz3w 364: 1968 international
Einzelheft 6 6,–
iz3w 375: Fundamentalismus iz3w 374: Sozialstaaten iz3w 373: Erinnerungskultur iz3w 372: Klimawandel iz3w 371: Über Verschwörungstheorien iz3w 370: Gefängnisse und Strafsysteme
auch als PDF-Dow
2017 iz3w 363: iz3w 362: iz3w 361: iz3w 360: iz3w 359: iz3w 358:
Einzelheft 6 5,–
Einzelheft 6 4,–
Sexualisierte Gewalt Altern in der Welt Tourismus & Migration Freie Radios Rechtspopulismus Dschihadismus
s Probeheft grati
2016
nload
Einzelheft 6 4,–
iz3w 357: Afropolitane Kultur iz3w 356: Fluchtursachen iz3w 355: Separatismus iz3w 354: Müll iz3w 353: Olympia in Brasilien iz3w 352: Refugees & Selbstermächtigung frühere Hefte: 6 3,–
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