iz3w Magazin # 377

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Der Lauf der Mode – Ästhetik & Ausbeutung

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Proteste in Irak/Iran t Ausstellung »Fiktion Kongo« t Interview mit Léonora Miano

März/April 2020 Ausgabe q 377 Einzelheft 6 6,– Abo 6 36,–


In dies er Aus gabe . . . . . . . . .

Schwerpunkt: Mode Titelbild: Brunel Johnson / unsplash

15 Editorial 16

Spinning around the world Baumwolle ist der Urstoff kapitalistischer Inwertsetzung von Sascha Klemz

19 Schneller! Fast Fashion ist Mode zum Wegschmeißen von den Fashion Lovers im iz3w

3 Editorial

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Politik und Ökonomie 4

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Iran/Irak I: Bagdads Tahrir-Platz

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Die Situation im Irak ähnelt in vielem dem Arabischen Frühling von Thomas von der Osten-Sacken

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Iran/Irak II: Raketen und Heiligenbilder 26

Siegel ohne Glaubwürdigkeit Auf das Textilbündnis folgt der Grüne Knopf, aber kein Gesetz von Gisela Burckhardt

Bolivien:»Ein kollektiver Aufschrei«

Costa Rica: Sodom und Gomorra im Tropenparadies

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Brasilien: Vergiftet und verkauft Die agrarökologische Bewegung gerät in Bedrängnis von Mireille Remesch

Geschäftsidee Gleichheit Hip-Hop-Mode öffnet neue Handlungsfelder für junge Frauen in Vietnam von Sandra Kurfürst

Progressive Reformen erzürnen die Rechte von René Thannhäuser

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Fashion Victims oder starke Frauen? In Bangladesch kämpfen Textilarbeiter*innen um ihre Rechte von Annika Salingré

Die gesellschaftliche Spaltung vertieft sich von Tobias Boos

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»Rechte sind modebewusst geworden« Interview mit Sarah Held über textile Codes und Botschaften

Protest, Ideologie und Dominanz im Iran von Laleh Ardestaninejad

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Was zieht mich an? Gegen die Exklusivität der Mode von Dagmar Venohr

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»Selbstorganisierung von Frauen ist der Schlüssel« Interview mit den Gewerkschafterinnen Dian Septi Trisnanti und Chamila Thushari aus Indonesien und Sri Lanka

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»Kleidung, die intelligent ist« Die südafrikanische Mode ist im Aufbruch begriffen von Daniela Goeller

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Zwischen Konsum und Underground Modebeziehungen von Dubai über Teheran bis Istanbul von Nargess Khodabakhshi

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Kleider machen Frauen Tradition und alte Normen bestimmen in China die Mode von Astrid Lipinsky

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Kultur und Debatte 40

Frömmigkeit und Konsum Die Mode in Indonesien ist augenscheinlich muslimischer geworden von Antje Missbach

Ausstellung: Wer repräsentiert wen? »Fiktion Kongo« wirft Fragen auf von Katja Behrens

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Literatur: »Neue Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte« Interview mit Léonora Miano über ihren Roman »Rouge Impératrice«

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Erinnerung: Bedingungslos Blitze schleudern

46 Rezensionen

iz3w-Autor*innen über konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza

50 Szene / Impressum

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Editorial

Maximal borniert Mitte Januar war es wieder einmal soweit. Deutsche Politiker*innen und ihre Entourage bei den staatstragenden Medien liefen zu Hochform auf in Sachen eitler außenpolitischer Selbstbespiegelung. Anlass war die internationale Libyenkonferenz, zu der die Bundesregierung mit dem Segen der UN nach Berlin geladen hatte. Schon im Vorfeld wurden altbekannte Narrative bemüht, etwa jenes, Deutschland sei in der Weltpolitik ein »ehrlicher Makler« (so die Titelzeile im SPIEGEL 4/2020). Den Vogel schoss der einstige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel ab, als er twitterte: »In der Welt harter Interessenpolitik erreichen manchmal die Interessenlosen mehr. Wir haben stärkeres als Waffen & Geld: Legitimität! Wir waren nicht am Libyen-Krieg beteiligt u. nie Kolonialstaat. Gut, dass Deutschland Libyen nicht den Autokraten überlässt. #FriedenfürLibyen.«

D

ass Deutschland nie Kolonialstaat gewesen ist, hat Gabriel exklusiv. Dass er nichts wissen will von deutschen Waffenexporten an Länder, die in Libyen mitmischen, wie etwa die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Ägypten und die Türkei: Geschenkt. Aber dass ausgerechnet er, dessen Wahl in den Aufsichtsrat der Deutschen Bank kurz bevor steht, von Interesselosigkeit schwadroniert, entbehrt nicht der Komik. (Fun Fact am Rande: Der Kritik am Wechsel zur Deutschen Bank begegnete Gabriel mit den Worten »Ich werde auch in Zukunft nicht anders denken und handeln als vorher«. Das wirft in erster Linie ein bezeichnendes Licht auf sein Denken und Handeln bei der SPD.) Was von der Schimäre zu halten ist, deutsche Außenpolitik sei interesselos, haben Karl Marx und Friedrich Engels schon vor 175 Jahren in ihrem Manuskript »Die deutsche Ideologie« festgehalten: »Wenn die nationale Borniertheit überall widerlich ist, so wird sie namentlich in Deutschland ekelhaft, weil sie hier mit der Illusion, über die Nationalität und über alle wirklichen Interessen erhaben zu sein, denjenigen Nationalitäten entgegengehalten wird, die ihre nationale Borniertheit und ihr Beruhen auf wirklichen Interessen offen eingestehen.« Das klingt wie ein hochaktueller Kommentar zur Tatsache, dass Frankreich, Italien, Russland oder die Türkei niemanden über ihre knallharten Machtinteressen in Libyen im Unklaren lassen. Scharfe Kritik an deren Libyenpolitik ist selbstverständlich dennoch notwendig.

N

ach der Berliner Konferenz ging es in Deutschland erwartungsgemäß weiter mit der außenpolitischen Angeberei. Bundeskanzlerin Angela Merkel resümierte zufrieden, man habe sich darauf geeinigt, das vom UN-Sicherheitsrat verhängte Waffenembargo »respektieren« zu wollen. Außenminister Heiko Maas bekräftigte: »Wir haben unsere Ziele erreicht«. Das mag sein, aber die Ziele müssen sehr bescheiden gewesen sein. Ein konsistenter Friedensplan für Libyen kann nicht dazu gezählt haben. Selbst für einen Waffenstillstand hat es nicht gereicht. So muss zum Beispiel das in Berlin ausgehandelte, unpräzise Agreement erst vom UN-Sicherheitsrat bestätigt werden, bevor Verstöße in Libyen dagegen sanktioniert werden könnten. Das ist nicht gerade wahrscheinlich, bedenkt man die gängige Praxis der Vetomacht Russland und ihre klare Unterstützung der Kriegspartei rund um General Khalifa Haftar. Offen bleibt auch, inwieweit Deutschland die EU in die Libyenpolitik »einbeziehen« will, wie Maas ankündigte. Einzig konkret im Raum steht die Wiederbelebung der EU-Marinemission »Sophia«. Ihre Aufgabe ist die Flüchtlingsabwehr, bekanntlich ein besonders gut geeignetes Instrument zur Friedensicherung. In internationalen Medien stieß die Libyenkonferenz denn auch auf deutlich weniger Lob als hierzulande. Insbesondere in Libyen selbst waren die Reaktionen verhalten. »Ich weiß nicht, was ich von den Ergebnissen der Berliner Konferenz halten soll, sie sind sehr allgemein gehalten«, sagte beispielsweise Youssef Alheri, Leiter des Auswärtigen Ausschusses des libyschen Parlaments und Haftar-Unterstützer, gegenüber der taz. Und auch in Tripolis, dem Sitz der »Regierung der nationalen Übereinkunft« des HaftarWidersachers Fajez as-Sarradsch, war man wenig begeistert. Ein Reporter der Nachrichtenagentur afp hörte sich dort auf den Straßen um und zitiert den Bewohner Abdul Rahman Miloud mit den Worten: »In Wahrheit war die Berliner Konferenz nicht anders als die vorherigen Konferenzen in Skhirat, Frankreich oder Rom (…) Es gab keine Notwendigkeit für eine weitere Konferenz.« Miloud ergänzte: »Das Wichtigste ist, dass es unter den Libyer*innen selbst einen Konsens gibt.« Und weiter: »Um unser Land versöhnen zu können, ist eine Schlichtung in Libyen notwendig.« Genau dies sollte man sich nicht nur in Berlin hinter die Ohren schreiben, findet

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die redaktion

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Vergiftet und verkauft Die agrarökologische Bewegung in Südbrasilien gerät in Bedrängnis

Agroindustrieller Soja-Anbau in Paraná

Foto: Cleverson Beje

Im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná zeigt eine starke soziale Bewegung konkrete Alternativen zum agrarindustriellen ­Modell auf. Vielen Menschen, die vorher nie eine Chance dazu hatten, wird damit die Möglichkeit gegeben, sich an der Weitergabe von Wissen zu beteiligen und an gesellschaftlichen Entscheidungen teilzuhaben. Doch nicht nur diese wichtige Errungenschaft will die Regierung Bolsonaro zerstören.

Sie haben sich nicht in das Paket der so genannten Grünen Revolution mit ihrem Einsatz von Pestiziden und synthetischen Düngemitteln integriert. Stattdessen haben sie Methoden entwickelt, um im Einklang mit der Natur zu produzieren. Maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt ist die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra).

Für ein Leben ohne Pestizide Der Kampf um Land prägt diese Region seit vielen Jahrzehnten. In Brasilien besitzen etwa zehn Prozent der Bevölkerung rund 80 tt Helena und Roque Goncalves Gandin bauen auf ihren zehn Prozent des Landes. In Paraná haben tausende Familien ihr Land Hektar Land eine Vielfalt an Nahrungspflanzen an. Zuckerrohr, beim Bau von Staudämmen an den Flüssen Cantu, Quiri und G ­ uacu Maniok, Reis, Süßkartoffeln, Bohnen, Mais und weitere Gemüseverloren. Der bekannteste Staudamm ist Itaipu in Foz de Iguazu, und Obstsorten wachsen in ihrem Garten. Große Araukarien spenes ist der zweitgrößte der Welt. Auch im Zuge der Grünen Revoden Schatten. Von März bis Juni werden die Pinhão genannten lution verloren Kleinbauern und -bäuerinnen ihr Land. Früchte dieser Bäume geerntet. Es gibt Schweine, Hühner, Rinder, Als Reaktion darauf gründete sich 1984 in Cascavel in Paraná Schafe und Fische. Verarbeitet wird all das von den Gandins selbst, die Landlosenbewegung MST. auf ihrem Hof. Sie schlachten die Tiere, stellen Schmalz her und In Paraná liegt das größte Gebiet in Lateinamerika, in dem die Agrarreform zum Tragen kam. In ihr wurde aufgrund der ungleichen produzieren Rohrzucker. Landverteilung eine Umverteilung und ein »Sozialer Nutzen« von Das Ehepaar lebt in Porto Barreiro, einem kleinem Ort in Südbrasilien im Bundesstaat Paraná. In ihrer Region sind sie Teil der Land gesetzlich festgelegt. Unter der Präsidentschaft von Lula ­Inácio da Silva wurde 2004 der Nationale Plan der Agrarreform gestartet, Bewegung für Agrarökologie1. Dies ist kein leichtes Unterfangen, denn allein in Paraná wurden im Jahr 2019 auf einer riesigen Fläche innerhalb dessen rund 500.000 Familien bis Ende 2007 Land ervon 5,5 Millionen Hektar Land gentechhielten oder ihre Landtitel anerkannt wurnisch veränderte Soja (GV-Soja) angeden. Dieser Prozess ist bereits mit Ende der Bolsonaro ließ direkt nach Amtspflanzt. Auch die Nachbarn der Gandins Regierung Lula ins Stocken geraten. 2017 bauen GV-Soja und Tabak an. Lässt man kam die Agrarreform in Brasilien laut einem antritt 290 neue Pestizide zu den Blick über die Landschaft schweifen, Bericht des Nachrichtenportals UOL dann sieht man die Monokulturalisierung des vollständig zum Stillstand. Landes: Soja, Mais oder Weizen, soweit das Auge reicht. Nicht Hauptaktivität der Landlosenbewegung ist die Besetzung von umsonst ist Brasilien der größte Pestizidmarkt der Welt, mit verLand in Großgrundbesitz, das illegal angeeignet worden war, heerenden Folgen für die Bevölkerung vor Ort. oftmals zur bloßen Spekulation. »Grilagem« nennen Brasilianer*innen Und dennoch ist es in dieser Region gelungen, viele kleinbäuer­ diese Praxis der illegalen Landnahme. In Paraná sind rund 2,3 liche Familien, Landlose und Indigene bei der Entwicklung von Millionen Hektar Land davon betroffen. In Folge der Landbesetnachhaltigen landwirtschaftlichen Methoden zu unterstützen und zungen, mit denen Landlose (wieder) ein eigenes Stück Land den Weg für eine agrarökologische Landwirtschaft zu bereiten. ­erlangen wollen, kommt es entweder zur rechtlichen Anerkennung Diese Entwicklung speist sich aus dem Widerstand vieler Bauern im Zuge der staatlichen Agrarreform – oder zur Vertreibung durch und Bäuerinnen gegen die großflächige industrielle Landwirtschaft. Privatmilizen und Militärpolizei. von Mireille Remesch

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Brasilien

Agrarökologisch angebauter Maniok, ein wichtiges Grund­nahrungsmittel in Brasilien. Foto: Jaine Amorin

Die MST hat über die Besetzung von Land viel dazu beigetragen, dass Familien innerhalb der Agrarreform dauerhaft angesiedelt wurden. Derzeit leben in der Region mehr als 5.000 Familien in legalisierten Assentamentos (Siedlungen), 4.000 Familien leben auf besetztem Land in Acampamentos (Camps). Letztere leben in ständiger Ungewissheit und können jederzeit von der Polizei vertrieben werden. Unter dem jetzigen rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro hat sich die Lage für diese Menschen sehr zugespitzt. Es ist mehr denn je ungewiss, ob sie endlich eigenes Land bekommen. Anfang 2019 hat Bolsonaro per Dekret jegliche Art von Landverteilung innerhalb des Nationalen Plans der Agrarreform für unbestimmte Zeit eingestellt.

Agrarökologie stärkt soziale Bewegung In der MST-Siedlung »Assentamento 8 de Junho« leben 105 Familien. Zehn von ihnen praktizieren Agrarökologie. Eine dieser Familien sind Darci und Marli Teresa da Silva, die dort seit 22 Jahren gemeinsam mit einem Bruder leben und seit 15 Jahren erfolgreich 12,5 Hektar agrarökologisch bewirtschaften. Ihre Geschichte zeigt, wie Familien sich mit Agrarökologie unabhängig machen können. Anfangs haben sie mit 15 Kühen konventionell Milch produziert. Doch dies hat für sie nicht gut funktioniert, obwohl sie die größten Milchproduzent*innen in der Siedlung waren. Noch heute müssen sie den Kredit abbezahlen, der damals für die Produktion notwendig war. Darci beschreibt das Problem so: »Wir haben nur Milch produziert und nichts für die Ernährung der Familie.« Daraufhin hat er eine Rechnung aufgemacht: Wie viel Geld müssen sie innerhalb von zehn Jahren für Einkäufe im Supermarkt ausgeben? Es zeigte sich, dass Milchproduktion für den Markt nicht der richtige Weg ist. Danach hat die Familie neu angefangen. Über die Arbeit der Landpastorale CPT (Comissão Pastoral da Terra) kam es zum Umdenken zugunsten von Agrarökologie. Die CPT, eine Organisation der Katholischen Kirche, fordert seit langem eine ökologische und soziale Ausrichtung der Landwirtschaft und setzt sich ebenfalls für die Landreform ein. Seit dem Jahr 2000 wurde die agrarökologische Bewegung in Paraná immer stärker. Unterstützung bekam sie ab 2003 durch die tt

sozialdemokratische Regierung der Arbeiterpartei (PT) unter Präsident Lula Inácio da Silva. Lula startete unmittelbar nach seinem Amtsantritt die Programme Fome Zero (Null Hunger) und Bolsa Familia (Familienhilfe). Bedürftige Brasilianer*innen erhielten monatliche Zuschüsse und Hilfspakete und bekamen damit dauerhaft Zugang zu Grundnahrungsmitteln. Einzige Bedingung für die Auszahlung der Gelder: Die Kinder mussten regelmäßig in die Schule und zum Arzt. Die Landlosenbewegung MST kämpfte gemeinsam mit Organisationen wie CEAGRO, CAPA und ASSESOAR für die Etablierung von Programmen zur Unterstützung der Familienlandwirtschaft. Im Rahmen von Programmen wie PRONAF und PRONERA wurden zum Beispiel Kreditlinien für Kleinbauern und -bäuerinnen und Schulungen in Agrarökologie auf den Weg gebracht.

Universitäten im ländlichen Raum Und noch mehr wurde erreicht. Auf Druck der sozialen Bewegungen öffnete 2009 die staatliche Universität UFFS (Universidade Federal da Fronteira Sul) in Laranjeiras do Sul. Die Universität liegt in einer Siedlung der MST und verschafft dort bäuerlichen Fami­lien, Landlosen, Indigenen und insbesondere Frauen Zugang zu Bildung. In Paraná ist sie eine von sechs staatlich geförderten Universitäten im ländlichen Raum mit Schwerpunkt Agrarökologie. Die Universität arbeitet eng mit CEAGRO und ­ASSESOAR zusammen, mit dem Ziel, die Landbevölkerung zu stärken und in Agrarökologie auszubilden. Diese gemeinsamen Anstrengungen fruchteten, es wurden wichtige Ausbildungsprogramme zur Umsetzung von Agrarökologie gestartet. Dabei liegt der Fokus neben der praktischen Arbeit auch auf der politischen Bildung. Es geht darum, Wissen zu produzieren, das zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Menschen führt und Raum schafft für politische Teilhabe. Mithilfe von Agrarökologie konnten nicht nur die Einkommen der bäuerlichen Familien erhöht und ihre Ernährung verbessert werden, sie half auch bei der Vernetzung und Organisierung von Menschen, was wiederum die soziale Bewegung in Südbrasilien sehr stark machte. Aus dieser Initiative heraus konnten sich in Parána Bauernmärkte entwickeln und es entstanden Kooperativen – ein wesentlicher tt

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Brasilien Bestandteil von Agrarökologie. Denn es reicht nicht aus, agrarökologisch zu produzieren, es müssen auch lokale Märkte geschaffen werden, wo die Produkte verkauft werden können. Eine wichtige Errungenschaft, die durch die enge Kooperation der Zivilgesellschaft mit der Politik umgesetzt werden konnte, ist das Schulspeisungsprogramm (Programa Nacional de Alimentação Escolar, PNAE). Es verpflichtet Gemeinden, mindestens 30 Prozent der in den Schulen verwendeten Lebensmittel von agrarökologischen Familienbetrieben zu kaufen. Hiervon profitiert auch die Bäckerei der Kooperative C ­ operjunho, die von Einwohner*innen der MST-Siedlung »Assentamento 8 de Junho« betrieben wird. Dort werden an manchen Tagen 240 Kilogramm Kekse für die Schule in Laranjeiras do Sul gebacken. Zwanzig Frauen sind seit 2005 beschäftigt und backen mit einfachen Geräten Brote und Gebäck. Für viele dieser Frauen ist dies eine Möglichkeit, endlich selbst Geld zu verdienen, sich zu organisieren und ihr Leben eigenständig zu gestalten. Oft sind sie es, die den Anstoß geben, auf gesündere Lebensmittel zu setzen.

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nicht nur das Geld, sondern versucht auch, kritische Wissenschaft zu diffamieren. Den Wissenschaftler*innen wird vorgeworfen, Ideologien zu produzieren. Andrioli, der 2019 noch zur Wahl des Rektors an der UFFS antrat, hat dies selbst erlebt. Bolsonaro ernannte Marcelo Recktenvald als neuen Rektor der UFFS, obwohl er in einer hochschulinternen Wahl nicht Erstplatzierter war, sondern lediglich auf den dritten Platz kam. Kein brasilianischer Präsident vor Bolsonaro hat das Vorschlagsrecht der Universitäten so missachtet.

