iz3w Magazin # 378

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UNO am Ende? – 75 Jahre unvereinte Nationen

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Brief aus Teheran t Rückkehr nach Belgrad t Corona in der Welt

Mai/Juni 2020 Ausgabe q 378 Einzelheft 6 6,– Abo 6 36,–


In dies er Aus gabe . . . . . . . . .

Titelbild: UN Photo/Kim Haughton

Schwerpunkt: UNO 18 Editorial 19

Alle gegen alle Der Niedergang des UN-Systems schadet der Menschheit von Jörn Schulz

3 Editorial

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Politik und Ökonomie 25 4

Corona I: Es sieht nicht gut aus In der Corona-Krise erstarkt ein autoritärer Politikmodus von Christian Stock

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Frauenfeindliche humanitäre Organisationen?

Komm, wir bauen einen Staat … In Ex-Jugoslawien zeigen sich Probleme des UN-Peacebuildings von Larissa Schober

Italien: Mit Sicherheit rassistisch 34

Iran: Die Wut der Demonstrierenden Ein Brief aus Teheran von Soussan Sarkosh

Friedensfarbe Blau?

Der UNHCR und maskuliner Machtmissbrauch von Rita Schäfer

Rassismus: Tödliche Grenzen der Solidarität

Das neue Sicherheitsgesetz in Italien von Johanna Wintermantel

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Geschichte und Kritik der UN-Blauhelmmissionen von Alex Veit

Die EU und der Flüchtlingsschutz in Zeiten von Corona von Ramona Lenz

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Anspruch und Wirklichkeit Die UN und das postkoloniale Afrika von Reinhart Kößler

Corona II: »Die Ersthelfer der Welt« Das Beispiel Italien zeigt, wie die Corona-Krise internationale Machtverhältnisse verändert von Peter Korig

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Starke Idee mit Schwächen Die UN können Menschenrechte nicht garantieren von Anton Landgraf

Wer hat das letzte Wort? Eine kritische Würdigung der UN-Kinderrechtskonvention von Manfred Liebel

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Türkei: Ein Schritt voran, drei zurück

Erfolge und ein Backlash Die UN und die Frauenrechte von Christa Wichterich

Die türkische Frauenbewegung stellt sich beharrlich der Macht entgegen von Sabine Küper-Büsch

Kultur und Debatte 40

Literatur: »Nostalgie ist Bequemlichkeit« Interview mit Marko Dinić über die postjugoslawische Generation

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Postkolonialismus: Für Frankreich gefallen Die Senegalschützen und der Zweite Weltkrieg von Adèle Cailleteau

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47 Rezensionen 50 Szene / Impressum

Debatte: Alles oder nichts Der rot-schwarze Faden der Geschichte von Christopher Wimmer

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Editorial

Ein weltweiter Ausnahmezustand »Es ist ein Szenario wie aus einem Dritte-Welt-Land.« Mit diesen Worten zitiert CNN einen Arzt, der ob des Mangels an medizinischer Ausrüstung in New York City am Verzweifeln ist. In dieser sozial tief gespaltenen Hochburg des globalen Kapitalismus sterben dieser Tage tausende Menschen an Covid-19, obwohl das in vielen Fällen zu verhindern gewesen wäre. Jahrzehntelang wurde in nahezu allen Staaten des Globalen Nordens das Gesundheitswesen auf schnellen Profit getrimmt. Das Kaputtsparen etwa bei der Pflege und beim Vorratshalten von Basismaterial wie Schutzmasken rächt sich nun bitter. Mit den Spardiktaten hat man nicht nur dem Globalen Süden funktionierende Sozial- und Gesundheitssysteme vorenthalten. Man hat auch die eigenen sozialen Errungenschaften aus ideologischer Borniertheit heruntergewirtschaftet. Das Gesundheitswesen ist dabei nur eine von vielen Arenen, in denen der gegenwärtige Ausnahmezustand für jeden auf diesem Erdball unmittelbar spürbar wird. Im Zeitalter vor der Corona-Krise war ein Ausnahmezustand für die meisten in erster Linie ein Medienereignis. Er war verortet in Bürgerkriegsländern wie Syrien oder Jemen, im autoritär regierten China oder in Frankreich nach den islamistischen Anschlägen. Am eigenen Leibe erfahren hat zumindest hierzulande wohl noch niemand, wie es sich anfühlt, das Haus auf Anordnung der Regierung nicht verlassen zu sollen und noch nicht einmal an einer Beer­ di­gung teilnehmen zu dürfen. Keine Frage, das ist derzeit ein medizinisch vernünftiges Gebot der Stunde, markiert aber einen Extremzustand, der von vielen Regierungen prompt mit Kriegsmetaphern beschrieben wird.

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och auch wenn die Corona-Krise wirklich eine globale ist und alle Menschen an Covid-19 erkranken können, vor dem Virus sind eben nicht alle gleich. Wie schon bei den Klimawandelfolgen sind die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen und Klassen höchst unterschiedlich gewappnet. Tagelöhner*innen in Indien geraten binnen weniger Tage in existentielle Not, wenn sie wegen Ausgangssperren nicht mehr arbeiten können. In Flüchtlingslagern, in denen es ohnehin kaum medizinische Versorgung gibt, schafft ein neuer Virus noch elendere Bedingungen. Und auch in Deutschland wird die Corona-Krise vor allem jene Menschen überproportional schädigen, die schon jetzt benachteiligt sind: Arme, alte und kranke Menschen, Wohnungslose, Alleinerziehende, Menschen in prekären Jobs, Opfer von häuslicher Gewalt, Geflüchtete und Migrant*innen.

Es wundert kaum, dass hierzulande die Solidarität mit jenen Menschen, die von Maßnahmen gegen das Coronavirus besonders heftig gegängelt werden, bei weitem nicht so stark ausgeprägt ist, wie es notwendig wäre. Schon vor der Krise zeigte sich ein eklatanter Mangel an Empathie, etwa gegenüber den Geflüchteten an der türkisch-griechischen Grenze. Statt das einzig Richtige zu tun, nämlich die Not leidenden Menschen aufzunehmen, suspendierte die EU mit einem Handstreich grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf Asyl. Das verheißt nichts Gutes für die bevorstehenden Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen. Eines ist schon jetzt klar: Das kommende Jahrzehnt wird starke soziale Bewegungen benötigen, die ein Gegengewicht bilden zu den sich abzeichnenden Verelendungs­politiken und den autoritären Einschränkungen von Grundrechten. Als iz3w werden wir all diese Entwicklungen kritisch begleiten – mit der Zeitschrift und unseren Webauftritten, mit Bildungsarbeit, Radiobeiträgen und Veranstaltungen.

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islang hat die Corona-Krise das iz3w noch nicht übel gebeutelt. Klar, wir mussten viele Veranstaltungen absagen, die im Rahmen der Wochen gegen Rassismus geplant waren oder mit denen die 900-jährige Geschichte der Stadt Freiburg kritisch beleuchtet werden sollte. Auch wir schlossen ­unsere Räume für Gruppentreffen und müssen diese iz3w-Aus­gabe im ungeliebten Homeoffice produzieren. Aber ins­gesamt sind wir weiter handlungsfähig und wir erfahren viel Zuspruch. Unser Dank gilt den Autor*innen, die uns weiter mit guten Texten beliefern, und den Abonnent*innen, Spender*innen und Förder*innen, ohne die wir aufgeschmissen wären. Als kleines Dankeschön und als symbolisches Zeichen für mehr Solidarität haben wir die vergangenen drei iz3w-Ausgaben für alle kostenlos auf unserer Webseite www.iz3w.org veröffentlicht. Wie die meisten Medien und politischen Gruppen werden auch wir gerade überrollt von den Ereignissen. Daher werden wir in den kommenden Monaten Aktuelles vermehrt digital publizieren, auf unserer Webseite, unserer Facebookseite, unserem Twitter-Account und beim südnordfunk. Bleibt gesund und munter, haltet zusammen und wehrt euch gegen »Social Distancing« (ein Unwort, es müsste eigentlich Physical Distancing heißen. Soziale Nähe ist im Moment wichtiger denn je). Wir freuen uns schon jetzt, euch wieder die Hand schütteln oder euch in den Arm nehmen zu können, wenn dieser Alptraum endlich zu Ende ist. die redaktion

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Es sieht nicht gut aus In der Corona-Krise erstarkt ein autoritärer Politikmodus von Christian Stock Es herrscht gespenstische Leere auf dem Platz, dort wo sonst Straßenverkäufer*innen ihre Waren anpreisen und mobile Essenstände die Leute mit Mahlzeiten versorgen. Nur vereinzelt huschen einsame Gestalten durch die umliegenden Gassen und versuchen Kontakt zu anderen einsamen Gestalten aufzunehmen, um ihnen etwas unter der Hand zu verkaufen. Ein Mannschaftswagen der Polizei fährt mit quietschenden Reifen vor, es springen mehrere Polizisten heraus. Mit Schlagstöcken prügeln sie auf alle ein, derer sie habhaft werden, und bedrohen sie: »Du sollst zuhause bleiben, du Nichtsnutz! Gehorche der Regierung, sonst erschießen wir dich.« Was wie eine etwas allzu plakativ geratene Schilderung aus einem dysto­ pischen Roman wirkt, ereignet sich derzeit alltäglich in Kenia, Südafrika, Nigeria, Indien oder auf den Philippinen. Das Netz ist voll mit Handyvideos davon. Die Liste der Länder, in denen Corona-Ausgangssperren mit brutaler Gewalt und geradezu sadistischer Grausamkeit von den Ordnungskräften durchgesetzt werden, ist zu lang, um sie hier wiedergeben zu können. Menschenrechtsorganisationen sind entsetzt, wie schnell grundlegende Bür­ ger*innenrechte gekippt wurden, um Kontaktverbote und ähnliches durchzusetzen – mit dem Argument, nur so die Verbreitung des Coronavirus bremsen zu können. Die Willfährigkeit, mit der die massiven Maßnahmen durchgesetzt werden, lässt die Bekämpfung des Virus jedoch oft wie einen will­ kommenen Vorwand aussehen, um die Souveränität des starken Staats endlich einmal voll ausspielen zu können. Carl Schmitt lässt grüßen. Der national­ sozialistische Staatsrechtler schwärmte in seiner »Politischen Theologie«: »Souverän ist, wer über das Ausnahmerecht entscheidet.« tt

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Gezwungen, unvernünftig zu sein Eine Krise ruft gesellschaftliche Spaltungen und Konfliktlagen in der Regel nicht hervor. Diese sind tief verankert in den Gesellschaften, entsprechende Praxen und ideologische Muster sind langjährig eingeübt. Doch eine Krise wirkt als Verstärker. Das, was sonst nur latent oder punktuell das Gesellschaftliche bestimmt, kann jetzt dominant werden. Die Corona-Krise bringt den autoritären Charakter sowohl der Staaten als auch der Individuen, die seinen Machtanspruch exekutieren, in einem Ausmaß ans Tageslicht, das man sich noch vor wenigen Wochen nicht annähernd ausgemalt hätte. tt

Epidemiologische Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, wie etwa die Vermeidung des direkten Kontakts zu anderen ­Menschen, sind derzeit zweifelsohne medizinisch und damit auch politisch geboten. Sie können Ausdruck von Solidarität sein, etwa gegenüber Älteren und Angehörigen von Risikogruppen. Jeder vernünftige Mensch sieht das ein und wird solche Maßnahmen freiwillig umsetzen. Doch müssen die Einzelnen auch die Chance zum freiwilligen vernünftigen Handeln bekommen. Die Macht der Verhältnisse zwingt viele jedoch dazu, unvernünftig zu handeln – wie etwa jene indischen Wanderarbeiter*innen, die sich nicht ins

Homeoffice zurückziehen können, sondern sich immer wieder zu verzweifelten Menschenmengen sammeln, um in Überlandbusse oder an ein Essenspaket zu gelangen. Das derzeit fast überall zu beobachtende überschießende Moment bei der staatlichen Corona-Krisenbewältigung führt zu einem autoritären Politikmodus, in dem Rationalität, Freiwilligkeit und individuelle Rechte nichts mehr zählen. Der ukrainische Präsident Wolodymor Selenskyi bringt diesen neuen illiberalen Ungeist so auf den Punkt: »Die Erfahrungen aus China zeigen, dass harte Entscheidungen das Virus überwinden und Leben retten können. Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass Weichheit und Liberalität Verbündete des Virus sind.« Auf die naheliegende Idee, dass der

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Hauptverbündete des Virus der Mangel an Schutzausrüstung und an medizinischen Kapazitäten ist, kommt der binnen weniger Monate vom Komiker zum Kraftmeier gereifte Selenskyi nicht.

nach Guatemala aus, darunter sogar positiv Getestete. Ebenfalls keine singuläre Form der Diskriminierung ist die Praxis südosteuropäischer Behörden gegenüber Roma. Von diesen bewohnte Stadtviertel wurden abgesperrt, was die durch Einkommensverluste ohnehin entstandene Notlage noch verschärft. Vergeblich forderte Typologie der autoritären Coronapolitik der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma südosteuropäische Regiett Eine vorläufige Typologie der autoritären Strategien in der rungen und die EU auf, »nicht zuzulassen, daß Roma erneut als ­Corona-Krise fördert mindestens sechs Typen zu Tage. Da ist zum Sündenböcke von Nationalisten und Rassisten mißbraucht werden«. ersten der Ansatz des Leugnens, Ignorierens und Vernachlässigens. Ein vierter Typus ist die Unterbindung von Opposition. Viktor Im Westen standen Boris Johnson und Donald Trump für diese Form Orbáns Durchregieren in Ungarn ist ein naheliegendes Beispiel, aber von Realitätsverleugnung gemäß der Devise, dass nicht er ist bei weitem nicht der einzige, sein kann, was nicht sein darf – und waren sich darin der die Gunst der Stunde zur Aus»Gehorche der Regierung, schaltung unliebsamer politischer solange mit dem iranischen Regime einig, bis sie alle angesichts explodierender Infiziertenzahlen umsteuern Bestrebungen nutzt. Auch in Algerien, sonst erschießen wir dich« mussten. In Brasilien verharmloste Jair Bolsonaro in Libanon, Irak oder in lateinamerikaeinem Ausmaß, dass selbst Twitter einige seiner Posts nischen Ländern werden Protestbelöschte (ein kleiner Hoffnungsschimmer wegungen in einem Maße niedergeschlagen, das mit der Eindämist, dass erhebliche Teile der brasilia­ mung der Pandemie nicht zu rechtfertigen ist. nischen Politik und selbst das Militär Ein fünfter Typus ist die Rhetorik des Kriegszustandes. Frankreichs Bolsonaro die Gefolgschaft verweigerPräsident Emmanuel Macron setzte den Ton als erster, ihm folgten ten). Auf die Spitze treibt es Turkmeni­ unzählige Staatchefs. Mittels Zeltlagern und Lazarettschiffen wird stans Präsident Gurbanguli Berdymuhadas Militär als Retter in der Not inszeniert, auch die Bundeswehr medow. Er wies die Medien an, das nutzt die Chance zur Imageverbesserung. Die nächste EskalationsWort »Corona« gänzlich zu meiden. stufe dürfte die bewaffnete Durchsetzung von Grenzziehungen Wer in der Öffentlichkeit über die Panaller Art sein. demie spricht, riskiert eine Festnahme. Der sechste und gewiss nicht letzte Typus autoritärer Corona­ Zum Typus des Leugnens zählen übripolitik ist die Durchsetzung des digitalen Überwachungsstaates gens auch die Verschwörungstheorien, durch die Nutzung von Big Data. China und Südkorea gaben den die Corona für eine Erfindung der PharVorreiter, westliche Staaten ziehen nach. Beispiel Österreich: Ohne maindustrie halten oder jüdische Madass es eine Gesetzesgrundlage oder eine Diskussion darüber gechenschaften wittern. geben hätte, erstellte die Bundesregierung Bewegungsprofile der Ein zweiter viral gehender Typus zeigt Bevölkerung. Der größte Mobilfunkanbieter des Landes, A1, hatte sich in Grenzziehungen und der Betoin vorauseilendem Gehorsam die Daten von fünfeinhalb Millionen nung des nationalen Eigennutzes. Das Nutzer*innen übermittelt. Fast überall auf der Welt wird nun die Schließen von territorialen und sons­ Nutzung von Location Tracking als alternativlos angepriesen, um tigen Grenzen hat zwar zur EindämInfektionsketten zu unterbrechen. Es dürfte äußerst schwierig wermung des Coronavirus nichts beigeden, bisherige Standards von Daten- und Persönlichkeitsschutz tragen. Doch fast kein Nationalstaat wieder durchzusetzen. konnte der Versuchung widerstehen, auf diese Weise nach innen und außen Von der Dystopie zur Realität Souveränität zu demonstrieren. Ausgrenzungserfahrungen, die bislang tt Es wird sich in den kommenden Monaten bis zum Sommer weisen, ob der autoritäre Krisenmodus ungehindert weiter geht – oder Migrant*innen vorbehalten waren, wurden nun auf alle EU-Bürger*innen ob das Rad zurückgedreht werden kann. Ehrlich gesagt: Es sieht nicht Foto: Rasande Tyskar ausgeweitet. Das Denken in nationalen gut aus. Es mangelt fast allerorts auf dieser Welt an einer starken Kategorien zeigt sich auch in der Belinken oder liberalen Opposition, soziale Bewegungen sind erst recht schlagnahme von Schutzmasken, die für andere Länder bestimmt marginalisiert. Es wird zwar scharfe soziale Auseinandersetzungen geben, etwa in Form von Brotrevolten. Aber selbst wenn es gut läuft, waren, und in der schrillen Diskussion darüber, man müsse nun werden sie nur punktuell Not lindern und kaum etwas an der himdringend wieder nationale Produktionskapazitäten in systemrelevanten Branchen aufbauen. Internationale Kooperation, gleich auf melschreienden Verteilungsungerechtigkeit ändern. Die Coronawelcher Ebene, wird zum Auslaufmodell aus der Vor-Corona-Ära. Krise hat das Potential, die EU vollends zu spalten und die UNO endgültig handlungsunfähig zu machen. Noch profitieren rechte Besonders rücksichtslos ist der dritte Corona-Typus: die Diskriminierung von Minderheiten und marginalisierten Gruppen. Obwohl Parteien nicht von alledem, aber auch das kann sich bald ändern. es medizinischer Expertise Hohn spricht, werden Geflüchtete stärDas Erschreckende an Dystopien ist, wie schnell sie manchmal ker denn je in Lagern eingesperrt, sie werden als bloße Bedrohung zu adäquaten Realitätsbeschreibungen werden können. wahrgenommen. Obwohl der internationale Reiseverkehr fast vollständig zum Erliegen kam, gehen Abschiebungen mancherorts weiter. So flogen zum Beispiel die USA Ende März 120 G ­ eflüchtete tt Christian Stock ist Mitarbeiter im iz3w . iz3w • Mai / Juni 2020 q 378

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Anders als gewohnt: Diese Grafik gibt nicht die Verteilung von Wohlstand wieder | Foto: Martin Sanchez/unsplash

»Die Ersthelfer der Welt« Das Beispiel Italien zeigt, wie die Corona-Krise internationale Machtverhältnisse verändert von Peter Korig Es ist ein Bild, das aus den TV-Nachrichten vertraut ist. Irgendwo in einem fernen Land hat es eine Katastrophe gegeben, ein Erdbeben, einen Wirbelsturm, den Ausbruch einer Seuche. Rettungsteams und Ärzt*innen machen sich auf den Weg, Hilfsmaterialien werden verladen und verteilt, es wird zu Spenden aufgerufen. Derzeit gibt es wieder solche Bilder zu sehen, nur liegen die Empfängerländer dieser Form von internationaler Unterstützung diesmal nicht in Afrika, Asien, Lateinamerika oder Osteuropa und die Geberländer nicht in Westeuropa oder Nordamerika. Mit Ausbruch der Covid-19-Pandemie auch in Europa ist seit März zu beobachten, dass sich die gewohnte Flussrichtung internationaler Hilfe geändert hat. Die Staaten, die EU-Mitgliedsstaaten bei der Bekämpfung des Virus zur Hilfe kommen, galten bis vor kurzem als »Schwellenländer« (wie etwa China), oder es sind Länder, die in der westeuropäischen Medienöffentlichkeit meist mit Krisen und zumindest politischer Rückständigkeit assoziiert werden (wie Albanien). Besonders eindrücklich ist das am Beispiel Italiens zu beobachten. Das EU-Land, in dem der Pandemieausbruch das Gesundheitssystem schon früh überforderte und das eine hohe Zahl an Todesopfern zu beklagen hat, erhielt ab Mitte März in großem Umfang Hilfe aus China, Russland und Kuba. tt

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Am 12. März landete in Rom ein chinesisches Flugzeug, an Bord Ärzt*innen, die Erfahrungen bei der Bekämpfung des CoronaAusbruchs in Wuhan gesammelt hatten, sowie eine Ladung dringend benötigter Hilfsgüter. Weitere Lieferungen und Ärzt*innen folgten. Dazu kamen Spenden chinesischer Firmen und Bürger*innen. In der Hafenstadt Wenzhou, aus deren Region sich der größte Teil der chinesischen Immigration nach Italien rekrutiert, wurden Spenden für das Gesundheitswesen im norditalienischen Piemont gesammelt.

Kuba, Russland, China, Albanien Kurz zuvor war Italien damit gescheitert, über den Civil Pro­ tection Mechanism der EU Unterstützung zu erhalten. In dieser Situation wurde die Hilfe aus China mit großer Dankbarkeit aufgenommen. Zwar erfolgte ein gewichtiger Teil dieser Hilfen nicht kostenlos (wie in der klassischen Entwicklungszusammenarbeit allgemein üblich) und Italien muss das gelieferte medizinische Material bezahlen. Aber selbst das konnte angesichts von in der EU erlassenen Exportverboten den Eindruck nicht trüben, dass allein China dem schwer getroffenen Land zur Hilfe komme. Die chinesischen Expert*innen spielen mittlerweile in der italienischen tt

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Diskussion über Methoden der Pandemiebekämpfung eine wichRussland wiederum unterhält mit Italien eine »privilegierte Partnertige Rolle. schaft«, das Land ist nach Deutschland der zweitwichtigste HanAm 22. März folgten 52 Ärzt*innen und Pfleger*innen aus Kuba, delspartner Russlands in der EU und Großabnehmer russischen begrüßt von einer Welle der Dankbarkeit und des Respektes. Selbst Erdgases. Die in Folge des Krieges in der Ukraine gegen Russland in bürgerlichen Medien wurde die Rolle kubanischer Mediziner*innen verhängten Sanktionen stoßen in der italienischen Politik auf wenig als »i First Responder del mondo« (die Ersthelfer der Welt) und Gegenliebe, da sie der italienischen Wirtschaft schaden. Zudem ist insbesondere ihr Einsatz gegen die Ebola-Epidemie in Westafrika die Politik der russischen Regierung seit einigen Jahren von dem gewürdigt. Ebenfalls ab dem 22. März wurden auf SeuchenbeBemühen gekennzeichnet, die Erinnerung an die 1990er Jahre, als kämpfung spezialisierte medizinische Einheiten des russischen Russland in Teilen der internationalen Wahrnehmung zum EntwickMilitärs nach Italien verlegt. Außenminister Luigi Di Maio begrüßlungsland herabgesunken war, verblassen zu lassen. te die Landung der ersten Flugzeuge persönlich. Bilder vom TransAuch die Beziehungen Chinas zu Italien sind enger als zu vielen port des medizinischen Gerätes und der Mediziner*innen von einem anderen europäischen Ländern. Seit den 1980er Jahren entstand Militärflughafen bei Rom ins Katastrophengebiet von Bergamo mit ein dichtes Netz ökonomischer Verbindungen. Italien ist ein Haupteinem russischen Militärkonvoi sorgten für großes zielland chinesischer Immigration nach Aufsehen in den Medien. Die Hilfe aus Russland wurEuropa, mehr als 300.000 chinesische Internationale Nothilfe de in italienischen Medien am ehesten kritisiert und Bürger*innen leben mittlerweile in Italien. ist ein symbolisch hoch Im März 2019 trat Italien als erstes G7- und zum Teil als medizinisch unnützes trojanisches Pferd EU-Land der chinesischen Belt and Road russischer Großmachtpolitik dargestellt. aufgeladenes Mittel Davon unbeeindruckt wandten sich italienische Initiative bei, der so genannten »Neuen Politiker*innen mit Bitten um weitere Unterstützung Seidenstraße«. Der Hafen von Triest ist als europäischer Zielhafen der »maritimen Seidenstraße« vorgesehen, nicht nur an die USA, China und Israel, sondern auch weiterhin an die China, Südostasien, Indien, Ostafrika, die arabische Halbinsel, Russland. Die russischen Verantwortlichen unterstrichen deutlich die Türkei und schließlich den europäisch-mediterranen Raum die Symbolik der Aktion. Hilfslieferungen und Militärlaster waren mit Aufklebern verziert, die zwei Herzen in den Farben der russischen verbinden und den Warenaustausch auf diesen Routen intensivieund italienischen Fahnen zeigten und auf Russisch, Englisch und ren soll. Italienisch die Aufschrift »Aus Russland mit Liebe«. Ende März entsandte dann selbst Albanien, dessen eigenes Gesundheitssystem Die Peripherie ist keine mehr unter der Abwanderung qualifizierten Personals nach Deutschland leidet, eine Delegation von 30 Ärzt*innen, um die medizinische tt Die derzeit Italien zur Hilfe kommenden Länder haben somit Versorgung in der Lombardei zu unterstützen. jeweils ihre spezifischen Interessen, die bilateralen politischen Beziehungen zu pflegen und auszubauen. Internationale Nothilfe ist dabei klassischerweise ein symbolisch hoch aufgeladenes Mittel, Italien liegt an der Seidenstraße an derartige Beziehungen anzuknüpfen oder sie zu festigen. In tt Dass gerade Italien zum Empfänger dieser Hilfslieferungen wurderartigen Unterstützungsaktionen bilden sich aber immer auch de, ist weder Zufall noch darauf zurückzuführen, dass Italien als internationale Machtverhältnisse ab. In diesem Sinne lässt sich die erstes EU-Land so massiv von der Pandemie getroffen wurde. So aktuelle Hilfe für Italien als Moment einer seit längerem andauernist Italien einer der wichtigsten wirtschaftlichen und politischen den, tatsächlichen Machtverschiebung zwischen EU-Europa und Kooperationspartner Kubas in der EU. Insbesondere in den Bereichen der »Peripherie« betrachten. Diese ist einerseits vom Aufstieg Landwirtschaft, Tourismus, Biotechnologie und erneuerbare EnerChinas zur international interventionsfähigen und -willigen Großgien bestehen enge Verbindungen. Gepflegt werden diese auch macht geprägt und andererseits von der internen politischen und ökonomischen Zerrüttung der EU. Von Deutschland niederkonkurim Medizinsektor, für Kuba sowohl zentrales Mittel internationaler Diplomatie als auch Exportgut. Regelmäßig halten kubanische und rierte und seit der Finanzkrise 2008 kaputtgesparte Volkswirtschafitalienische Ärzt*innen gemeinsame Kongresse ab, und schon vor ten sehen sich zunehmend gezwungen, sich an Partner außerhalb der Corona-Krise gab es Austausch zwischen kubanischen und der EU anzulehnen. italienischen Mediziner*innen. In Spezialkliniken des jeweils andeEs ist auch kein Zufall, dass die Italien helfenden Staaten durch ren Landes wurden wechselseitig Patient*innen behandelt. einen starken staatlichen Zugriff auf ökonomische Ressourcen und Albanien ist als ‚verlängerte Werkbank‘ der italienischen TextilEntscheidungsprozesse geprägt sind, was auf ihrer Geschichte als realsozialistische Modernisierungsregime beruht. Dass ein Land wie und Dienstleistungsindustrie eng mit der italienischen Wirtschaft verbunden. Die ökonomische Lage in diesem ärmsten europäischen Italien auf diese Hilfe dringend angewiesen ist, weist zudem darauf Land ist desaströs. Die albanische Politik ist durch den Konflikt hin, dass auf Privatisierung und Austerität beruhende Politiken zwischen den zwei größten Parteien paralysiert, die jeweils versulängst auch im Globalen Norden Infrastruktur wie das Gesundheitschen, die im Land präsenten internationalen Mächte, allen voran wesen dysfunktional werden ließ – und zwar in einem Maße, dass EU und USA, auf ihre Seite zu ziehen. Mangels legaler gewinnträchdavon die Fähigkeit von Staaten negativ beeinflusst wird, sich im tiger Exportgüter bemüht sich die Regierung unter Premierminister internationalen Konkurrenzkampf zu behaupten. Edi Rama, politische und ökonomische Unterstützung auf internationaler Ebene durch die Übernahme unangenehmer Aufgaben zu generieren. Das geschieht etwa durch Unterbringung entlassener tt Peter Korig arbeitet zu politischen und ökonomischen Entwicklungen im postsozialistischen Raum. Der Text entstand während Guantanamo-Gefangener oder durch Asyl für iranische Volksmujahedin, die aus ihrer Basis im Irak umgesiedelt wurden. der Ausgangssperre in Italien. iz3w • Mai / Juni 2020 q 378

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Rassismus

Tödliche Grenzen der Solidarität Die EU und der Flüchtlingsschutz in Zeiten von Corona von Ramona Lenz »Statt Ressourcen und Menschen auf die Bewachung der Grennen aus. So kann der türkische Präsident Erdoğan im Windschatten zen zu verschwenden, sollten wir alle Kraft auf die Bekämpfung des des Deals mit der EU nicht nur Krieg gegen die Kurd*innen führen, Virus im Inneren legen«, sagt selbst Weltärztepräsident Frank Ulrich sondern verhinderte mit dem Bau einer Grenzanlage an der syrischen Montgomery. Dennoch wird seitens der Politik die Quelle der Grenze seinerseits, dass weitere Flüchtlinge ins Land kommen. Gefahr durch das Coronavirus derzeit vor allem im Außen und bei Dadurch spitzt sich die Situation im syrischen Idlib dramatisch zu: den Anderen verortet. Unabhängig davon, wo das Epizentrum der Die dortigen Flüchtlingslager sind völlig überfüllt, die Versorgung Pandemie liegt, werden mit dem Argument, die Ausbreitung des ist nicht gesichert und die Menschen haben keine Möglichkeit, sich Virus stoppen zu wollen, weitreichende Maßnahmen zum Ausschluss vor den fortgesetzten Bombardierungen durch Russland und das von Migrant*innen und Geflüchteten gerechtfertigt. syrische Regime in Sicherheit zu bringen, während die türkische Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland werden unter Quaran­täne Regierung mit einer Militäroffensive versucht, ihren Einfluss in der gestellt, ohne die Menschen darin aufzuklären und zu schützen. Region auszubauen. Ein Ausbruch von Corona wäre angesichts der durch die Bombardierungen stark zerstörten GesundheitsinfrastrukMenschen in den überfüllten Lagern an der griechischen EU-Außengrenze werden ohne hinreichende Versorgung sich selbst tur verheerend für die Menschen in Idlib. überlassen und die für viele Menschen lebensnotwendige grenzMit dem EU-Türkei-Deal hat sich Europa daher nicht nur der überschreitende Mobilität wird noch mehr erschwert. Auch wenn Verantwortung für die Flüchtlinge in der Türkei entledigt, sondern die Geschwindigkeit und Gründlichkeit, mit der diese Maßnahmen auch für die Schutzsuchenden im seit Jahren vom Krieg zerrütteten nun durchgesetzt werden, atemberaubend sind: Dass all das jetzt Syrien. Diese jahrelange Politik des »Aus den Augen, aus dem Sinn« war der Nährboden für die rassistischen Ausohne große Widerstände geschehen kann, schreitungen infolge der einseitigen Öffnung wurde durch die flüchtlingsfeindliche und Die EU hat ihr menschender Grenze zur EU durch Erdoğan Ende Febunsolidarische Politik der EU in den letzten ruar 2020. Nachdem sich daraufhin tausende Jahren vorbereitet. rechtliches Fundament nach Am 18. März 2020, mitten in der CoronaFlüchtlinge in der Evrosregion im Nordwesten und nach verscherbelt Krise, jährte sich das Inkrafttreten des EUder Türkei sammelten und auch die AnkünfTürkei-Abkommens zum vierten Mal. Seit te auf den griechischen Inseln zunahmen, vier Jahren sorgt die EU dafür, dass tausende Menschen, die über sahen sich gewaltbereite Rassist*innen berufen, den Grenzschutz die Türkei auf den griechischen Inseln ankommen, unter dramatiselbst in die Hand zu nehmen. schen Bedingungen in vollkommen überfüllten Flüchtlingslagern Von Maraş im Süden der Türkei über die griechischen Inseln bis leben müssen. Seit vier Jahren wird der Zugang zu rechtsstaatlichen an den Evros und darüber hinaus haben sich selbst ernannte »Bürger­ Asylverfahren für die Ankommenden erschwert. Seit vier Jahren wehren« unter internationalem Beifall zusammengetan, um hemwarnen Menschenrechtsaktivist*innen vor einer Verschlimmerung mungslos Flüchtlinge anzugreifen. Auch Helfer*innen und Journa­ der Lage und seit vier Jahren verschlimmert sie sich. Der Preis dafür, list*innen wurden bedroht und verletzt. Anstatt sich gegen die dass die Türkei einen Großteil der Flüchtlinge jahrelang von der Verantwortlichen zu wenden, die Idlib bombardieren, Deals mit Despoten eingehen und die griechischen Inseln in FreiluftgefängWeiterreise nach Europa abgehalten hat, ist nicht nur ein finanzieller. Die EU hat dabei auch ihr menschenrechtliches Fundament nisse verwandeln, richtete sich der Zorn gegen die Schwächsten nach und nach verscherbelt. und ihre Unterstützer*innen. Eine unausgesprochene Prämisse des EU-Türkei-Deals war von Keine Polizei und kein Rechtsstaat schützen die Betroffenen, im Anfang an, die mit der Schließung von Grenzen einhergehenden Gegenteil. Allzu oft werden Geflüchtete Opfer nichtstaatlicher wie staatlicher Gewalt. Die Gefährdung von Flüchtlingsbooten und der Menschenrechtsverletzungen gegen Geflüchtete an die Türkei zu delegieren. Nichts anderes hat die EU zuvor schon mit einigen Einsatz von Tränengas gegen Erwachsene und Kinder gehören afrikanischen Ländern gemacht, die zum Beispiel über die Zahlung längst zu den üblichen Grenzschutzmaßnahmen. Und dass die von Entwicklungshilfegeldern zur Kooperation beim »Migrationsgriechische Regierung das Asylrecht für einen Monat aussetzte, als management«, also bei der Verhinderung von Flucht und Migrakönne man Menschenrechte in einem Rechtsstaat nach Belieben tion nach Europa, gebracht wurden. Gerade nordafrikanische ein- und ausschalten, war eine weitere Bestätigung für den rechten Länder wie Ägypten oder Libyen, von wo aus vor allem GeflüchMob: Pogromartige Gewalt führt zu den gewünschten politischen tete aus Afrika die Überfahrt nach Europa wagen oder wagten, Maßnahmen. Ausgehend vom Menschenrechte verachtenden EUprofitieren von Zahlungen aus Europa. Obwohl in diesen Ländern Türkei-Deal kommt es so zu fatalen Kettenreaktionen in alle Richnachweislich gefoltert wird, investiert die EU in die dortigen Sichertungen: Vom Mauerbau an der türkisch-syrischen Grenze bis zu heitsapparate, wenn dafür Flüchtlinge und Migrant*innen von der Ausgrenzungen und dem Aussetzen der Rechte von Flüchtlingen Überfahrt abgehalten werden. mitten in Ländern der EU. Die Deals mit der EU bleiben aber nicht auf die Länder beschränkt, Das alles geschah noch, bevor die Weltgesundheitsorganisation mit denen sie eingegangen wurden, sondern lösen Kettenreaktiodie Ausbreitung des Coronavirus zu einer Pandemie erklärte. Die tt

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Aktivist*innen nehmen Corona-Aufklärung in Moria selbst in die Hand | Foto: Moria Corona Awareness Team: Muhannad Al-Mandeel

nächste Kettenreaktion folgte bald darauf: Genau an dem Tag, als die deutsche Bundeskanzlerin die Bevölkerung zu gemeinsamem solidarischen Handeln aufrief, stellte die Bundesregierung die humanitäre Flüchtlingsaufnahme ein. Damit waren die tödlichen Grenzen der Solidarität einmal mehr markiert. Während sich hierzulande die Bevölkerung gegenseitig ermahnt, zu Hause zu bleiben und sich mehrmals täglich die Hände zu waschen, harren Millionen Flüchtlinge weltweit unter desaströsen hygienischen Bedingungen auf engstem Raum in elendigen Dauerprovisorien aus. Tausende davon an den EU-Außengrenzen, wo sich die Situation in den letzten Wochen noch einmal dramatisch zugespitzt hat. Nur mühsam haben sich einige wenige EU-Länder dazu durchgerungen, wenigstens eine kleine Zahl besonders vulnerabler Menschen aus griechischen Flüchtlingslagern aufzunehmen. Bis zu 1.600 schwer kranke Kinder mit ihren Familien und unbegleitete Minderjährige unter 14 Jahren, bevorzugt Mädchen, dürfen unter bestimmten Voraussetzungen einreisen. Soweit zumindest die Ankündigung. Ob die EU diese Menschen tatsächlich aufnehmen und alte Menschen sowie andere besonders durch Corona gefährdete Personengruppen rechtzeitig aus den Lagern evakuieren wird, in denen sauberes Wasser und Medikamente immer knapper werden und Distanz unmöglich ist, wird von Tag zu Tag fraglicher. Dass selbst dieses Mindestmaß an Humanität gegenüber den Schwächsten unter den Geflüchteten kaum durchsetzbar ist, zeigt: Vulnerabilität darf nicht zum alleinigen Maßstab der Flüchtlingsaufnahme und Gnade nicht über Recht gestellt werden. Gerade in diesen Zeiten kommt es darauf an, den Einsatz für die Rechte von Migrant*innen und Flüchtlingen nicht zugunsten minimaler

humanitärer Zugeständnisse preiszugeben. Die eklatanten Rechtsverletzungen gegen Geflüchtete dürfen nicht im Schatten von Corona untergehen. Es ist jetzt enorm wichtig, dass Organisationen wie Forensic Architecture and Forensic Oceanography, die den Schusswaffeneinsatz gegen Geflüchtete an der griechischtürkischen Grenze nachgewiesen haben, und viele andere weiterhin alles dafür tun, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Noch wichtiger als zuvor ist es gerade in Zeiten von Corona, was eine aus europäischen Menschenrechtsorganisationen bestehende Koalition, darunter auch medico international, zum Schutz von Migrant*innen und Geflüchteten vor Gewalt an den Grenzen formuliert: »Migrant*innen und Geflüchtete stellen keine Bedrohung für die EU dar, vor der es sich zu schützen gilt. Vielmehr sind sie auf ihrem gefährlichen Weg selbst von staatlicher Gewalt bedroht. Wir nutzen das Instrument der Menschenrechte, um sie vor der Brutalität, die sich gegen sie richtet, zu schützen.« Dieses Instrument gilt es in diesen Tagen zu verteidigen – gegen diejenigen, die den Schutz der Menschenrechte von Geflüchteten aus rassistischen und nationalistischen Gründen ablehnen genauso wie gegen diejenigen, die minimale humanitäre Gesten anstelle von Rechtsansprüchen für hinreichend halten. Wenn Corona eines lehren sollte, dann das: Wir leben in einer unentrinnbar verflochtenen Welt und können uns durch Abschottung weder schützen noch der Verantwortung füreinander entledigen.

Ramona Lenz ist Referentin für Flucht und Migration bei der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international.

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Protest gegen Salvini in Palermo | Foto: Ithmus CC BY 2.0.

Mit Sicherheit rassistisch Das neue Sicherheitsgesetz in Italien In ihren fünfzehn Monaten Regierungszeit bis September 2019 hat die rechtsextreme Lega zusammen mit der Fünf-SterneBewegung (M5S) durch diverse Gesetze Fakten geschaffen. Das prominenteste davon ist das in zwei Stufen erlassene »Sicherheitsgesetz«. Schon die Namensgebung stilisiert insbesondere die Migrant*innen zum Sicherheitsproblem. Gegen sie richtet sich ein Großteil der neuen Regelungen. von Johanna Wintermantel Die Schikanen des Gesetzes betreffen nicht allein die interna­ tional am stärksten beachtete Kriminalisierung der Seenotrettung. Auch der Zugang zur Aufenthaltserlaubnis wird erschwert und die Isolation in Massenlagern ausgeweitet. Beides ist in Deutschland durchaus ähnlich, aber in Italien kommt das schiere soziale Elend Tausender Migrant*innen hinzu, das durch das Sicherheitsgesetz noch verstärkt wird. Ein erheblicher Teil der Flüchtlinge wird durch das Gesetz vom Zugang zu Wohnraum und sonstiger sozialer Infrastruktur abgeschnitten oder ganz in die Illegalität gedrängt. Menschen im Asylverfahren sind nun von der dezentralen Unterbringung durch die Kommunen ausgeschlossen, die teilweise eine recht gute gesellschaftliche Inklusion ermöglichte. Das kalabresische Städtchen Riace war ein Modell dafür, bis dessen Initiator, der Bürgermeister ­Lucano, kriminalisiert wurde und die Asylsuchenden verlegt wurden. Dett

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zentral untergebracht werden jetzt nur noch diejenigen, die einen internationalen Schutzstatus erhalten, und unbegleitete Minderjährige.