Den Repressalien widerstehen

Eine große Bedrohung für die agrarökologische Bewegung stellt auch die mögliche Privatisierung dieser Universitäten dar. Ihre Finanzierung könnte von Agrarkonzernen abhängig werden, was der agrarökologischen Praxis Ende bereiten würde. Die Politik nimmt schon jetzt Einfluss auf das Curriculum in den Schulen und an den Universitäten. Die Forschungsgelder für Humanwissenschaften werden gekürzt und weniger kritische Studiengänge wie beispielsweise Ingenieurwissenschaften finanziell gut ausgestattet. Themen wie »Gender« werden aus den Programmen genommen. Luft zum Atmen Repressionen erfährt auch die soziale Bewegung in Südbrasilien. tt Rosimari und Ronaldo Sandro Dapont aus Ampere kamen über Organisationen wie CAPA und CEAGRO bekommen keine finan­zielle Unterstützung mehr. Die Landlosenbewegung MST und insbesonihren Nachbarn dazu, einen Kurs zu Agrarökologie bei ASSESOAR dere Frauenbewegungen werden diskriminiert und bei Ausschreizu machen. Vorher hatten sie Tabak angebaut und 2.000 Hühner für die Eierproduktion gehalten. Gereicht hatte ihr Einkommen bungen von Projekten und Forschung übergangen. Die Lage für damals trotzdem nicht, Ronaldo musste zusätzlich noch in der Stadt Kleinbäuerinnen und -bauern, Landlose und Indigene ist bedrohlich arbeiten. 2019 stellten sie um und betreiben seitdem Agroforst2, geworden. In der Nähe von Laranjeiras do Sul kam es im Oktober in einem Camp von Landlosen zur gewaltsamen Vertreibung durch bauen Obst und Gemüse an. Sie haben fünf Kühe und produzieren die Militärpolizei. Milch und Käse. Stolz sind sie auf ihren neuen Hühnerstall, den sie mit Hilfe von ASSESOAR gebaut haben. Sie warten nur noch auf die In Südbrasilien liegt es vor allem an der Stärke der sozialen 150 Hühner einer nicht überzüchteten Art, die bald kommen sollen. Bewegung, dass zurzeit überhaupt noch Agrarökologie gefördert Rosi verkauft ihre Produkte auf einem Markt wird. Eine wichtige Rolle spielen dabei in Ampere, dessen Präsidentin sie ist. Lange auch die gewachsenen regionalen StrukDie Bewegung in Paraná weiß, haben sie und ihre Mitstreiter*innen von elf turen. So will der Bundesstaat Paraná Familien dafür gekämpft, einen festen Ort mit beispielsweise bis 2030 eine hundertwas sie bereits geschaffen hat Marktständen zu bekommen. Warum hat sie prozentige Versorgung mit Bioproduksich der Agrarökologie zugewandt? Rosi erläuten an den Schulen erreichen. tert es mit einer kurzen Geschichte von einem Nachbarskind, das Unter der aktuellen Politik ist Agrarökologie alles andere als einfach. Doch die Bewegung in Paraná weiß, was sie kann und was sie bei ihnen zu Besuch war. »Hier gibt es Luft zum Atmen«, meinte es bereits geschaffen hat. Die 700 Wissenschaftler*innen an den sechs begeistert. Anders als bei ihm zu Hause, wo GV-Soja angepflanzt wird. Rosi und Ronaldo sind zufrieden mit ihrem agrarökologischen Universitäten stellen zusammen mit den sozialen Bewegungen und Leben. »Es ist viel Arbeit, aber wir sind froh, ohne Pestizide leben den Bauern und Bäuerinnen eine große Kraft dar. Es ist ihnen trotz zu können«, sagt Ronaldo. Es fehle allerdings an Unterstützung aller Hindernisse zuzutrauen, das agrarökologische Projekt am durch die derzeitige brasilianische Regierung. Leben erhalten zu können. Die positive Entwicklung in Südbrasilien hin zu mehr UnabhänAnmerkungen gigkeit, politischer Teilhabe und gesunder Ernährung ist jedoch akut gefährdet. Seit dem Amtsantritt von Jair Bolsonaro im Januar 2019 1 Das Konzept der Agrarökologie umfasst drei Kernbereiche: Eine landwirtschaftliche Praxis, die Biodiversität erhält und fördert und die landwirtschaftlichen gerät die agrarökologische Bewegung immer mehr in Bedrängnis. Ökosysteme widerstandsfähig macht; eine wissenschaftliche Disziplin, die Der neue Präsident setzt mit seiner Politik deutliche Zeichen und bäuerliches, lokales Wissen einbezieht; ein politischer Ansatz und eine Bewegung, die kleinbäuerliche Strukturen ins Zentrum stellt und die Macht großer unterstützt aktiv die Ausweitung der Sojaanbauflächen und der Agrarkonzerne beschränken will. agroindustriellen Viehhaltung. In den ersten hundert Tagen seiner 2 Bei Agroforst-Systemen werden Bäume zusammen mit Feldfrüchten angebaut. Amtszeit wurden 290 neue Pestizide zugelassen. Die kleinbäuerliche Dadurch verändert sich das Mikroklima und die Bodenfruchtbarkeit wird agrarökologische Landwirtschaft ist in Bolsonaros Regierungsproverbessert. Zugleich können Bäume die Nährstofffixierung und -verfügbarkeit gramm nicht vorgesehen. Fraglich ist auch, wie es mit dem Schulfördern. speisungsprogramm weitergeht. Zum Teil warten Familien bereits seit fünf Monaten auf die Bezahlung für ihre Lieferungen an die Schulen. tt Mireille Remesch ist entwicklungspolitische Referentin der Agrar Koordination in Hamburg. Sie war zuletzt im Oktober 2019 Professor Antônio Inácio Andrioli, der bis April 2019 Vize-Rektor in Paraná. Weitere Infos, Fotos und Videos unter der UFFS war, berichtet von zahlreichen Schwierigkeiten auch an den sechs agrarökologischen Universitäten. Die Regierung kürzt www.agrarkoordination.de. tt

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Editorial

Kleider machen Leute »Er deutet in Richtung einer Studentengruppe; ich zähle vier Mädchen in weiten Trenchcoats und fünf Jungs mit schweren Armbanduhren.« So lautet ein beliebiger Satz aus Leif Randts Roman »Leuchtspielhaus«. Er verdeutlicht, wie man sich augenblicklich anhand äußerer Codes ein Bild macht. Wir sprechen über Mode. Mode bezeichnet einen gesellschaftlichen Rahmen des Geschmacks oder der Sitte. Kleidungsstile (oder genauer: -trends) legen fest, wie man sich kleidet, ohne Anstoß zu erregen, sondern lieber Akzeptanz oder Bewunderung hervor ruft. Mode bietet aber auch einen Spielraum, in dem sich Menschen einen individuellen Ausdruck verleihen können. Und Mode ist dynamisch. Sie wird von den Einzelnen, von Kollektiven, aber auch von den Zentren des Modebetriebes ständig weiterentwickelt.

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ode ist ein breites, offenes System und sie hat mannigfaltige gesellschaftliche, ästhetische, kulturelle, macht- und genderpolitische, ökonomische und arbeitsweltliche Implikationen. Wir beschränken uns in diesem Heft auf textile Mode. Zu Beginn nahmen wir uns ein Motto vor, nach der Novelle von Gottfried Keller: Kleider machen Leute. Wie kreiert die Mode das gesellschaftliche und individuelle Sein? Kleider machen Männer. Kleider machen Frauen. Kleider machen Kinder … Kleider zeigen die Klassenzugehörigkeit oder das kulturelle Kapital an. Kleider erzählen Geschichten und Menschen drücken sich mit ihnen aus. Kleider klären die Zugehörigkeit: Zu Kulturen und Gruppen; zu einem ‚Volk‘; zu einem Milieu; zu Oppositionen oder zu Subkulturen. Gottfried Keller wendete seinen Buchtitel »Kleider machen Leute« einmal in seiner Erzählung: Leute machen Kleider. Im Einleitungsartikel dieses Themenschwerpunktes erzählt Sascha Klemz, welch großen Anteil die Textilindustrie an der globalen wirtschaftlichen Entwicklung hat. Das Los der Arbeiter*innen in der Baumwollproduktion, den Spinnereien, Schneidereien und Textilfabriken lässt sich bis heute am ehesten mit dem Begriff der Ausbeutung charakterisieren. Das ist die Schattenseite der Modebranche: Prekäre Anstellungen, mangelhafter Arbeitsschutz, Niedriglohn. Der Textilsektor ist keine privilegierte Branche (wie etwa Maschinenbau oder Informatik), sondern deprivilegiert. Deshalb ist der Anteil von Ungelernten oder von Frauen hoch, und deshalb wird zunehmend im Globalen Süden produziert. Aus einer süd-nord-politischen Perspektive sind die Asymmetrien in den globalen Produktionsketten und beim Handel empörend. Die Modebranche ist zwar hochgradig innovativ und lebt geradezu vom permanenten

Wandel. Aber zur Charakterisierung der Missstände bleibt die altgediente sozialkritische Literatur aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert hochaktuell. Einige Beispiele erläutern dies. Die »von Demütigung zu Demütigung schreitenden« schlesischen Weber von Gerhart Hauptmann: Sie leben heute in Indien. Der von Heine den Webern in den Mund gelegte »Fluch dem König, dem König der Reichen,/Den unser Elend nicht konnte erweichen«: Er wird heute etwa in Kambodscha ausgestoßen. Noch immer lässt sich die Branche auch mit den Reimen von B. Traven aus »Die Baumwollpflücker« von 1926 beschreiben: »Es trägt der König meine Gabe,/Der Millionär, der Präsident./ Doch ich, der lump’ge Pflücker, habe/ In meiner Tasche keinen Cent.« Bei seiner Beschreibung der Zustände in Mexiko verschweigt Traven aber nicht die Geschichte der Kämpfe und Emanzipation der Arbeiter*innen. Im Themenschwerpunkt betrachten wir das mit Beispielen aus den Fabriken in Indonesien und Bangladesch.

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leidung ist zur Ware geworden, und der massenhafte Kleiderkauf substituiert für viele Käufer*innen den Mangel an erfülltem Leben im täglichen Konkurrenzkampf. Dagmar Venohr schreibt in ihrem Artikel sogar, dass die Kategorie Mode per se in der kapitalistischen Stupidität verfangen sei. Doch unser Blick richtet sich auch auf das schöpferischkulturemanzipative Potential von Mode und Kleidung: Kluge postkoloniale Mode in Südafrika, coole Looks in ­Vietnam, Indonesien oder im Mittleren Osten. Die Modeschöpfung beschränkt sich immer weniger auf die dominierenden Zentren wie Paris, Mailand, London, New York oder Tokio. Neue Horizonte eröffnen sich, wie Daniela Goeller mit Blick auf Johannesburg schreibt: »Für seine preisgekrönte Installation African Studies stellte der Modeschöpfer Thebe Magugu die Kleiderpuppen auf eine lange Papierbahn, die mit dem Text der südafrikanischen Verfassung bedruckt war.« Themen wie die Dekonstruktion von klassischen Geschlechterrollen, von ‚Volkszugehörigkeiten‘ und Klassenschranken bilden sich in neuen Looks ab. Besonders spannend ist dabei die Bedeutung textiler Codes für Subkulturen. Nicht immer stehen sie aufseiten der Emanzipation – wie die Aneignung subkultureller Kleiderstile durch die identitäre Rechte in Österreich zeigt. »Was soll ich anziehen?« Mit dieser so umfassenden wie universellen Frage kämpft auch die

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die heute sehr aufgechicte redaktion.

Zum Look: Sie trägt weite Trenchcoats und schwere Armbanduhren.

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Mode

Spinning around the world Baumwolle ist der Urstoff kapitalistischer Inwertsetzung

Die Herstellung von Kleidung aus Baumwolle ist eine alte Kulturtechnik. Sie hat sich jedoch durch die Industrialisierung technisch, räumlich, ökonomisch und kulturell umfassend gewandelt. Vielen gilt Baumwollproduktion als Triebfeder der wirtschaftlichen Globalgeschichte. Ihre Entwicklung hat das, was wir heute Mode nennen, erst möglich gemacht.

von Sascha Klemz Mit Kleidung und Mode assoziieren wir sehr unterschiedliche Dinge. Schönheit, tolles Design, die Auswüchse der Konsumgesellschaft oder ausbeuterische Fabrikarbeit in Asien. Selten jedoch ist die Assoziation der (Roh-)Stoff, aus dem die Kleidung gemacht ist. Dabei spielt dieser eine entscheidende Rolle dafür, welche Funktio­ nen die Kleidung erfüllt, wie sie aussieht und sich anfühlt oder wie viel sie kostet. Betrachtet man die Gesamtmenge der textilen Fasern (also auch Füllmaterialien, Autositzbezüge und so weiter), dann sind Polyester und andere erdölbasierte Kunstfasern das am häufigsten verwendete Material. Bei Kleidung ist jedoch Baumwolle seit dem 19. Jahrhundert die wichtigste Faser und auch heute noch in über der Hälfte der Kleidungsstücke das Hauptmaterial. Baumwolle wurde vor etwa 250 Jahren zu einem der wichtigsten Handelsgüter überhaupt. So wichtig, dass etwa der Historiker Sven Beckert in seinem Buch »King Cotton – Eine Geschichte des globalen Kapitalismus« behauptet, der Baumwollhandel sei die entscheidende Triebfeder der Industrialisierung, des modernen Nationalstaats und des Imperialismus gewesen. Baumwolle ist zugleich ein prominentes Beispiel dafür, wie sich der heutige internationale (Kleidungs-)Handel aus dem Kolonialismus heraus entwickelt hat. Dabei fällt die Entstehung der Bekleidungsindustrie mit der Entwicklung von Maschinen zusammen, welche die Baumwolle vom Luxusgut zum meist verwendeten Material der Textilindustrie machte. Für die baumwollbasierte Textilindustrie wurden ganze Bahnlinien gebaut und die ersten Dampfmaschinen in den Fabriken eingesetzt. Diese industrielle Fertigung bedeutete nicht nur das Ende der handwerklichen Herstellung von Stoffen, sondern auch den Beginn der Epoche von Massenproduktion und Massenkonsum. tt

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Alte Kulturpflanze und Handelsware Baumwolle ist eine uralte Kulturpflanze, die bereits vor 6.000 Jahren in Indien, vor 5.000 im heutigen Peru und vor 4.000 Jahren in Mesopotamien und Ägypten kultiviert wurde. Baumwollgewebe wurden vor Beginn der Industrialisierung hauptsächlich in Indien hergestellt und galten als Luxusgut, ähnlich wie Seide. Beides gelangte im 17. und 18. Jahrhundert durch die Britische OstindienKompanie nach England und Europa. Diese Handelsgesellschaft hatte sich schon früh auf das Geschäft mit persischer Seide und Baumwollstoffen aus Indien konzentriert. tt

Die handwerkliche Herstellung von Baumwollstoff benötigte immens viel Zeit. Eine einzelne Person benötigte für die Herstellung von einem Pfund Baumwollgarn etwa 13 Arbeitstage. Für eine vergleichbare Menge an Seide brauchte es nur sechs Arbeitstage, während man für Leinen nur zwei bis fünf und für Wolle ein bis zwei Tage brauchte. An Bedeutung gewann Baumwolle in Europa daher vor allem durch die Industrialisierung, deren Triebfeder sie zugleich darstellte. Vor 1750 waren englische Spinner nicht einmal in der Lage, Baumwollfäden zu spinnen, die ausreichend fest waren, um reine Baumwollgewebe herzustellen und die Lohnkosten in England waren etwa sechsmal so hoch wie die in Indien. Gelöst wurde das Problem mit Hilfe von Maschinen.

Im maschinellen Arbeitstakt Die Spinning Jenny, eine Spinnmaschine mit mehreren Spulen, wurde 1764 erfunden, die von Wasserkraft angetriebenen Spinnmaschinen namens Waterframes entstanden um 1769. Der Histo­ riker Sven Beckert nennt in »King Cotton« als Beispiel für einen der ersten englischen Industriellen Samuel Greg. Greg wollte die Erzeugnisse der damals marktführenden indischen Spinner*innen und Weber*innen durch maschinell in England hergestellte Garne und Stoffe ersetzen. Sein Familienvermögen und das seiner Ehefrau stammten aus karibischen Zuckerrohrplantagen und dem Sklaven­ handel. Zwei Onkel Gregs, die ebenfalls Kapital für seine Spinnmaschinen beisteuerten, waren Textilhändler und besaßen von Sklav*innen bewirtschaftete Zuckerrohrplantagen. Dadurch verfügte Greg über genug Kapital und Handelsbeziehungen, um sein erfolgreiches Geschäftsmodell zu entwickeln. In seiner ersten Spinnerei zwischen Liverpool und Manchester arbeiteten zunächst 90 zehn- bis zwölfjährige Kinder für sieben Jahre als ‚Lehrlinge‘. Zehn Jahre beschäftigte er weitere 110 Erwachsene. Seine Fabrik brachte 18 Prozent Kapitalrendite ein, das Vierfache britischer Staatsanleihen zu dieser Zeit. Selbst andere Industrieerzeugnisse wie die Eisenindustrie und die Kohleindustrie versprachen nur eine Rendite von sieben Prozent. Greg steht beispielhaft für eine neue Kapitalfraktion, bei der Baumwollindustrielle einen immensen Reichtum anhäuften. Nach kurzer Zeit war die britische Baumwollindustrie weltweit führend. Bereits 1795 arbeiteten 340.000 Menschen in Spinnereien, davon etwa 100.000 Kinder. Um 1830 war jede*r sechste Arbeiter*in Englands in der Baumwollindustrie beschäftigt, über 20 Prozent der Wertschöpfung kam aus der Baumwollindustrie. 1788 wurden 50.000 Spindeln Baumwollgarn produziert, 1830 waren es schon sieben Millionen. Nun gaben die Maschinen den Arbeitstakt vor. Gleichzeitig entstanden zur Erhöhung der Produktivität eine extrem starke Arbeitsteilung, Schichtarbeit und Arbeiterbaracken. Während Spinner*innen in Indien 50.000 Stunden brauchten, um 45 Kilogramm Garn herzustellen, waren ab 1825 in England nur noch 125 Arbeitsstunden dafür nötig. Kein Wunder also, dass tt

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Kinderarbeiterin in einer Spinnerei, Globe Cotton Mill, Augusta/USA 1909

Foto: Lewis Hine

auch auf dem indischen Subkontinent mittlerweile günstige engplantagen ausgetauscht worden und man hatte zweihundert Jahlische Baumwolle gekauft wurde. Innerhalb des Zeitraums von 1800 re lang Erfahrung im Anbau von Zuckerrohr gesammelt. Selbst bis 1810 brachen die indischen Garnexporte um etwa 75 Prozent kleinere Plantagen, die mit Zuckerrohr kaum profitabel waren, konnten auf einmal mit Baumwolle hohe Gewinne erwirtschaften. ein. Baumwolle war somit eines der ersten Produkte, bei dem eine Die Plantagenbesitzer konnten rücksichtslos auf die neue Nachfraindustrielle Produktion zur Vorherrschaft auf dem Weltmarkt führte. Entscheidend war nicht mehr traditionelle Handwerkskunst, ge reagieren: Durch die Ermordung großer Teile der indigenen sondern vor allem die Erhöhung der ArbeitsproBevölkerung gab es genügend Land und duktivität durch Maschinen sowie der Zugang zu mit der Sklaverei ausreichend Arbeitskraft, Eine Cotton Gin-Maschine Märkten. um Baumwolle anzubauen. Von der Kaentkernte so viel Baumwolle ribik breitete sich der Anbau von BaumDer Erfolg der englischen Baumwollindustrie hatte großen Einfluss auf den britischen Staat. Da wolle weiter in die US-Südstaaten aus. wie 3.000 Sklav*innen das Spinnen und das Weben teilweise in dreißig Das historische Bild vom Süden der USA ist eng mit Sklaverei, Baumwollanbau und oder vierzig Kilometern Entfernung voneinander dem Sezessionskrieg verbunden. Es ist allerdings ebenfalls eine stattfanden, baute der Staat Eisenbahnstrecken und Kanäle. Der Maschine, die den dortigen Baumwollanbau lukrativ machte: Die britische Staat konnte Handelsverträgen auch über weite Entfernungen hinweg Geltung verschaffen und mit seiner Marine die 1793 erfundene Cotton Gin, die in der Lage war, Kapseln und Handelswege sichern. Die Steigerung der Produktionskapazität Samen von der Faser zu trennen. Eine einzige dieser Maschinen verhalf wiederum dem Empire zu Steuereinnahmen und zu wachkonnte am Tag so viel Baumwolle entkernen wie 3.000 Sklav*innen, sendem ökonomischen und politischen Einfluss. Staat und Kapital die nun auf die Baumwollfelder geschickt wurden. Während sich die Zahl der Sklav*innen in den USA v­ ervielfachte, banden sich aneinander. wurde das Anbauland knapp. 1803 kauften die USA Louisiana, 1819 Florida und 1850 wurde Texas annektiert. Ein weiteres Mittel Baumwolle aus der Neuen Welt … zur Inwertsetzung von Land für den Baumwollanbau war die Ertt Doch woher kam die Rohbaumwolle? Aufgrund der dortigen mordung und Vertreibung der Indigenen. Innerhalb von dreißig gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen gelang es kaum, Jahren stiegen die Baumwollexporte aus den Südstaaten um den zusätzliche Baumwolle aus Asien und dem Mittleren Osten zu Faktor 6.500. Im Jahr 1850 stammten zwei Drittel der in England beziehen. In der Karibik jedoch waren die Bedingungen gut. Dort verarbeiteten Baumwolle von amerikanischen Sklavenplantagen. waren die kleinbäuerlichen Strukturen zerstört und gegen SklavenUmgekehrt blieb die Bedeutung der englischen Fabriken enorm: iz3w • März / April 2020 q 377

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Lediglich ein Viertel der amerikanischen Baumwolle wurde in den USA verarbeitet, 60 Prozent in Großbritannien. Der amerikanische Bürgerkrieg hinterließ jedoch deutliche Spuren. Die Baumwollproduktion in den USA brach während des Krieges ein. Nach Abschaffung der Sklaverei wurde sie teurer – und so geriet das Geschäft mit der Baumwolle dort in eine ernste Krise.