Obdachlos und illegalisiert Den Asylsuchenden bleiben Notunterkünfte oder die Obdachlosigkeit. Da auch die Zuschüsse für die Flüchtlingsunterbringung deutlich gekürzt wurden, ist diese gerade für qualifizierte, gemeinwohlorientierte Betreiber nicht mehr finanzierbar. Das Feld bleibt daher oft unseriösen bis mafiösen Anbietern überlassen, die über Masse, Veruntreuung öffentlicher Gelder und schlechte Qualität Gewinne machen. Mehrfach blieben Ausschreibungen für den Betrieb der Unterkünfte ganz erfolglos, sodass die Einrichtungen geschlossen werden mussten. Die Asylsuchenden wurden teil­weise einfach wohnungslos. Asylsuchende dürfen zudem nicht mehr ins Melderegister aufgenommen werden, wodurch sie von den meisten offiziellen Vorgängen ausgeschlossen sind – sie können kaum einen Arbeitsvertrag unterschreiben, eine Gesundheitsversorgung erhalten oder einen Wohnsitz anmelden, selbst wenn sie eine Wohnung finden sollten. Noch schlimmer ist die Situation für Illegalisierte. Deren Zahl hat sich durch das Sicherheitsgesetz laut einer aktuellen Studie der NGO Actionaid um 40.000 erhöht, aufgrund ausstehender Asylentscheidungen ist zudem mit einem weiteren Anstieg zu rechnen. tt

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Italien

Der Grund liegt in der Abschaffung des ­vergeben werden. Antimafia-Organisationen kritisieren, dass die Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen, Mafia sich so ihre Besitztümer, darunter insbesondere Land, wieder der zuvor an etwa 25 Prozent der Schutzzurückkaufen kann. suchenden vergeben worden war. Ersetzt Manche Aspekte des Sicherheitsgesetzes haben erst auf den wurde er nur durch wenige, viel spezifizweiten Blick eine ‘rassistische’ Wirkung. Seit 1999 war die Blockaschere Aufenthaltsgründe. Während in de von Straßen und Schienen in Italien nur noch eine OrdnungsDeutschland auch Menschen ohne Aufentwidrigkeit, jetzt ist sie wieder eine Straftat. Dies beschneidet die haltstitel »geduldet«, also weiterhin staatDemonstrations- und Streikfreiheit. Die ersten Betroffenen waren lich erfasst, kontrolliert, oftmals abgescho21 Arbeiter*innen in der Toskana, denen im Oktober Strafen von ben, aber bis dahin minimal versorgt werje 4.000 € auferlegt wurden, weil sie aus Protest gegen monatelang den, gibt es in Italien wie in den meisten vorenthaltene Löhne eine Straße vor der Fabrik blockiert hatten. Ländern nach dem Asylentscheid nur die Tatsächlich wird die Verschärfung von Strafen vor allem als Waffe Alternative zwischen Aufenthaltsrecht und gegen Streiks gesehen, die insbesondere im Logistikbereich in den Illegalisierung. letzten Jahren häufig und effektiv waren. Die Arbeitskämpfe werden Sans Papiers sind Ausbeutung besonders vielfach von jenen getragen, die in diesen prekären Sektoren tätig ausgeliefert, da sie auf keinerlei soziale Leissind – darunter viele Migrant*innen. tungen Anspruch haben und weder Gewalt Ähnlich sieht es mit Salvinis Faible für Räumungen aus. Hausnoch Arbeitsrechtsverstöße anzeigen könbesetzungen sind in Italien für viele Arme eine Notwendigkeit, nen, ohne mit Abschiebung oder Inhaftiedazu gehören zahlreiche Migrant*innen. Informelle Camps werden rung in Abschiebegefängnissen rechnen von Migrant*innen bewohnt, aber auch von seit Jahrzehnten zu müssen. Die maximale Haftdauer dort ­ansässigen Rom*nja oder italienischen Sint*izze. Angeblich um Geräumten angemessene Unterstützung bieten zu können, hat wurde mit dem Sicherheitsgesetz auf 180 Tage verlängert. Die Zustände sind oft Salvini im Rahmen des Sicherheitsgesetzes eine Erfassung aller ­katastrophal, NGOs berichten seit Jahren Besetzer*innen und ihrer sozialen Situation angeordnet. Seither von Suiziden, Gewalt, Zwangsprostitution folgten unzählige Räumungen, besonders in Rom, wo die Wohoder unberechtigten Inhaftierungen. Im nungsnot groß ist. Auch Kinder, alte und vulnerable Personen Januar starb der georgische Asylsuchende waren davon betroffen. Die antiziganistische Stoßrichtung von Vakhtang Enukidze im Abschiebegefängnis von Gorizia mutmaßlich Salvinis Zählung ist zudem unübersehbar. Die Daten über Sinti und durch Polizeigewalt. Die potentiellen Zeugen wurden Roma würden bereits ausgewertet gleich darauf abgeschoben. und zum Beispiel für die Räumung Das Sicherheitsgesetz ist Was die Obdach- und Mittellosigkeit bewirkt, wird eines Romacamps in Pisa verwendet, in der Ebene von Gioia Tauro in Kalabrien deutlich, verkündete Salvini noch als der Reein »Krieg gegen die Armen« wo über 2.000 migrantische Saisonarbeiter*innen gierungswechsel bereits anstand. beschäftigt sind. Der Großteil von ihnen hat einen Leider bedeutet der Wechsel zur Aufenthaltstitel, dennoch ist ihre Situation miserabel. Vielen haben ­Regierung der M5S mit dem Partito Democratico (PD) keinen keinen Arbeitsvertrag, Arbeitsrechte werden ständig verletzt. Sie grundlegenden Wandel. Mitte Februar berieten Minister*innen »wohnen« im riesigen Barackenlager von San Ferdinando unter und Vertreter*innen der Mehrheitsparteien über eine Änderung katastrophalen Bedingungen. Innerhalb etwas mehr als eines J­ahres des Sicherheitsgesetzes. Eine komplette Rücknahme forderte jedoch starben vier Personen durch Brände. Ein fünftes Opfer ist S­ oumayla niemand. Im M5S gibt es immer noch Stimmen, die das Gesetz Sacko. Als er Freunden dabei half, aus einer stillgelegten Fabrik als »großen Schritt nach vorn« bezeichnen. Der Änderungsplan Bleche zum Barackenbau zu holen, wurde der aus Mali s­ tammende der derzeitigen parteilosen Innenministerin Lamorgese sieht nach Basisgewerkschafter 2018 von einem mutmaßlichen Mafioso Medienberichten lediglich vor, die Strafen für Rettungsschiffe zu erschos­sen. Teile von San Ferdinando wurden mehrfach brutal reduzieren, den Ausschluss von Asylsuchenden vom Melderegister geräumt, legale Wohncontainer bieten keine ausreichende Alterna­ zurückzunehmen (beides war ohnehin schon durch viele Gerichtstive. Durch das Sicherheitsgesetz erwarten NGOs eine weitere entscheidungen infrage gestellt worden); weitere AufenthaltsgrünVerschlechterung der Lage. de anzuerkennen und die Wartezeit bis zur Einbürgerung von in Italien geborenen Jugendlichen oder mit Italiener*innen Verheirateten wieder zu verkürzen. Es bleibt zu hoffen, dass zumindest Keine Sicherheit gegen die Mafia noch ein paar Änderungen hinzukommen – Einigkeit besteht wohl tt Die mafiöse Ausbeutung der migrantischen Landarbeiter*innen im Wunsch nach der Wiedereinführung der kommunalen Unterkönnte durch das Sicherheitsgesetz noch gefördert werden. Von bringung. Eine antirassistische Wende durch den PD war aber auch nicht der Mafia konfiszierte Güter sollen nicht mehr wie bisher direkt an Antimafia-Initiativen, sondern in einer offenen Ausschreibung zu erwarten. Salvinis PD-Vorgänger Minniti war es, der sich als iz3w • Mai / Juni 2020 q 378

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Italien Innenminister für die Flüchtlingsabwehr in Libyen einsetzte, den Rettungsschiffen von NGOs Verhaltensregeln aufzwingen wollte, die Klagemöglichkeiten gegen die Ablehnung von Asylgesuchen reduzierte, die Verdopplung der Abschiebungen plante und die Eröffnung von Abschiebegefängnissen in jeder Region verfügte. Eingeführt worden waren die Abschiebeknäste 1998 ebenfalls unter einer Mitte-Links-Regierung. Aber es regt sich außerparlamentarischer Widerstand. Besonders von Herbst 2018 bis Frühjahr 2019 demonstrierten mehrfach und in verschiedenen Städten Zehntausende gegen Rassismus, das Sicherheitsgesetz und die Blockaden der Seenotrettung. Kontinuier­ lich läuft die Arbeit von antirassistischen Initiativen, die sich etwa um Monitoring der Abschiebeknäste oder um selbstverwaltete dezentrale Unterbringung bemühen. Besetzer*innen-Gruppen und Basisgewerkschaften setzen Solidarität gegen den »Krieg unter den Armen«, der die Beunruhigung über sozioökonomische Missstände in Rassismus verwandelt. In welche Richtung sich die Gesellschaft

durch die Corona-Krise entwickeln wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Genau wie in Deutschland trifft sie die ohnehin Benachteiligten besonders hart, darunter Geflüchtete: Sie mussten auf Rettungsschiffen in Quarantäne ausharren, sind in Massenunterkünften einem besonders hohen Infektionsrisiko ausgesetzt, Wohnungslose erhalten Bußgelder wegen dem Verstoß gegen die Ausgangssperre … Es gibt durchaus heftige Proteste, nicht nur die blutigen Gefäng­ nisrevolten gegen die Besuchssperre, sondern auch Streiks (siehe Kasten), und Ende März begann ein Hungerstreik im Abschiebe­ gefängnis von Gorizia. Aber die Rufe einzelner Initiativen nach einer Dezentralisierung der Flüchtlingsunterkünfte angesichts von Covid-19 scheinen derzeit ungehört zu verhallen, und die Änderung des Sicherheitsgesetzes verschwindet von der politischen Agenda.

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Johanna Wintermantel ist freie Journalistin.

Streiken wegen Corona

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tt Von der deutschen Öffentlichkeit wenig beachtet hat am 25. März 2020 in Italien ein Generalstreik unter dem Motto »Gesundheit vor Profit« stattgefunden. Wie auch in Deutschland waren in Italien zur Eindämmung des Coronavirus zuerst Schulen und kulturelle Einrichtungen geschlossen worden, dann nicht-lebensnotwendige Geschäfte. Auch die individuelle Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt, aber Produktion und Logistik liefen weiter. Der Industriellenverband Confindustria hatte Anfang März mit Druck auf die Behörden verhindert, dass diese wie geplant die besonders schwer von Covid-19 betroffenen Gegenden in der Provinz Bergamo als »rote Zone« einstuften und verschärfte Schutzmaßnahmen anordneten. Wie viele Menschenleben diese Intervention gekostet hat, kann vielleicht im Rückblick rekonstruiert werden. Erst am 22. März verfügte Ministerprä»Streike für sident Conte, nach einem Treffen zwischen Regierung, Industrie und den großen Gewerkschaftsbündnissen, die Schließung aller nicht »wesentlichen« Produktionsbereiche. Dem vorausgegangen waren bereits eine Reihe von Protesten und Streiks, worauf unter anderem drei Fiat-Werke geschlossen worden waren. Die Arbeiter*innen kämpfen nicht für den Wirtschaftsstandort Italien, sondern für das Recht, sich vor Coronainfektionen zu schützen: indem bei der Arbeit endlich die nötigen und eigentlich vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen (Ausrüstung, Distanz) gewährleistet werden, indem alle nicht notwendigen Tätigkeiten ausgesetzt und damit auch die Wege zur Arbeit in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln vermieden und indem Verdienstausfälle kompensiert werden. Dies sollte auch für prekär Beschäftigte gelten, wie etwa Kurierfahrer*innen von FastfoodLieferdiensten, die nur die Wahl haben zwischen Infektionsrisiko und Erwerbslosigkeit. Die auf den ersten Blick rigide Schließung der »nicht-notwendigen« Produktionssparten durch Contes Dekret entpuppt

sich nämlich als unzureichend. Insbesondere die Basisgewerkschaften beklagen eine viel zu weitmaschige Auslegung der »Lebensnotwendigkeit«. Ausdrücklich erlaubt ist beispielsweise weiterhin die Produktion in der Raumfahrt- und Rüstungsindustrie, die gesamte Chemieindustrie, die Gummi- und Plastikproduktion; auch auf Baustellen wird weiter gearbeitet. Zudem können Firmen beantragen, als notwendig anerkannt zu werden. Die Logistik ist von dem Verbot überhaupt nicht betroffen. In Betrieben, die weiterlaufen dürfen, ist die Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen nicht gewährleistet: Während die individuellen Ausgangssperren teils absurd penibel sanktioniert werden, ist in der diesbezüglichen Vereinbarung zwischen Industrie und Gewerkschaften keine unabhängige Kontrollinstanz vorgesehen – entsprechend werden aus vielen Betrieben Verstöße berichtet. Der Streik am 25. März wurde im wesentmich« lichen von den kleineren Basisgewerkschaften getragen. Als nationalen Generalstreik rief ihn die Basisgewerkschaftsunion USB aus. Es beteiligten sich auch Teile der großen Gewerkschaftsbündnisse, besonders in der Lombardei, wo die Gummi-, Plastik-, Textil- und Papierfabriken acht Stunden lang bestreikt wurden. »Von Norden bis Süden, von Triest bis Taranto, sind Logistiklager leer und in Fabriken steht die Arbeit von bis zu 70% der Arbeiter still«, bilanzierte USB. Je nach Branche sollen 60 bis 90 Prozent der Beschäftigten in den Ausstand gegangen sein. Besonders stolz war die USB auf die große Teilnahme der Beschäftigten in wirklich lebenswichtigen Bereichen, die nicht die Arbeit niederlegen konnten, allen voran im Gesundheitsbereich. Sie traten in einen einminütigen »symbolischen Streik« und posteten Fotos von sich mit kurzen Botschaften wie »Streike für mich« oder »Meine Sicherheit ist auch Deine«. Damit erinnerten sie auch an Daniela Trezzi, die 34-jährige Krankenpflegerin aus Monza, die sich kurz zuvor das Leben genommen hatte. Sie war, so USB, nicht nur ein Opfer des Virus, sondern der jahrzehntelangen Kürzungen im Gesundheitswesen.

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Iran

Ein Ort, an dem zumindest kulturelle Freiheiten gelebt werden: Das Café Parking in Teheran | Foto: NiloTehrani

Die Wut der Demonstrierenden Ein Brief aus Teheran Entgegen der Darstellung vieler europäischer Medien steht die iranische Bevölkerung keineswegs mehrheitlich hinter dem islamistischen Regime. Zwar lehnt sie Angriffe und Sanktionen gegen den Iran ab, doch die Unzufriedenheit ist groß, wie die vielen Proteste seit November zeigen. Unsere Autorin ­berichtet von der Stimmung im Land. von Soussan Sarkosh Meine Lieben, Salam, seid gegrüßt. Anlass zu diesem Brief sind manche irreführenden Behauptungen, die ich in Berichten über den Iran las. Wie zum Beispiel in einem Beitrag auf Zeit-online vom 18. Januar mit der Überschrift »Iran: Die Gesellschaft ist gespalten«. Darin hieß es: »Die Trauer über den Abschuss eines Ukraine-International-Airlines-Flugzeuges durch die Revolutionsgarden ist bei einem kleinen Teil der Bevölkerung in Wut auf das Regime umgeschlagen.« Solche Stellungnahmen reizen meinen Widerspruch. Denn die Wut, die am 26. Dezember an den meisten iranischen Universitäten ausbrach, war nicht nur auf den Abschuss des Passagierflugzeugs und die Lügen des Regimes darüber gerichtet. Sie ist die jahrelang aufgestaute Wut auf vieles in diesem Regime, und sie ist nicht nur die Wut eines kleinen Teils der Bevölkerung. Die Unruhen seit November in beinahe allen Städten Irans und in vielen Stadtteilen Teherans zeigten dies deutlich. Diese Wut bezieht sich auf die Repression, die Korruption, die Ineffizienz der Behörden, auf die maßlose Ungleichheit und Armut, auf die expansionistischen Ambitionen des Regimes und auf die Kriegstreiber auf der höchsten Ebene der Politik. Ihr werdet einwenden, all dies sei nichts Besonderes, es handele sich um g ­ lobale tt

Probleme des Südens, außer vielleicht die beiden letzten Punkte. Ja, mag sein, aber die Repression im Iran hat eine ganz eigene Gestalt. Sie besteht seit der so genannten Islamischen Revolution vor gut 40 Jahren nicht mehr nur aus politischer Unterdrückung wie zu den Zeiten des Schahs. Wir leiden neben der politischen auch unter einer kulturellen Repression, die tief in die Privatsphäre hineingreift und mit harter Zensur im Geistesleben unglaubliche Beschränkungen schafft.

Politische und kulturelle Repression Die politische Repression umfasst die Eliminierung der Gegner durch Attentate und Hinrichtungen, darunter auch von zu Gefängnisstrafen verurteilten Linken und Mojahedin, die ihre Strafe zum Teil schon abgesessen hatten. Die Gefängnisse sind voll mit Dissident*innen. In letzter Zeit sind es vor allem zivilgesellschaftliche Aktivist*innen wie Frauenrechtler*innen, Gewerkschaftler*innen, Umweltaktivist*innen, Teilnehmer*innen an friedlichen Demonstra­ tionen und Intellektuelle, die inhaftiert werden. Dasselbe gilt für Angehörige religiöser Minderheiten; die Liste ließe sich fortsetzen. Seit einigen Jahren ist eine schleichende Totalisierung zu beobachten, was sich vor allem in der Ausschaltung der inneren Opposition zeigt, die sich selbst »islamische Reformer« nennt. Manche ihrer Sprecher*innen haben Hausarrest oder landen im Gefängnis, wenn sie nicht schon geflohen sind. Etwa 90 Prozent ihrer Kandi­ dat*innen sind nicht zu den Parlamentswahlen im März zugelassen worden. Die kulturelle Repression ist ähnlich umfassend. Die staatliche Zwangsverschleierung im Iran kennt Ihr, aber vielleicht wisst Ihr tt

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nicht, dass in all diesen Jahren ihre Nicht-Beachtung mit Peitschenstolz auf ihre iranische Kultur sind, sollen sich mit einem Regime hieben bestraft wurde, obwohl weder nach den Gesetzen des Islam einig fühlen, das das iranische Nationalbewusstsein zu eliminieren noch nach dem iranischen Gesetzbuch eine solche Strafe für diese versucht und alles Mögliche unternahm, um das »Iranische« durch ‚Tat‘ vorgesehen ist. Die Auslegung des Regimes, was ein perfekter das »Islamisch-Schiitische« zu ersetzen? Hijab ist oder welche Farbe der Chador haben soll, steht weder im Koran noch sonstwo niedergeschrieben. Ich habe es einmal UniDer schiitische Größenwahn formierung und Töten jeder Individualität genannt. Das Regime hat sogar die Nomadenfrauen mit ihren farbenprächtigen Trachten tt Damit sind wir bei der Wut der Bevölkerung auf die expansiogezwungen, darüber einen Chador zu tragen. Ich wiederhole all nistischen Ambitionen des Regimes und auf die Kriegstreiber in der das, um in Erinnerung zu rufen, dass die Auslegungen der VorschrifPolitik. Bei allen Protesten der letzten Jahre, ob im Winter 2017 ten des Islam durch das Regime nicht islamisch sind, sondern islaoder im Winter 2019 und gleich welche Schichten und Klassen mistisch. Diese klerikale Auslegung wird nicht einmal von den rebeteiligt waren, wurde immer eine Parole skandiert, die mir sehr ligiösen Muslimen im Iran akzeptiert, etwa von der reformistischen wichtig erscheint: »Na Ghazeh, na Lobnan; Janam faday-e Iran« Opposition. (weder Gaza noch Libanon; mein Leben dem Iran). Sie ist so heraus­ ragend, dass Khamenei sie in seiner Freitagspredigt nach dem Nach der Islamischen Revolution 1979 wurde vieles verboten: Musizieren, Gesang der Frauen, Tanzen, Feste mit beiden GeschlechAbschuss des ukrainischen Flugzeugs und nach den Protesten vom tern, der Konsum von Alkohol und vieles mehr. In all den Jahren 26. Dezember herauspickte, um verächtlich zu behaupten, die seither kam es oft vor, dass die Sittenpolizei eine Wohnung s­ türmte, Leute, die sowas schreien, seien zu feige, um für den Iran zu kämpin der gefeiert wurde, egal ob es ein Kindergeburtstag war oder fen. Womit gemeint war: Wer nicht in Libanon, Syrien und sonstwo kämpft, kämpft auch nicht für den Iran. eine sonstige Familienfeier. Wehe, wenn Jugendliche feierten, sie Die Wut darauf hat zwei Gründe: Erstens einen sehr materiellen, wurden verhaftet und erst nach Peitschenhieben oder Geldstrafe es geht dabei um die Finanzierung der Stellvertreterkriege von freigelassen. Wobei nach den eigenen Bekundungen des Regimes Syrien bis Jemen. Zweitens einen weltanschaulichen, denn die die private Sphäre (Harim) im Islam heilig sein soll. Das öffentliche Leben ist stark eingeschränkt, Literatur, Film und meis­ten Menschen im Iran, außer den 15 Prozent organisierten Kunst unterliegen der Zensur, Zeitungen werden geschlossen. Wenn An­hän­ger*innen des Regimes, teilen den Panislamismus des Regiwir heute dennoch im Radio und Fernsehen mes und dessen Vision eines schiitischen Reichs nicht. Musik hören können und trotz großer EinAuf den Straßen wie in den Sozialen Medien wird Wehe, wenn schränkungen sogar Konzerte veranstaltet beklagt, dass iranische Kinder vielerorts keine SchulJugendliche feierten, werden, wenn Frauen heute Sport treiben gebäude haben oder in baufälligen Gebäuden Unter­ können und zu internationalen Wettkämpfen richt bekommen – insbesondere in den von Erdbeben sie wurden verhaftet gehen, wenn Frauen farbig gekleidet und und Überschwemmungen zerstörten Gebieten. In nur mit einem leichten Kopftuch bedeckt in Syrien oder Venezuela hingegen würden Schulen und den Straßen promenieren, verdanken wir all das dem kulturellen Häuser vom Regime finanziert. Die Kritiker*innen dieser Praxis ­zitieren oft den alten islamischen Spruch »erst Dein Haus, dann die Kampf von mehreren Generationen junger Menschen. Viele von Moschee«. Es geht dabei nicht um ein paar Schulen, sondern um ihnen haben teuer dafür bezahlt: Mit Gefängnis, mit Verlust des Studien- oder Arbeitsplatzes, mit erzwungener Flucht aus dem Land die Milliardensummen, die für Stellvertreterkriege ausgegeben – und nicht wenige sogar mit dem Leben. Macht das alles eine*n werden. Noch Ende Dezember verschenkte Khamenei 200 Millionen US-Dollar an Hassan Nasrollah, den Generalsekretär der Hisnicht wütend? bollah Libanons – böse Zungen sagen, aus der Tasche des Volkes. Zur kulturellen Repression gehört auch die Unterdrückung alles Iranischen und die Beleidigung des Nationalgefühls der Bevölkerung. Dies geschah zu einer Zeit, als tausende Dörfer in den armen Während der ‚Revolution‘ 1979 benannten die Teheraner*innen Provinzen Kerman und Balutschistan nach einer Überschwemmung die längste Straße der Stadt nach dem beliebten ehemaligen Preunter Wasser standen und der iranische Rote Halbmond nicht mierminister Mossadegh, der 1953 nach einem von westlichen genügend Helikopter hatte, um Hilfe zu bringen. Staaten vorangetriebenen Putsch durch den Schah ersetzt worden war. Die islamistische Stadtverwaltung schritt dagegen ein und Die Parolen werden schärfer benannte die Straße nach dem schiitischen Messias Vali‘asr. Einige Islamisten wollten sogar die Nationalbank zur Islamischen Bank tt Viele Beobachter*innen verweisen auf den Stellenwert von »omumbenennen. Das erscheint lächerlich, aber es handelte sich um mat-e Islam« (das islamische Volk), das in den Reden Khamenei über »mellat-e Iran« (die iranische Nation) steht. Dem scharfen, gewitzeine systematische Ersetzung persischer Wörter durch arabische. Es war keine Wortspielerei, sondern Teil der islamistischen Ideologie. ten Blick der Bevölkerung entging nicht, dass Khamenei in seiner Einige auf der höchsten Ebene der Macht wollten damals sogar die Freitagspredigt die Opfer des Flugzeugabschusses bloß in einem Überreste der altpersischen Palaststadt Persepolis zerstören. Satz streifte, um sofort überzugehen zum großen Verlust Soleimanis, seines »Lieblings«, wie es im Volksmund heißt. Die gleichzeitige Über diese Zusammenhänge ist jedoch in deutschen Medien viel Irreführendes zu lesen. Katajun Amirpur, Islamwissenschaftlerin Überschwemmung im Süden Irans erwähnte er mit keinem Wort. an der Universität Köln, schrieb in der Süddeutschen Zeitung vom Ach, dieser böse Volksmund, er erinnert uns daran, dass die Bevöl21. Januar 2020 einen Gastbeitrag mit der Überschrift »Iran gegen kerung von Balutschistan mehrheitlich sunnitisch ist … USA – der persische Stolz«. Der Untertitel fasste ihre Position so Die Wut der Bevölkerung über den Grad der Repression, den Grad der Missachtung des Wohlergehens der iranischen Bevölkerung zusammen: »Die Iraner sind unzufrieden mit ihrem Revolutions­ und den Grad der Demütigung der nationalen Gefühle findet ihren regime – und zugleich prinzipiell mit ihm einig. Verbindend wirkt Ausdruck heute in den Protesten der jungen Menschen. Sie steht der kulturelle Nationalismus«. Urteilt selbst: Iraner*innen, die sehr iz3w • Mai / Juni 2020 q 378