… und auf neuer Wanderschaft

Nun versuchten andere auf dem Weltmarkt erfolgreich zu sein. In Zentralasien gab es schon immer Baumwollanbau für den regionalen Bedarf. Russische Kaufleute gaben den Bäuerinnen und Eine koloniale Globalgeschichte Bauern zunächst Darlehen zu immensen Zinssätzen, womit diese sich auf den Baumwollanbau spezialisierten. Nach Preisstürzen oder tt Der Massenkonsum von Kleidung wurde nur möglich, weil Missernten kauften die Kaufleute das Land, um es in Plantagen Baumwolle industriell verarbeitet werden konnte und die Preise umzuwandeln. Die früheren Besitzer*innen wurden so zu Pächter*­ für Kleidung somit stark sanken. Innerhalb von etwa hundert innen. Auch in Togo und im Kongo versuchten deutsche und Jahren wurde Baumwolle so kostengünstig, dass ihr Marktanteil belgische Kolonialisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Textilindustrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts rund 80 Prozent betrug. Dies brachte einen weitreichenden kulturellen und nicht sehr erfolgreich Baumwollproduktionen aufzubauen. technischen Wandel mit sich. Baumwolle als Massenprodukt hat Auch die Verarbeitung geriet räumlich in Bewegung. Die modernen Fertigungsmethoden gelangten in andere Weltregionen. die Herstellung neuer Stoffe, Fäden und Fasern mit neuen Funktionen ermöglicht. Zugleich ließen erfolgreiche Arbeitskämpfe in England die Kosten Dank der extremen Vielseitigkeit von Baumwolle konnten völsteigen. So verlagerte sich auch die industrielle Fertigung zunehmend in andere Länder. In und um Petrópolis (Brasilien) und Ahlig neue Garne, Stoffe, Muster und Schnitte kreiert werden. Damit medabad (Indien) entstanden nicht nur Plantagen, sondern auch konnte ein Modemarkt mit rascheren Kollektionswechseln entsteFabriken. Das britische Beispiel setzte sich fort: In Japan, China und hen. Zwar gab es auch vorher Kleidungsmoden, aber die ModeSüdkorea, aber auch in Russland, Polen, Indien, Bangladesch, industrie bot Kleidung nun zu einem Bruchteil des Preises an, und China, Vietnam und anderen Ländern war die Industrialisierung industriell gefertigte Mode verbreitete sich in allen gesellschaftlichen eng an die Entwicklung der boomenden Textilindustrie geknüpft. Schichten. Sich modisch zu kleiden ist heute mancherorts einfacher (und manchen Menschen wichtiger), als sich In all diesen Regionen entstanden Plan­ ta­gen oder Fabriken, die sich in den kapi­ beispielsweise gut zu ernähren. Die Länder des Südens talistischen Weltmarkt integrierten und Sklaverei und Genozid waren, neben der tragen noch immer die Hauptdie Sozialstrukturen veränderten. Ausbeutung der Industriearbeiter*innen, die direkte Voraussetzung für das Entstehen einer Auch in den letzten drei Jahrzehnten last der Textilproduktion haben sich die Herstellungsorte der Beklei­ Textilindustrie, welche die Industrielle Revodungsindustrie immer wieder verlagert: lution des 19. Jahrhunderts einläutete und Von Ostdeutschland nach Osteuropa, von dort nach China und so die Modeindustrie ermöglichte. Die Geschichte der Baumwolweiter nach Bangladesch oder Vietnam. Immer wieder soll mit le ist eine Globalgeschichte und zeigt: Der Industriekapitalismus Hilfe von Nähfabriken eine Industrialisierung angestoßen werden. war nur deswegen so erfolgreich, weil er von Anfang an auf die Hilfe des Nationalstaats bei der Ausbeutung von Menschen in Immer noch wandert die Produktion weiter, wenn die Lohnkosten steigen und Produkte wie T-Shirts günstiger woanders genäht anderen Erdteilen setzen konnte. Ohne den Kolonialismus wäre werden können. eine derartige Entwicklung so nicht möglich gewesen. Aktuell ernährt der Baumwollanbau laut der Umweltschutz­ Die Wertschöpfungskette der Textil- und Modeindustrie beruht organisation WWF etwa 250 Millionen Menschen mehr schlecht nach wie vor zu sehr großen Teilen auf einer massiven und gewaltförmigen Umverteilung von Süd nach Nord. Vom Rohstoffals recht. Hinzu kommen ca. 60 Millionen Menschen, die Arbeitsplätze in der Weiterverarbeitung haben. Der Baumwollanbau schafft anbau über die Fertigung bis hin zur Müllentsorgung tragen die weiterhin Wandel, Reichtum und Ausbeutung auf verschiedenen Länder des Südens noch immer die Hauptlast. Die ausbeuterischen Ebenen. Die Arbeitsbedingungen sind (mit Ausnahme der USA, wo Verhältnisse in der Modeindustrie sind nicht auf das ‚Versagen‘ die Anwendung von Maschinen sehr weit fortgeschritten ist) fast einzelner Konzerne zurückzuführen, sondern strukturellen Ursprungs überall schlecht. Kinderarbeit und extreme Ausbeutung sind in der – historisch wie aktuell. Angebracht wäre deshalb eine Dekolonigesamten Lieferkette weit verbreitet. Die Arbeit in den Spinnereien, sierung der Mode, nicht nur gesellschaftspolitisch, sondern auch Färbereien und Nähereien ist extrem hart. im ökonomischen Sinn. Auch der massive und meist unsachgemäße Einsatz von Pestiziden sorgt für gesundheitliche Schäden und die Verseuchung des tt Sascha Klemz ist Mitarbeiter im iz3w . Grundwassers. Zudem gelangt ein großer Teil der Abwässer aus der Weiterverarbeitung, etwa der Färbung, ungeklärt in die Umwelt. Hinzu kommen der immense Wasserverbrauch und die AbhängigZum Look: Er sei, sagt er, modisch recht langweilig keit von Saatgutkonzernen. Mehr als 80 Prozent der Baumwolle ist unterwegs und trägt gerne die Sachen aus seinem eige­nen mittlerweile gentechnisch verändert, um Ertrag und Produktquafair-organic-Laden zündstoff : Jeans und Sneaker, dazu T-Shirt, Hemd oder Wollpulli. lität zu erhöhen. Heutzutage stammt ein Großteil der Baumwolle tt

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weiterhin aus Indien, den USA, China, Brasilien, Pakistan, der Türkei und Usbekistan. Die meiste Baumwolle wird in Asien zu Garn oder Stoff verarbeitet. Immerhin gibt es mittlerweile Versuche, durch Bioanbau, fairen Handel und eine unabhängige Kontrolle der Arbeitsverhältnisse die Bedingungen in der Bekleidungsproduktion zu verbessern oder beispielsweise kleinbäuerliche Strukturen zu fördern sowie die Zahlung von existenzsichernden ‚living wages‘ durchzusetzen. Solche Initiativen bestehen vor allem in Indien, China, der Türkei und den USA.

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Mode

Schneller! Fast Fashion ist Mode zum Wegschmeißen I­ndien, China, Pakistan oder den USA. Die Baumwolle ist gentechnisch verändert, mit Unmengen von Pestiziden besprüht und kann dank Entlaubungsmitteln maschinell geerntet werden. Rund zehn Prozent der Pestizide und zehn Prozent des globalen industriellen Wasserverbrauchs verantwortet die Modebranche. Aus der Rohbaumwolle wird Garn und schließlich der Stoff hergestellt, was heutzutage fast rein maschinell abläuft. Giftige von den Fashion Lovers im iz3w Chemikalien, welche die Gesundheit von Arbeiter*innen gefährden und ins Grundwasser gelangen, kommen insbesondere beim Färben tt Der Modezyklus hat sich in den letzten Jahren rasant beschleuzum Einsatz. nigt. Während es in der ‚traditionellen’ Modebranche die vier Der Stoff des Shirts wird von einer/m der weltweit 60 Millionen jahreszeitlichen Zyklen gibt, hängen in der Fast Fashion alle zwei Arbeiter*innen in den Textilfabriken zusammengenäht, in Indien, bis vier Wochen neue Kollektionen in den Geschäften. Dazu werden Sri Lanka oder in einem der ‚neuen’ Billiglohnländer der Branche aktuelle Trends kopiert und so schnell und billig wie möglich in die wie Äthiopien oder Kambodscha. Sehr wahrscheinlich ist es eine Läden gehängt. Bei KiK oder Primark sind T-Shirts ab 2,99 Euro Frau, die trotz eines zehn oder manchmal 16 Stunden währenden oder Jeans für 5,99 Euro zu bekommen. Arbeitstages keinen ex­is­ »Der Lebenszyklus eines Primark-Protenzsichernden Lohn erdukts besteht aus vielen Phasen, die möghält. Wenn sie Glück hat, liche ökologische Auswirkungen haben kracht ihr am Arbeitsplatz können. Wir bemühen uns, diese Auswirnicht die Decke auf den kungen nach Möglichkeit weitestgehend Kopf, wie es 2013 den zu reduzieren«, heißt es auf der Web­seite Arbeiter*innen der Ranades Konzerns. Mit Polyester (also Mikro­ Plaza-Fabrik in Banglaplastik) und Wegwerfmode (also Mülldesch geschah. bergen) und verschmutztem Wasser hat Containerschiffe und Flugzeuge verteilen das RohFast-Fashion also nichts zu tun? Weiter heißt es auf primark.com: »Das material und die EndproWohlergehen der Arbeitskräfte, die die dukte über den Globus. Filmstill aus »China Blue« Die Arbeitsverhältnisse und Produkte für Primark herstellen, ist uns die Öko­bilanz in der Transwichtig.« Wie rührend! Aber es hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Die ist geprägt von einer knallharten portbranche sind »stark optimierbar« (siehe den ThemenschwerPreiskonkurrenz, die für fortgesetzte Niedriglöhne und nicht-exispunkt zu Logistik in iz3w 349). Die Fast Fashion wird ruckzuck tente Umweltauflagen sorgt. Denn wer als Produzent*in nicht zu vermarktet, der Rest wird ebenso schnell zum Sonder­angebot … den Billigsten gehört, verliert den Auftrag. Nicht einzelne Kleidungsund mehr als 90 Millionen Tonnen Klamotten landen jedes Jahr im stücke, sondern die ungeheuren Massen von Billigware führen in Müll. der Textilbranche zu Gewinnen. Aldi und Lidl zählen in Deutschland Dies ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal von Fast Fashion, inzwischen zu den zehn umsatzstärksten Modehändlern. Dazu sondern ein Querschnittsphänomen des textilen Massenkonsums. steigert sich, vor allem im Segment der jungen Kundschaft, der Nur 20 Prozent der Kleiderreste werden irgendwie recycelt. Dazu Wettbewerb um den allerneuesten Trend. zählen auch die milden Gaben in der Altkleidersammlung, die weiterverschifft und billig verscherbelt irgendwo anders den lokaFast Fashion frisst inzwischen seine Eltern, denn die schnellen len Textilmarkt ruinieren. In Megacities wie Kairo beispielsweise Kollektionswechsel kann selbst eine Kette wie H&M kaum mehr nachvollziehen. Echte Fast Fashion wird mehr und mehr online gibt es ganze Straßenzüge, wo ausschließlich Kleiderspenden aus vertrieben. Die Wertschöpfungskette umgeht das Nadelöhr der dem Globalen Norden verkauft werden. Der gesamte Modemarkt Läden und der schlecht bezahlte Paketbote übernimmt die letzte wird mit der Fast Fashion nur schneller. Für die Arbeiter*innen wird er stressiger; und er bleibt ausbeuterisch und umweltschädlich. Strecke. Wenn es schnell gehen muss, kommt Fast Fashion wie der Blitz mit dem Flieger. Klimakiller Billig-Shirt – Hauptsache der ­Aufdruck ist megaaktuell. tt Die Fashion-Lovers im iz3w sind eine kleine radikale Minderheit.

Die Zahl der weltweiten Kleidungskäufe hat sich im Laufe der letzten 15 Jahre verdoppelt. Etwa 100 Milliarden Klamotten gehen im Jahr über die Ladentheken. Der Trend zur Fast Fashion erhöht den Stress der Arbeiter*innen und vergrößert die ökologische Negativbilanz der Textilproduktion.

Für Herstellung und Transport eines derartigen T-Shirts sind weltweit viele Akteur*innen verantwortlich. Am Anfang stehen die Betreiber*innen der Baumwollfelder, vor allem in Ländern wie tt

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Zum Look: Manche im iz3w kriegen hin und wieder von ihren Eltern zu hören, sie sollten sich mal »was Ordentliches zum Anziehen« kaufen.

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Wie funktioniert der Spaß?

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Mode

Was zieht mich an? Gegen die Exklusivität der Mode

Mode ist nicht einfach ein Ausdruck der Persönlichkeit. Sie re/produziert machtvolle Interessen und steht somit immer auch im Zeichen marktförmiger Bedürfnis­ erzeugung, herrschaftlicher Distinktion und gesellschaftlicher Konvention.

von Dagmar Venohr Kein Mensch ist nackt, alles Äußerliche ist bedeutsam und Mode ist nicht gleich Kleidung. In der Art und Weise, wie wir uns geben, kleiden oder schmücken, drückt sich unser Verhältnis zur Welt aus. Die Modetheorie spricht von der vestimentären, das heißt einer auf die Kleidung bezogenen Darstellung. Beeinflusst durch Zeit und Raum wird sie durch vielfältige kulturelle, soziale und ökonomische Formationen geprägt. Kleidung ist Ausdruck dieser grundlegenden Diversität. Mode ist dabei lediglich das Exklusive, ein Zeitgeist und der letzte Schrei, der den Ton angibt. Da Mode immer ökonomisch intendiert, am eigenen Vorteil interessiert und Produkt machtvoller Autorität ist, muss man genau hinsehen. Es braucht einen kritisch-reflexiven Blick auf die Kleidungsstücke selbst, ihre Herkunft, Herstellung, Verbreitung, Verwendung und Verwertung, um zu erkennen, wie sich das globale Spiel der Mode entfaltet. Die bekleideten Menschen und ihr Handeln selbst verweisen außerdem auf die Art und Weise ihrer Anpassung oder ihres eigensinnigen Handelns gegenüber der Konvention. Das ist kein harmloses Spiel: Die Regeln des Modemarktes reproduzieren ständig die alten Ungleichheiten. Im gegenwärtigen Diskurs werden diese Ungleichheiten zunehmend von einem vermeintlich kritischen Bewusstsein verschleiert anstatt aufgehoben. Die oft unerkannten, weiterhin handlungsaktiven Diskriminierungsmuster von Class, Race, Gender verschwinden hinter einem moralisch idealisierten Schleier scheinbarer Sustainability, Diversity und Intersectionality. Illustrieren lässt sich das anhand der Entsorgung unseres textilen (Gift-)Mülls, getarnt als mildtätige Gabe über den Kleidercontainer an die Armen der Welt. Ein zelebrierter Konsumverzicht produziert mehr Schein als Wandel, da es oftmals nur um eigene Befindlichkeiten geht. Im medialen Hype um einen längst kommerzialisierten Pop-Feminismus verkommen Verweise auf Mehrfachdiskriminierungen zu plakativen Symbolen. Sie sind lediglich modische Attitüde und eben kein nötiges differenzierendes Sichtbarwerden. tt

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Mode ist Markt Wie sich die herrschenden Machtmuster im Zeitgeist reproduzieren, so reproduzieren sie sich auch innerhalb der Modekritik. Die Blickrichtung aus dem globalen Norden ist, auch wenn sie benannt wird, niemals harmlos, auch nicht bei symmetrischer Erwiderung. – Was tun? tt

Eine mögliche Chance besteht in der ständigen Offenlegung dieses Machtmusters. Um anders intervenieren zu können, müssen wir uns fragen: Was wollen wir erzählen, wenn wir über Mode sprechen? Mit wem kommen wir ins Gespräch? Was machen wir, wenn wir uns anziehen? Wessen Kleidung tragen wir? Aus den Antworten kann vielleicht irgendwann eine gemeinsame Erzählung werden. Beim Sich-Bekleiden sind Intention, Interesse und Interpretation immer eine Sache der Person. Der Mode hingegen liegen marktwirtschaftliche Erwägungen zugrunde. Kleidung wird daher heute weltweit überwiegend als Mode produziert und soll auch in diesem Sinne konsumiert werden: kollektiv demokratisierend; distinktiv hierarchisierend; modern individualisierend; ewig erneuernd; schnell wechselnd. Nur unter diesen Voraussetzungen ist das marktwirtschaftliche Wachstum der Textilindustrie fortsetzbar. Mode bringt das Phänomen der Obsoleszenz auf den Punkt: das sinnlose Veralten von Produkten zugunsten der marktwirtschaftlichen Erneuerung. Mode ist der Inbegriff eines auf sinnentleerendem Wertverlust aufbauenden globalen, neoliberalen Marktes.1 Dinge veralten aus rein ideologischen Gründen. Das Modesystem tarnt diese Strategie als einen sich permanent erneuernden kulturellen Fortschritt. Damit stiftet die Mode für viele ein Gefühl sozialer Teilhabe. Tatsächlich vergeudet es die schwindenden materialen Ressourcen auf Kosten aller und stärkt die Finanzen weniger.

Kleidung kann kreativ sein … Kleidung hingegen, das eigentliche, materiale Ding, das SichBekleiden, der handelnde Umgang mit Bekleidung und bekleideten Menschen, sowie die Herstellung von Kleidung – kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Das Sich-Bekleiden birgt das hoffnungsvolle Potenzial einer inspirierenden Begegnung mit dem je Anderen. Dieses Kennenlernen führt in der vestimentären Praxis zu wechselseitiger Aneignung und Abgrenzung, sowie zu einer veränderten Selbstverortung und Umwandlung des Bisherigen. So steht die modehistorisch vom Orient inspirierte erste Hose der Frau für die emanzipatorische Aneignung genderspezifischer Kleidungsstücke. Subversive Bekleidungstaktiken, wie die smarten Maßanzüge männlicher Jugendlicher des britischen Arbeitermilieus in den 1960ern, gelten als symbolische Rebellion gegen gesellschaftliche Ohnmachtserfahrungen. Traditionelle Kleidungsgewohnheiten, wie Trachten, textile Musterbildungen oder markante Kopfbedeckun­ tt

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Rubrik???