Iran neben der Wut über Korruption bei gleichzeitig wachsender Armut. Es ist verständlich, dass die Parolen dagegen immer schärfer werden. Vor zehn Jahren fragte man nach der Aufdeckung des Wahlbetrugs noch: »Wo ist meine Stimme?« Bei den Protesten Anfang dieses Jahres wurde bereits die Abdankung des Führers Khamenei gefordert. Manche gingen noch weiter und verlangten die Abschaffung des Welayat-e Faqih (der »Statthalterschaft des Rechtsgelehrten«, sprich des Herrschaftssystems der Islamischen Republik). Seit den Unruhen im November sind viele, selbst reformistische Beobachter*innen der Ansicht, das Regime habe seine Legitimität endgültig verloren. Angesichts der verbreiteten Unzufriedenheit der Bevölkerung befremdet es mich, was einige Gegner*innen des Regimes fordern. In der taz vom 18.1.2020 schrieb zum Beispiel Gilda Sahebi, es sei »Zeit für diplomatische Härte«, und machte den Vorschlag: »Kein Atomabkommen mit Iran«. Ich frage mich, ob die junge Frau weiß, wer im Iran gegen das Atomabkommen ist. Trumps Austritt aus dem Atomabkommen begrüßte nämlich niemand anderes laut jubelnd als die Tageszeitung »Kayhan«, ein Sprachrohr der Hardliner und der Kriegstreiber. Shariatmadari, Herausgeber und Chefredakteur der Zeitung, steht Khamenei nahe und gilt als einer der Theoretiker des Stellvertreterkrieges. Er ist der Meinung, man müsse sogar einen Krieg mit den USA riskieren, um Amerika in seine Schranken zu weisen. Das sind die Leute, die in all diesen Jahren im

Die Gedanken sind frei, auch im Teheraner Qasr-Gefängnis Foto: Ehsan Doostmohammad

Iran versucht haben, das Atomabkommen zu verhindern und dazu eine geradezu persönliche Feindschaft zu Obama pflegten. Die Gegner*innen des Regimes hingegen zeigen seit zehn Jahren ihre Wut auf die Stellvertreterkriege in der Region. Sie unterstützten mit ihrer Stimmabgabe die Reformisten, sogar den nicht sehr beliebten Rohani, in der Hoffnung auf das Gelingen des Atomabkommens. Die Gegner*innen des Regimes möchten weder Krieg noch Sanktionen, sie haben auch keine linken revolutionären Visionen. Die Älteren haben alles schon erlebt: Islamische Revolution, Krieg, Nachkriegszeit, Sanktionen. Die Jüngeren, die in der Islamischen Republik aufgewachsen sind, sehen die Ergebnisse von 40 Jahren »revolutionärer« Politik: Korruption, astronomische Reich-

tümer, gleichzeitig wachsende Verarmung. Sie sehen die Ineffizienz des Regimes bei der Lösung einfacher Probleme, seine Ansprüche und seinen Größenwahn. Sie sehen, wie das Land an den Rand eines Kriegs gebracht wird, wie wir immer im Stress leben, was der nächste Morgen bringt. Warum sollte da nicht die Wut wachsen?

Falsche und dumme Freund*innen Mindestens die Hälfte der Wahlberechtigten im Iran sind meiner Schätzung nach potentiell Gegner*innen des Regimes. Vielleicht fragt Ihr euch: Wenn die Unzufriedenheit so groß ist, warum sind die Proteste so kurzlebig, warum nehmen nicht mehr Leute daran teil? Dagegen steht nicht nur die brutale Gewalt des Regimes bei der Niederschlagung aller Proteste. Noch wichtiger ist die Angst vor einem Bürgerkrieg, davor, dass Iran zu Syrien werden könnte. Man hat keine Hoffnung, sieht keine realen Alternativen und keine vertrauenswürdige Führung. Es ist ein Gefühl der Ohnmacht, wie einer meiner früheren Studenten mir gestern sagte. Auch das erzeugt Wut. Ich hoffe nur, dass Trumps Berater und die Kriegstreiber des Westens wissen, dass sich diese Stimmung im Iran ändern wird, sobald auch nur ein US-amerikanischer Soldat das Land betritt. Dann gilt »Janam faday-e Iran« (mein Leben dem Iran). Leider gibt es auch unter Exil-Iraner*innen solche, die einen Krieg zur Abschaffung des Regimes befürworten. Ich nenne sie die falschen Freund*innen der jungen Bewegung. Allerdings gibt es nicht nur unter iranischen Linken solche, die das Regime für eine »antiimperialistische« Macht halten, die den Supermachtallüren der USA Widerstand leistet und den berechtigten Kampf der Völker in der Region unterstützt, insbesondere den der Palästinenser*innen und schiitischer Minderheiten. Ich habe oft versucht, diese These zu widerlegen. Die islamistische Führung Irans ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihre saudischen Rivalen. Sie kämpfen beide um die Vorherrschaft in der Region, nur mit anderen Mitteln und vor verschiedenem Hintergrund. Wenn man die Wirkung des Regimes in der Region untersucht, findet man heraus: Es hat den ganzen Nahen Osten gespalten, in Schiiten und Sunniten, es hat einen regelrechten Religionskrieg geschürt, den die USA und ihre Verbündete im Region zu nutzen wissen. Ein Regime, das das eigene Land ausplündert, soll anderen aus rein idealistischen »antiimperialistischen« Motiven helfen? Meine Lieben, ich habe Euch wahrscheinlich nichts Neues erzählt. Ihr habt andere Probleme: Trump, die Umwelt, der Rassismus. Ich wollte nur die Stimme einer jungen und gleichzeitig alten Bewegung sein. Seit 41 Jahren leisten die Menschen hier Widerstand. Es ist vorläufig still geworden auf den Straßen, die Verhaftungen gehen aber weiter. Ich wollte etwas aufklären, in der Hoffnung, diese Bewegung vor ihren falschen und auch dummen Freund*innen zu schützen. tt

Soussan Sarkhosh studierte von 1965 bis 1975 in Deutschland und promovierte in Soziologie. Sie lebt seitdem im Iran, wo sie mit Unterbrechungen an der Universität lehrte. Sie ist Mitglied des Redaktionsbeirates der PERIPHERIE und publiziert immer wieder in deutschsprachigen Medien. tt

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Ein Schritt voran, drei zurück Die türkische Frauenbewegung stellt sich beharrlich der Macht entgegen Erdoğans Regierung geht massiv gegen die Frauenbewegung in der Türkei vor. Zwischen der geltenden Istanbul-Konvention gegen Gewalt gegen Frauen und der gesellschaftlichen Realität klafft eine Lücke. Dennoch bleiben Feministinnen so zahlreich wie hoffnungsvoll, und die Frauenemanzipation steht jetzt im Mittelpunkt der türkischen Politik.

misch-konservativen türkischen Regierung und verbindet geopolitische Themen ganz selbstverständlich mit persönlichen Belangen, wie der Wichtigkeit der Bildung ihrer Töchter. Die Frauen lassen immer wieder ein schrilles kehliges Trillern ertönen und bestimmen die Geräuschkulisse im Zentrum der in der Nähe der iranischen, irakischen und syrischen Grenze liegenden Provinzhauptstadt. Trotz der Repression gegen die HDP auf Landesebene hält sich die durch von Sabine Küper-Büsch Sicher­heitskräfte repräsentierte Staatsmacht in Batman deutlich zurück. tt Im südostanatolischen Batman findet die Demonstration zum Ganz anders sah es in Istanbul aus. Bereits 2019 war der Protestmarsch am Frauenkampftag verboten worden und die trotzdem Internationalen Frauenkampftag in einer Grünanlage im Stadtzentrum statt, die eigens den Namen »8. März Frauen-Park« trägt. Das Demonstrierenden wurden mit Tränengas und Festnahmen drangFrauen-Gremium der prokurdischen Demokratiepartei des Volkes saliert. Für weltweites Aufsehen sorgten auch die polizeiliche Repression bei der Demonstration gegen Gewalt gegen Frauen am (HDP), die den Bürgermeister stellt, hat kostenlose Busfahrten für 25. November und die Inhaftierung von Protes­ Frauen aus der gesamten Region organisiert. Sie tanzen und jubeln den Parteifunktierenden Anfang Dezember 2019, die eine Die Niederschlagung von tionärinnen zu. Performance des chilenischen Kollektivs Las Dilan Dirayet Taşdemir, Abgeordnete Tesis, »Der Vergewaltiger bist du«, in Istanbul Demos ist eine Inszenierung des Wahlkreises Ağrı im Osten, ist die erste öffentlich aufgeführt hatten. paternalistischer Macht Rednerin. Sie fordert, der grassierenden In diesem Jahr verkündete der Gouverneur Gewalt gegen Frauen mit der gleichen der Zwanzig-Millionen-Stadt erst am NachEntschlossenheit zu begegnen wie die kurdischen Kämpferinnen, mittag des 8. März ein Verbot des traditionellen Nachtmarsches auf dem Istiklal-Boulevard und ließ die nahegelegenen U-Bahndie in Syrien und im Irak gegen den ›Islamischen Staat‹ gekämpft Stationen sperren. Spezialeinheiten der Polizei attackierten erneut haben. Sie wettert gegen den frauenfeindlichen Duktus der islaIm südostanatolischen Batman wurde am Frauenkampftag die Grünanlage in »8. März Frauen-Park« umbenannt | Foto: Sabine Küper-Büsch

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Tü r k e i Gruppen mit Tränengas und schüchterten mit Festnahmen am Taksim-Platz ein. Bis spät in die Nacht ließen Frauen dennoch nicht locker und schafften es immer wieder, Transparente zu zeigen und Fotos in sozialen Medien zu teilen.

Emanzipation als zentrales Thema Die Frauenbewegung in der Türkei eint in diesen Tagen eine unermüdliche Bereitschaft, sich Repressionen entgegenzustellen und für gemeinsame Ziele zu kämpfen. Die feministische Bodrumer Solidaritätsplattform für Frauen (BKD) zitiert eine Umfrage, laut der 80 Prozent der Befragten besonders großes Vertrauen in die Frauen­ bewegung hinsichtlich gesellschaftlicher Veränderungen haben. Frauenemanzipation wird von allen politischen Bewegungen als zentrales Thema verstanden. Gleichzeitig folgt die Zentralisierung der politischen Macht in der Türkei sich immer wieder ändernden Maximen, was die ­Inhalte von Frauenpolitik betrifft. Die islamisch-konservative Regierungspartei für »Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) verabschiedete im Rahmen der Aufnahme von Konsolidierungsgesprächen mit der EU in den 2000ern umfassende Reformen. Vieles verbesserte sich, auch wenn die Umsetzung von Frauenrechten ein Kritikpunkt blieb. Seit 2018 regiert Präsident Recep Tayyip Erdoğan allerdings per Dekret als omnipotentes Staatsoberhaupt. Themen wie Schwanger­ schaftsabbruch, die Strafverfolgung von Ehebruch und das Mindest­ ­­alter für Eheschließungen werden immer wieder genutzt, um erbitterte Debatten auszulösen. Bedri Gencer, reaktionärer Professor an der Yidiz Teknik Universität in Istanbul, twitterte nach einem schweren Erdbeben in der ostanatolischen Provinz Elazığ Ende ­Januar 2020, es sei die Strafe für das Verbot von Kinderehen und für die Abschaffung der Strafverfolgung von Ehebruch. Nachdem sein Tweet eine Protestwelle ausgelöst hatte, leitete die Universität eine Untersuchung ein, die aber folgenlos blieb. Die gewaltsame Niederschlagung von Demonstrationen gehört zur Inszenierung paternalistischer Macht, kritisieren Frauenrechtlerinnen. »Es geht um die Kontrolle des öffentlichen Raumes und der Demonstration von Richtungstreue zur Zentralmacht«, unterstreicht die Politikwissenschaftlerin Mine Eder. »Vor allem in Krisenzeiten werden Werte wie Familie und Nation in der Türkei gleichgesetzt.« tt

Feminizide bleiben straflos Die Religion dient als moralische Instanz, die nach Bedarf genutzt wird. Das Amt für religiöse Angelegenheiten, Diyanet, ­unterstützte etwa mit Verurteilung von Gewalttaten im Namen der ‚Ehre‘ in der Vergangenheit den zeitweiligen reformerischen Kurs der Regierung. Seit der Einführung des Präsidialsystems 2018 untersteht es wie alle staatlichen Institutionen dem Amt des Präsidenten und verfolgt einen konservativen Kurs. Diyanet-Präsident Ali Erbaş sorgte für Proteste, als er 2019 auf einer Konferenz im ostanatolischen Adıyaman verkündete, die Aufgabe der Frau in der Gesellschaft sei, ihrem Mann zu dienen. Dazu wurde ein Kurzfilm gezeigt, in dem eine junge Frau in langem Mantel und mit Kopftuch ihrem mit dem Mobiltelefon hantierenden Mann einen Tee serviert. Im Falle häuslicher Gewalt empfiehlt das Amt Ehefrauen, ihre Stimme nicht zu erheben, demütig nach den Gründen der Misshandlung zu fra­ gen, im direkten Dialog statt mit Hilfe von außen zu operieren und abends seine Lieblingsspeise zu kochen. Solche Ratschläge stehen im Widerspruch zu gültigem Recht. Juristische und gesellschaftliche Realität klaffen aber immer mehr tt

auseinander, warnt die Anwältin Evrim Inan, Aktivistin der Bodrumer Solidaritätsplattform für Frauen. Die Spirale der Gewalt gegen Frauen schraube sich in die Höhe. Während 2002 die offizielle Zahl der Morde an Frauen 66 betrug, waren es 2010 alarmierende 474. Ein wichtiger Faktor sei die Opfer diskriminierende, sexistische Rechtspraxis: »Unangepassten Ehefrauen und sexuell aktiven Singles wird als Opfern ganz schnell eine Mitschuld attestiert. Bei Gewalttaten an LGBTI greifen fast automatisch Schuldausschließungsgründe aufgrund der sexuellen Identität des Opfers.« Inan versucht vor Gericht immer wieder die Istanbul-Konven­tion zur Anwendung zu bringen. Dieses Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde 2011 in Istanbul ratifiziert. Der völkerrechtliche Vertrag schafft verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. In der Türkei trat er bereits 2014 in Kraft, vier Jahre früher als in Deutschland. Auf die Rechts­ praxis hat der Vertrag aber kaum Einfluss, beklagt Evrim Inan. Für Gewaltopfer etwa herrschten laut Konvention strenge Regeln. Sie dürfen nur im Beisein von Psycholog*innen in geschützten Räumen vernommen werden. In der Regel würden die Opfer aber zur Hauptverhandlung vorgeladen und müssten in der Öffentlichkeit und im Beisein des Täters ihre Aussagen machen. »Die ­Rechtspraxis schützt die Täter, nicht die Opfer, und folgt einer patriarchalischen Doktrin, die durch Politiker und staatliche Institutionen vertreten wird.«

Beharrlich Widerstand leisten Evrim Inan und andere betonen mit Blick auf Missinterpretationen aus dem Ausland, dass nicht die Religion, der Islam, diese Entwicklung maßgeblich beeinflusst, sondern die politischen Machthaber. Bezüglich der Frauenbewegung liegt darin momentan eine Chance, denn ihre gesellschaftliche Wirkung ist enorm und flächendeckend. Die Frauen in der islamisch-konservativen Bewegung partizipieren zwar nicht gleichwertig mit Männern an der politischen Macht, sie teilen aber viele der feministischen Haltungen in frauenpolitischen Fragen und haben Einfluss sowohl an der Basis als auch innerhalb der Partei. Momentan wird ein Gesetzentwurf diskutiert, der die Wiedereinführung der früheren Straffreiheit von Vergewaltigungen im Falle einer Heirat des Opfers mit dem Täter vorsieht. »Erst vor kurzem haben Frauen aus der AKP sich entrüstet der Zustimmung der männlichen Abgeordneten für diese Gesetzesregelung entgegengestellt und sie offen der Lüge bezichtigt, was die angebliche Zustimmung in der Partei betrifft«, so Evrim Inan. Unter dem Strich steht eine starke, gesellschaftlich akzeptierte Frauenbewegung einem Machtapparat gegenüber, der sie sporadisch unterstützt, sie aber lieber paternalistisch überlagert und in der Praxis gern sabotiert. Frauen haben etwa bis zur zwölften Schwangerschaftswoche das Recht auf Abtreibung, finden aber keine staatlichen Krankenhäuser, die diese vornehmen. Die Gesetzgebung für Unterhaltszahlungen hat sich für Frauen verbessert, dafür werden sie öfter Opfer ihrer Ex-Partner. Evrim Inan: »Die Frauenbewegung bringt die Regierung in der heutigen Zeit dazu, einen Schritt voranzugehen, dann springt sie aber drei Schritte zurück. Dem stellen wir Feministinnen uns mit Widerstand und Beharrlichkeit entgegen.« tt

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Sabine Küper-Büsch lebt als Dokumentarfilmerin

in Istanbul.

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Editorial

UNO am Ende? Es war klar, dass in Zeiten von Covid-19 andere Themen in den Hintergrund rücken – so auch der 75. ‚Geburtstag‘ der United Nations Organization (UNO). Aber die Maßnahmen gegen das Coronavirus laufen zuerst über die kommunalen, föderalen und nationalen Ebenen. Trotzdem ist die Absenz der United Nations (UN) erstaunlich, z­ umindest seit C ­ orona als Pandemie ausgerufen wurde – also als w ­ eltumspannende Epidemie. Die Vorstellung, eine Pandemie mit Maßnahmen auf regional begrenzten Ebenen in den Griff zu bekommen, ist irreführend. Ende März stellte die UNO einen »Globalen humani­tären Plan« zur Bekämpfung der Pandemie vor. Auf die Titel­seiten der Zeitungen schaffte es der Plan nicht. Er zielt auf die besonders verletzlichen Länder und Bevölkerungen in 38 Staaten, darunter etliche afrikanische Länder sowie Jemen, Syrien, Libanon, Irak, Iran und Venezuela. In den dortigen zahlreichen Slums und Flüchtlingslagern leben die Menschen ohne ausreichende sanitäre Anlagen und ohne wirksame Gesundheitsversorgung auf engstem Raum. Gerade dort kann sich Corona rasant ausbreiten und immenses Leid verursachen.