Foto: Yogendra Singh / unsplash

gen, können als demonstrative Zeichen nationaler, indigener und imprägnierter Sachkenntnis verkommen. Sustainability ist längst en religiöser Identität dienen und Teilhabe verdeutlichen. Während vogue, und das im Modesystem angesagte Greenwashing instruanderer­seits explizit an westlichen Modetrends orientierte Kleidungsmentalisiert ein bereits vorhandenes Problembewusstsein meist stücke oder deren Markenlogos, getragen in nicht westlichen auunerkannt. toritären Staaten, als Zeichen demokratischer Opposition verstanden Das notwendige Erkennen dieser Bedeutungsweisen der Mode werden. reicht nicht aus, denn die daraus abgeleitete medienwirksame und Die hierin grundlegend enthaltene vestimentäre Bedeutung wird absatzsteigernde Forderung einer »nachhaltigen Mode« ist paradox. in der Marktlogik der Mode jedoch einseitig verwertet. Das KleiMode kann als »absolute Agentin des Kapitalismus« (Lehmann dungsstück erhält seinen Wert nur noch als Ware innerhalb des 2012) niemals nachhaltig sein, Kleidung an sich allerdings schon. Modesystems, und ist nur als Mode bedeutsam. Da in der Kleidung zahlreiche sozial-wirtschaftliche Faktoren zusammenspielen, ist Wechselt dieser, muss auch das Kleidungsstück Die Mode von gestern die Kleidungsproduktion und -distribution ausgetauscht werden, um nicht obsolet zu sein. ein wichtiges Handlungsfeld für eine nötige Mode an sich bedeutet immer das Zeitgemäße steht nur für den Mangel und den hierin vorherrschenden Wert. Die Mode Transformation. an sozialer Teilhabe von gestern steht nur für den Verlust oder den Es ist also ein forderndes Agieren mit Textilien im Sinne einer nachhaltigen Ökonomie Mangel an sozialer Teilhabe. Die treibende kreative Kraft der Mode ist ihr sich ständig erneuerndes Versprechen gefragt. Das Textile ist eine materiell und ideell extrem ausdifferenzierte Technologie, die wie keine andere für die kulturhistorische mittlerweile globaler, wertschätzender Anerkennung durch materiale Aneignung und ihre demonstrative Aktualisierung. Entwicklung der Menschen, ihre weltweite wechselseitige ideelle Inspiration und materielle Aneignung steht. Das Textile erzählt eine Es reicht nicht, Mode als Phänomen begreifen zu wollen. Das Kulturgeschichte, die eigentlich alle Menschen gleichermaßen schön Gestaltete, die hübschen Kleider und der Spaß an der Inszenierung des Selbst verleiten dazu, Mode als bloße, sinngebende involviert und deswegen gleichwertig in ihrer Diversität zur Sprache kommen lassen sollte. Nun ist Fragen-Stellen und Zuhören-Wollen Erscheinung zu verharmlosen. Der Mode wird in diesem Zusammenhang häufig ein emanzipatorisches und demokratisierendes angesagt: fool fashion – transform textile! Handlungspotenzial zugeschrieben. Damit wird vertuscht, dass das Anmerkung Modesystem weiterhin machtvolle Hegemonien reproduziert, auch 1 Ulrich Lehmann sieht in der Mode »eines der wichtigsten Werkzeuge in der wenn, oder gerade weil sich weltweit mehr Menschen modische ideologischen Untermauerung eines zu erhaltenden Fortschritts in der bürgerProdukte leisten können. Die Textilindustrie ist ein besonders prolichen, kapitalistischen Verwestlichung«. Siehe Ulrich Lehmann: Mode gegen minentes Beispiel für die paradoxe weltweit zunehmende AusbeuModerne, in: Bieger u.a. (Hg.): Mode. Ein kulturwissenschaftlicher Grundriss. München 2012 tung der Arbeitskraft durch Steigerung der Produktivkräfte. Dabei befindet sich die Textilindustrie in der Abhängigkeit zum Ausverkauf der natürlichen Ressourcen. Der Effekt der Preissenkungen heißt Niedriglohn. Das wissen mittlerweile fast alle, aber kaum tt Dagmar Venohr ist Kulturwissenschaftlerin und Schneiderin, jemand handelt danach. Wir beschäftigen uns zu viel mit der Mode sie arbeitet unter anderem mit dem Forschungsschwerpunkt ‚Mode‘ und ihren Erscheinungen, und wie sich aus dieser Logik heraus die an der Europa-Universität Flensburg. Nachhaltigkeitsproblematik ethisch korrekt darstellen lässt.

… oder »Agentin des Kapitalismus« So kann die irreduzible Austrocknung des Aralsees aufgrund der ausufernden Baumwollproduktion in die bloße Darstellung moralisch tt

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Zum Look: Ein US-Fishtale-Parka dient ihr als Rüstzeug gegen modischen Schnickschnack und ist ihr eine ­Reminiszenz an jugendbewegte Wildheiten im Denken und Handeln. Der Echtpelz-Besatz der Kapuze fungiert als Mahnmal zum alltäglichen Aktiv-Werden.

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Alles Äußerliche ist bedeutsam


»Rechte sind modebewusst geworden« Interview mit Sarah Held über textile Codes und Botschaften

Linksautonomer? Autonomer Nationalist? Sonst wer? Schwarz in Jakarta

Kleidung transportiert die Anliegen und Codes gesellschaftlicher Gruppen. Es gibt oppositionelle sowie konformistische Dresscodes. Was erzählt die Mode über die Neue Rechte, über Subkulturen und über die nahe Zukunft? Dazu befragte die iz3w die feministische Kulturwissenschaftlerin Sarah Held.

iz3w: Sie forschen zu Themen wie Mode und Subkulturen sowie Mode und rechte Bewegungen. Warum? Sarah Held: Mode ist immer präsent in der Gesellschaft. Gerade bei so ideologisch aufgeladenen Gruppen wie rechten Subkulturen bestimmt sich vieles durch vestimentäre Praxis – also das Tragen von Kleidung und Mode, die eine politische Gesinnung zum Ausdruck bringt. An der rechten Modemarke Thor Steinar lässt sich zeigen, wie sich die Zeichen entwickeln, die mit solcher Kleidung gesetzt werden. Thor Steinar ist ein Label, das Mitte der Neunzigerjahre mit einem untergrund-lastigen, rechten Bildsprachenrepertoire aufgefahren ist. Es hatte einfache Shirts, die mit eindeutigen Zeichen bedruckt waren: Runen oder die Schwarze Sonne, aber auch Naziparolen. Die Bandbreite war nicht sehr groß. Doch wenn wir uns den aktuellen Katalog von Thor Steinar anschauen, sehen wir die Entwicklung von einem Untergrund-/Do it yourself-Label, wo alles im Hinterhaus eher selbst gemacht wurde, hin zu einer großen Produktions- und Vertriebsstätte. Inzwischen sieht der Katalog wie ein H&M-Katalog aus. Das geschulte Auge erkennt natürlich, dass es sich um Nazi-Fashion handelt. Aber auf den ersten Blick sieht das nach einem hippen, wenn auch rustikalen Lifestyle-Katalog aus. Das macht die Sache gruselig und komplizierter.

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Foto: wild vibes / unsplash

Die Rechten Europas hatten einmal Braun- und Schwarzhemden, nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie kaum zu sehen und sind vielleicht in Trachten auf dem Vertriebenenfest herumgelaufen. In den 1980ern kam die Bewegung der rechten Skinheads mit ihren Bomberjacken. Das waren alles uniforme Stile. Sind Rechte heute modebewusst? tt Genau. Die Formel Springerstiefel, Bomberjacke, Glatze funktioniert 2019 nicht mehr. Es ist zwar schon wichtig, die Uniformierung anzusprechen. Die gibt es immer noch. Aber in den Mittelpunkt ist heute ein Kleidungsstil gerückt, iz3w • März / April 2020 q 377


Mode der in der Masse untergeht. Kleidung wird heute von den Rechten sehr bewusst nicht mehr als Abgrenzungsmerkmal genutzt. Etliche österreichische rechte Identitäre laufen herum wie Hipster oder Normalos. Wir hatten schon in den Nullerjahren Phänomene wie Autonome Nationalisten und Nipster, also den Nazi-Hipster. Da sieht man bereits die Entwicklung, die ich schon anhand von Thor Steinar skizziert habe. Bei den Autonomen Nationalisten begann es so: Das waren eigentlich Nazigruppen, die sich den schlichten schwarzen Kleidungsstil der linken Autonomen angeeignet haben. Da waren auch bestimmte Marken relevant. Wir haben hier die Fetischisierung von bestimmten Produkten wie New Balance Turnschuhe oder auch The North Face Sportswear, also Kleidung, die einen robusten und funktionalen Aspekt hat. Linke und nationalistische Autonome konnte man quasi nur noch anhand ihrer Buttons oder an Aufnähern voneinander unterscheiden. In Bezug auf linke Kleidungspraxen ist eine starke Aneignung innerhalb der rechten Seite zu sehen.

echtes Engagement – das nicht alleine auf die Konsument*innen abgewälzt werden kann. Das Motto »Ihr dürft da und da nicht einkaufen, sonst seid ihr daran schuld, dass es den Arbeiter*innen schlecht geht« – das ändert nichts. Es geht im großen Maßstab darum, wie Arbeitsplätze an Orten wie Dhaka verbindlich verbessert werden, um etwa ein neues Rana Plaza zu vermeiden.

Das Nord-Süd-Verhältnis ist in der Bekleidungsindustrie auch von der anderen Seite her in Bewegung. Früher sagte man: Mode wird in Paris, Mailand, London, New York ausgehandelt. Heute treten Akteur*innen aus anderen Weltregionen und aus dem Globalen Süden auf den Plan. Gibt es eine demokratische Diversifizierung? tt Ja, total. Zwar gibt es auch heute noch die eher unzugängliche Haute-Couture-Blase. Aber es gibt eine auch technische Verschiebung, etwa dass durch Web 2.0-Applikationen Leute ihre eigenen Kollektionen verbreiten können und den öffentlichen Raum als Laufsteg nutzen. Da fällt mir Sadia Zaid ein. Das ist eine junge Designerin mit afrikanischem Hintergrund, die Die Neue Rechte in Europa hat einen neuen in Marseille lebt. Sie nutzt den öffentlichen kulturellen Rassismus und neue ErscheinungsRaum als Laufsteg und Präsentationsfläche. »Der Katalog des rechten weisen hervorgebracht. Die Identitären betreiben Dann lädt sie ihre Bilder auf ihren InstagramMode-Label Thor Steinar eine aktionistische Symbolpolitik mit Anleihen Account hoch. Dadurch umgeht sie die klassisieht aus wie von H&M« etwa bei der linken Kommunikationsguerilla. Ist schen Institutionen der Modewelt und wurde das auch bei der Kleidung sichtbar? so direkt bekannt. Es gibt einen Umbruch. Auch tt Genau das bildet sich in den vestimentären Häuser wie Chanel versuchen, sich durch eine Praxen dieser Gruppierungen ab. Dadurch sind sie zwar nicht andere Medienstrategie einen anderen Anstrich zu geben. Schöner weniger rechts, aber sie wirken wesentlich weniger abschreckend. Schein? Es bietet jedenfalls neue Chancen. Wenn man sich beispielsweise in Italien das kulturfaschistische Casa Pound-Umfeld unter dem Popkulturaspekt anschaut: Es gibt immer À propos neu. Wir leben in Zeiten des Retrolooks. Was sagt das mehr neue Bands wie etwa Bronson, deren Musikvideos zeitgemäß, und wohin führt das? glatt und gut gemacht sind. Die inszenieren sich wie Hardcorett Das stimmt, wir haben derzeit eine stark vom Retro geprägte Bands in ihren Videos. Das ist kein klassischer Rechtsrock wie bei Mode. Aber eine Fußnote dazu: Mode ist zyklisch und es gibt immer Rückgriffe. Wir haben da einen zwanzigjährigen WechselKahlschlag, Radikahl oder Landser. Vielmehr sind das jetzt, provokativ gesagt, fesche Jungs, die gute Hooks und eingängige Refrains rhythmus. Als ich in den Neunzigerjahren Teenie war, waren die machen. Sie wirken damit gerade auf Jugendliche attraktiv. Aber Siebzigerjahre ganz groß. Das war das erste Retro-Phänomen, das letztlich steckt ein rechtsextremes Casa Pound-Umfeld dahinter. ich persönlich erlebt habe. Zurzeit sind Mode und Popkultur stark von den Neunzigerjahren geprägt. Ich habe übrigens passend zum Die Rechte ist in einem ästhetischen Wandel begriffen. Sie spielen mit Bildsprachen, die aus anderen Subkulturen stammen. Dass jüngsten Dekadenwechsel schon Vorboten der neoliberalen Nullerjahre gesehen. Etwa in Form dieser extrem winzigen Minihanddie Rechten sich bei den Linken bedienen, um Verärgerung oder taschen, die Anfang der Nullerjahre in waren. Eine Tasche von Dior, Verwirrung zu produzieren, ist nicht neu. Die Frage ist, wie weitgehend das heute betrieben wird. Man hat ja nicht nur das gegendie mehrere tausend Euro kostet, aber in die nicht einmal eine seitige Subkultur-Battle, sondern wir haben hier eine dezidierte Schachtel Zigaretten hinein passt – das ist eine besondere LuxusAnbiederung von rechts an die Mitte der Gesellschaft. Da kommt markierung im Sinne von Unnötigkeit und Zurschaustellung von ein trojanisches Pferd heran. Reichtum. Vielleicht geht es wieder da hin.

Sarah Held ist Kulturwissenschaftlerin. Sie forscht unter anderem über interventionistische Textilobjekte zum Sichtbarmachen von sexualisierter Gewalt im Spannungsfeld von feministischem Aktivismus und affektiven Kunstpraxen. Sie ist Dozentin für Modetheorie an der Wiener Akademie der Bildenden Künste und der Kunstuniversität in Linz. tt

Zum Look: Sie trägt im Moment Adidas-Leggings und einen Schlabber-Pulli aus dem Secondhand-Laden, weil sie am Schreibtisch in ihrer Komfortzone sitzt. Am liebsten mag sie Looks & Styles die auffällig sind; gern auch für andere verstörend schrecklich wirkend. Das Interview führte Winfried Rust (iz3w).

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Die Mode blickt in die Zukunft. Sie lebt vom Wechsel, ist dabei aus­ beutend, inspirierend… Was gibt es zurzeit in der Modelandschaft Spannendes zu sehen? tt Ich finde die Entwicklung, die wir bezüglich ethischer Ansprüche haben, sehr wichtig. Dass man abkommt von einer Produktion, die umweltschädliche und arbeitskräftefeindliche Auswirkungen hat. An der scheinbar unschuldigen Mode hängt eine der größten Industrien, die Umweltprobleme und soziale Missstände verursacht. Diese soll nun fairer und inklusiver werden, auch hinsichtlich des Nord-Süd-Gefälles. Die Modeindustrie führt koloniale Verhältnisse fort, in denen der Norden den Süden ausbeutet und als große, billige Nähwerkstatt ausnutzt. Daher finde ich es gut, wenn jetzt in der spätkapitalistischen Gesellschaft an vielen Rädchen gleichzeitig gedreht wird, um diese Verhältnisse zu verbessern. Also kein Greenwashing, sondern ein


Mode

Fashion Victims oder starke Frauen? In Bangladesch kämpfen Textilarbeiter*innen um ihre Rechte von Annika Salingré »Ich bin in dem Laden herumgelaufen und hab mir die Sachen angeschaut. Genau solche Sachen nähen wir auch in meiner ­Fabrik. Ein Mantel von dem wir hundert am Tag nähen, kostet hier 120 Euro. Das ist mehr als ich im Monat verdiene. Wer bekommt das ganze Geld?«, fragt Mim Akter, als sie aus einem Modegeschäft in der Kölner Innenstadt herauskommt. Sie ist Näherin und Frauen­ beauftragte der Bangladesh Garment and Industrial Workers ­Federation. Im Herbst 2017 ist die Gewerkschafterin auf einer Rundreise, um in Deutschland über die Arbeitsbedingungen in Bangladeschs Bekleidungsindustrie zu informieren. tt

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­ oykotten auf. Vielmehr setzen sie sich für Solidarität zwischen B Konsument*innen, Beschäftigten im Einzelhandel und den Näher*­ innen ein. Zum Beispiel, dass Konsument*innen bei Unternehmen über die Arbeitsbedingungen in der Produktion nachfragen, oder Kampagnen zur Erhöhung der Mindestlöhne oder zur Freilassung inhaftierter Gewerkschafter*innen unterstützen.

Die Frauen tragen die Branche

Über 80 Prozent der Exporteinnahmen Bangladeschs werden durch industriell gefertigte Massenbekleidung – also westliche Alltagskleidung – generiert. Zwei Drittel der von dort exportierten Ein Existenzlohn existiert nicht Kleidung gehen in die EU. Für den deutschen Bekleidungsmarkt ist tt Seit 2017 konnte eine Anhebung des Mindestlohns von gut 50 Bangladesch das zweitwichtigste Produktionsland. Mehr als 4.000 Fabriken mit rund vier Millionen Angestellten produzieren dort die auf gut 80 Euro erkämpft werden. Doch das reicht nicht. Wie in den meisten Ländern klafft eine Lücke zwischen dem Mindest- und Massenmode. Etwa 80 Prozent der Beschäftigten sind weiblich. Sie Existenzlohn. Ein existenzsichernder Lohn orientiert sich an den arbeiten vor allem als Näherinnen, aber auch in anderen schlecht realen Lebenshaltungskosten im jeweiligen Land. Berechnet wird bezahlten Positionen. er anhand des Bedarfs für Ernährung, Wohnraum, Gesundheit, Die Situation bei Brandschutz und Gebäudesicherheit in den Kleidung, Bildung und Rücklagen für unvorhergesehene Ereignisse. bangladeschischen Fabriken hat sich seit dem Einsturz des FabrikDer Grundlohn für eine reguläre Arbeitswoche in Vollzeit muss komplexes Rana Plaza 2013 verbessert, ist aber weiterhin nicht diese Kosten decken. In Bangladesch läge der Existenzlohn bei rund ausreichend. Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Sozialstandards 260 Euro monatlich. bleiben mangelhaft. Gewerkschaftliche Arbeit wird oftmals untersagt oder behindert. Weil die Arbeiter*innen zumeist keine VerträFür viele Näherinnen ist es ein ferner Traum, sich modisch zu kleiden oder sich Schönes zu gönnen. Gleichzeitig ist es falsch, ge und Lohnabrechnungen bekommen, besteht nur eine geringe diese Frauen als »schwach« oder nur als Opfer der Modeindustrie Arbeitsplatzsicherheit. Zudem werden extrem viele Überstunden geleistet. Dies nicht gerade freiwillig, denn der Mindestlohn für zu betrachten. Sie arbeiten hart und leisten Beträchtliches. Neben ihrer Arbeit in den Fabriken kümmern sie sich in der Regel um eine reguläre 48-Stunden-Woche reicht nicht zum Leben aus. Dazu Haushalt und Kinder und unterstützen mit ihrem Einkommen kommen viele Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt am ArbeitsAngehörige auf dem Land. Einige dieser Frauen haben den Mut platz. Verstöße gegen national oder international geltende Arbeitsihre Stimme zu erheben, tun sich zusammen und gründen Gewerkrechtsbestimmungen bleiben häufig konsequenzlos. schaften. Mim Akter sagt: »Früher hatte ich Angst vor den Chefs Bangladesch ist Mitglied in der Internationalen Arbeitsorganiin der Fabrik, aber heute kann ich denen entgegentreten. Die Arbeit sation (ILO). Deren Kernarbeitsnormen sind für die 187 Mitgliedsin der Gewerkschaft ist mir persönlich staaten bindend. Dazu gehört unter anderem sehr wichtig, denn sie hat mich stark das Übereinkommen 100 über die Gleichheit »Früher hatte ich Angst vor den gemacht. Es gibt mir Kraft zu wissen, des Entgelts männlicher und weiblicher ArChefs in der Fabrik, aber heute dass meine Arbeit allen nutzt und nicht beitskräfte sowie das Übereinkommen 111 nur mir.« gegen Diskriminierung in Beschäftigung und kann ich denen entgegentreten« In der Bekleidungsindustrie geschieht Beruf. Weitere Kernarbeitsnormen beziehen also mehr als nur Ausbeutung. Die Arsich beispielsweise auf die Freiheit, Gewerkbeiterinnen treten durch ihre Erwerbstätigkeit aus traditionellen schaften zu gründen und ihnen beizutreten. Im Juni 2019 wurde Rollenmustern und noch krasserer Armut heraus. Oft sind diese zudem das Abkommen 190 über die Beseitigung von Gewalt und jungen, meist noch unverheirateten Frauen, die mit geringem Belästigung in der Arbeitswelt verabschiedet. Bildungsstand aus dem ländlichen Raum in die Städte migriert sind, Zwischen Bangladesch und Deutschland liegen rund 7.000 um dort als Ungelernte Arbeit zu finden, die ersten in ihren FamiKilometer. Beide Länder erfüllen sehr unterschiedliche Positionen lien, die ein formales Arbeitsverhältnis eingehen. »Nebenher« in der Wertschöpfungskette von Bekleidung; und ihre rechtsstaatkönnen sie manchmal kleine Freiheiten genießen, soziale Kontakte lichen Standards sind kaum vergleichbar. Aber auch in Deutschland pflegen, ohne unter der Aufsicht ihrer Brüder und Väter zu stehen, sind Verstöße gegen nationale und internationale Bestimmungen und sie treten im öffentlichen Raum in Erscheinung. Sie sind das nicht ungewöhnlich. Fundament dieser Industrie, Ernährerinnen ihrer Familien und Im deutschen Bekleidungseinzelhandel sind die Mehrheit der Akteurinnen in der bangladeschischen Gesellschaft. Deshalb fordern Beschäftigten ebenfalls Frauen. Auch ihre Arbeitssituation ist oft sie die kritischen Konsument*innen hierzulande keinesfalls zu prekär. Klassische Normalarbeitsverhältnisse werden zur Ausnahme. tt

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Mittagspause in einer Textilfabrik in Dhaka

Foto: Gisela Burckhardt/FEMNET

Es geht um verbindliche Arbeitsrechte Im Rahmen ihrer Reise traf Mim Akter bei einem Workshop zum Thema »Arm trotz Arbeit« deutsche Gewerkschafter*innen. Dass auf globaler Ebene die Textilbranche von Frauen auf der Grund­lage prekärer Lohnarbeit getragen wird, war den Teilnehmer*innen klar. Alle waren jedoch überrascht über die auffälligen Parallelen im Arbeits­alltag entlang der textilen Kette. Die körperlichen und psychischen Anforderungen an die Arbeiterinnen sind hoch. Die Belastungen aufgrund des Kostensenkungsdrucks steigen. Es werden viele unbezahlte Überstunden geleistet und gewerkschaftlich engagierte Angestellte müssen einiges ertragen. Die Gäste aus dem Süden waren tatsächlich erschrocken über die Arbeitsbedingungen im deutschen Einzelhandel. Immerhin setzten sich überall starke tt

Frauen trotz Mehrfachbelastungen füreinander und für bessere Arbeitsbedingungen ein. Nach dem Unglück von Rana Plaza bei Dhaka unterzeichneten Gewerkschaften und internationale Modeunternehmen das sogenannte Accord-Abkommen. Es legt Verbesserungen von Brandschutz und Gebäudesicherheit in bangladeschischen Nähfabriken fest. Zum Ende der fünfjährigen Laufzeit waren umfassende Verhandlungen notwendig, um insbesondere die Regierung Bangladeschs sowie den Arbeitgeberverband BGMEA von einer Verlängerung zu überzeugen. Das Abkommen Accord II nimmt zusätzlich soziale Kriterien in den Blick: Es geht um Vereinigungsfreiheit und Tarifverhandlungen. Weitere wichtige Aspekte bleiben außen vor: Zahlung existenzsichernder Löhne, Beschwerdemechanismen und Sicherheitstrainings für Arbeiter*innen. Zudem wurde die Arbeitgeberseite in den Gremien gestärkt. Ob damit weitere Verbesserungen möglich sind, muss sich zeigen. Geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz, Diskriminierung von Gewerkschafter*innen, Lohndiebstahl, erzwungene Überstunden, unsichere Arbeitsplätze und Löhne unter dem Existenzminimum: Die Arbeiter*innen in der Wertschöpfungskette von Bekleidung sind vielfältigen Verstößen gegen ihre Menschenrechte ausgesetzt. Die Verteidigung und der Ausbau ihrer Rechte – nicht nur in Bangladesch und Deutschland – ist oft ein harter Kampf gegen starke politische und wirtschaftliche Interessen.

Annika Salingré ist politische Bildnerin mit Schwerpunkt ­ rbeitsbedingungen in der globalen Bekleidungsindustrie. Sie A hat lange in Bangladesch geforscht und in der internationalen Gewerkschaftszusammenarbeit gearbeitet.

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Zum Look: Grau ist das neue Schwarz! Leggings und darüber eine kurze Hose geht immer. Gerne fair, Second Hand, unkaputtbar, vegan, punkig und funktional.

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Viele arbeiten in Teilzeit oder Minijobs; sogenannte Flex-Verträge sind verbreitet: Die Beschäftigten haben vertraglich festgelegte zehn bis 15 Wochenstunden, können aber nach Absprache mehr arbeiten. Vor dem Hintergrund geringer Löhne führt dies oft zur sogenannten ‚Arbeit auf Abruf’. Die Beschäftigten wissen oft weder wann und wie viel sie arbeiten müssen, noch wie viel sie pro Monat verdienen können. Die meisten Beschäftigungsverhältnisse sind zudem befristet. So ergibt sich zwischen den Beschäftigten mitunter eine Konkurrenz um Arbeitsstunden und Vertragsverlängerungen, die von der Arbeitgeberseite ausgenutzt wird. So nehmen viele Arbeit­nehmer*innen in der deutschen Bekleidungsbranche Flexibilisierung, Arbeitsverdichtung sowie mangelnden Arbeits- und Gesundheitsschutz hin. Wegen dieser schwierigen Situation, ihrer Austauschbarkeit und der hohen Fluktuation sind die Möglichkeiten der Mitarbeiter*innen sich kollektiv zu wehren stark eingeschränkt. Fälle von Mobbing und ‚Union Busting’ gegen gewerkschaftliche Organisierungsversuche und die Gründung von Betriebsräten sind für den deutschen Bekleidungseinzelhandel umfassend dokumentiert.


Model in Lagos Foto: Bestbe/unsplash

In Fabriken des Globalen Südens werden die Arbeiter*innen ausgebeutet, damit im Globalen Norden die Kleidung so günstig ist. Seit dem Einsturz der Rana-Plaza-Textilfabrik mit über tausend Toten stehen die deutsche Außenhandelspolitik und Textilindustrie unter Zugzwang. 2014 konstituierte sich das Textilbündnis, in dem für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern gearbeitet wird. Im September 2019 kam mit dem Grünen Knopf ein staatliches Textilsiegel dazu. Beide Initiativen setzen auf Freiwilligkeit statt auf gesetzliche Regelungen.

Siegel ohne Glaubwürdigkeit Auf das Textilbündnis folgt der Grüne Knopf, aber kein Gesetz von Gisela Burckhardt Hungerlöhne, überlange Arbeitszeiten, erzwungene Überstunden – unter oft menschenunwürdigen Bedingungen nähen Millionen Textilarbeiter*innen in Asien und Afrika Kleider für den Weltmarkt. Viele haben ihr Leben dabei verloren, etwa bei dem Brand in der pakistanischen Fabrik Ali Enterprises oder dem Einsturz des RanaPlaza-Gebäudes in Bangladesch. Diese Katastrophen bewegten Bundesentwicklungsminister Gerd Müller 2014 dazu, das »Bündnis für nachhaltige Textilien« – auch kurz Textilbündnis genannt – ins Leben zu rufen. Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sollten gemeinsam die sozialen, ökologischen und ökonomischen Bedingungen in der Textilproduktion verbessern, »vom Baumwollfeld bis zum Kleiderbügel«. Der Slogan ist griffig, doch die Arbeit geht nur schleppend voran und wird fast nur von Fachkreisen wahrgenommen. Das Textilbündnis ist eine so genannte Multistakeholder-Initiative mit rund 120 Mitgliedern. An ihr beteiligen sich derzeit etwas weniger als die Hälfte der deutschen Bekleidungsunternehmen mit ihren Verbänden, aber auch zwei Gewerkschaften, sechs Organisationen für Standards wie Fairtrade oder Global Organic Textile Standard (GOTS) sowie 19 NGOs. So vertritt die Frauenrechteorganisation tt

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FEMNET die Zivilgesellschaft im Steuerungskreis und arbeitet in Expertengruppen zu Themen wie »Maßnahmenpläne zur Wahrnehmung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten in der Lieferkette«, »Beschwerdesysteme« oder »Transparenz« mit. Die Mitglieder des Textilbündnisses haben sich verpflichtet, eine einjährige, zukünftig zweijährige Jahresplanung (Road Map) zu veröffentlichen. Dabei müssen Unternehmen darlegen, wie sie ihrer Sorgfaltspflicht nachkommen – etwa was sie gegen Arbeitsrechtsverletzungen tun und wie sie den Einsatz von Chemikalien reduzieren wollen. Außerdem erklären sie sich dazu bereit, über den Fortschritt der Maßnahmen öffentlich zu berichten. Auch auf Ziele wie die Zahlung von existenzsichernden Löhnen, den Zugang zu Beschwerdemechanismen und eine Antikorruptions-Politik konnte man sich einigen.

Road Maps und fehlende Transparenz Der Blick auf die bisherigen Unternehmenspläne im Textilbündnis ist allerdings ernüchternd: So reichte es bisher, dass die Unternehmen intern einen Fragebogen über die eigene Einkaufspraxis tt

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Mode ausfüllen, um ihren Einsatz für »existenzsichernde Löhne« nachzuist er kein reines Produktsiegel, sondern prüft auch das Unternehweisen. Sicher spielt die Einkaufspraxis eine wichtige Rolle: So kann men und seine Einkaufspolitik. Diese Kombination von Unternehmensprüfung und Produktsiegel ist vielversprechend. die Preissetzung eine höhere Lohnzahlung der Lieferant*innen an Allerdings wäre der Grüne Knopf nur dann glaubwürdig, wenn die Arbeiter*innen erlauben – oder auch nicht. Die bisherigen Road Maps waren diesbezüglich aber wenig aufschlussreich. Konkrete seine Kriterien anspruchsvoll genug sind – und dies ist derzeit nicht Maßnahmen für faire Preissetzung fehlten. Es wurde nicht klar, ob der Fall. Denn das Siegel deckt nicht die ganze Lieferkette ab, sondern nur die letzten Stufen der Verarbeitung: Konfektion und ein Unternehmen die entscheidenden Prozesse zur Erfüllung seiner Nassprozesse wie Waschen und Färben. Die katastrophalen Bedinmenschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in der Lieferkette umsetzt gungen in den Spinnereien werden damit beispielsweise nicht oder nicht. Beispielsweise nahm kein einziges Unternehmen Maßnahmen gegen sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz in Angriff, erfasst, auch nicht Kinderarbeit in der Baumwollernte. Zudem wird nur die Zahlung eines Mindestlohns zugesichert, nicht die eines obwohl diese in Ländern wie Bangladesch oder Indien fast überall existenzsichernden Lohns. Der gesetzliche Mindestlohn liegt dabei vorkommen. in Ländern wie Myanmar weit unter dem Lohn, der zur ExistenzAufgrund der Kritik gibt es ab 2020 neue Berichtsanforderungen sicherung nötig wäre. und ein verändertes Format. Zukünftig müssen Unternehmen ihre Noch ist unklar, wie streng die Kriterien sowie die NachweisfühZiele aus einer Risikoanalyse zu elf Themen ableiten – darunter existenzsichernde Löhne, Chemikalieneinsatz, geschlechtsspezifische rung beim Grünen Knopf umgesetzt werden. So sind Vor-OrtGewalt. Sie müssen begründen, warum sie zu einem Risiko MaßnahPrüfungen in Form von Stichproben möglich. Wie häufig diese aber men ergreifen, zu einem anderen jedoch nicht oder erst später. Neu vorkommen, muss die Praxis zeigen. Im Gegensatz zu einer Unternehmensprüfung verlässt sich das BMZ bei der Prüfung der Proist auch, dass Unternehmen in einem qualitativen Auswertungsgespräch gegenüber externen Expert*innen begründen müssen, warum dukte auf standardsetzende Organisationen und erkennt deren sie sich welche Ziele und Maßnahmen setzen oder eben nicht. Ziele Siegel wie den Global Organic Textile Standard (GOTS) als ausreisollen präziser und realistisch formuliert werden. Es besteht Hoffnung; chend für die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards an. Der nun muss sich zeigen, wie ernsthaft die GOTS prüft Umweltstandards, doch bei den Unternehmen ihre Roadmaps formulieren Sozialstandards gibt es große Bedenken, denn Der Grüne Knopf ist vor allem und umsetzen. hierfür sind die Zertifizierer*innen meist nicht Bislang weigern sich zahlreiche Unterausreichend geschult. ein Marketinginstrument nehmen, ihre Zulieferer zu veröffentliZudem beruht dieses Siegel auf Fabrikprüfunchen. Das ist schwer nachvollziehbar, gen, so genannten Audits. Audits zeigen aber denn Transparenz ist ein Schlüssel für Glaubwürdigkeit. Einige der nur eine Momentaufnahme und spiegeln nicht die volle Realität in großen Unternehmen (H&M, C&A, Primark,Tchibo, Hugo Boss) sind einer Fabrik wider. Zahlreiche Studien belegen, dass Audits oft inzwischen bereit, zumindest ihre Produzenten der letzten Stufe der wesentliche Arbeitsrechtsverletzungen wie Frauendiskriminierung, Lieferkette – der Konfektion – zu veröffentlichen. Hierzu hat auch Einschränkung der Organisationsfreiheit oder Sicherheitsprobleme der Transparency Pledge der Clean Clothes Campaign beigetragen, nicht aufdecken. Außerdem verlangen Siegel wie der GOTS bisher den immerhin 17 Unternehmen, darunter fünf deutsche, unternicht die Zahlung von existenzsichernden Löhnen. schrieben haben. Auch unternehmenseigene Produktsiegel werden beim Grünen Knopf akzeptiert, wenn sie bestimmten Kriterien genügen. Hier Immerhin gibt es Lichtblicke: So konnte FEMNET eine Bündnisinitiative im indischen Bundesstaat Tamil Nadu initiieren, an der sich muss die Praxis erst zeigen, welche Siegel das sind und ob sie tatsächlich den proklamierten Anforderungen entsprechen. Unterdie Unternehmen Tchibo, Otto, KiK und Hugo Boss sowie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nehmenseigene Siegel sind fragwürdig, da sie nicht extern kont(BMZ) beteiligen. Damit soll die Situation junger Mädchen im Alter rolliert werden. von 14 bis 18 Jahren in den Spinnereien verbessert werden. Die Vor allem aber ist noch unklar, wie transparent über die EinhalMädchen werden dort wie Sklavinnen festgehalten und zu extrem tung der Kriterien und die Vergabe des Grünen Knopfes berichtet niedrigen Löhnen bis zu zwölf Stunden lang – auch nachts – ausgewird. Es ist noch offen, welche Informationen dem geplanten QRbeutet. Mit Hilfe einer lokalen NGO wurden funktionierende Komitees Code auf den Etiketten für jedes Produkt zu entnehmen sind und gegen sexuelle Gewalt in den Spinnereien aufgebaut. Parallel dazu ob die Prüfberichte veröffentlicht werden. wurde ein Dialog mit Unternehmen und Regierung initiiert. In Multistakeholder-Gremien wie dem Textilbündnis ist nicht mit Eine gesetzliche Regelung ist überfällig schnellen Erfolgen zu rechnen. Es ist ein langer Atem erforderlich, tt Weil der Grüne Knopf vor allem ein Marketinginstrument der bis sich die Situation der Näherinnen tatsächlich verbessert. Aber die NGOs im Textilbündnis können den Prozess durch ihre kritische Unternehmen ist, dessen Glaubwürdigkeit vom staatlichen »Segen« Mitarbeit vorantreiben. erhöht wird, führt er nicht zu Verbesserungen in der Lieferkette. Unternehmen müssen sich bei ihm – anders als beim Textilbündnis – keine Ziele setzen. Doch nur vereinbarte Zielsetzungen bieten Und jetzt den Knopf dran die Chance, gemeinsam etwas zu bewirken – sowohl mit anderen tt Der neu geschaffene Grüne Knopf ist ein staatliches Metasiegel Unternehmen als auch gemeinsam mit Gewerkschaften und NGOs. und kommt dem Bedürfnis von Verbraucher*innen nach, mehr Bei einigen tiefgreifenden Problemen in der Lieferkette, wie dem Durchblick im Siegeldschungel zu bekommen. Damit übernimmt Fehlen von existenzsichernden Löhnen, kann ein Unternehmen die Bundesregierung die Verantwortung für die korrekte Anwendung allein kaum nachhaltige Veränderungen erreichen. des Siegels. Der Grüne Knopf will menschenrechtliche SorgfaltsDer Grüne Knopf ist genauso wie das Textilbündnis eine freiwilpflichten von Unternehmen in die Bewertung einbeziehen. Damit lige Initiative, an der sich viele Unternehmen nicht beteiligen. iz3w • März / April 2020 q 377

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Daher ist eine gesetzliche Regelung überfällig, die alle Unternehmen in die Pflicht nimmt, Sozial- und Umweltstandards zu wahren. Derzeit werden diejenigen benachteiligt, die beim Textilbündnis Personal und Mittel einbringen, während andere nichts tun. Es ist daher höchste Zeit, dass endlich auch Deutschland ein Lieferkettengesetz verabschiedet, wie es die Initiative Lieferkettengesetz – ein Zusammenschluss zahlreicher Organisationen – fordert. Ein solches Gesetz verlangt von allen mittleren und großen Unternehmen, ihrer Sorgfaltspflicht nachzukommen, indem sie die von der OECD vorgeschriebenen Schritte gehen. Diese sind auch Grundlage des Prozesses im Textilbündnis (Risikoanalyse, Präventions- und Abhilfemaßnahmen, Beschwerdemechanismus). Dies muss in einem Sorgfaltsplan dokumentiert und veröffentlicht werden, so wie es das Textilbündnis mit der Road Map von seinen Mitgliedern verlangt. Auf Basis eines solchen Lieferkettengesetzes könnten Betroffene von Menschenrechtsverletzungen die einkaufenden Unternehmen auch vor deutschen Gerichten verklagen. Unternehmen müssten also haften, wenn sie ihre Sorgfaltspflichten nicht wahrgenommen haben. Frankreich hat bereits ein Gesetz zu Sorgfaltspflichten französischer Unternehmen erlassen. Auch das britische Gesetz zur Bekämpfung moderner Sklaverei (UK Modern Slavery Act) verpflichtet Unternehmen zu mehr Transparenz in der Lieferkette. Die Niederlande haben ein Gesetz gegen Kinderarbeit auf den Weg gebracht. Nur die deutsche Regierung will weiterhin alles auf freiwilliger Basis regeln. Allerdings gibt es auch in Deutschland erste zaghafte Schritte in Richtung eines Gesetzes durch den Nationalen Aktionsplan (NAP)

unter Federführung des Auswärtigen Amts. Die Möglichkeit eines solchen Gesetzes wurde sogar im Koalitionsvertrag festgehalten. Es soll aber nur dann kommen, wenn die Hälfte aller großen Unternehmen in Deutschland (rund 7.000) ihrer Sorgfaltspflicht bis zum Jahr 2020 nachweislich nicht nachkommt. Inzwischen wurde bekannt, dass nur 20 Prozent aller befragten Firmen die Anforderungen des NAP erfüllen. Die Minister Müller (BMZ) und Heil (BMAS) haben daher die Erarbeitung einer Gesetzesvorlage zugesagt. Auch 42 Unternehmen haben sich für ein Gesetz ausgesprochen. Eine verbindliche gesetzliche Regelung in Deutschland ist notwendig, besser noch zusätzlich auch auf europäischer Ebene. Freiwillige Maßnahmen wie das Textilbündnis und der Grüne Knopf könnten darauf aufbauen.

Gisela Burckhardt ist Vorstandsvorsitzende der Frauenrechtsvereinigung FEMNET. FEMNET setzt sich mit politischem Engagement, Bildungs- und Beratungsarbeit sowie einem Solidaritätsfonds für die Rechte von Frauen in der globalen Bekleidungsindustrie ein. tt

Zum Look: Ich trage gerade Hose (nicht fair, dafür schon ein paar Jahre alt), Pullover, Weste, letztere von so genannten fairen Marken. Sie sind Mitglied bei der Fair Wear und lassen sich extern prüfen. Allerdings werden nur die Arbeitsbedingungen in der Konfektion überprüft, nicht die ganze Lieferkette. Neue schöne Outfits kann man auf dem »Fair Fashion Guide« von FEMNET finden.

Geschäftsidee Gleichheit Hip-Hop-Mode öffnet neue Handlungsfelder für junge Frauen in Vietnam von Sandra Kurfürst Seit der Jahrtausendwende haben sich die Kleidungsstile in Vietnam, insbesondere in den Metropolen Hanoi und Ho Chi MinhStadt, stark diversifiziert. Gerade unter Jugendlichen sind verschiedene Kleidungsstile auszumachen, mit denen zum einen Individualität, zum anderen die Zugehörigkeit etwa zu einer Subkultur ausgedrückt werden. Diese Styles greifen Einflüsse aus aller Welt auf – von Harajuku aus Japan über K-Pop aus Korea bis hin zu globaler Hip-Hop-Mode. Harajuku ist ein Viertel des Bezirks Shibuya in Tokyo und zugleich ein beliebtes Einkaufsziel junger Japaner*innen und internationaler Tourist*innen. Der gleichnamige Modestil zeichnet sich durch eine vielschichtige Kombination von verschiedenen Stilen aus. Es gibt kein Universalrezept für diesen Stil (wie so oft in der Mode), er ist vielmehr eine Symbiose vieler verschiedener Einflüsse. Im Internet ergibt der Suchbegriff Harajuku vorwiegend Bilder von jungen Frauen in Kimonos, Röcken oder Kleidern. Bunt und feminin. Anders sieht es bei der globalen Hip-Hop-Mode aus. Sie zeichnet sich gerade durch ihren Unisex-Charakter oder durch ihre Maskulinität aus. Der Kulturwissenschaftlerin Nicole R. Fleetwood zufolge steht der ikonische, geschmückte männliche Körper im Zentrum der Mode. tt

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2008 traf ich die ersten B-Boys im Ly Thai To Park in Hanoi in Jogginghosen, Turnschuhen, XXL-T-Shirts und Baseball Caps. Als B-Boy oder B-Girl bezeichnet man die Tänzer*innen des Breakdance. Breakdance ist ein wesentlicher Bestandteil der Hip-Hop-Kultur. Zunächst traf ich junge, etwa 18-jährige Männer. Unter ihren weiblichen Counterparts, die im selben Park trainierten, war Mai. Zehn Jahre später sollte sie unter dem Namen Mai Tinh Vi zum bekanntesten B-Girl Vietnams werden. Damals trugen die Tänzerinnen überwiegend bauchfreie Oberteile und Jogginghosen oder Leggins.

Baggy Pants und weite Shirts Die Jugendlichen tauschten aus der Schule kommend direkt die Schuluniform gegen ihre Tanz- oder Freizeitkleidung ein. Die Schul­ uniform in Vietnam ist genderneutral und besteht aus einer blauen Hose, einem weißen Hemd und einem roten Halstuch. Heute, zehn Jahre später, ist das Tragen von visuellen Markern des Hip Hop viel präsenter, gerade unter jungen Frauen. Als ich Mai im Jahr 2018 wieder traf, trug sie stets Baggy Pants, weite T-Shirts und häufig eine Schiebermütze sowie Turnschuhe. Mit ihren nun 28 Jahren tt

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Mode

Fake oder Original?