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ie einzige globale Struktur, die dem entgegenstehen könnte, ist vermutlich die UNO mit ihren Sonderorgani­ sationen wie der Weltgesundheitsorganisation WHO oder ihren zahlreichen Nebenorganen wie dem Entwicklungsprogramm UNEP, dem Kinderhilfswerk UNICEF, dem Welternährungsprogramm WFP oder dem Amt für die Koor­di­ nierung humanitärer Angelegenheiten OCHA. Sie müssten jetzt durchstarten. Stattdessen muss erst einmal um Spenden gebettelt werden. Für die im UNO-Rahmen möglichen Maßnahmen werden nun 2,2 Milliarden US-Dollar gefordert (zum Vergleich: die USA planen zeitgleich ein 2-Billionen-Dollar-Programm zu Corona). UN-Generalsekretär Antonio G ­ uterres versucht es mit einem Appell an den Eigennutz der Mitgliedstaaten: »Ohne schnelle Unterstützung für die besonders schwachen und hilfsbedürftigen Länder wird sich das Coronavirus nicht nur dort verbreiten, sondern von dort auch wieder in Staaten und Weltregionen zurückkehren, in denen das Virus zunächst erfolgreich eingedämmt wurde.« Trotzdem beschleicht eine*n das Gefühl: Die S­ penden­zusagen bekommt er nicht so schnell zusammen; und wirklich ausbezahlte Gelder schon zweimal nicht. Die Weltorganisation aller Staaten, ihre Nebenorgane und Sonderorganisationen, mit Nobelpreisen bedacht, stehen wieder einmal als Bittstellerin da. Das ist eine alte, strukturelle Schwäche der UNO. Sie ist zwar mit übergroßen Ansprüchen ausgestattet, denn in

ihrer Charta strebt sie nach dem Weltfrieden, generalisierten Menschenrechten, der Einhaltung des Völkerrechts und sozialem Fortschritt. Aber das egoistische Einzelinteresse der Nationalstaaten (mithin die Essenz der ‚Vereinten Nationen‘) dominiert über eine globale menschenrechtliche Perspektive. Eine UN-Generalversammlung ist oft weniger ein demokratisches Weltforum als ein Schaulaufen von Diktatoren. Mit dem globalen Aufschwung der rechtspopulistischen und autoritären Regierungen von Russland, den Philippinen, Ungarn, Polen, Brasilien bis zu den USA wenden sich nun immer mehr Staaten von den UN ab (ähnlich wie von der EU). Die finanziellen Mittel für die UN und ihre zahlreichen Unterorganisationen werden zusammengestrichen oder vorenthalten. UN-bezogene Ziele wie Multi­ lateralismus, Global Governance oder Peacebuilding erscheinen heute als gnadenlos veraltete Relikte aus der Willy-Brandt-Ära. Die aktuelle »Krise des Multilateralismus« verdeutlicht, dass das nach 1945 etablierte System der internationalen Politik mit einer zumindest normativ starken UNO durchaus Errungenschaften vorweisen kann. Ein Beispiel: Im Dezember 2015 einigten sich bei der Pariser UN-Klimakonferenz spektakulärer Weise 197 Staaten auf ein (wenn auch mangelhaftes) globales Klimaschutzabkommen. Doch Ende 2019 reichten die USA offiziell ihre Austritts­erklärung aus dem Abkommen ein.

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ie UN sind eine umkämpfte Arena der Weltpolitik. Ihre Gründung, so führt der folgende Einleitungsbeitrag aus, war »nicht zuletzt eine Reaktion auf die Shoah und den Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschland«. Sie enthält eine Selbstverpflichtung zur Beachtung der Menschenrechte. Die UN bewegen sich ständig zwischen einerseits antidemokratischer Herrschaftssicherung zahlreicher Diktaturen und andererseits einer Vielzahl sozialer und fortschrittlicher Projekte. So bilanziert der abschließende Artikel dieses Themenschwerpunktes, dass sich Frauenrechtler*innen in der UNO oftmals auf Feindesland bewegten und bewegen – inzwischen jedoch auch Rückenwind aus ihr heraus bekommen können. Die UNO hat prinzipiell kein Durchsetzungsrecht gegenüber einem Einzelstaat. Sie lebt von den Brosamen, die ihr ihre 197 Chefs hinwerfen, damit sie einige lästige Aufräumarbeiten vollbringt. Zum 75. Geburtstag über­ reichen die Mitgliedsstaaten ihrer UNO nun Schaufel und Besen, damit sie die Corona-Pandemie bekämpft. Eine handlungsfähige Weltgemeinschaft sieht anders aus. die redaktion

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Foto: UNO, Mattel Games

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Klingt heute etwas anachronistisch: »Get wild 4 UNO«

Alle gegen alle Der Niedergang des UN-Systems schadet der Menschheit In der UNO bildeten blockfreie Staaten und die Sowjetunion einst einen Gegenpol zu den kapitalistischen Großmächten und propagierten ein anderes Entwicklungsmodell. In der heutigen kapitalistischen »One World« dominiert die national­ staatliche Konkurrenz, internationale Zusammenarbeit wird grundsätzlich in Frage stellt. Was bleibt als Utopie?

Grundlagen geschaffen, die eine andere Form der Globalisierung hätten ermöglichen können. Das Grundproblem des Völkerbunds aber prägte zwangsläufig auch seine Nachfolgeorganisation. Die vorgeblich Vereinten Nationen waren ein Zusammenschluss konkurrierender, im Extremfall gar gegeneinander Krieg führender Staaten, deren »nationale Interessen« schnell wieder Oberhand gewannen.

von Jörn Schulz »Der Völkerbund ist tot, lang leben die Vereinten Nationen« – mit diesen Worten beendete der Präsident des Völkerbunds, Robert Cecil, 1946 dessen letzte Sitzung. 1920 gegründet, um zwischenstaatliche Streitigkeiten friedlich beizulegen, war der Völkerbund gescheitert. Er war in den 1930er Jahren nicht in der Lage gewesen, etwas gegen die Aggressionskriege Japans und Italiens oder die Aufrüstung Deutschlands zu unternehmen. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er gänzlich bedeutungslos. Die politischen Ansätze zur Konfliktregelung und internationalen Zusammenarbeit wurden von der UNO weiter gefasst. Die 1945 beschlossene UN-Charta enthält unter anderem Verpflichtungen zur Kooperation für ökonomische Entwicklung und sozialen Fortschritt sowie zur Beachtung der Menschenrechte. Diese wurden 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben, zu ihnen gehören neben individuellen Freiheitsrechten auch soziale Rechte wie das Recht auf Arbeit, Bildung, Gesundheit und Freizeit. Entsprechende Unterorganisationen wie FAO und UNESCO wurden gegründet. Das war alles andere als perfekt: Die Menschenrechtserklärung folgt einem damals noch kaum hinterfragten reaktionären F­ amilienund Geschlechterbild, Kapitel XI der UN-Charta erkennt die Kolonialherrschaft an, wenngleich mit der Verpflichtung, »die Selbst­ regierung zu entwickeln«. Dennoch wurden damals theoretische tt

Clubs im Club Ein Club kann nicht besser sein als seine Mitglieder. Diese können sich zwar gemeinsam vornehmen, bessere Menschen zu werden und sich ein entsprechendes Reglement auferlegen. Ein solches allein wird aber nicht genügen. Wenn zwei mächtige Clubmitglieder um die Führung konkurrieren, werden sie die weniger einflussreichen Mitglieder zwecks Gefolgschaft umwerben – mit allen möglichen Mitteln. Die internationalen Beziehungen folgen aber einer ähnlichen Dynamik. Der Nationalstaat, die politische Organisationsform der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, ist die Vertretung der nationalen Bourgeoisie im globalen Gefüge und für diese umso wichtiger, je »internationaler« deren Interessen in anderen Ländern sind. Diese Interessen sind, wie die Geschichte des Kapitalismus zeigt, eng gefasst und auf kurzfristigen Profit ausgerichtet. Oft wurde argumentiert, dass hochindustrialisierte Staaten die besten G ­ eschäfte untereinander machen, es also auch in deren Eigeninteresse sinnvoll sei, langfristig in die Entwicklung ärmerer Staaten zu i­nvestieren. Auf die politische Praxis hatte das jedoch wenig Einfluss. Aber das Staatensystem ist dynamisch. Die grenzüberschreitende Entfesselung der Produktivkräfte sorgte, wenngleich wesentlich später als von Marx erwartet, dafür, dass »der Westen« an Macht verlor und die Interessen einstiger Kolonien und ärmerer Staaten tt

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Keineswegs nur sympathisch: Der palästinensische Nazikollaborateur Amin al-Husseini und der Premierminister der VR China Chou En Lai 1955 bei der Blockfreien-Konferenz in Bandung Foto: UNESCO

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berücksichtigen musste. 1955 konstituierten sich 23 asiatische und sechs afrikanische Staaten auf der Konferenz von Bandung als »Dritte Welt«, analog zum Dritten Stand der Französischen Revolution. 1961 wurde daraus die Bewegung der Blockfreien Staaten. Zudem stand den kapitalistischen Mächten bis 1990 die Sowjetunion gegenüber, die mit verbündeten und abhängigen Staaten einen eigenen Block bildete und ebenfalls um die Blockfreien warb. Die Zeit von den 1960er bis zu den 90er kratische Eigendynamik, was indes nicht nur negativ gesehen Jahren, vom Ende der Kolonialzeit bis zum Zusammenbruch der werden sollte. Wer als hochqualifizierte Wissenschaftlerin oder Sowjetunion, war die produktivste der UNO – weil in dieser Zeit am meisten gestritten wurde, und zwar auch über Grundsätzliches. Verwaltungsexperte sein Berufsleben dem United Nations Development Programme (UNDP) widmet, hat eine klare Vorstellung So forderten die Blockfreien 1973 eine Neue Weltwirtschaftsordnung, deren Grundlagen in der UNCTAD (Konferenz der Vereinten von Entwicklungspolitik und versucht, diese durchzusetzen. So war beispielsweise William Draper, zuvor Fondsmanager und Präsident Nationen für Handel und Entwicklung) erarbeitet wurden. Sie sollte unter anderem durch Schuldenentlastung und strengere der staatlichen Export-Import-Bank der USA unter Ronald Reagan, Regeln für transnationale Konzerne – inklusive der Möglichkeit, nicht der fortschrittlichste Kandidat für die Leitung der UNDP. Aber diese zu enteignen – die Entwicklung armer Staaten erleichtern. in seine Amtszeit von 1986 bis 1993 fiel der Beschluss, einen jährlichen Human Development Report in Auftrag zu geben, der das Zentral waren Änderungen der Handelspolitik, die rohstoffproduVersagen der westlichen Entwicklungspolitik schonungslos bloßzierende Staaten begünstigen sollten. »Fair Trade« war hier nicht stellte. als individuelles Kaufverhalten gutwilliger Konsumenten gedacht, Die realpolitische Wirkung der Entwicklungsdebatten während sondern als Regelwerk des internationalen Rechts. Die UN-Generalversammlung beschloss 1974 die »Erklärung über die Errichtung des Kalten Kriegs ist kaum zu ermitteln, schon weil diese Debatten einer neuen internationalen Wirtschaftsordnicht unabhängig von einzelstaatlicher Politik waren, sondern dieser eher ein globales Forum nung«, doch es folgten nur rechtlich unverEin Club kann nicht besser gaben. Eine grundsätzliche Änderung der ökobindliche Abkommen. nomischen Machtverhältnisse bewirkten sie Bei der Gründung der UN hatte man versein als seine Mitglieder sucht, aus dem Scheitern des Völkerbunds zu nicht. Überdies gehörten zum UN-System von lernen. Für die friedliche Beilegung von KonAnfang an auch Internationaler Währungsfonds und Weltbank. Deren Strukturanpassungsprogramme für flikten war nun der UN-Sicherheitsrat zuständig, in dem die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs (USA, Großbritannien, SowjetLänder des Südens, die wegen ihrer Vernachlässigung sozialer union, Frankreich, China) ständige Mitglieder mit Vetorecht waren. Belange berüchtigt sind, gibt es seit den 1950er Jahren. In den 1980er Jahren wurden ihre Bedingungen ungeachtet der Debatten Als Gremium einer globalen Staaten-Oligarchie war der Sicherheitsrat theoretisch schlagkräftiger, doch blockierten sich während des über eine Neue Weltwirtschaftsordnung noch verschärft. Der Zusammenbruch der Sowjetunion markierte dann zwar Kalten Krieges der Westen und die Sowjetunion gegenseitig. Der Generalversammlung hingegen standen keine Machtmittel zur nicht das »Ende der Geschichte«, aber weitgehend das Ende der Verfügung. Auch als globales Parlament konnte sie schwerlich Debatte über Entwicklungsmodelle. Das Scheitern des »realen Sozialismus« war jedoch nicht die einzige Ursache. Eine weiteres gelten, da die formale Gleichheit Indien oder China ebenso viel Gewicht gab wie Kleinstaaten mit einigen hunderttausend Manko: Die Entwicklungsdebatte in der UNO war staatliche Interessenvertretung, unterstützt von Wissenschaftler*innen und Publi­ Einwohner*innen; überdies repräsentierten autokratische Regierungen nicht die Bevölkerung. zist*innen und zuweilen auch verbal von sozialdemokratischen Regierungen im Westen. Die Sache einer starken sozialen Bewegung war sie aber nie, so dass sie ohne staatliche Repräsentanz schnell Ende der Entwicklungsmodelle verebbte. tt Von globalen Machtverhältnissen geprägt ist auch die Politik Auch den Führungsschichten aufsteigender und aufstrebender der UN-Unterorganisationen. Meist sind sie von den Beitrags­ Staaten fehlte das Interesse an einer Neuen Weltwirtschaftsordnung, zahlungen der Mitgliedsstaaten abhängig, die Führung beansprusie sahen ihren Vorteil im real existierenden Kapitalismus. Beispiel chen – aber auch Rücksichten nehmen und Kompromisse eingehen Jugoslawien: Einst für die Blockfreienbewegung bedeutend, sind müssen. Zudem entwickelten diese Unterorganisationen eine büro­ die daraus hervorgegangenen Staaten Mitglied der EU geworden iz3w • Mai / Juni 2020 q 378


UNO oder streben dies an. »Tigerstaaten« wie Südkorea, die sich in den reaktionärste US-Präsident hätte es während des Kalten Kriegs nicht 1980er Jahren für den Weltmarkt öffneten, haben nun zum Westen gewagt, arme Länder als »shithole countries« zu bezeichnen, und aufgeschlossen. In zahlreichen, vor allem kleinbäuerlich geprägten die Vorgänger des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro waren afrikanischen Staaten reichen die Ressourcen jedoch nicht aus für wenigstens noch so höflich zu behaupten, der Regenwald liege eine interne Akkumulation, die Voraussetzung wäre, um zum ihnen am Herzen. Man muss auch nicht mehr vorgeben, an Armuts­ ­»Löwenstaat« zu werden. Ohne Fürsprache von Großmächten bekämpfung interessiert zu sein, wenn die eigene Wählerschaft bleibt ihnen nur die Akzeptanz der gegebenen Wirtschaftsordnung Armut für die Folge von Charakterschwäche hält und hungerleiund ihres Entwicklungsmodells. dende Kinder ihr gleichgültig sind. Das ehemals »sozialistische Lager« kommt für eine Fürsprache Aber auch China, das rhetorisch den sogenannten Freihandel nicht in Frage. Dessen oligarchischer Neokapitalismus kann schwerpropagiert, verabschiedet sich auf andere Art vom »Multilateralislich als Modell gelten. Die ambitionierte Außenpolitik von Wladimir mus«. Die Regierung baut über Direktinvestitionen und die Belt Putin setzt auf Klientelbildung durch die Unterstützung von Diktaand Road Initiative Beziehungen auf, die dem Neokolonialismus toren. China folgt einem staatskapitalistischen Entwicklungsmodell, ökonomisch ähneln und mit denen ärmere Staaten in ein Abhändoch soweit derzeit ersichtlich, soll die chinesische Weltmachtrolgigkeitsverhältnis gebracht werden (siehe iz3w 362 und 373). le über ökonomische Klientelbeziehungen, nicht über den Aufbau einer von ideologischen oder politischen Gemeinsamkeiten getraEin Forum für »Deals« genen Bewegung gestärkt werden. Dass Entwicklung auf kapitalistischem Weg zu erfolgen hat, wird tt Ein Club kann nicht besser sein als seine Mitglieder. Wenn kaum noch in Frage gestellt. Entwicklungsziele werden im Rahmen mächtige Mitglieder ihre schlechtesten Charaktereigenschaften der UNO jedoch weiterhin propagiert, und in gesellschafts- und offen ausleben und niemand ihnen entgegentritt, kann das den umweltpolitischer Hinsicht sind durchaus Fortschritte zu verzeichClub sprengen. Dies muss keine offizielle Auflösung sein. Zu einer nen. Die im Jahr 2000 beschlossenen Millenium Development Goals solchen dürfte es bei der UNO nicht kommen, auch Isolationisten beinhalten Geschlechtergleichheit und Empowerment von Frauen, benötigen angesichts der weltwirtschaftlichen Verflechtungen ein ein Anliegen, das in den 1980er Jahren noch keine große Rolle Verhandlungsforum für »Deals«. Doch die »internationale Gemeinspielte. Doch die Rede ist allein von Zielen, nicht von Mitteln, und schaft« dürfte weiter an Bedeutung verlieren. Das mindert die Entwicklungschancen jener armen Länder weiter, die auch vom wo es konkret wird, etwa bei »Ziel 8«, der »globalen Partnerschaft für Entwicklung«, ist von einem »nicht diskriminierenden HandelsKlimawandel am härtesten betroffen sein werden. und Finanzsystem« die Rede, womit gemeint ist: nicht diskriminieIn keinem anderen Bereich ist die Notwendigkeit globaler Zurend für transnationale Banken und Konzerne. Diese sind für das sammenarbeit so offensichtlich wie in der Klimapolitik. Für deren UNDP »Schlüsselpartner« in der Erfolg gibt es einen unerbittlichen Maßstab: die Entwicklungspolitik und werden globalen Emissionen von Treibhausgasen. Diese Der Markt sorgt nur für Umweltins UN-System eingebunden. stiegen trotz aller Klimakonferenzen seit 1992 immer weiter an, mit Ausnahme des Jahres 2009 Heute soll das UN-System vor schutz, wenn er zusammenbricht allem der Umweltpolitik dienen. infolge der Wirtschaftskrise im Vorjahr. Im aktuDiese ist seit der Konferenz über ellen Corona-Jahr dürfte es ebenfalls einen EmisUmwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro ein zentrales sionsrückgang geben. Der Markt sorgt nur für Umweltschutz, wenn Thema der UNO. Bei dieser Konferenz hielt die damals zwölfjäh­rige er zusammenbricht. Die auf »marktwirtschaftlichen« Mechanismen Severn Suzuki eine Rede, in der sie über Umweltschutz, aber auch beruhende Klimapolitik (tatsächlich handelt es sich bei der Schaffung künstlicher Märkte für den Emissionshandel um einen staatlichen über »die hungerleidenden Kinder dieser Welt« sprach. Von ihnen Eingriff) hat versagt. In Zeiten sich verschärfender nationaler Konist bei Greta Thunberg nicht mehr die Rede, und auch auf offizieller Ebene ist das »und Entwicklung« aus der Klimapolitik weitgehend kurrenz sinken die Chancen weiter, dass rechtzeitig Maßnahmen verschwunden. zur Begrenzung der globalen Erwärmung ergriffen werden. Dass die Verhandlungen über ein Welthandelsabkommen 2005 Immerhin gibt es nun eine Klimaschutzbewegung, die, wenn scheiterten, weil die westlichen Staaten, die nicht auf Agrarsubvensie sich weiter verbreitet und politisiert, auch auf staatliche Reprätionen verzichten wollten, ihre Vorstellungen von »Freihandel« sentanz Einfluss nehmen könnte. Ein »Green New Deal« auf natio­ nicht mehr durchsetzen konnten, war ein weiteres Zeichen dafür, naler Ebene (riesige öffentliche Investitionen, Beendigung klimaschädlicher Produktion, soziale Absicherung der Lohnabhängigen) dass die »multipolare Welt« Realität geworden ist. Doch so sehr sich die Pole politisch und gesellschaftlich unterscheiden, es ist eine bedarf allerdings eines globalen Pendants: Einer Neuen Weltwirt»One World« der kapitalistischen Konkurrenz. In dieser Welt werden schaftsordnung 2.0, die Umwelt- und Entwicklungspolitik verknüpft. Vorrang und Führungsrolle der Unternehmen (die auch riesige Allerdings müsste die Klimaschutzbewegung bei Severn Suzuki Staatskonzerne wie Saudi-Aramco oder China State Construction anknüpfen und sich für die soziale Frage und Entwicklungspolitik erwärmen. Dann könnte – ein wenig Utopie kann in düsteren Engineering sein können) kaum noch in Frage gestellt. Zeiten nicht schaden – ein sozialdemokratischer Internationalismus, Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, dass der »Multilateralismus« nun fast überall in Frage gestellt wird. Dass ein großer Teil der Zugriff auf die Produktionsmittel nimmt, den Weg bereiten für der Weltbevölkerung sozialdarwinistisches Konkurrenzdenken verSozialismus und demokratische transnationale Institutionen. innerlicht hat, brachte unter anderem in den USA und Brasilien ­Irgendwann könnte es dann heißen: »Die Vereinten Nationen sind rechtsnationalistische Präsidenten an die Macht. Warum nicht auch tot – lang lebe die vereinte Menschheit.« die internationalen Beziehungen in aller Offenheit nach den Regeln des kapitalistischen Geschäfts gestalten? Politische Rücksichtnahme ist für Welt- und Großmächte nicht mehr erforderlich. Selbst der tt Jörn Schulz ist Redakteur der Wochenzeitung Jungle World. iz3w • Mai / Juni 2020 q 378

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Von den UN allein gelassen? Opfer der Diktatur in Chile | Foto: Carlos Teixidor Cadenas

Starke Idee mit Schwächen Die UN können Menschenrechte nicht garantieren Hat die Idee der Menschenrechte dazu beigetragen, die Welt besser zu machen? Für diese Annahme gibt es viele triftige Gründe, etwa in Form verbindlicher UN-Konventionen. Zugleich ist aber auch das Gegenteil richtig: Solange einzelstaatliche Machtinteressen dominieren, sind die menschenrecht­ lichen Bestrebungen der UN zahnlos. von Anton Landgraf Die Gründung der Vereinten Nationen am 24. Oktober 1945 und die drei Jahre später von ihr verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte lassen sich nicht ohne das Grauen des Nationalsozialismus und des Holocaust verstehen. Die Gründung der UN und die Charta der Menschenrechte sollten eine Antwort sein auf einen Zivilisationsbruch, eine Art Grundgesetz der Menschheit, ein ausbuchstabiertes »Nie Wieder!« Ohne den damit verbundenen Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Nationalsozialismus wäre auch das heutige Völkerstrafrecht kaum denkbar. Staatliche Souveränität und Immunität sollten nicht mehr dazu dienen, unbehelligt schwerste Menschenrechtsverletzungen begehen zu können. Die Verantwortlichen für Genozide, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen sollten nicht davonkommen, sondern verfolgt und bestraft werden. Ermöglicht wurde die Erklärung der Menschenrechte durch ihren einzigartigen historischen Kontext. Wenig spricht dafür, dass die Mehrheit der Staaten sich zu einem späteren Zeitpunkt jemals wieder auf ein solches Dokument hätte einigen können. Die Einzigartigkeit der Erklärung der Menschenrechte basiert auf ihrer Allgemeinheit, da sie sich nicht explizit auf ein bestimmtt

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tes Menschenbild noch auf eine besondere Philosophie oder Religion beziehen, sondern den Glauben an den Wert eines jeden Menschen in den Mittelpunkt stellen wollte. Dieser moralische Universalismus setzte eine inhaltliche Prämisse: Die kulturelle Hochschätzung individueller Selbstbestimmung, die historisch eng mit den westlichen Kulturen verbunden ist. Zugleich finden sich religiöse und kulturelle Wertvorstellungen, die sich auf die Achtung des Lebens ausrichten, in allen Epochen und Regionen der Welt. Daraus leiten sich die Rechte des Menschen ab, die in der Erklärung verkündet werden: Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, Verbot von Sklaverei und Folter, Gedanken- und Glaubensfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung, Bildung, Arbeit, Gesundheit und Wohlbefinden und vieles andere mehr.