Während Mai und Mia eigene Mode produzieren, dreht sich die globale Hip-Hop-Mode häufig um Designer- oder Sportmarken. An den Anfängen standen Kreativität und Sport im Vordergrund, inzwischen haben sich vor allem in den USA einige Marken etabliert, tt

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Zum Look: Die Autorin war während ihres Aufenthalts in Vietnam sowie auch privat in Köln in Sneakers, Jeans und T-Shirt unterwegs. Außerdem trägt sie gerne Kopfhörer und hört Rap auf ihren Wegen durch die Stadt.

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gibt Mai Hip-Hop-Tanzkurse und hat außerdem ihr eigenes Modedie exklusive Hip-Hop-Mode zu hohen Preisen vertreiben. Auch label aufgebaut. einige bekannte Rapper*innen sind mit eigenen Marken eingestiegen. Junge Hip-Hop-Tänzer*innen in Vietnam legen ebenfalls Wert Für die Gründung des Labels nahm Mai einen Kredit bei einer auf diese Marken, vor allem Nike, Adidas oder Vans. Bank auf. Nun erzählt sie voller Freude, dass sie ihn zurückgezahlt habe und »frei« sei. Über ihr Label T-Hun, nach ihrem Hund benannt, Im vietnamesischen Kontext kann man die gängige Frage nach vertreibt Mai überwiegend T-Shirts mit Aufdruck sowie Accessoires der Authentizität solcher Mode in besonderer Weise stellen. Vietnam wie Mützen. Die T-Shirts produziert sie gemeinsam mit ihrem ist seit Jahrzehnten für die Produktion und den lokalen Verkauf von Freund, der wiederum für Boo-Shop arbeitet, einen der ersten Fake-Artikeln bekannt. Ob gefälschte Sonnenbrillen, Jeans, Jacken Street-Fashion-Läden in Hanoi. Ihr Freund entwirft die Designs für oder Taschen – fast alles ist erhältlich. So sind in der so genannten die Aufdrucke. Mai eignete sich die Technik des Textildrucks an und Schuhstraße von Hanoi gefälschte Turnschuhe beliebter Hersteller produziert die T-Shirts selbst. Sie vertreibt die Produkgünstig zu bekommen. te über Soziale Medien wie Facebook und Instagram. Zugleich fertigen aber auch die Ihre Leidenschaft für die Einen Teil der Ware vertreibt der 818 Shop, ein hipper unter Jugendlichen beliebten FirHip-Hop-Kultur drücken sie Modeladen im Süden der Stadt. Für die Werbefotos men in Vietnam. Das Land hat sich aufgrund seiner niedrigen Löhne posieren Mai und ihre Schwester selbst als Model. mit Kleidung und Tanz aus Auch B-Girl Mia aus der nördlichen Provinz Bac zu einem bedeutenden ProduktiNinh hat mit The MIAT ein eigenes Modelabel geonsstandort für internationale Unschaffen. Sie vertreibt ebenfalls Hip-Hop-Mode und weist diese als ternehmen entwickelt. Mit der exportorientierten Industrialisierungsstrategie der vietnamesischen Regierung wurden im Umkreis unisex aus. Gemeinsam mit einem männlichen Model bewirbt sie der Ballungsgebiete Hanoi, Da Nang und Ho Chi Minh Stadt neue die Kollektion auf Facebook. Sowohl Mai als auch Mia haben mit Industriezonen geschaffen. Auch Hip-Hop-nahe Markenartikel Hip-Hop-Mode ein eigenes Geschäft aufgebaut. Ihre Leidenschaft kommen von dort, etwa von Nike oder Adidas. In den Turnschuhen für die Hip-Hop-Kultur drücken sie mittels Kleidung und Tanz aus. ‚deutscher‘ Marken findet sich häufig das Schildchen »Made in Vietnam«. Die taiwanesische Golden Star Footwear Company, die für globale Marken wie Prada oder Timberland produziert, fertigt ebenfalls in Vietnam. Gerade im Hip Hop ist die Frage nach der Authentizität wichtig. Die Kleidung symbolisiert Status und Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe oder Subkultur. Dementsprechend müssen die Marken »echt« sein. Beim Kauf von Hip-Hop-Mode achten die Konsument*innen daher explizit darauf, dass es sich um Originalprodukte handelt. Eine Hip-Hop-Tänzerin aus Hanoi erklärte mir, dass sie Adidas liebe, und postete bald darauf ein Foto von sich auf der Eröffnung eines Flagship-Stores von Adidas in Hanoi. Das Tragen von Hip Hop-Mode bietet jungen Menschen in Vietnam somit auch die Möglichkeit, an einer globalen Konsumkultur teilzuhaben. Außerdem erlaubt Cover-Ausschnitt aus »I am a street dancer« von Muat Lainnya / Vietnam Foto: Joy deka der Kleidungsstil, der vor allem auf männliche Körper ausgerichtet ist, jungen Gleichzeitig heben sie althergebrachte Gendernormen auf, die sich Frauen das Spiel mit Gender und eröffnet ihnen neue Formen der nicht zuletzt in der Kleidung manifestierten. Zwar betont der vietSelbstdarstellung und Selbstermächtigung – etwa durch die Grünnamesische Sozialismus die Gleichberechtigung der Geschlechter, dung eigener Modelabels. und die Schuluniform setzt diesen Anspruch auch visuell um, aber die Hip-Hop-Mode geht einen Schritt weiter und eröffnet neue Spielräume der Repräsentation. tt Sandra Kurfürst ist Juniorprofessorin an der Universität zu Köln. Sie arbeitet zu Entwicklung, Urbanismus, Gender und Medien in Südostasien.


Mode

»Selbstorganisierung von Frauen ist der Schlüssel« Interview mit den Gewerkschafterinnen Dian Septi Trisnanti und Chamila Thushari aus Indonesien und Sri Lanka iz3w: Wie ist euer gewerkschaftlicher Werdegang verlaufen? Chamila Thushari (CT): Ich bin seit 23 Jahren im Dabindu Kollektiv aktiv. Wir beschäftigen uns hauptsächlich mit den Belangen von Fabrikarbeiter*innen in der Freihandelszone Katunyake. Monatlich veröffentlichen wir die Dabindu-Zeitung, betreiben einen News­ letter, ein Awareness-Programm für Führungskräfte und bieten Seminare zu Arbeitsrechten, Frauenrechten und reproduktiver Gesundheit an. Die Programme sind wichtig, da viele Frauen nur für begrenzte Zeit in der Freihandelszone arbeiten und in dieser Zeit auch keine Ausbildung bekommen. Sie sind auf einen kleinen Teil der Arbeitsprozesse spezialisiert. Wenn die Arbeiterinnen nach eini­gen Jahren in ihre Herkunftsorte zurückkehren, können sie ­eigentlich nur noch heiraten und Hausfrauen werden. Wir setzen uns für existenzsichernde Löhne, Bildung und Sicherheit ein.

Aktionen auf einen Industriepark in Bekasi ausweiten, mit der Forderung nach festen Arbeitsverträgen. Arbeiter*innen mehrerer Fabriken nahmen an den Streiks teil und blockierten die Zufahrtswege mit ihren Motorrädern. Leider unterzeichnete die Leitung der größten teilnehmenden Gewerkschaft ein Abkommen mit Polizei und Militär, woraufhin diese die Aktionen mit Gewalt stoppten und die Streikenden zwangen, die Produktion wiederauf­ zunehmen. Diese Aktionen beflügelten aber eine bundesweite Streikkampagne. Im Jahr 2012 wurde eine Million Arbeiter*innen mobilisiert. Daraufhin wurde der Mindestlohn um 48 Prozent erhöht. Danach verschärfte sich die Repression, auch bewaffnete Paramilitärs griffen Menschen in ihren Arbeitsstätten an. An den Streiks im Jahr 2015 nahmen dann nur noch 500.000 Menschen teil.

In die Fabriken Dian Septi Trisnanti (DST): Die FBLP, eine Welche Rolle spielt sexualisierte Gewalt? dürfen wir nicht rein werksübergreifende Gewerkschaft, wurde im Jahr 2009 gegründet. Zu Beginn hatte sie nur CT: Sowohl am Arbeitsplatz, in der Unterkunft, als 30 Mitglieder. Alle von ihnen sind Arbeiterinnen auch im öffentlichen Nahverkehr: Sexualisierte und manche LGBTIQ-Personen. Wir begannen mit der Organisierung Gewalt existiert in allen Lebensbereichen der Arbeiter*innen. Gevon Arbeiter*innen in einem Textilindustrie-Park im Norden Jakartas. rade in den Gemeinschaftsunterkünften sind alleinstehende Frauen Er wird von der Regierung betrieben, aber die meisten Investoren und alleinerziehende Mütter besonders gefährdet. Im Fall eines in der Textilindustrie kommen aus Südkorea, China und Taiwan. Übergriffs trauen sich die meisten Frauen nicht, ihn der Polizei zu Unsere Forderung damals war die Zahlung des Mindestlohns. melden, zumal es dort auch keine speziellen Anlaufstellen gibt.

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CT: In die Fabriken dürfen wir als Gewerkschaft nicht gehen. Deshalb suchen wir die Arbeiter*innen an ihren freien Tagen in den Unterkünften auf, verteilen dort Infobroschüren und versuchen, Informationen zu sammeln. Die Ergebnisse halten wir in unserer Zeitung fest. Manche Genoss*innen wickeln ihr mitgebrachtes Essen in die Zeitung ein und lassen sie dann an viel frequentierten Orten liegen – denn keine Fabrik würde der Verbreitung der Dabindu-Zeitung zustimmen. Wir wenden uns auch an das Arbeitsministerium, aber dort wird meist nur die Sicht des Managements berücksichtigt, die Belange der Arbeiter*innen werden nicht beachtet. Wir sprechen zudem mit Stadtverwaltungen, da manche Gegenden nicht über Elektrizität, Trinkwasser oder Müllentsorgung verfügen. Oft wird uns das Gespräch verweigert, also schreiben wir Briefe, protestieren beim Arbeitsministerium und arbeiten mit Menschenrechtskommissionen. DST: Wir glauben, dass die Selbstorganisierung von Frauen der Schlüssel ist. Wir verfolgen eine Storytelling-Methode, da die Erfahrungen der Frauen die Quelle unserer Kenntnisse sind. Sie sind handelnde Subjekte, sie können reden und das teilen wir miteinander. Gestreikt haben wir erstmals im Jahr 2010 in einem Industriepark in Jakarta. Zu dieser Zeit waren wir noch keine registrierte Gewerkschaft, lediglich ein Zusammenschluss von Arbeiter*innen, die sich organisieren wollten. Nach den ersten Streiks wuchs u ­ nsere Mitgliederzahl auf etwa 5.000 an und wir konnten unsere direkten

DST: Als wir die Gewerkschaft gegründet haben, lag unser Fokus auf der Bekämpfung sexualisierter Gewalt, da Frauen nicht nur in ihren Arbeitsverhältnissen Unterdrückung erfahren, sondern auch aufgrund ihres Geschlechts. Mehr als 56 Prozent der Arbeiter*innen in den Industrieparks erfahren sexualisierte Gewalt, auf nationaler Ebene sind es 44 Prozent. Vor den Fabriken haben wir Warnschilder angebracht. Damit sinkt zwar nicht sofort die Zahl der Opfer, aber für die Betroffenen ist das Signal wichtig, dass sie Hilfe bekommen. Es soll ein unterstützendes System und eine Warnung an die Täter sein. Auf nationaler Ebene versuchen wir, einen Entwurf für ein Gesetz gegen sexuelle Belästigung einzubringen, doch die Regierung verzögert diesen Prozess.

Dian Septi Trisnanti aus Indonesien ist in der feministischen Gewerkschaft Inter-Factory Workers‘ Federation (FBLP) organisiert, Chamila Thushari im Dabindu Collective in Sri Lanka. tt

Zum Look: Bei ihrer von der FAU (Freie Arbeiter*innen Union) organisierten Tour durch Europa im Herbst 2019 trugen die beiden ausnahmsweise Winterkleidung. Das Gespräch führten Katrin Dietrich und Eva-Maria Österle (iz3w). Die Langfassung des Interviews steht auf www.iz3w.org.

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Welche Arbeitskämpfe führt ihr und mit welchen Methoden?

Zwar gibt es einige internationale Konventionen für die Rechte der Frauen, diese bieten aber keinen Schutz.


»Kleidung, die intelligent ist« Die südafrikanische Mode ist im Aufbruch begriffen

Die Installation African Studies von Modeschöpfer Thebe Magugu Fotos: Agnese Sanvito

Die Modeszene Südafrikas ist von den Auseinandersetzungen im Land geprägt: Vom Blick zurück in die inländische Apartheidsgeschichte und vom Blick vorwärts in eine global vernetzte Zukunft. Bei der Kleidung führt das zu einem Crossover alter und innovativer Styles.

von Daniela Goeller In Fachkreisen gilt Südafrika schon lange als Trendschmiede. Das Land hat eine lebendige aufstrebende Modeszene und es hat schon viele namhafte Designer*innen hervorgebracht. Besonders bekannt ist Südafrika für seine außergewöhnliche Street-Fashion. Am 8. September 2019 gewann Thebe Magugu als erster Modeschöpfer des afrikanischen Kontinents den Prix LVMH in Paris. Das ist der wahrscheinlich wichtigste internationale Preis für tt

Nachwuchsdesigner*innen. Bereits im Frühjahr war der junge südafrikanische Designer beim International Fashion Showcase 2019 in London ausgezeichnet worden. Magugus Modekollek­tionen machen Anleihen bei südafrikanischen Subkulturen. Seine High Fashion trifft mit einer in der StreetFashion verbreiteten Auseinandersetzung mit der Landesgeschichte von unten zusammen. Magugu präsentierte in Paris seine Sommerkollektion 2020, die den Titel »Prosopography« trägt. Seine Mode besticht durch ihre eleganten Schnitte und überraschenden Details, die edlen Materialien und intensive Farbigkeit sowie den effektvollen Einsatz von Bildern und Mustern. Die Modelle der Prosopography-Kollektion sind von der Damenmode der 1950er und 1960er Jahre inspiriert, welche er in die heutige Zeit überträgt. In den fließenden, figurbetonten Kleidern, Faltenröcken und Blusen kommt eine elegante und selbstbewusste Weiblichkeit zum Ausdruck. Alle Kleidungsstücke aus dieser Kollektion tragen einen Mikrochip, der über die Plattform der Marketing- und Techno­ logiefirma Verisium Zugang zu Hintergrundinformationen gewährt. Dabei geht es um die historischen Zusammenhänge, Produktionstechniken oder Inspirationsquellen hinter einzelnen Kleidungsstücken. So wurde das floral-abstrakte Muster der Zebra Mud Blouse mit von einem südafrikanischen Heiler angerührtem Lehm auf den Stoff aufgetragen, was die warme und intensive braun-rote Färbung erklärt. Der Designer nutzt neueste technologische Entwicklungen und schafft neue Wege der Kommunikation und Kundenbindung. Seine Mode zeichnet sich nicht nur durch ihre Ästhetik und Kreativität, sondern durch Innovation sowie ein geschärftes historisches und soziales Bewusstsein aus. Damit trifft er den Nerv einer Zeit, in der Themen wie Dekolonialisierung,

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Kommerzialisierung und Nachhaltigkeit, Klimawandel, Diversität und Gendergerechtigkeit auch in der Mode angekommen sind. Eine besondere Bestimmung von Identität und Authentizität steht im Mittelpunkt von Magugus Arbeit, dabei sei das Authentische, sagt Magugu, »etwas sehr Persönliches. Man wird nicht authentischer, wenn man sich isoliert und von der globalen Entwicklung abkoppelt. Authentizität äußert sich vielmehr in der Art und Weise, wie man sich dazu in Beziehung setzt.«

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zeitig normativ und individuell ist, werden jene Bezüge hergestellt, die Magugu als Authentizität bespricht.

Pantsula: Tanzkultur um Selbstermächtigung …

Als Soundtrack für seine Installation in London hatte Magugu einen südafrikanischen Song ausgewählt. Es handelte sich um ein Remix der legendären Kwaito-Sängerin Lebo Mathosa, die 2006 bei einem Autounfall ums Leben kam. Die Sängerin war eine zentrale Figur in der Musikszene der 1990er Jahre, welche das Ende Die Landesgeschichte im textilen Design der Apartheid markierten. Lebo Mathosa steht für die Generation, tt Geboren wurde Magugu 1993 in Kimberly, heute lebt er in die diesen Umbruch mit herbeigeführt hat und sie steht auch für Johannesburg, wo er auch eine Ausbildung zum Modedesigner an die wahrscheinlich einflussreichste Subkultur Südafrikas: Pantsula. Die heutige Jugend kennt Pantsula als originelle urbane Tanzform, der Lisof Fashion School absolviert hat. Seine erste Kollektion mit Frauenmode brachte er 2017 heraus. In den Kreationen seines die international Beachtung findet. Viele wollen als Tänzer*in KarLabels, das schlicht seinen Namen trägt, kommt das Lebensgefühl riere machen. Entstanden ist Pantsula in den 1980er Jahren in den einer ganzen Generation zum Ausdruck. Townships. Doch die Mischung aus Tanz, Mode, Sprache und Lebenseinstellung hat Wurzeln, die bis in die Sophiatown-Renaissance Diese Generation sucht einen neuen Zugang zur schwierigen der 1940er Jahre zurückreichen. Geschichte ihres Landes, welche bis heute einen langen Schatten auf die Regenbogennation wirft. Magugu setzt in seiner Arbeit Das Wohnviertel Sophiatown im Westen Johannesburgs, das von bewusst auf historische Zusammenhänge, Aufklärung und Bildung. Menschen aller Hautfarben und Ethnien bewohnt wurde, entwiEr will mit seiner Mode Geschichten erzählen und bricht mit gänckelte sich in den 1940er und 1950er Jahren zu einem kulturellen gigen Vorstellungen. In einem Interview unterstreicht er die BeZentrum, vergleichbar mit Harlem im New York der 1920er Jahre. deutung von Kleidung: »Ich schätze besonders Kleidung, die intelAus dieser kulturellen Szene gingen viele berühmte Persönlichkeiten ligent ist, das heißt über ihre materielle Qualität hinaus eine Botschaft hervor, wie die Sängerin Miriam Makeba. Viele von ihnen, darunter transportiert und von der man sogar etwas lernen kann.« Er wählt auch der spätere Staatspräsident Südafrikas, Nelson Mandela, programmatische Titel für seine Kollektionen. Für seine preisgesetzten sich gegen das Apartheid-Regime ein, besonders als die krönte Installation African Studies in der Ausstellung Brave New Regierung das Viertel zerstören wollte, was 1955 trotz anhaltender Worlds im Somerset House in London stellte er die Kleiderpuppen Proteste auch geschah. auf eine lange Papierbahn, die Der Lifestyle der damaligen Zeit war geprägt durch mit dem Text der südafrikaniUS-amerikanische Kinofilme und Jazzmusik. Die ­Bilder Das Zusammentreffen von schen Verfassung bedruckt war. auf der Leinwand und den Schallplattenhüllen haben Traditionen und Moderne wird Außerdem gibt Magugu ein auch die Kleidung nachhaltig geprägt. Hut, Anzug, eigenes Magazin in Form eines Hemd, Krawatte, ein- oder zweifarbige Lederschuhe, über die Kleidung verhandelt Jahrbuchs heraus, das nicht zumanchmal kombiniert mit einem Trenchcoat, waren fällig Faculty Press heißt. Darin angesagt. Die Frauen pflegten einen ausgeprägt fewill er zusammen mit anderen Künstler*innen die zeitgenössische mininen Stil. Ihre Kleider oder Blusen und Röcke sowie die Schuhe Kultur der kreativen Szene in Südafrika dokumentieren. Das Thema mit halbhohen Absätzen kamen häufig von denselben internatioder ersten Ausgabe lautete ebenfalls African Studies und das Titelnalen Labels wie die der Männer. Es gab auch den lässigen Stil mit bild zeigte eine Person des queeren Performance-Duos FAKA. Bundfaltenhosen, karierten Flanellhemden sowie Strickpullovern Kleidung und Mode haben in Südafrika eine große Bedeutung, mit geometrischen Mustern und Blousons. Dieser Stil zeigt die die weit über die Außenwahrnehmung von traditioneller ZuluEinflüsse von britischer, irischer und schottischer, aber auch ameKleidung aus Tierfellen, dem weltbekannten Beadwork (Perlen­ rikanischer Sportmode. weberei und -stickerei) oder den inzwischen in vielen Farben herDie alten Porträtfotos in Familienalben zeugen noch heute vom gestellten und weit verbreiteten geometrisch gemusterten Stil dieser Zeit, der sich zum Teil auch in den Kleiderschränken der Shweshwe-Stoffen hinausgeht. Auch diese Einflüsse spielen in der Eltern und Großeltern der Post-Apartheid-Generation erhalten hat. zeitgenössischen Mode eine wichtige Rolle. Der junge Designer Viele junge Leute wollten in den späten 2000er Jahren, fast zehn Laduma Ngxokolo wurde mit seiner 2012 gegründeten Strick­ Jahre nach dem Ende der Apartheid, genau diese Zeit wieder zum warenmarke Maxhosa international bekannt. Er greift die Symbole, Leben erwecken und ins kollektive Gedächtnis zurückholen, darunMuster und Farben des traditionellen Beadworks der Xhosa auf und ter auch Mode-Kollektive wie Khumbula, I-See-a-Different-You und überträgt sie in ein anderes Material. Im Zusammentreffen einheidie Sartists. Sie inszenierten und lebten den historischen Stil wie mischer Traditionen mit internationalen Einflüssen (wie bei Beadwork einen Fotoroman und knüpften an eine unterdrückte – und deshalb und Schweshwe) und der globalen Mode europäischer Prägung bisweilen auch verklärte – Vergangenheit an. Aber sie aktualisierten wird über die Kleidung weiterhin kulturelle Identität neu bestimmt ihre Vorbilder und setzten bewusst einen Gegenpol zur Konsum­ gesellschaft der 2000er Jahre. Auch Thebe Magugu greift in seiner und verhandelt. Die Kleidung dient der Selbstdarstellung und ist Kollektion »Prosopography« auf den Stil dieser Zeit zurück, indem oft auch als politisches Statement zu lesen. Stuart Hall hat einmal darauf verwiesen, »wie sich der Stil, den die Mainstream-Kultur­ er sich von den Frauen der Bewegung Black Sash inspirieren lässt, kritiker oft als bloße Hülle, Umhüllung und Zuckerüberzug der die sich ab den 1950er Jahren für die Gleichberechtigung der schwarPille betrachten, innerhalb des schwarzen Repertoires selbst zum zen Bevölkerung eingesetzt hatten und bei ihren Protesten eine schwarze Schärpe trugen, die der Bewegung ihren Namen gab. Thema des Geschehens entwickelt hat«. Über den Stil, der gleichtt

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… und neu-emanzipierter Habitus Der Begriff Pantsula wird häufig als »Entenwatscheln« übersetzt. Das könnte sich sowohl auf eine charakteristische Haltung in traditionellen südafrikanischen Tänzen als auch auf die affektierten jungen Leute beziehen, die durch die Straßen der Townships paradierten, um ihre teuren Markenklamotten zur Schau zu stellen und dabei darauf achten mussten, sich nicht mit Staub zu bedecken. Eine andere Erklärung des Begriffs geht davon aus, dass es sich um eine Anleihe von einer früheren Tanzform handelt, in der tatsächlich die Hosen (Englisch: pants) heruntergezogen wurden. Viele Pantsulas waren auch in den 1980er und 1990er Jahren politisch aktiv im Widerstand gegen das Apartheid-Regime. Die Pantsula-Tanzgruppen traten in Wettbewerben gegeneinander an. Individualität spielte eine wichtige Rolle, aber wenn sie als Gruppe auftraten, tanzten sie in identischen »Uniformen«. Schuluniformen und praktische Arbeitskleidung ersetzen die hochwertige Mode der Sophiatown-Generation der 1940er und 1950er Jahre. Diese Kleidungsstücke waren meist aus dem Alltagsgebrauch vorhanden, billiger und auch in großer Anzahl leicht zu beschaffen, wurden aber auch individuell abgewandelt. Die Tanzgruppe »Vibrations« kreierte in den 1980er Jahren den traditionellen Schachbrett-Look, indem sie Hemden und Hosen in zwei verschiedenen Farben auftrennten und abwechselnd kombiniert wieder zusammennähten. Labels wie die US-amerikanische Workwear-Marke Dickies gewannen an Popularität. Dickies wird auch heute noch von vielen Tänzer*innen getragen, ebenso wie blaue und orangefarbene Arbeitsoveralls und Latzhosen, die zum Teil auch von lokalen Labels stammen, wie etwa Alaska von City Outfitters. Der Name Alaska wurde ebenfalls von einer legendären Kwaito-Band verwendet. Auch der sogenannte Küchenanzug (Mathanda-Kitchen) ist ein Arbeitsoutfit aus der Zeit der Apartheid. Er hat kurze Ärmel und kurze Hosen und einen am Rücken befestigten Gürtel. Ärmel, Hosenbeine und Gürtel sind mit roten Bändern verziert. Der Anzug wurde von Männern und Frauen getragen, die in Küchen und Haushalten arbeiteten. Heute ist er ein Modeartikel, der von City Outfitters in allen möglichen Farben und Mustern hergestellt und von vielen Pantsula-Tänzer*innen als Kostüm getragen wird. Als charakteristische Kopfbedeckung dient den Pantsulas bis heute das sogenannte Spoti, eine Baumwollkappe mit schmaler tt

Krempe, auch als Anglerhut bezeichnet, die je nach Stimmung des Trägers auf unterschiedliche Weise aufgesetzt, umgekrempelt oder zusammengelegt wird. Die hochwertigen Lederschuhe wurden durch die günstigeren, leichteren und flexibleren Converse ‚Chucks‘ All Stars-Turnschuhe ersetzt. Sowohl das Spoti als auch die Converse All Stars sind zum Wahrzeichen der Pantsula-Kultur geworden. Kopano Ratele, heute Professor an der Universität von Pretoria, berichtet in einem Aufsatz von 2012 davon, wie er als Jugendlicher unbedingt ein Paar Converse All Stars haben musste und gibt zu, dass sein Männlichkeitsbild damals ganz wesentlich vom Tragen dieser Schuhe abhängig war. Es gibt auch ein Porträtfoto von Thebe Magugu, auf dem er einen weißen Converse-Schuh in den Händen hält.

Präsentation der Zukunft Viele der von den Pantsulas getragenen Kleidungsstücke finden sich auch in der zeitgenössischen Mode wieder, sei es im Original oder in Form von ähnlichen Schnitten. In jüngster Zeit sind sogar einige von Pantsula-Tänzer*innen selbst direkt vertriebene lokale Labels entstanden. Es hat sich eine Wende vollzogen von der Selbstermächtigung durch Mode nach US-amerikanischen und europäischen Vorbildern, die von Homi K. Bhabha mit dem Begriff des Mimikry belegt wurde, hin zu einer Mode, die im Sinne Thebe Magugus als authentisch zu bezeichnen ist. Der junge Designer greift historische Vorbilder auf und kombiniert sie mit aktuellen Themen und zukunftsweisenden Technologien. Das 2019 neu gegründete African Fashion Research Institute (AFRI) verfolgt einen ähnlichen Ansatz. AFRI will die Modeforschung in und über Afrika durch virtuelle und reale Ausstellungen, Podcasts, Gespräche, Workshops, Vorträge und Performance-Interventionen weiter ausbauen. In der Johan­ nesburger Galerie Momo präsentierte AFRI 2019 eine virtuelle Ausstellung, die die Arbeit von drei afrikanischen Modedesignern beim International Fashion Showcase 2019 in London dokumentierte, darunter auch Thebe Magugu. Die von den beiden Gründern von AFRI, Erica de Greef und Lesiba Mabitsela kuratierte Ausstellung1 nützt innovative Technologien, digitale Formate und Virtual Reality. Solche Projekte erschließen dringend benötigte Quellen und schaffen eine Plattform für eine neue, kritische Generation von Designer*innen, die die Mode neu erfinden wollen. tt

Anmerkung

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1 siehe https://bit.ly/2tPnTDA

Daniela Goeller ist Kunsthistorikerin und Kulturmanagerin aus Stuttgart und hat in Frankreich und Südafrika gelebt. tt

Zum Look: Auch sie mag Kleidungsstücke, die ­ eschich­ten erzählen und nachhaltig sind. Deshalb trägt G sie vor allem hochwertige Vintage- und SecondhandKleidung, die sie mit Einzelstücken von lokalen Designer*innen und oft mit einem Halstuch kombiniert. Ihre besten Stücke findet sie fast immer zufällig, im Vorbeilaufen.

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Auch die Pantsula-Kultur schöpft aus diesem Fundus und kombiniert geschickt das US-amerikanische Bild des Hustlers mit dem mysteriösen, tadellosen Gentlemen und Frauenhelden (Humphrey Bogart), dem Intellektuellen und Künstler (Harlem Renaissance, Jazz), dem Entertainer (Frank Sinatra, Fred Astaire) und dem politischen Aktivisten (Black Power-Bewegung, Malcolm X). Schon in den 1980er Jahren aktualisierten die jungen Leute in den Townships überlieferte Musik- und Tanzformen, vor allem Marabi. Sie kreierten den Pantsula-Tanzstil von heute.


Zwischen Konsum und Underground Modebeziehungen von Dubai über Teheran bis Istanbul

Mode im Mittleren Osten ist mehr als Diskussionen über Verschleierung und Muslim Fashion. In Diskursen schwingen immer auch Stereotype über den »Orient« mit. So ist es erhellend, die Modewirtschaft und deren Besonderheiten in der Region konkret zu betrachten.

von Nargess Khodabakhshi

Der Mittlere Osten war lange Zeit durch den westlichen Blick »orientalisiert«. Laut Edward Said kam dem »Orient« seit der Aufklärung eine doppelte Zuschreibung zu: Während die Harems für Straßenmode in Teheran die westliche Welt die Begierde sexueller Fantasien verkörperten, wurden die Menschen des »Morgenlands« gegenüber den westlichen Zeitgenoss*innen als unzivilisiert dargestellt. Noch heute zögert die eurozentrische Modeforschung aus solchen Gründen, auf Mode und Kleidung des Mittleren Ostens fachlich einzugehen. Gleichzeitig fasst die internationale Modeökonomie im schnell wachsenden Markt dieser Region Fuß. tt

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Dubai: Schlaraffenland der Modeökonomie Im Mittleren Osten etabliert sich Dubai als Modestadt. Mit etwa drei Millionen Einwohner*innen ist sie die bevölkerungsreichste Stadt der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die sich durch den Ölexport und eine liberale Außenpolitik seit Ende der 1960er Jahre zum Magnet für Tourismus, Handel und Wirtschaft entwickelte. Die Konsumbereitschaft der wohlhabenden Schicht aus SaudiArabien, VAE, Kuwait und Katar förderte die Eröffnung von ShoppingMalls für Premium-Kaufhäuser wie Tryano und Lafayette. Die wirtschaftliche Bedeutung der Muslim Fashion animierte sogar tt

Luxusmarken wie Dolce & Gabbana oder Donna Karan und Einzelhändler wie Uniqlo oder H&M, Kollektionen für diesen Zielmarkt zu entwerfen. Dubai bietet auch internationalen Onlinehändlern Anreize: So gibt der Modehändler Jaante lokalen Designer*innen die Möglichkeit, sich auf ihrem Onlineportal zu präsentieren, und unterstützt junge Modefirmen mit professiFoto: N. Khodabakhshi oneller Beratung. FashionValet, ein Onlinehändler der Premium Modest Fashion aus Malaysia, hat in Dubai ein Designer-Team aufgebaut. Für ausländische Modefirmen liegt hier ein idealer Konsummarkt, auf dem importierte Mode gegen Öl-Gelder getauscht wird. Mit dem als fortlaufend prognostizierten Aufschwung des Mode­ handels in Dubai versuchen auch lokale Akteur*innen, deren Ruf als Modestadt zu verbessern. Schon im Jahr 2013 wurde das staatliche Konsulat für Design & Mode gegründet, das die Entwicklung der Designindustrie fördert. 2018 wurde die erste staatliche Designschule in Dubai eröffnet, welche den Nachwuchs auf die regionale Nachfrage vorbereitet. Außerdem bringt die ‚Fashion Forward Dubai‘ Mode-Akteur*innen und Interessierte zusammen. Mittlerweile hat diese Modewoche etwa 15.000 Besucher*innen und bietet Modeschauen, Vorträge, Direktverkaufsstellen sowie ein Onlineportal für Kund*innen außerhalb der VAE an. Während lokale Großhändler von Männermoden wie die BTCFashion Group sich eher auf die Märkte von afrikanischen und ehemals sowjetischen Ländern konzentrieren, bemühen sich junge Designer*innen darum, eine Nische mit tragfertiger Mode mit

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Istanbul: Hauptstadt für muslimische Mode

Haute Couture, Premium-Stangenkleidung, aber auch StreetstyleKombis oder Accessoires aus lokalem Kunsthandwerk anbieten. Ihre Kundschaft besteht aus der oberen Mittelschicht sowie Promis, welche die verpflichtenden Kleidungsnormen durch exklusives Design umgehen. Foje, Sondos, Vaghar, Maryammahdavi, Hastilotfi, Annasani, Sahel.aln und Souchen sind solche Modeanbieter, die sich am Rande der staatlichen Toleranz durch Instagram einen Kundenkreis verschaffen konnten. Von dieser komplexen Ausgangslage aus entwickelt sich die iranische Modeproduktion durch zunehmende Nachfrage, fachliche sowie textile Ressourcen auch in der Gegenwart fort. Daneben ist ihre Entwicklung vom Stand der internationalen Sanktionen, den inneren Beschränkungen und außenpolitischen Frontstellungen abhängig.

Trotz der Wettbewerbsvorteile in Dubai weisen auch andere Hauptstädte der Region eine relevante Modeproduktion auf. Schon seit den 1960er Jahren entwickelten sich gleichzeitig mit dem Aufkommen von europäischen »ready to wear« (Prêt-à-porter oder tragfertige Mode) in mehreren Hauptstädten des Mittleren Ostens lokale Designerszenen, wobei beispielsweise in Damaskus (vor dem Krieg) und Beirut durch die relativ säkularen Bedingungen lokale Mode als gemeinsame Sprache Moden mit Couture-Charakter merkbar wuchsen. Auch Istanbul ist ein bedeutender Akteur in der Bekleidungshertt Wo steht der Mittlere Osten im globalen Modediskurs heute? stellung, vor allem für europäisch-asiatische Märkte. Schon seit Aus europäischer Perspektive gehören Mode und der Mittlere Osten 1960 ist die Stadt die Plattform für eine Modeentwicklung in zwei noch immer in exotischer Weise zusammen. Daneben rekrutiert sich aus den wohlhabenden Individuen der Region eine ideale Richtungen. Einerseits entwickelte sich eine säkulare Designergemeinschaft mit globalen Interessen, die über AusbildungseinrichKonsumschicht für westliche Luxusmarken. Im fachlichen Kontext tungen, Zeitschriften und Präsentationsplattformen wie die Istanbul wird dem Mittleren Osten insgesamt ein anti-modischer Charakter Fashion Week verfügt. Aufstrebende Designer wie Emre Erdemoğlu, zugeschrieben, wobei eine vielfältige Verschleierungs-Literatur die Sudi Etuz und Giray Sepin möchten Teil des globalen Modesystems Region von ästhetischen, kreativen oder wirtschaftlichen Modedesein. Zugleich sind sie inspiriert von batten zu exkludieren versucht. Die Muslim lokalen Textiltraditionen sowie der Fashion wurde in Mitteleuropa erst zum Seit den 1960er Jahren gibt es in Geschichte Istanbuls. Thema, nachdem die wirtschaftliche Kraft Andererseits entwickelt sich Istandieses neuen Segments erkannt wurde. Hauptstädten des Mittleren Ostens bul aufgrund der zunehmenden Macht Dabei sollte sich der Fokus auf Modebezielokale Designerszenen klerikaler Akteure immer stärker zur hungen – also die Vernetzung zwischen den Hauptstadt für muslimische Mode. vielfältigen Akteur*innen – statt auf Mode­ Schon ab 1980 kam der Tesettür-Style 1 Innerhalb der muslimischen bedeutungen und -zuschreibungen richten. In Städten wie Beirut, Bourgeoisie auf, welcher sich zu einer eigenen Modeindustrie Dubai, Istanbul und Teheran verkörpern diese Beziehungen die entwickelte, die heute im europäischen Kontext als die »türkische Auseinandersetzung zwischen Expert*innen, politischen und wirtMode« wahrgenommen wird. So findet in Istanbul auch die Modest schaftlichen Akteur*innen sowie den Träger*innen von Mode. ­Soziale Fashion Week statt, eine Modewoche für Muslim Fashion. Medien wie Instagram öffnen ein Fenster zu diesen vielschichtigen Modebeziehungen, indem Modeschaffende und Modeträger*­innen auch unkontrollierte Interpretation von Gläubigkeit, Globalität und Teheran: Modelabor des Iran kultureller Identität durch Kleidung ausdrücken. Um die Stereotype tt Mit über neun Millionen Einwohner*innen ist Teheran das Moüber nicht-westliche Mode aufzubrechen, sollte diese von ihren delabor des Iran und ein wichtiges Produktionszentrum in der menschlichen Beziehungen nicht getrennt werden. Schließlich ist Region, dessen Modedynamik zeigt, dass sich kreative Praxen sowie Mode eine gemeinsame Sprache, die global in verschiedenen Stilen ästhetische Debatten trotz offizieller Kontrolle und Ignoranz der ihren Ausdruck findet. Außenwelt weiterentwickeln können. Heute sind nicht nur die Anmerkung ­islamischen Kleidungspolitiken, sondern auch die Tradition der Couture, lokale Großhändler und die Instagram-Designergenera 1 Tesettür-Style ist ein urbanes Konzept für Frauenkleidung, das sich durch mo­dische Haarbedeckung und uniformierte Straßenkleidung vom tion wichtige Faktoren der Modeentwicklung im Iran. traditionellen Hedjab abheben möchte – sprich türkische Modest Fashion Die offizielle Modeproduktion in Teheran widmet sich der nati(vgl. www.modamerve.com). onal-islamischen Frauenmode, welche eine weibliche Outfit-Ordnung, bestehend aus Haarbedeckung und Mantel, propagiert. Diese uniformierte Mode soll die anti-westliche Haltung der Machttt Nargess Khodabakhshi ist Doktorandin an der Akademie der haber repräsentieren. Die Akteur*innen dieser iranisch-islamischen bildenden Künste Wien, Universitäts-Lektorin der Modegeschichte Mode verfügen über staatliche Institutionen und diverse Präsentaund Kursleiterin im Bereich der Erwachsenenbildung. In Ihrer tionsplattformen. Auch die Großhändler des Bazaars profitieren ­Dissertation erforscht sie die Geschichte der Kleidung im Iran zwivon der national-islamischen Mode, indem sie mit preisgünstigen schen 1941 und 1979. Kopien den iranischen Massenmarkt beliefern. Zum Look: Sie trägt eine anlassbezogene, bequem-­ Allerdings folgt eine vom Staat geduldete, kreative »Under­ funktionale Prêt-à-porter-Kleidungsmischung, die sie mit ground«-­Designergemeinschaft eigenen Zielen und lockert die handgefertigten iranischen Accessoires unterstreicht. offizielle Kleidungsordnung auf. Es sind zumeist Einzelfirmen, die tt

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lokalen Verweisen zu besetzen. Erfolgreiche Beispiele wie All Things Mochi implementieren Handarbeit und Textiltechniken, die zur Geschichte der Kleidung der jeweiligen Region gehören. Die heutigen Konsument*innen aus der Region legen immer mehr Wert auf globale Trends in Verbindung mit tragfertiger Mode, die ihre lokale Identität unterstreichen.


»Neue Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte« Interview mit Léonora Miano über ihren Roman »Rouge Impératrice«

Die Schriftstellerin Léonora Miano wurde 1973 in Douala, Kamerun geboren. 1991 zog sie nach Frankreich und veröffentlichte 2005 ihren ersten Roman »L’intérieur de la nuit«, der in einem fiktiven afrikanischen Land spielt. Ihre Erzählungen drehen sich häufig um Afrika, das gilt auch für »Rouge Impératrice« (dt.: Rote Kaiserin). Für ihren zehnten Roman wurde Miano für den französischen Literaturpreis Prix Goncourt nominiert. Ihr »Bedürfnis nach Afrika«, wie sie es nennt, führte sie nach Togo, wo sie nun seit einigen Monaten lebt.

iz3w: »Rouge Impératrice« spielt im Jahr 2124. Der afrikanische ­Kontinent ist vereinigt. Wünschen Sie sich das für Afrika?

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Da gerade viel über Panafrikanismus – insbesondere innerhalb der afrikanischen Jugend – gesprochen wird, will ich mit dem Roman Denkanstöße geben: Wie könnte unsere Zukunft besser werden? Ist Panafrikanismus machbar? Durch eine lebendige Geschichte kann man besser sehen, wie man vorgehen könnte. Der Roman erschüttert aber sicher auch: Manche bemerken vielleicht, dass Teile ihrer Länder in der von mir beschriebenen Zukunft verschwunden sind. Die Küstenerosion, über die sonst wenig gesprochen wird, beunruhigt mich. Ganze Dörfer verschwinden derzeit in fast allen afrikanischen Ländern an der Atlantikküste. Wenn nichts dagegen getan wird, werden innerhalb der nächsten fünfzig Jahre manche Orte einfach nicht mehr existieren. Der Roman eröffnet einen Raum, über all das nachzudenken.