Geltung für alle Menschen Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurden 1948 Rechte formuliert, die für alle Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, der ethnischen Herkunft oder dem sozialen Status gelten sollten. Die Allgemeine Erklärung war kein völkerrechtlicher Vertrag und daher juristisch nicht verbindlich. Sie bildete aber die Grundlage für die in den folgenden Jahren geschlossenen Menschenrechtsverträge. Diese Übereinkommen und Pakte sind verbindlich, so wie etwa die 1951 verabschiedete Flüchtlingskonvention, in der die zentralen Rechte von Geflüchteten festgehalten sind. Der Gedanke, dass jeder Mensch gleiche Rechte besitzt und sie unteilbar sind, nahm das Erbe der Französischen Revolution und der Aufklärung auf. John Locke, inspiriert durch die Glorious Revolution 1688/89 in England, argumentierte, Individuen besäßen in ihrer Eigenschaft als Menschen das Recht auf Leben, Freiheit und tt

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UNO Besitz. Die in diesem Zusammenhang entstandenen VerfassungsMenschenrechte zu einem wahren Siegeszug an. Die Rechte der texte über die »natürlichen und unveräußerlichen Rechte des Charta wurden in zahlreichen Pakten und Vereinbarungen völkerMenschen« sind nicht nur im Namen der amerikanischen und der rechtlich verbindlich festgelegt und teilweise mit Sanktionsmögfranzösischen Bürgerinnen und Bürger verfasst, sondern adressieren lichkeiten verbunden. Die bekannteste diesbezügliche Institution zugleich alle Menschen. »Der Mensch wird frei und gleich an ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, der die VerantRechten geboren und bleibt es«, verkündete 1789 wortlichen für Menschenrechtsdie französische Nationalversammlung, die späverletzungen strafrechtlich verfolDie Liste der Erfolge und ter die »Déclaration des droit de l’homme et du gen und bestrafen kann. Citoyen« verabschiedete. Die Idee der Menschenrechte erVerbesserungen ist fast endlos… Der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung hielt insbesondere in der Spät­ der Menschenrechte von 1948 legt eine ähnliche phase des Kalten Krieges und nach naturrechtliche Auffassung nahe, wenn er besagt: »Alle Menschen dem proklamierten »Ende der Geschichte« ihren wohl größten Bedeutungsschub. Die Ernüchterung angesichts der Entwicklung sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Die Allgemeinheit ist aber gleichzeitig auch ihre größte Schwäche, wie sich der poststalinistischen Gesellschaftssysteme trug dazu ebenso bei wie die Erosion der autoritären antikommunistischen Regime in an der weiteren Geschichte der Vereinten Nationen sehen lässt. Das Problem des Naturrechtsansatzes, dem »Unsinn auf Stelzen«, der westlichen Hemisphäre. wie es der utilitaristische Philosoph Jeremy Bentham formulierte, Der Begriff der Menschenrechte schien einen Ausweg in einer liegt darin, dass die Vorstellung von der menschlichen Natur höchst ideologisch haltlosen Lage zu bieten, da er, auf einem postideo­ umstritten ist. Was ist die »Natur des Menschen«? In der Interprelogischen Konsens über natürliche Rechte basierend, schon fast tation der klassischen liberalen Theorie ist dieser Natur des Menschen religiöse Bedeutung erlangte. Die Menschenrechte wurden in schon Genüge getan, wenn Sicherheit und Freiheit gewährleistet zahllose Verfassungen und Konventionen aufgenommen und spiegelten sich zumindest rhetorisch im Selbstverständnis vieler westwerden. licher Staaten wider. Sie wurden Teil einer institutionellen Rechtsauffassung und dadurch zumindest in Teilen auch einklagbar, Liberale Engführung weltweit und unabhängig von Herkunft oder religiöser Überzeugung tt Indem die liberale Konzeption die Menschenrechte an die Figur der Betroffenen. des Bourgeois anlehnte, stellt sie das Verhältnis zwischen UnterIn dieser »Universalität« der Menschenrechte liegt ihr größter drückenden und Unterdrückten nicht an sich in Frage, sondern Verdienst. Sie konterkariert das Bestreben jener, die Menschenrechschreibt es in gewisser Weise fort. Beiden Seiten werden grundlete durch »Traditionen« oder »Kultur« relativieren wollen – wobei gende und »natürliche« Rechte zugestanden, ohne dass zugrunTraditionen und Kultur von autoritären Regierungen gerne so deliegende ungleiche materielle ­definiert werden, wie es ihnen Machtverhältnisse hinterfragt gerade passt. »Wie genau lautet werden. Karl Marx kritisierte und eigentlich die gesellschaftliche würdigte diese Unterscheidung oder religiöse Tradition, die die zwischen Menschenrechten Unterdrückung des Volks durch (droits de l’homme) und den seine Regierung fördert und Staatsbürgerrechten (droits du verteidigt?«, fragte diesbe­züg­ citoyen) in seinen Frühschriften: lich der bis 2018 amtierende »Die politische Emanzipation ist UN-Hochkommissar für Menallerdings ein großer Fortschritt, schenrechte, Seid Ra‘ad alsie ist zwar nicht die letzte Form Hussein. der menschlichen Emanzipation Diese Grundsätzlichkeit hat in überhaupt, aber sie ist die letzte den vergangenen Jahrzehnten Form der menschlichen Emandie moralische Diskreditierung zipation innerhalb der bisherigen menschenrechtswidriger ReWeltordnung«. gime und Diktaturen immens beschleunigt. Es ist noch nicht Es ist daher kein Zufall, dass Maßgeblich mitgestaltet: Eleanor Roosevelt mit der spanisch­ sprachigen Erklärung der Menschenrechte | Foto: FDR Presidential der Menschenrechtsbegriff vor allzu lange her, dass selbst in Library & Museum allem in den westlich-liberalen Europa autoritäre Regime kaum Staaten besondere Aufmerksamauf Widerspruch stießen. Der keit erfuhr und mit Demokratie und kapitalistischer WirtschaftsordVerlust der moralischen Legitimität und Fall der Diktaturen in Spanung gleichgesetzt wurde. Zwar wurden in den 1960er Jahren die nien und Portugal gehören ebenso dazu wie der Sturz des ObristenRegimes in Griechenland. Als Berichte über die Folterungen in den sozialen, kulturellen und ökonomischen Rechte in verschiedenen Kerkern der griechischen Geheimpolizei und der Armee bekannt Pakten und Konventionen aufgewertet. Dennoch wurde ihnen nie wurden, führte dies nicht nur zur Isolierung des Regimes, sondern die gleiche Bedeutung zuteil wie den Rechten, die auf die individuelle Freiheit der Einzelnen rekurrieren. trug auch maßgeblich dazu bei, dass einige Jahre später das ÜberAus der naturrechtlichen Ableitung der »Würde des Menschen« einkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche und in Folge des Nationalsozialismus erfolgte ein moralischer Imoder erniedrigende Behandlung oder Strafe (Anti-Folter-Konvenperativ, dem sich zu entziehen nur schwer möglich war. In den tion) geschlossen und bis heute von 165 Staaten ratifiziert wurde. folgenden Jahrzehnten setzten die von der UN festgeschriebenen UN-Mitgliedsstaaten müssen sich seitdem verbindlich an diesen iz3w • Mai / Juni 2020 q 378

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UNO Konventionen und Übereinkünften messen lassen. Diese Entwickmit ihrem Vetorecht verhindern, dass die syrische Führung trotz lung hat nicht nur das Ende der Folterdiktaturen in Lateinamerika einer Vielzahl dokumentierter Kriegsverbrechen vor Gericht gebracht oder des Apartheidregimes in Südafrika beschleunigt, ohne sie wurde. Selbst der von der damaligen Sonderermittlerin für Syrien, wären auch die Bürgerrechtsbewegungen in den USA und anderen Clara del Ponte, als Völkermord eingestufte Angriff von IS-Kämpfern Ländern kaum denkbar. auf die Jesid*innen hat nicht zur Errichtung eines internationalen Für Individuen und Gruppen war es dadurch möglich, Verstöße Tribunals geführt: »Die UN, die sich gern als Weltgewissen darstellt, staatlicher Organe anzuprangern und juristisch dagegen vorzugesieht lieber tatenlos zu«, beklagte sie. hen. Die zumindest schrittweise erSehr aktiv ist der Menschenrechtsrat hingefolgte Akzeptanz und rechtliche gen, wenn es um ein bestimmtes Land geht. Gleichstellung der LGTB-Community Zwischen 2006 und 2016 stimmte der Rat … die Liste der Versäumnisse und vieler anderer Minderheiten wäre insgesamt 68 Mal dafür, Israel wegen Menund Fehlentwicklungen aber auch ohne einklagbare Menschenrechtsschenrechtsverstößen zu rügen. Im gleichen standards nur schwer vorstellbar, Zeitraum gab es nur 67 weitere Resolutioebenso die Möglichkeit, dass Bürger*innen ihre Rechte individuell nen. Folgt man diesen Zahlen, scheint es um die Menschenrechte in Israel schlechter bestellt als in allen anderen Staaten auf der Welt vor Gericht erstreiten können. Konzerne sind heute angehalten, zusammen. Syrien, wo Assads Armee nicht einmal vor Giftgasanihre Lieferketten zu überprüfen und nachzuweisen, dass sie nicht griffen auf Zivilist*innen zurückschreckt, war dem Rat im gleichen von Kinderarbeit profitieren. Gesetze, die sexuelle und reproduktive Rechte einschränken, wurden in Ländern wie Irland oder der Zeitraum nur 20 Rügen wert. Nordkorea, dessen autokratische Slowakei zurückgezogen. In Lateinamerika und andernorts wurden Führung Bürger*innen in Arbeitslager schickt, wenn sie v­ erstorbene die Rechte indigener Gemeinden gegenüber Bergbaukonzernen Regierungschefs nicht heftig genug beweinen, wurde mit lediglich und staatlichen Institutionen gestärkt. Die Liste der Erfolge und neun Rügen bedacht. Der Iran wurde im gleichen Zeitraum sechs Verbesserungen ließe sich fast endlos fortsetzen. Mal verurteilt, der Sudan dreimal.

Anspruch und Wirklichkeit

Gravierender Verlust an Ansehen

Die Kehrseite ist, dass die Universalität in der Regel dort endet, wo systemische Machtverhältnisse berührt werden. Der Menschenrechtsbegriff und seine Implementierung in den zahlreichen Gremien der UN erfährt ein schizophrenes Dasein. Einerseits fehlt in kaum einer Verfassung der Bezug darauf. Faktisch jedoch orientierten sich staatliche Akteur*innen in den Vereinten Nationen im Zweifelsfall an ihren jeweiligen Anliegen. Zu den größten Versäumnissen der UN gehört es daher, selbst schwere Menschenrechtsverletzungen nicht verhindert zu haben, wenn staatliche Interessen dem entgegenstehen. Der Genozid in Ruanda 1994 sticht besonders hervor. Hier hatte es dem UN-Sicherheitsrat an »politischem Willen« gefehlt, das Töten zu beenden, wie eine UN- Untersuchungskommission unter Leitung des früheren schwedischen Ministerpräsidenten Ingvar Carlsson 1999 feststellte. Bereits ein Jahr zuvor hatte eine interne Ermittlungskommission kritisiert, dass Blauhelm-Soldaten während des Bosnien-Krieges bei der Eroberung der UN-Schutzzone in Srebrenica und dem anschließenden Massaker an der örtlichen Bevölkerung durch serbische Truppen untätig geblieben waren. Dieses Versagen setzt sich bis in die heutige Zeit vor. Besonders grotesk ist das Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit im UN-Menschenrechtsrat. Das Gremium löste 2006 die UNMenschenrechtskommission ab und kann durch Mehrheitsbeschluss Beobachter*innen entsenden, um die Menschenrechtssituation in den UN-Mitgliedsstaaten zu überwachen. Immer wieder wurden Staaten wie Saudi-Arabien, Sudan oder Libyen in den Rat gewählt, dessen Mitglieder nach dem Willen der UN-Generalversammlung eigentlich »den höchsten Ansprüchen auf dem Gebiet der Förderung und des Schutzes der Menschenrechte gerecht werden müssen«. Häufig führen Staaten den Vorsitz, denen selbst gravierende Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden. So konnte sich der Menschenrechtsrat 2006 nicht dazu durchringen, die sudanesische Regierung wegen ihrer Gräueltaten in Darfur zu verurteilen. Auch im Syrienkrieg versagte die UN. Russland und China konnten

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Solche bizarren Entwicklungen führen dazu, dass die UN und die damit verbundenen Gremien in den vergangenen Jahrzehnten massiv an Ansehen verloren. Es ist kein Zufall, dass dieser Reputationsverlust einher geht mit den Krisen in den westlichen Staaten, insbesondere der USA, denn diese haben mit ihrem opportunistischen Gebrauch der Menschenrechtsidee und ihrem willkürlichen Verhalten innerhalb der UN selbst viel dazu beigetragen. Mit seinem wirtschaftlichen Aufstieg hat China zudem erfolgreich das Narrativ »Wohlstand durch Ordnung« etablieren können. Indivi­ duelle Rechte haben demnach hinter den kollektiven Erfordernissen zurückzustehen, womit sich in gewisser Weise die Systemkonkurrenz zwischen liberal-kapitalistischen und autoritär-staatskapitalistischen Wirtschaftsmodellen aus der Zeit des Kalten Krieges wiederholt. Das Scheitern einer nachholenden Entwicklung in vielen islamisch geprägten Ländern begünstigt dort das Entstehen reaktionär-kleri­ kaler Regime, die die Universalität von Menschenrechten zugunsten ihrer angeblichen einzigartigen religiösen und kulturellen Tradi­ tion zurückweisen. In vielen Ländern Afrikas und Südamerikas hat der Zerfall oligarchischer Regime Failed States geschaffen, in denen nichtstaatliche Akteur*innen dominieren und keinerlei Kontrolle mehr unterworfen sind. Rund 75 Jahre nach Gründung der UN zeichnet sich daher ein eher düsteres Bild von der Lage der Menschenrechte ab. Vielleicht hilft es, sich an den Kontext zu erinnern, in dem sie entstanden sind. Der siegreiche Kampf gegen den Nationalsozialismus schuf die Voraussetzung für ihre Etablierung. Ob Unterdrückung und Ausbeutung fortbestehen, entscheidet sich an konkreten politischen und sozialen Auseinandersetzungen. Die Idee der Menschenrechte und ihre Umsetzung in internationalen Gremien können diese Kämpfe unterstützen. Diese Idee ist aber nur so stark wie die Menschen, die sich dafür einsetzen.

Anton Landgraf ist Soziologe und Journalist. Er arbeitet bei Amnesty International in Berlin. tt

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Vor der Debatte zur »Reform der Friedenssicherung der Vereinten Nationen: Umsetzung und Folgemaßnahmen«, New York 2017 Foto: Manuel Elias/UN

Anspruch und Wirklichkeit Die UN und das postkoloniale Afrika Die UN und die afrikanischen Staaten haben kein einfaches Verhältnis zueinander. Zunächst waren Völkerbund und UN in die koloniale Unterdrückung involviert. Doch auch beim Übergang in die Unabhängigkeit spielten die UN eine bedeutende Rolle, und sie boten den neuen Staaten mit der Generalversammlung ein wichtiges Forum. Nach wie vor stellt sich die Frage: Warum enttäuschen die Vereinten Nationen so oft die Hoffnung, dass sie Menschenrechte gegen Machtinteressen durchsetzen könnten? von Reinhart Kößler Die Beziehungen zwischen den modernen Staaten sind zum einen durch eklatante Machtgefälle geprägt. Zum anderen gibt es keine übergreifende Zentralinstanz, welche Regeln gegen einzelne Staaten durchsetzen könnte. Dem steht das Souveränitätsprinzip entgegen, das auf der gegenseitigen Anerkennung der Staaten beruht und Eingriffe in die Handlungsautonomie eines jeden Staates im Grundsatz ausschließt. Aufgrund der Staatlichkeit eingeschriebenen Machtansprüche und der Konkurrenz der Nationen tendiert das internationale System zum Krieg. Vor mehr als 220 Jahren folgerte Immanuel Kant aus dieser latenten Gewaltförmigkeit der zwischenstaatlichen Beziehungen die Notwendigkeit, das Völkerrecht »auf einen Föderalism freier Staaten« und einen »Friedensbund« zu gründen, »der alle Kriege auf immer zu endigen« suche. Vor hundert Jahren schien die Realität sich dieser Utopie anzunähern. Der 1920 gegründete tt

Völkerbund sollte nach dem Ersten Weltkrieg Frieden und auch Demokratie garantieren. Doch zugleich markiert die Gründung des Völkerbundes mit dem Mandatssystem1 den territorialen Höhepunkt des westeuropäischen Kolonialismus und den Ausschluss vorgeblich halb- oder unzivilisierter Völker. Der erneute Anlauf, der 1945 die antifaschistische Allianz in die Weltorganisation der Vereinten Nationen (UN) transformierte, sollte nach dem Sieg über den Faschismus erneut eine weltweite Friedensgarantie bringen. Der Frieden sollte nun aber auch mittels einer aktiven Rolle der Weltorganisation geschützt werden. Ausdruck davon sind nicht zuletzt die Reihe von Unterorganisationen etwa für Menschenrechte, Kinder, Kultur oder das Hochkommissariat für Geflüchtete. In diese Struktur sind jedoch mit der Konstruktion des Weltsicherheitsrats und dem Vetorecht der fünf Ständigen Mitglieder institutionalisierte Hierarchien und Blockademöglichkeiten eingeschrieben. Informelle Prozesse, mit denen sich etwa mächtige Staaten die Gefolgschaft schwächerer Mitglieder in der Generalversammlung sichern, sind über die folgenden Jahrzehnte hinzugekommen.

Entkolonialisierung und ihre Folgen Die UN trafen nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine internatio­ nale Lage, die neben der Ost-West-Blockkonfrontation wesentlich durch die Krise der Kolonialreiche und die sich immer nachdrücklicher artikulierenden Unabhängigkeitsbewegungen geprägt war. Die UN waren hier unmittelbar involviert. Die Mandatsgebiete tt

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wurden umgewandelt in UN-Treuhandgebiete. Deren Unabhänrechten. Außerdem bildete sie ein Forum für so wichtige Anliegen gigkeit wurde nun ebenso zu einer aktuellen Frage wie die der wie die in den 1970er Jahren propagierte Neue Weltwirtschaftsanderen Kolonialgebiete in Afrika, Asien, Ozeanien und der Karibik. ordnung. Damit sollten die nachkolonialen Abhängigkeiten durchAnders als zu Zeiten des Völkerbundes ließ sich das »Selbstbestimbrochen und Handels- und Wirtschaftsregeln etabliert werden, die mungsrecht der Völker« nun nicht mehr wie noch 1919 auf es beispielsweise rohstoffproduzierenden Staaten ermöglicht hätten, Europäer*innen beschränken. Das gab den UN eine aktivere Rolle, ihre Wirtschaft zu diversifizieren und die Außenabhängigkeit zu beenden. Die neoliberale Wende ab 1980 setzte dem ein Ende. insbesondere in Afrika und Ozeanien. Nach Erlangung der Unabhängigkeit wurden die ehemaligen Kolonien Mitglieder der UN. Damit verschoben sich die MehrheitsFriedens- und Militärmissionen nach 1989 … verhältnisse ab 1960, als 18 afrikanische Staaten die Unabhängigkeit erlangten, grundlegend. Krisenhafte Zuspitzungen, insbesontt Nach dem Ende der Blöcke 1989/91 sortierte sich die Staatendere nach der Unabhängigkeit des Belgischen Kongo, der heutigen welt neu. Auch die Aktivitäten der UN richteten sich anders aus. Demokratischen Republik Kongo, waren Anlass für militärische Sehr bald traten UN-Friedensmissionen in den Vordergrund – seit Eingriffe im Rahmen von ‚Blauhelm-Missionen‘. Die Treuhandschaft Beendigung der Kongo-Mission 1964 hatte es diese nicht mehr über ehemals deutsche Kolonialgebiete endete mit deren Unabgegeben. Nach dem Ende der Sowjetunion ließen sich bindende hängigkeit, mit dem signifikanten SonBeschlüsse des Sicherheitsrats eine derfall Namibias. Hier verweigerte das Zeit lang deutlich einfacher herbeisüdafrikanische Apartheidregime bis 1990 führen. Der afrikanische Kontinent die Anerkennung. wurde zu einer Schwerpunkt­region Angesichts der realen Machtkonstelsolcher Missionen. lationen besaßen die UN (ebenso wenig Deren Anfang machte die Organisierung und Absicherung der Unabhänwie die 1963 bis 2002 bestehende Organisation für Afrikanische Einheit, OAU) gigkeitswahlen in Namibia 1989/90. keine wirksame Möglichkeit zur DurchWeit kontroverser war die 1993 einsetzung ihrer völkerrechtlich begründeten geleitete Überwachung eines FrieAnsprüche. Das gilt für die Durchsetzung densprozesses in Ruanda. Die for­male von Sicherheitsratsresolutionen und menAnwesenheit der UN hatte den dorschenrechtlichen Prinzipien, für deren tigen Genozid von April bis Juli 1994 Verletzung besonders das Apartheidrenicht verhindert. Die Effekte späterer gime stand. Herausragende Beispiele für UN-Missionen waren, unter der Zieldie relative Machtlosigkeit der Weltor­ setzung einer dauerhaften Friedensganisationen sind die Sicherheitsratsre­ sicherung betrachtet, allenfalls amso­lutionen 242 (1967) und 435 (1978). bivalent. Erstere betrifft die von Israel im SechstageEine zentrale Schwierigkeit betrifft Krieg von 1967 besetzten Gebiete. Sie das Prinzip der staatlichen Souve­ ist bis heute nicht durchgesetzt. Letztere, ränität. Aus der Sicht afrikanischer die Blaupause zur Lösung des NamibiaRegierungen ist Souveränität vor dem Die kamerunische Wirtschaftswissenschaftlerin Vera Konflikts und zur Unabhängigkeit der Hintergrund der überwundenen koSongwe ist Exekutivsekretärin der UN-Wirtschafts­ einstigen deutschen Kolonie, wurde erst lonialen Herrschaft ein hohes Gut. kommission für Afrika | Foto: DFID Menschenrechtlich begründete In1990 durchgeführt. Demnach ist die Effektivität von Normen der UN von spezi­ terventionen angesichts der Gefahr fischen Machtkonstellationen und Interessen abhängig: In erster eines Genozids, wie etwa im westsudanesischen Darfur, sind daher Linie von der Bereitschaft der Veto-Mächte im Sicherheitsrat, normprekär. Bis auf wenige Ausnahmen sind UN-Missionen daher nur setzende Beschlüsse überhaupt zuzulassen; darüber hinaus von der mit Zustimmung der territorial betroffenen Staaten möglich. Bereitschaft und den Möglichkeiten, diese Normen auch durch­ Die militärischen UN-Missionen offenbarten zudem große Probleme im Verhalten der eingesetzten Truppen, denen nicht selten zusetzen. Mit der Entkolonisierung war der Aufstieg der »Blockfreien« Übergriffe auf die lokale Bevölkerung zur Last gelegt werden. verbunden. Sie suchten seit der Bandung-Konferenz 1955 eigene Manchen Staaten, etwa Bangladesch, wird auch nachgesagt, die Stellung von Soldaten für UN-Truppen Wege zwischen einerseits den WarschauerPakt-Staaten um die Sowjetunion und andediene angesichts klammer Staatskasse der Eine über die UN vermittelte rerseits dem von den USA angeführten ‚freiFinanzierung der eigenen Armee. Aus en Westen‘. Die Mehrheit der Blockfreien in solchen Gründen erscheinen zusehends Politik der Menschenrechte ist der UN-Generalversammlung (deren Bedie Aktivitäten der Afrikanischen Union in Afrika unverzichtbar schlüsse im Gegensatz zum Sicherheitsrat (AU) aussichtsreicher. Diese Nachfolgenicht bindend sind) wurde nicht zuletzt regel­ organisation der OAU ist ein Zusammenmäßig in Resolutionen gegen Kolonialismus und Apartheidregime schluss von 55 afrikanischen Staaten. Wie die UN ist sie eine multi­ umgesetzt, ohne über die Unterstützung der Befreiungsbewegunlaterale Akteurin, in Afrika gilt sie jedoch vielen als die (regional) gen hinaus praktische Veränderungen bewirken zu können. besser legitimierte Schlichtungsinstanz. Die Generalversammlung verabschiedete wegweisende BeschlüsSubregionale Organisationen spielen ebenfalls immer wieder se wie die Resolutionen zum Recht auf Entwicklung und zu Kindermit. So agierte die westafrikanische Regionalorganisation ECOWAS iz3w • Mai / Juni 2020 q 378


UNO bei der Beilegung der Bürgerkriege, die während der 1990er Jahre Sierra Leone und Liberia verwüsteten. Die UN stehen also nicht alleine. Außerdem handelte es sich bei der Deeskalation dieser Konflikte entgegen verbreiteter Wahrnehmung keineswegs um in erster Linie militärische Prozesse. Vielmehr ging es um komplexe und langwierige Aushandlungen zwischen den Konfliktparteien. Aktionsformen, die dem Militär offenstehen, sind nicht komplex genug, um in solchen Konflikten effektiv zu intervenieren.

politische Bedingungen wie »gute Regierungsführung« zu knüpfen – kaum dem Ziel dienlich, die Menschenrechte zu fördern. Vielmehr erleichterte diese Verknüpfung es autokratischen Regierungen, die Menschenrechte fälschlich als westliches Konstrukt in Misskredit zu bringen. Autoritäre Regime im Globalen Süden, aber auch etwa die Türkei, bedienen sich bis heute dieser Argumentation, um von eigenen Menschenrechtsverletzungen abzulenken. Zugleich diente die Berufung auf Menschenrechte außerhalb des Rahmens der UN zur Rechtfertigung von Interventionspolitik – etwa mit dem Verweis auf die Durchsetzung von Frauenrechten gegenüber isla… und im aktuellen Jahrhundert mistischen Regimen. tt Dennoch sind militärische Interventionen in vielen Teilen Afrikas Dennoch ist eine über die UN vermittelte Politik der Menschenzuletzt wieder in den Vordergrund getreten. Das hat oft weitreirechte gerade in Afrika unverzichtbar, auch nach dem Ende von chende Folgen. Ob in Libyen oder im Sahel, im Kontext von Regime Kolonialismus und Apartheid, die beide wesentlich auf der GrundChange, bei der Bekämpfung des »Islamischen Staates« oder von lage von verbrieften Menschenrechten kritisiert worden waren. Boko Haram: Die UN sind in diesen Konflikten zumeist marginalisiert, Entscheidend dabei ist die Einheit der Menschenrechte, also die auch wenn sie anderswo, wie im Südsudan oder in der DR Kongo, notwendige Verknüpfung von Schutz- und Bürgerrechten mit sozialen und kollektiven Rechten, etwa den Rechten auf Koalitionspräsent sind. Insgesamt begründen nahezu drei Jahrzehnte militärischer Interventionen nicht nur in Afrika ernste Zweifel daran, ob freiheit oder auf eine gerechte Weltordnung. Hier haben afrikanische Staaten in der UN-Generalversammlung nicht zuletzt mit der dies ein wirksames Mittel zur Behandlung konfrontativer Konflikte Verabschiedung der Resolution zum darstellt. Bei den seit dem Arabischen Frühling 2011 Recht auf Entwicklung eine wesentliche Die Afrikanische Union gilt und insbesondere mit der provozierten ImRolle gespielt. Hinzu kommen zahlreiche plosion Libyens einsetzenden Dynamiken Konventionen, etwa über das Verbrevielen als die besser legitimierte agiert die AU zwar durchaus, an entscheichen des Völkermordes oder die beiden Schlichtungsinstanz denden Stellen jedoch NATO und EU. Die Pakte über Menschenrechte, aber auch UN stehen derweil am Rand. Die jüngsten zum Schutz von Minderheiten, denen Ereignisse in Libyen haben eine Vielzahl externer Akteure zum sich die einzelnen Staaten angeschlossen haben. Dies eröffnet Vorschein gebracht. Länder wie Russland, die Türkei und andere zumindest die Möglichkeit, solche Normen gegenüber Regierungshaben sich im Januar 2020 durch Interventionen im formal internen handeln geltend zu machen. Damit werden insbesondere zivilgeKonflikt dieses Landes einen Platz am Berliner Verhandlungstisch sellschaftliche Anstrengungen für Menschenrechte gestärkt. gesichert. Das Vorhaben, alle relevanten Parteien an einen Tisch zu Solchen Bestrebungen stehen globale machtpolitische Verhältbringen, bildete damit das Recht des Stärkeren in einer multipolanisse entgegen, etwa die sich immer deutlicher abzeichnende ren Konfliktsituation ab. Dabei geraten die auf grundsätzlichen Strategie Chinas, die in Afrika geschaffenen Abhängigkeiten auch Übereinkommen beruhenden institutionalisierten Verfahren, wie in Stimmverhalten in der UN-Generalversammlung umzumünzen. sie auf internationaler Ebene in erster Linie die UN repräsentieren, Hinzu kommt das teils bewusste Ignorieren von Normen durch die einzelnen Staaten, denen sie sich eigentlich vertraglich unterworins Hintertreffen. Diese Tendenz wird durch erratische Politik im fen haben. Stile von Big Men noch verstärkt. Letztere sind aber entgegen verbreiteter Klischees heute keineswegs vorrangig in Afrika zu finden. In der komplexen, multipolaren Welt bieten die UN nicht nur in Afrika trotz aller Einschränkungen wenigstens punktuell Chancen, Auch eine Maxime wie Donald Trumps »America First« hat mehr neben Schutzrechten auch weiterführende Zielsetzungen geltend als nur das betreffende Land verändert. So werden völkerrechtliche Regeln zunehmend ignoriert. Wenn zu machen. Zu letzteren gehören auch die 2015 auf UN-Ebene mit Norbert Elias die Verregelung von Konflikten ihrer Kontrolle beschlossenen Sustainable Development Goals, die erstmals soziund damit der Zivilisierung dient, so droht auf der Ebene der inökonomische Zielvorstellungen auf globaler Ebene formulieren. So ternationalen Politik ein Zivilisationsbruch, der auch die prekären widersprüchlich und unzureichend sie sein mögen, sind sie doch Fortschritte nach 1945 in Frage stellt. Diese Tendenz wird durch ein Schritt nach vorn. das Auftreten nichtstaatlicher Gewaltakteure in großem Stil, nicht Anmerkung allein des »Islamischen Staates«, noch verstärkt. Auch zu seiner Bekämpfung haben sich instabile Allianzen interessierter Staaten 1 Deutschland verlor nach dem Versailler Vertrag 1919 seine Kolonien. Diese wurden nicht unabhängig, sondern wurden unter Völkerbundsmandaten an außerhalb des Rahmens der UN zusammengefunden. die Siegermächte verteilt. Gleiches geschah mit ehemals osmanischen Gebieten im Nahen und Mittleren Osten. Letztere wurden teilweise sehr schnell in eine formale Unabhängigkeit entlassen. Der Völkerbund übte keinerlei direkte Hoheitsgewalt über die Mandatsgebiete aus.

Neue Normen und Ziele Über den akuten Problemlagen sollte die Ebene der Normsetzung nicht aus dem Blick geraten. So stellt das internationale Menschenrechtsregime eine wichtige Dimension der UN dar. Doch auch die Durchsetzung der Menschenrechte wird durch die oben angesprochene politische Praxis erschwert. Schon seit den frühen 1990er Jahren war die von westlichen Staaten propagierte Konditionalität – das heißt, wirtschaftliche Unterstützungsleistungen an strukturtt

Reinhart Kößler ist Soziologe und Autor zahlreicher Bücher, Zeitschriften- und Buchbeiträge, etwa »Koloniale und postkoloniale Staatsbildungsprozesse« (in: Ataç u.a.: Politik und Peripherie. Mandelbaum Verlag 2018). Er ist dem Arnold-Bergstraesser-Institut, der Universität Freiburg sowie der PH Freiburg assoziiert. tt

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Friedensfarbe Blau? Geschichte und Kritik der UN-Blauhelmmissionen

Female Engagment Team der MONUSCO-Mission in der DR Kongo Foto: MONUSCO/ Kevin Jordan CC-BY-NC-ND-2.0.

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Die erste Militärmission der UN fand bereits 1948 statt. Sie überwachte den Waffenstillstand nach dem Israelisch-Arabischen Krieg und bestand damals noch aus unbewaffneten Offizieren. Seitdem haben sich die heute oft als Blauhelme bezeichneten Missionen stark verändert. Deren Geschichte ist geprägt von Skepsis wie auch von allzu großen Erwartungen über ihre Möglichkeiten.

zwischen Israel, arabischen Staaten und verschiedenen bewaffneten Gruppen konnten die UN-Truppe nicht verhindern. Trotzdem besteht die erste Militärmission in Form der »United Nations Truce Supervision Organization« (UNTSO) in Jerusalem und an der nordisraelischen Grenze bis heute. Von Beginn an waren die Friedenseinsätze der UN umstritten. Für die antiimperialistische Kritik des Peacekeeping verschleierten die blauen Helme der UN-Truppen stets eine geheime Agenda der westlichen Großmächte, die durch sie ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen versuchten. Frieden schaffen mit Waffen – dieser anscheinend irre Widerspruch konnte nur eine Falle sein. So lehnt die Partei Die Linke die Entsendung von Bundeswehrangehörigen in UN-Friedenseinsätze bis heute ab. Aber es gab auch die gegenteilige Ansicht: 1988 wurde den Peacekeeping-Truppen der UN der Friedensnobel-Preis verliehen. Das Nobelpreiskomitee läutete damit die Hochphase des liberalen Peacekeeping-Enthusiasmus ein. Insbesondere in den 1990er Jahren wurden immer neue Friedensmissionen auf den Weg gebracht; und die Zahl der eingesetzten Soldat*innen vervielfachte sich. Die ursprüngliche Aufgabe der Blauhelme war die Überwachung von Waffenstillstandsabkommen zwischen souveränen Staaten. Diese Truppen waren in der Regel leicht bewaffnet, durften ihre Gewehre aber nur zur Selbstverteidigung einsetzen. Die Erwartung an die Blauhelme war daher begrenzt: Sie sollten eine Verletzung von Abkommen dokumentieren und die Informationen an das UNHauptquartier weiterleiten. Eingreifen sollten sie nicht. Die eigentliche Bearbeitung der Konflikte blieb der Diplomatie überlassen.

Die UN im Kalten Krieg

von Alex Veit

So waren die Einsatzmöglichkeiten der Blauhelme beschränkt. In den heißen Konflikten im Kalten Krieg, vom Koreakrieg über den Vietnamkrieg bis zur sowjetischen Intervention in Afghanistan, blieben die Supermächte und ihre so genannten »Stellvertreter« lieber unter sich. tt

Bereits die erste Militärmission der Vereinten Nationen 1948 zeigte, dass die Entsendung von Truppen weder ein ausreichendes noch ein schnell wirkendes Mittel zur Friedenssicherung ist. Die diversen folgenden Kriege und bewaffneten Auseinandersetzungen tt

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UNO Eine Ausnahme war die Entsendung der Blauhelmmission ONUC während des Genozids in Ruanda 1994 fast alle neuen UN-Militär­ operationen nach dem aggressiven Kapitel VII mandatiert. in die unabhängig gewordene Demokratische Republik Kongo im Dennoch sind UN-Truppen nur sehr begrenzt für »robuste« Jahr 1960. Dort griffen Soldaten unter UN-Flagge erstmals aktiv in einen Bürgerkrieg ein und beendeten die Sezession der Provinz Militäreinsätze zu gebrauchen, insbesondere, weil die truppenstelKatanga. Nachdem UN-Truppen der Entführung und Ermordung lenden Länder ihre Soldat*innen keinem unkalkulierbaren Risiko des gewählten Premierministers Patrice Lumumba unbeteiligt zuaussetzen möchten. Dafür sind die Interessen truppenstellender gesehen hatten, entzog die Sowjetunion UN-Generalsekretär Dag Länder wie Indien, Pakistan und Bangladesch in weit entfernten Hammarskjöld das Vertrauen. Die Supermächte unterstützen nun Bürgerkriegen zu gering. In der Demokratischen Republik Kongo unterschiedliche Fraktionen im wieder aufflammenden Bürgerkrieg gelang es in nunmehr 20 Jahren nicht, das Land nachhaltig zu und die UN-Mission wurde bedeutungslos. Am Ende setzte sich befrieden. Im Jahr 2013 zerschlug eine eigens eingerichtete Kampfmit Hilfe verschiedener Milizen und belgischer truppe aus Südafrika und Tansania Luftlandetruppen der westliche Protégé durch: immerhin die Rebellengruppe M23. UN-Truppen sind nur sehr Oberst Joseph Mobutu. Vermutet wird aber, dass sich viele Rebell*innen zwischenzeitlich wieder Die antiimperalistische Kritik der Sowjetunion begrenzt für Militäreinsätze war hier plausibel: Durch ihre Passivität bei der anderen Milizen angeschlossen haben. zu gebrauchen Ermordung Lumumbas, dem kommunistische In Haiti wiederum verlief die urbane Sympathien unterstellt wurden, erschien die UNAufstands- und Kriminalitätsbekämpfung durch UN-Truppen zunächst brutal, aber kurzzeitig erfolgreich. Mission als Stellvertreterin westlicher Großmachtinteressen. Allerdings zeigte sich hier schon ein anderer Aspekt: Um die eigenen Doch im vergangenen Jahr gab die UN ihre dortige Mission trotz Interessen durchzusetzen, verließen sich alle Großmächte lieber anhaltender politischer Instabilität auf. Immerhin liefern einige auf ihre eigenen Apparate in Militär und Geheimdiensten, sowie quantitative Studien Indizien dafür, dass sich durch den Einsatz auf Partner in den betroffenen Ländern. Das hat sich kaum geändert: von UN-Truppen militärische Gewalt verringert.1 Als Instrument zielgerichteter Geopolitik ist die politisch komplex So haben sich weder die liberalen Erwartungen noch die antistrukturierte UN mit ihren aus vielen souveränen Armeen rekrutierimperialistische Kritik an UN-Missionen bewahrheitet. Interessant ten Blauhelmsoldat*innen kaum zu gebrauchen. Bis heute scheuen sind vielmehr die unbeabsichtigten Folgen der UN-Interventionssich westliche Großmächte, ihre Soldat*innen für Kampfeinsätze tätigkeit. Hierzu zählen die Finanzierung ganzer Armee-Bataillone unter UN-Kommando zu stellen. Lieber entsenden sie ihre Truppen aus Ländern des Globalen Südens; die Entstehung einer großen unter eigenem Kommando, während die UN vor allem auf UN-Friedensbürokratie, die sich meist erfolglos am »capacity builSoldat*innen aus dem Globalen Süden zurückgreift. ding« der Bürokratien in Nachkriegsländern versucht; die militärische Gentrifizierung einzelner Städte und Stadtviertel, in denen So verliefen die Großkonflikte seit dem Ende des Kalten Kriegs sich die Missionen niederlassen; und die dortige Entstehung von auch weiterhin ohne Beteiligung von UN-Truppen. Vom Zweiten Golfkrieg 1991/92 über den Kosovokrieg 1999, den US-Einmarsch informellen und teils kriminellen Schattenwirtschaften. in Afghanistan 2001 und der anschließenden NATO-Intervention, Aus einer herrschaftskritischen Sicht stehen die großen UNden Konflikt in Syrien seit 2011 und in der Ukraine seit 2014: Blauhelmmissionen für eine internationalisierte Staatlichkeit. Anders Überall agieren Truppen der Groß- und Supermächte auf eigene als bei den kolonialen Eroberungen im 19. Jahrhundert haben UN-Missionen zwar keine unmittelbaren wirtschaftlichen EigenFaust. Dem UN-Apparat werden dann gelegentlich die Aufräumarbeiten überlassen: die Verhandlung von Friedensabkommen, der interessen. Allenfalls sichern sie die Offenheit der Rohstoffmärkte mühsame Wiederaufbau der staatlichen Verwaltungen und humaim Sinne eines globalen kapitalistischen Systems ab. So verdienen nitäre Hilfe. Ein alternatives Modell stellt die temporäre Flankierung heute im Kongo beispielsweise Konzerne aus westlichen Ländern einer Blauhelmmission mit unabhängigen Kampftruppen aus westwie auch aus China an den Bodenschätzen. Ähnlich wie in der lichen Ländern dar. Beispiele hierfür sind die US-Intervention in kolonialen Periode fehlt es allerdings den oft über mehrere JahrSomalia 1993-95, die US-Luftangriffe zur Beendigung des Bosnizehnte stationierten Friedensmissionen an demokratischer Legitienkriegs 1995, verschiedene EU-Missionen in der Demokratischen mation. Sie beanspruchen zwar, in die souveränen Rechte der Republik Kongo seit 2003 und schließlich Operationen Frankreichs Bevölkerungen in Bürgerkriegs- und Nachkriegsländer einzugreiund einiger westafrikanischer Ex-Kolonien, die seit 2013 parallel fen, sehen sich aber nie für die Folgen ihrer Aktivitäten in der zur UN-Mission MINUSMA in Mali militärisch agieren. Verantwortung. Dies betrifft sowohl die individuellen Probleme – wie den sexuellen Missbrauch durch UN-Soldaten, der äußerst selten juristisch verfolgt wird – als auch den Wiederausbruch von »Robuste« Mandate Streitigkeiten zwischen Bürgerkriegsfraktionen, die kurz zuvor tt Die zunehmend aggressive Form der oft unzutreffend als »hunoch mit UN-Ressourcen und internationalen Waffen protegiert manitäre Mission« betitelten Interventionen militärischer Großworden sind. mächte – die ihren Höhepunkt in der Invasion des Irak durch die Anmerkung USA 2003 fand – hatte Folgen für die Praxis der UN. Der feine Unterschied zwischen »Peacekeeping« (Friedenserhaltung) und 1 V. P. Fortna and L. M. Howard: Pitfalls and Prospects in the Peacekeeping ­Literature. Teils dieselben Autor*innen der Studien sind jedoch skeptisch, ob »Peace Enforcement« (Friedenserzwingung) äußert sich völkersolche Interventionen Stabilität und Demokratisierung bringen. rechtlich im Unterschied zwischen den Beobachtermandaten nach Kapitel VI der UN-Charta, und die militärische Gewalt zulassenden Mandate nach Kapitel VII, die als »robuste« Mandate gelten. Während im Kalten Krieg Kapitel VI den Standard setzte, wurden seit tt Alex Veit ist Akademischer Rat am Institut für Interkulturelle dem Scheitern der Beobachtermissionen im Bosnienkrieg und und Internationale Studien (InIIS) der Universität Bremen. iz3w • Mai / Juni 2020 q 378