Léonora Miano: Ja, natürlich. Das ist aber auch etwas, was ich Europa wünsche. Föderalistische Lösungen sind die besten, weil Im Roman stehen sich zwei Anschauungen gegenüber: Einerseits gibt es die Verfechter*innen einer rassischen Identität und andererseits die sie uns dazu zwingen, die Bedürfnisse der Anderen zu berücksichBefürworter*innen der Vereinigung von Menschen mit Gemeinsamtigen. Im Fall von Afrika denke ich, dass die aus der europäischen Kolonisierung entstandenen Staaten ein keiten und gemeinsamen Interessen. Wieso Verständnis von Nation durchgesetzt haben, diese Auseinandersetzung? das nicht zum subsaharischen Verständnis t Ab dem 16. Jahrhundert und den euro»Die koloniale Bezeichnung passt. Der Föderalismus, selbst wenn er nicht päischen Eroberungen wurden wir im sub­ ‚Afrika‘ haben uns die ganz Afrika, jedoch größere Regionen wie saharischen Afrika rassifiziert – das ist unsere Europäer*innen gegeben« beispielsweise Ostafrika umfassen würde, Tragödie. Es war nicht unsere eigene Wahrergäbe für uns auf jeden Fall und in allen nehmung, aber wir sind für die ganze Welt Bereichen mehr Sinn. »schwarz« geworden, was bis heute Folgen hat. Weil wir schwarz waren, wurden wir auf eine Art behandelt, Warum hat dieses vereinigte Afrika in Ihrem Roman mit die psychische Verletzungen hinterlassen hat. Diese können nicht »Katiopa« einen neuen Namen bekommen? so einfach verarbeitet werden. tt Weil »Afrika« eine koloniale Bezeichnung ist. Diesen Namen Manche sind zur Überzeugung gelangt, dass sie sich vor jenen haben uns die Europäer*innen gegeben, er entspricht einem euschützen müssen, die die Apartheid und Rassentrennung durchropäischen Projekt, das nicht unseres ist. Seinen Namen selbst gesetzt haben und dafür nie wirklich um Entschuldigung gebeten wählen, heißt sein Schicksal bestimmen. Im Laufe der Dekolonisiehaben oder uns noch immer als minderwertig behandeln. Wenn rung und mit der Schaffung neuer Staaten haben sich manche man eine solche Geschichte hat, gibt man der Verlockung leicht dafür entschieden, die kolonialen Namen abzulegen. Dass Thomas nach, Menschen zu essentialisieren. Igazi, der Verteidigungs- und Sankara entschieden hat, dass sein Land Burkina Faso und nicht Innenminister im Roman, kommt zum Beispiel aus Südafrika, was mehr Ober-Volta hieß, ergab Sinn: Während Ober-Volta eine reine man daran erkennen kann, dass er Zulu spricht. Er verweist auf geografische Bezeichnung war, bedeutet Burkina Faso »das Land das »Project Coast«, ein Projekt zur Vernichtung der schwarzen des aufrichtigen Menschen«. Es war eine Möglichkeit, einen Kurs Bevölkerung, das es in Südafrika tatsächlich gegeben hat. In dem Projekt wurde unter anderem an Krankheitserregern geforscht, die für sich selbst zu bestimmen. »Katiopa« ist der Name für unseren nur für Schwarze tödlich sein sollten. Die Erinnerungen daran Kontinent, der im kongolesischen Raum bereits vor der Kolonialisierung verwendet wurde. Die Europäer*innen wissen das nicht, können zur absoluten Unfähigkeit führen, wieder auf die Anderen zu zugehen. Diese Geschichte muss verarbeitet werden. Denn aber »Afrika« hatte schon vor der Kolonisierung einen Namen für wenn Menschen Angst haben, ist der Anfangsreflex, sich gegendie Menschen, die hier gewohnt haben. seitig abzulehnen – das sieht man derzeit am Aufstieg der RechtsIst der Roman ein Versuch, Afrika anders als nur als einen extremen in Europa und weltweit. kolonisierten Kontinent zu denken? tt Es ist sein Ziel. Er beginnt mit einem Zitat der afro-amerikanischen Sie nehmen eine rechte Verschwörungstheorie sehr wörtlich: Im Roman Schriftstellerin Toni Morrison: »As you enter positions of trust and wird die Regierung von Katiopa mit sogenannten Katastrophenopfern konfrontiert, nämlich Französinnen und Franzosen, die nach Katiopa power, dream a little before you think.« »Rouge Impératrice« ist fliehen, weil Frankreich von muslimischen und nicht-weißen der Traum, den wir haben, bevor wir an unsere Zukunft denken. iz3w • März / April 2020 q 377


Literatur

Léonora Miano Foto: Jean-François Paga

Einwanderer*innen bevölkert wurde – ganz so, wie in der heute kurDie geopolitischen Aspekte des Romans beziehen sich hauptsächlich auf das Problem der Katastrophenopfer, die nach Katiopa fliehen oder sierenden Verschwörungstheorie vom »großen Austausch« befürchtet. deren Vorfahren geflohen sind. Auch wenn sie sehr wenige sind und tt Ich bin französische Bürgerin und mir ist dieses Land aus vielen als harmlos dargestellt werden, verunsichern sie die Menschen in Gründen wichtig. Schon die alte extreme Rechte war verrückt, die Neue ist eine absolute Katastrophe. Ich musste mich mit ihr ausein­ Katiopa. Was bedeutet diese Beunruhigung? andersetzen, konnte das aber nur auf eine verzerrte Art, sonst tt »Rouge Impératrice« ist keine Realpolitik, sondern verarbeitet hätte es mich deprimiert. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich der symbolische Aspekte. Die Auseinandersetzung um die KatastroAttentäter von Christchurch auf die Theorie phenopfer ist für »Katiopa« zentral, weil es des »großen Austauschs« bezogen hat. Auch die Beziehung zwischen ehemaligen Kolonisatoren und ehemaligen Kolonisierten hinwenn sie laut ihrem Theoretiker Renaud Ca»Erinnerungen können mus nicht bis zum Mord führen soll, kann terfragt. Der afrikanische Einigungsprozess zur absoluten Unfähigkeit diese Theorie dennoch solche Folgen haben. im Buch war kein leichter und die Anwesenführen, wieder auf die heit von Angehörigen der ehemaligen KoloDiese Theorie ist zudem eine sehr betrügerische Darstellung der Welt, die nicht thematinialmacht verkompliziert die Frage nach der Anderen zuzugehen« siert, dass sich Französinnen und Franzosen Einheit noch zusätzlich. Wird die Basis der Beziehung weiter die Bitterkeit angesichts der ebenfalls bewegen. Es gibt viele von ihnen in Vergangenheit sein, die uns verbindet? Oder können wir neue Afrika, die dort gut leben und sich überhaupt nicht assimilieren. Nachdem Westeuropa die Welt erobert und besetzt hat, kommt Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte schreiben? nun die Welt nach Westeuropa. Und jetzt ist Europa nicht mehr Bei der Frage nach den Katastrophenopfern geht es eigentlich damit einverstanden und nimmt nicht wahr, dass es selbst die um die Fähigkeit, die Präsenz der Anderen in sich selbst zu befrieRealitäten dieser Welt verändert hat. Dass die Menschen Westeuden. Wenn man in Afrika zur Welt kommt, hat man in seiner Geropa immer noch als den Ort sehen, an dem man am besten leben schichte und in seinem Sein immer einen Teil, der aus der Beziehung kann, ist im Endeffekt ein Erfolg von Europa auf der epistemologimit Europa kommt. Man kann ihn nicht wegwischen, ohne sich schen Ebene, die nie angesprochen wird. Man hat die ganze Welt selbst zu verstümmeln. Erst wenn wir uns damit auseinandersetzen, können wir eine wirkliche Geschwisterlichkeit schaffen. Das wünsche träumen lassen und nun kommen die Träumenden, die man erschaffen hat. Heute kann man sie nicht mit der Begründung abich mir und halte es für sinnvoll. Auch wenn die Begegnung der weisen, dass es keine Arbeit für sie gäbe. Umso mehr, als man Völker auf einer schlechten Basis stattfand, auch wenn heute noch weiter in ihren Ländern Macht haben und sich ihre Ressourcen eine Asymmetrie in den Beziehungen herrscht, können wir das aneignen will. korrigieren und uns für eine bessere Zukunft für alle entscheiden. iz3w • März / April 2020 q 377

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Literatur Der Roman erzählt die glückliche Liebesgeschichte zweier schwarzer Protagonist*innen, die circa 45 Jahre alt sind. Ist das subversiv? tt Die Protagonist*innen sind so alt wie ich, man muss sich ja auch selbst bedienen. Auch wenn ich nicht mehr ganz jung bin, hoffe ich doch, noch eine Chance auf eine glückliche Liebe zu haben. Der Roman ist eine Möglichkeit, jene Märchen umzustürzen, die nur die Liebe von sehr jungen Charakteren darstellen. Wir haben in jedem Alter ein Recht auf Liebe. Nur sehr selten verkörpert Afrika sowohl die Stärke als auch die Liebe. Wie überall auf der Welt ist die Liebe aber auch hier das Wichtigste im Leben. Und ich wollte, dass sie ausnahmsweise nicht funktionsgestört ist. Afrikanische Schriftsteller*innen erfinden ­wenige Liebespaare. Sie schreiben zwar über Sex, aber mehr über

Prostituierte denn über die fröhliche Sexualität von Menschen, die sich lieben. Als ich den Roman zu schreiben begann, stellte ich mir ihn als meine ideale afrikanische Fernsehserie vor, also als eine Liebesgeschichte mit Rivalitäten und spannenden Entwicklungen. »Rouge Impératrice« ist eine politische Erzählung mit Menschen, die ein Herz und ein Intimleben haben.

Das Interview führte und übersetzte Adèle Cailleteau (iz3w). Eine längere französischsprachige Fassung des Interviews steht auf www.iz3w.org. tt

Rouge Impératrice Léonora Mianos neuer Roman Rouge Impératrice ist eine powird zur Staatsaffäre. Die Liebesgeschichte der zwei erblühten schwarzen Protagonist*innen verbindet sich mit einer geopolitischen Utolitische Utopie. Dennoch fängt er mit einer Liebesgeschichte an: Mann und Frau treffen aufeinander und verlieben sich auf den pie, erotische Szenen und politische Sitzungen wechseln sich ab. ersten Blick. Ilunga ist aber nicht irgendein Mann: Er ist einer, wie Léonora Miano begann an »Rouge Impératrice« zu schreiben, nachdem sie in Togo einen Schreibworkshop für Jugendliche zum ihn die Schriftstellerin Léonora Miano nach eigener Aussage noch Thema der Befreiung von Afrika gegeben hatte. Der Roman beinnicht getroffen hat – er lügt nicht, ist hübsch und hat seine Ziele haltet Elemente, die in den dort produzierten Darim Leben erreicht. Und seine Ziele waren groß: Den afrikanischen Kontinent unter dem Namen »Katiopa« stellungen eines zukünftigen ­Afrika wiederholt zu einen und zu führen. angesprochen wurden – Panafrikanismus, aber auch Spiritualität. Die Anführer*innen von Katiopa »Rouge Impératrice« spielt im Jahr 2124, Katiopa ist seit kurzem vereinigt, während Frankreich – im sowie beide Hauptcharaktere der Geschichte schaffen ein inspirierendes Gleichgewicht zwischen Roman heißt das Land Fulasi – kaum wieder zu erkennen ist. Im Laufe des Lesens versteht man, dass Rationalität – Boya lehrt an der Universität – und Miano auf die derzeit populäre rechtsextreme VerSpiritualität. Insbesondere Ilunga und Boya pflegen schwörungstheorie des »großen Austauschs« (Grand Verbindungen mit ihren verstorbenen Vorfahren remplacement) anspielt: Nicht-weiße und darunter und reisen zwischen den Welten, auch zu Regierungszwecken. viele muslimische Zuwanderer*innen haben die weiße Bevölkerung von Fulasi »ersetzt«. Daher sind manDer Roman stellt Katiopa als einen majestätischen che Fulasi nach Katiopa geflohen, um wie früher ein Kontinent dar und öffnet uns die Türen des Regierungspalasts und zu den geheimen Abläufen der »christliches« Leben führen zu können. Diese »Katastrophenopfer« (Sinistrés) und ihre Nachkommen Macht. Durch die ironische Umkehrung, dass Nationalismus und sind eine Minderheit im kürzlich geeinten Kontinent, die sich nicht das Schicksal von Minderheiten im panafrikanischen Kontext darintegrieren will und ein zentrales Problem für die Politik darstellt. gestellt werden, stellt diese Social-Science-Fiction mit viel Feingefühl zeitgenössische Fragen – die Beziehungen zwischen ehemaligen Da fängt die politische Utopie an: Wie soll Katiopa mit den Katastrophenopfern umgehen? Diese Frage führt zu heftigen AuseinanKolonisatoren und Kolonisierten, die Klimaveränderung oder wie dersetzungen innerhalb der Remit Minderheiten umgegangen wird. Der Roman begierung. Regierungschef Ilunga leuchtet spannende Aspekte des afrikanischen KontiMianos Social-Science-Fiction will diese Gruppen abschieben, nents, was durch die Benutzung von Wörtern aus unum die neue Einheit von Katiopa terschiedlichen afrikanischen Sprachen noch verstärkt stellt mit viel Feingefühl nicht zu gefährden. Boya, die wird. Trotz seiner Länge macht das Lesen vom Anfang ­zeitgenössische Fragen Frau, in die er sich verliebt, pläbis zum Ende Spaß. diert aber dafür, ihnen eine ChanLéonora Miano hat bereits bekannt gegeben, dass ihr ce zu geben, gemäß der Devise »Katiopa, du liebst es oder du politisches und poetisches Zeitbild eine Fortsetzung bekommen verlässt es«. Dies ist eine humorvolle Anspielung auf die Formuliewird. Der Roman ist bis jetzt nur auf Französisch erschienen, an rung von konservativen französischen Politikern, die heute einer deutschen Übersetzung wird hoffentlich gearbeitet. Migrant*innen entgegenhalten: »La France, tu l’aimes ou tu la quittes«. Wird Boyas Position einen Einfluss auf Ilunga haben? Adèle Cailleteau Für die Verfechter*innen einer rassischen Identität von Katiopa tt Léonora Miano: Rouge Impératrice. Grasset, Paris 2019. stellt die »rote Frau«, nach der das Buch benannt ist, eine Gefahr 608 Seiten, 24 Euro. für den jungen Kontinent dar: Die Liebe zwischen Ilunga und Boya tt

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Erinnerung

Bedingungslos Blitze schleudern iz3w-Autor*innen erinnern sich an konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza

Dann entdeckte man konkret

Weil er es nicht mehr kann

tt Mit Nachrufen ist es ein bisschen so wie mit dem Punkrock: Das, was man hören oder lesen will, muss man schon selber machen. Verkompliziert wird die Sache allerdings, wenn jemand gestorben ist, den man nicht persönlich kannte, dessen Tod einen aber nicht kalt lässt. Man kann still für sich traurig sein, was immer besser ist als in den unweigerlich einsetzenden Trauerchor derjenigen einzustimmen, die zur Betonung der eigenen Wichtigkeit lange Facebook- oder kurze Twitter-Nekrologe verfassen. Als Hermann L. Gremliza gestorben ist, handelte gleich der erste Eintrag auf Twitter hämisch davon, dass er bloß ein alter weißer Mann gewesen und es deswegen nicht schade um ihn sei. Das kann man nun wirklich nicht so stehen lassen. Und dann sagt man, was zu sagen ist, beziehungsweise twittert, was zu twittern ist: »Und da wohnte man als Teenie in irgendeiner Provinz und fand das alles nicht richtig, was passierte und dachte so lange, dass man damit fast ganz allein ist. Und dann entdeckte man konkret. Was ein Glück, dass es Hermann L. Gremliza gab.« Und dann fragt man sich danach noch tagelang, ob das richtig war und ob man nicht einfach besser geschwiegen hätte, schließlich kannte man ihn eigentlich gar nicht und in solchen Fällen haben selbst kürzeste Nachrufe schnell immer etwas Anmaßendes und eines steht mal fest: Schon Gremlizas Tod an sich ist ein Skandal.

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Elke Wittich ist Redakteurin der jungle world.

Der Rechthaber tt Erst starb Wolfgang Pohrt, dann Joachim Bruhn. Es folgte Wiglaf Droste, und nun ist auch Hermann L. Gremliza tot. Verdammt! An allen vieren konnte, ja musste man sich reiben, ob ihrer krassen Übertreibungen, Fehleinschätzungen, Rechthabereien und Eitelkeiten. Aber immer gab es bei diesem Quartett was zu lernen, und sei es nur, welch schöne und abwechslungsreiche Sprache das Deutsche sein kann, wenn es einmal nicht von den Betriebsnudeln der Journalistik und der Wissenschaft verhunzt wird. Niemand verstand sich besser auf Polemik, die ihren Gegenstand regelrecht erledigt. Im Falle Gremlizas war der zu erledigende Gegenstand Deutschland, genauer gesagt die Verbrechen gegen die Menschheit, die dieses Land und seine Leute hervor brachten. In seinem Wahlspruch »In dubio contra« kam nicht die Menschenfeindlichkeit eines chronischen Nörglers zum Ausdruck, sondern im Gegenteil eine zutiefst humanistische Haltung. Noch seine wüsteste Tirade beruhte auf Empathie für jene Menschen, die von Deutschland drangsaliert oder gar ermordet wurden. Als Gremliza und konkret schon vor Jahren die AfD und ihre Fans umstandslos als »Nazis« bezeichneten, fand ich das übertrieben. Heute wissen wir: Er hatte vollkommen Recht.

Hermann Ludwig Gremliza sagte, dass Nachrufe »für den Kompost« seien. Dies hier ist daher kein Nachruf, sondern eine Erinnerung und Danksagung. Ich lernte Gremliza 2013 während meines Praktikums bei konkret kennen. Er wirkte auf mich, die ich damals Anfang Zwanzig war, einschüchternd und imposant, jemand, in dessen Gegenwart ich kaum wagte, den Mund aufzumachen. Man stand mit einem der klügsten, schärfsten Kritiker an Deutschland und seinen Zuständen in einem Raum. Das verschlug einer schon die Sprache. Ich war stolz und ein wenig erstaunt, als ich einige Zeit später regelmäßig für konkret schreiben konnte. Denn dies bedeutete, dass die Redaktion und dieser kluge, mir streng erscheinende Mann das, was ich schrieb, als druckreif erachteten. Damit zollte er dem, was ich schrieb, mehr Anerkennung und Respekt als mein eigener Vater, der sich zu meinen intellektuellen Bestrebungen gerne kritisch bis abfällig äußerte. Dass die konkret, die ich mit geradezu religiösem Eifer las, mir eine Plattform gab, war geradezu überwältigend. Ich frage mich, was Gremliza wohl zu einigen der Nachrufe geschrieben hätte, die über ihn verfasst wurden, und glaube, dass deren Autor*innen erleichtert sind, dass sie seine Kritik nicht mehr zu fürchten brauchen. Gremliza war, und darin war er immer ein Vorbild, in seinem Kommunistsein integer, ein Unding für das tonangebende und sich wohlfeil im Linksliberalismus sonnende Bildungsbürgertum, dem man immer wieder seine Heuchelei vor Augen halten sollte. Jetzt, da Hermann Gremliza es nicht mehr kann, ist es unsere Aufgabe, uns an ihm zu messen und die Fackel der bedingungslosen Kritik an den herrschenden Verhältnissen weiter zu tragen. Veronika Kracher ist konkret-Autorin.

Auf Deutschland scheißen Ein Jahrzehnt lang war er so etwas wie mein Papst, der Gremliza, wofür er allerdings nichts konnte. Die Kolumne als Predigt, der Express als Liturgie. Selbst seine richtig falschen oder falsch richtigen Unfehlbarkeiten waren interessant und fast immer lustig. Etwa, als er bei der Umbenennung des Arbeiterkampfs (AK) in Analyse & Kritik prophezeite, demnächst hieße die Zeitung Anne­ liese & Klaus. Nur das iz3w hat er nie angegriffen. Wie auch, bei diesem Namen? Vielleicht fiel dem selbsterkorenen Karl Kraus einfach nichts ein. Jesus, Maria! Welche Kränkung! In jedem Fall: selbst schuld. Nun sitzt Gremliza zur Linken seines sprachkritischen Idols, wohl, um von dort aus besser seine Blitze schleudern oder auch nur, um besser auf Deutschland scheißen zu können. tt

Christian Stock ist iz3w-Redakteur.

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Jörg Später war von 1990 bis 2005 iz3w-Redakteur.

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ISSN 1614-0095

E 3477

t iz3w – informationszentrum 3. welt Kronenstraße 16a, D-79100 Freiburg www.iz3w.org


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