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UNO

Frauenfeindliche humanitäre Organisationen? Der UNHCR und maskuliner Machtmissbrauch Freier anstatt Friedensstifter, UN-Blauhelmsoldaten als Vergewaltiger. Die Kritik an sexualisierten Übergriffen durch Truppen­ mitglieder internationaler Friedensmissionen verweist auf Strukturprobleme militarisierter Männlichkeit. Doch wie sieht es in der humanitären Arbeit im Auftrag der Vereinten N ­ ationen aus? Ist das zivile Personal weniger gewaltbereit und sexistisch?

von Rita Schäfer An Beispiel des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR lässt sich zeigen, wie die UN in der humanitären Arbeit präventiv gegen s­ exualisierte Gewalt vorgeht und darauf reagiert. Die in Genf ansässige Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist international die w ­ ichtigste Schaltstelle für den Schutz von Geflohenen. Im Folgenden wird die Institutionalisierung von entsprechenden Leitlinien und GenderAnsätzen in der Arbeit des UNHCRs aufgezeigt. Der praktischen Umsetzung stehen jedoch Missbrauch durch UN-Mitarbeiter und sexuelle Belästigung von Mitarbeiterinnen durch Vorgesetzte und Führungskräfte des UNHCR diametral entgegen. Es geht nicht um Einzelfälle, sondern um männlich dominierte Machtstrukturen und übergriffiges Sexualverhalten in einer UN-Organisation mit über 16.000 Mitarbeiter*innen in 134 Ländern, die vor Ort oft mit NGOs und deren Personal kooperiert. tt

Institutionalisierung von Gender Die Integration von Gender basierte auf Debatten während der UN-Frauendekade von 1976 bis 1985. Ab 1990 folgten entsprechende Leitlinien und Gender-Analysen. Zudem wurden praktische Anleitungen für die humanitäre Arbeit erstellt. Dazu ein Beispiel aus Guinea: Dort setzten frühere Kämpfer unter den Geflüchteten ihre Gewaltübergriffe auf Frauen und Mädchen fort. Die zumeist jungen Kriegsheimkehrer waren wegen ihres aggressiven Verhaltens von ihren Familien verstoßen worden und suchten in den bereits überfüllten, aber mangelhaft ausgestatteten Flüchtlingslagern Unterschlupf. Das UNHCR war für den Umgang damit auf Initiativen der ­Geflüchteten selbst angewiesen. Als hilfreich galten kleinräumige Sicher­heitskomitees, die Männer und Frauen gemeinsam bildeten. Sie begannen Diskussionen über die Hintergründe der Gewalt, aber auch über belastende Krankheiten und sozio-ökonomische Probleme. Alleinstehende Frauen wurden fortan in der Nähe von Familien untergebracht, was ihren Schutz erhöhte und Stigmatisierung reduzierte. Gewählte Frauen vertraten die Interessen der Gewaltüberlebenden gegenüber der Lagerleitung. Vergleichbare konkrete Beispiele dokumentierte das UNHCR in Tansania, Äthiopien und Liberia. 2003 erließ das UNHCR neue Richtlinien zum Gewaltschutz für Geflohene, intern Vertriebene und Rückkehrer*innen, sie umfassten auch Maßnahmen gegen häusliche und eheliche Gewalt in Lagern. Ein praxisorientiertes Handbuch zum Schutz von Frauen und Mädchen erschien 2008. Aktualisierungen der strategischen Ausrichtung tt

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erfolgten 2011 und 2013, darin hatte die verstärkte Institutionalisierung der Partizipation geflohener Frauen im Lagermanagement großen Stellenwert. Dieses Ziel verfolgt auch das Inter-Agency Standing Committee (IASC), an dem 18 internationale Organisationen und humanitäre Hilfswerke mitwirken. Derzeit übernimmt das UNHCR dabei koordinierende Führungsaufgaben. Bereits 2005 formulierte das IASC Richtlinien zur Gewaltprävention und zur Reaktion auf Übergriffe. 2017 folgten Gender-Leitlinien und ein Jahr später ein Gender-Aktionsplan. Seit 2019 gibt es ein Gender-Handbuch. Darin wird Gender als Machtkategorie verstanden und ansatzweise intersektional konzeptionalisiert – also mit Differenzkategorien wie Alter und Behinderung in Beziehung gesetzt.

Gewaltursachen und Kritik Macht ist auch ein Schlüsselbegriff in den Erklärungen internationaler humanitärer Organisationen zu geschlechtsspezifischer Gewalt im Fluchtkontext. Zu den Gewaltursachen zählen sie einerseits etablierte patriarchale Strukturen sowie militarisierte Maskulinitätsmuster und andererseits die oft schwierigen Bedingungen in den Flüchtlingslagern. Problematisch ist deren mangelhafte Ausstattung, im Bereich der sanitären Anlagen und Beleuchtung oder die Ausgabe von Nahrungsmittelhilfe nur an männliche Fami­ lienvorstände. Um so wichtiger ist es, Lebensmittel auch an Frauen auszugeben. Deren Partizipation ist gefragt, wenn weitere k­ onkrete Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Sicherheit vor Ort ergriffen werden. Diese Aspekte werden bereits in Planungen des UNHCR berücksichtigt, wobei die Verantwortlichen die mangelnde Zahlungs­ bereitschaft vieler Regierungen kritisieren, schließlich finanziert sich das UNHCR über diese Gelder. Gravierende Budgetdefizite verhindern ausreichende Nahrungsmittelhilfe in den Lagern. Sie gilt aber als notwendig, um Prostitution von Frauen und Mädchen zur täglichen Existenzsicherung vorzubeugen. Noch schwieriger ist die Auseinandersetzung mit patriarchalen Machtmustern. Gegenstrategien zur Überwindung militarisierter Männlichkeit fokussieren auf die Arbeit mit jungen Männern, die für handwerkliche Aufgaben im Lagermanagement angesprochen werden. Die damit verbundene Anerkennung durch Lagerbewohner*innen soll Neuorientierungen jenseits martialischer Prägungen ermöglichen. Doch diese Maßnahme ist konzeptionell umstritten. Kritiker*innen zufolge wird suggeriert, das chaotische Lagerleben würde triebgesteuerte Gewalttätigkeit freisetzen, die gezügelt werden müsse. Oft würden Gender-Maßnahmen für Männer über deren Köpfe hinweg geplant. Ein weiterer Kritikpunkt lautet: Wenn humani­täre Gender-Programme nur auf den Einstellungswandel geflohener Männer abzielen, ignorieren sie, dass Kriegsparteien, einschließlich der Armeen, weltweit Vergewaltigungen als Strategie zu Gebiets­ eroberungen einsetzen – ein Problem, das zu den Fluchtursachen zählt. Zudem gibt es auch in den Reihen der Blauhelmsoldaten, des Sicherheitspersonals in Lagern und der humanitären Helfer Sexual­ tt

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Auch eine Maßnahme – von der UN organisierter Selbstverteidungsworkshop in New York. | Foto: UN-Women CC-BY-NC-ND 2.0

straftäter, wie Fälle aus der Zentralafrikanischen Republik oder der Demokratischen Republik Kongo belegen. Sie tragen durch sexualisierten Machtmissbrauch dazu bei, geflohene Frauen zu entwürdigen und Männer in deren sozialem Umfeld zu demütigen. Um so wichtiger ist die Ahndung der Übergriffe, die in der Praxis aber nur selten erfolgt.

Auch die Klage einer Betroffenen blieb aus formalrechtlichen Gründen erfolglos, weil Lubbers diplomatische Immunität genossen hatte. Dennoch erhielt institutionalisierter Sexismus innerhalb der UN mehr Beachtung. Annans Nachfolger Ban Ki-moon richtete eine Verwaltungsstelle sowie zwei Gerichte für disziplinarische und arbeitsrechtliche Fälle ein. Sie sind für das Personal aller UNOrganisationen zuständig. 2017 folgte eine Strategie zur systematischen Verbesserung der Prävention und Reaktion auf sexuellen Maßnahmen gegen Missbrauch und Belästigung Missbrauch in der UN insgesamt. tt Diesen grundsätzlichen Problemen musste sich das UNHCR Auch im UNHCR hat sich etwas getan. Inzwischen ist das Büro bereits 2002 stellen. Eine gemeinsam mit Save the Children in des Generalinspektors (IGO) für Beschwerden bei sexueller BeläsAuftrag gegebene Studie zu sexualisierter Gewalt in den westafrika­ tigung zuständig, 2018 wurden dort 34 Übergriffe durch UNHCRnischen Nachkriegsländern Liberia, Guinea und Sierra Leone brachMitarbeiter und 83 durch Personal von Partnerorganisationen te den Missbrauch von Minderjährigen durch Blauhelmsoldaten, gemeldet. In fünf Fällen fanden disziplinarische Ermittlungen statt, Entwicklungsexperten und Lagerpersonal unter Leitung des UNHCR drei Mitarbeiter wurden anschließend entlassen. Ob die jeweilige zutage. Während der damalige UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Strafjustiz eingeschaltet wurde, ist unklar. Seit 2018 gibt es im Rudd Lubbers, die Übergriffe als GerüchUNHCR eine Koordinatorin zur Überwindung te bagatellisierte, ordnete UN-Generalsexueller Ausbeutung und Belästigung. Sie Auch UN-Hochkommissar sekretär Kofi Annan eine Untersuchung kooperiert mit 300 weltweiten UNHCR Gender an. Nur in einem Fall wurde der Täter Focal Points. Eine 2019 publizierte Evaluierung Lubbers selbst wurde sexuelle belangt. lobt solche institutionellen Mechanismen, forBelästigung vorgeworfen derte aber mehr Prävention und disziplina­ Es war klar, dass auch das UN-Hochkommissariat Maßnahmen gegen Missrisches Vorgehen gegen Täter, vor allem durch brauch durch eigenes Personal ergreifen musste. Dies blieb unter die Stärkung der entsprechenden Kapazitäten von NGOs, die vielerorts im Lagermanagement mitwirken. Das sind Voraus­ Lubbers aber schwierig, zumal Mitarbeiterinnen ihm selbst sexuelle Belästigung vorwarfen und sich UN-intern beschwerten. Das setzungen für Verbesserungen, zumal das UNHCR Menschen in dafür zuständige UN Office of Internal Oversight Services bewerteFlüchtlingslagern durch intensivere Zusammenarbeit untereinante die Beschwerden als begründet und empfahl disziplinarische der und mit Lagerleitungen zur Meldung von Missbrauch ermuti­ Maßnahmen gegen Lubbers. Lubbers, der zuvor christdemokratischer gen will. Premierminister der Niederlande gewesen war, wies die Vorwürfe von sich. Zwar trat er 2005 als UN-Hochkommissar für Flüchtlinge zurück, beteuerte aber weiterhin seine Unschuld und inszenierte tt Rita Schäfer forscht als freiberufliche Wissenschaftlerin unter sich als Opfer übler Nachrede. Kofi Annan maßregelte ihn nicht. anderem über Gender, Flucht und Migration in Südafrika. iz3w • Mai / Juni 2020 q 378

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KFOR-Plakat in Mitrovica: »Die Überwachungsteams engagieren sich für Dich« | Foto: Larissa Schober

Komm, wir bauen einen Staat … In Ex-Jugoslawien zeigen sich Probleme des UN-Peacebuildings Nach Peacekeeping wurde Peacebuilding zum neuen Zauberwort beim Umgang der UN mit innerstaatlichen Konflikten. Welche Probleme Eingriffe der UN in die staatliche Verfasstheit von Nachkriegsgesellschaften bringen, zeigt ein Blick auf zwei der ersten Einsätze dieser Art. Sie dauern bis heute an: die internationalen Missionen im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. von Larissa Schober Unter Peacekeeping werden im Kontext der Vereinten Nationen in der Regel die unterschiedlich mandatierten Einsätze der UNBlauhelme verstanden. Seit Anfang der 1990er Jahre entwickelte sich eine erweiterte Form von Einsätzen, bei denen nicht nur die Einhaltung von Friedensabkommen oder ähnlichem durch militärische Präsenz gesichert wird, sondern die UN auch exekutive Aufga­ ben in den betroffenen Ländern übernimmt. Diese werden häufig mit dem Begriff Peacebuilding umschrieben. Das Ziel solcher Friedenskonsolidierung ist es, das Wiederaufflammen von Gewalt nach Beendigung eines Konflikts zu verhindern und Strukturen aufzubauen, die es ermöglichen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Im Gegensatz zu Peacekeeping existiert für Peacebuilding keine einheitliche Definition, der Begriff umschreibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, vom Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen bis hin zu ziviler Präven­ tionsarbeit von NGOs. Hier meint der Begriff die Übernahme von exekutiven Aufgaben durch die UN und andere internationale ­Organisationen in Post-Konfliktgesellschaften.

Diese neue Form von Einsätzen, bei denen de facto Regierungsgewalt durch die UN ausgeübt wird, gab es in Ansätzen bereits Anfang der 1990er Jahre in Kambodscha. Der erste umfassende Einsatz war die UNMIK (United Nations Interim Administration Mission) im Kosovo ab 1999. Auch jenseits von »klassischen« UNMissionen gab und gibt es Friedenseinsätze, bei denen interna­ tionale Organisationen exekutive Aufgaben übernehmen, wie die UN-mandatierten, aber überwiegend von anderen Organisationen ausgeführten Missionen in Bosnien seit 1995.

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Ein UN-Staat ... Der Einsatz im Kosovo basiert auf der UN Resolution 1244, welche sowohl die UNMIK, als auch die NATO-geführte KFOR (Kosovo-Force) mandatiert. Mit dieser Resolution wurden der UNMIK so weitreichende Befugnisse übertragen, dass man durchaus von der erstmaligen Übernahme einer Regierung durch die UN sprechen kann. Sie war für sämtliche zivile und administrative Aufgaben zuständig, wie beispielsweise den Aufbau eines neuen Rechtssystems, die Ausbildung der Polizei oder den Aufbau von Infrastruktur. Die KFOR unterstützt die UNMIK militärisch, untersteht ihr aber nicht. Mit der Unabhängigkeit des Kosovos 2008 übernahm die EURechtsstaatlichkeitsmission EULEX viele Aufgaben von UNMIK und sollte die kosovarischen Behörden beim Aufbau von Polizei, Justiz und Verwaltung unterstützen. Ursprünglich bis 2010 geplant, läuft tt

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UNO die Mission immer noch. Auch UNMIK ist weiter im Kosovo präsent, 1031 des UN-Sicherheitsrats. Seine Befugnisse werden im Abkomwenn auch lange nicht so aktiv wie zu Beginn des Einsatzes. Über men von Dayton geregelt. Er ist der oberste Vertreter der Inter­ nationalen Gemeinschaft in Bosnien und überwacht die zivilen die Jahre wurden zudem immer mehr Kompetenzen von EULEX Aspekte der Umsetzung des Friedensabkommens. Dafür besitzt er auf kosovarische Behörden übertragen. Dennoch steht das Land weiterhin unter einer Doppelverwaltung aus kosovarischen und weitreichende Vollmachten und kann beispiels­weise Gesetze erlasinternationalen Strukturen. sen, neue Behörden schaffen und Personen, die gegen das DaytonAbkommen arbeiten, ihres Amtes entheben. Aufgrund der Voll1999 wurden sowohl die UN als auch die NATO im Kosovo mit machten dieses Postens – der aktuell von dem österreichischen Begeisterung empfangen – großen Teilen der Bevölkerung galten Diplomaten Valentin Inzko bekleidet wird – entsteht in Bosnien ein sie als »Befreier« von Serbien. Von dieser Euphorie zeugt etwa der Bill Clinton Boulevard mit entsprechender Statue in der Hauptstadt Demokratieproblem. In der Fachliteratur wird Bosnien daher häuPristina. Mittlerweile stehen viele fig nicht als souveräner Staat, sondern als Kosovar*innen der internationalen (Halb-)protektorat verstanden. Präsenz ablehnend gegenüber. Ein Dieses Demokratiedefizit ist eng verwoben Mittlerweile stehen viele Grund sind massive Korruptions­ mit dem weitreichenden Staatsversagen des Kosovar*innen der internationalen vorwürfe, die immer wieder sowohl bosnischen Staates. Durch die bloße ExisPräsenz ablehnend gegenüber gegen UNMIK als auch EULEX erhotenz des Hohen Repräsentanten werden ben, von Offiziellen der Missionen lokale Akteur*innen der Verantwortung ent­ aber stets zurückgewiesen werden. bunden. Zwar liegt die Verantwortung für Außerdem kritisieren verschiedene NGOs die internationale Präsenz den Staat technisch gesehen bei den bosnischen Behörden und als ineffektiv. Ein Beispiel: Unter UNMIK wurde das Erbrecht so der Hohe Repräsentant überwacht nur im Hintergrund die Einhalreformiert, dass Frauen in der Erbfolge zumindest auf dem Papier tung des Friedensabkommens. Dennoch besteht dadurch für bosnicht benachteiligt sind. Dafür wurde eine Gesetzesvorlage aus der nische Politiker*innen der Anreiz, reine Klientelpolitik zu betreiben Zeit Jugoslawiens aktualisiert. Allerdings wurde vergessen, den und unliebsame Entscheidungen – wie etwa die dringend notwenNamen des zuständigen Gerichts zu ändern, sodass dieses Recht dige Verfassungsreform – dem Hohen Repräsentanten zu überlasbeim Gericht eines Landes eingeklagt werden sollte, das nicht mehr sen. Zudem eignet sich dieser durch seine starke rechtliche Stellung existiert. hervorragend als Sündenbock für alles, was in Bosnien schief läuft. Zentral bei der Ablehnung ist der ungelöste Status des Kosovos Und das ist eine Menge. – die UN agiert noch immer unter einem Mandat, das die territoriale Integrität Serbiens (damals Jugoslawiens) anerkennt. Das wird Langwierige Prozesse und zähe Missionen von großen Teilen der kosovarischen Bevölkerung spätestens seit der Unabhängigkeitserklärung 2008 abgelehnt. Vielen gilt die tt Sowohl im Kosovo als auch in Bosnien war der Einfluss von ininternationale Präsenz mittlerweile als Kolonialmacht, so auch ternationalen Organisationen über Jahre hinweg so groß, dass man Albin Kurti, dem im Februar gewählte Premierminister im Kosovo. sich fragen kann, ob hier nicht neokoloniale Strukturen unter UNSeine Partei heißt Vetëvendosje!, Selbstbestimmung. Kurti sagt: Gewand geschaffen wurden. Gerade im Kosovo war vor allem die »Wir sind für den Beitritt zur Europäischen Union, aber gegen die Wirtschaftspolitik nach Ende des Krieges an den Interessen west­licher Staaten ausgerichtet. Die Einsätze werden mittlerweile in der BeKFOR-Herrschaft«. völkerung überwiegend kritisch gesehen – die Unterstützung der Am 24. März wurde Kurti nach nur 51 Tagen durch ein Misstrauensvotum gestürzt und ist nur noch übergangsweise im Amt. Mandate durch die Bevölkerung ist aber eine zentrale Voraussetzung Auslöser waren Streitigkeiten über die Abschaffung der Einfuhrzölfür deren Gelingen. le für serbische Waren innerhalb der Regierungskoalition. Auch Zu Kriegsende gab es dennoch in beiden Fällen durchaus gute hier spielte die Internationale Gemeinschaft eine Rolle: Während Gründe für das Vorgehen der UN. Die Tatsache, dass bisher keine die EU Kurtis stufenweise Abschaffung der Zölle akzeptierte und größeren bewaffneten Konflikte in beiden Ländern ausgebrochen sind, ist zumindest nicht Nichts. Die als Überganglösung geplanten sich gegen ein Misstrauensvotum mitten in der Corona-Krise aussprach, verlangten die USA eine sofortige Abschaffung der Zölle Missionen dauerten jedoch immer länger. Zugleich ließen das öffentliche Interesse und damit der Handlungsdruck nach. Hier zeigt und untergruben Kurtis Autorität durch die unverhohlene Unterstützung des ehemaligen Premiers und jetzigen Präsidenten des sich ein weiteres Problem von Peacebuilding-Missionen: Sie sind deutlich langwieriger als die Aufmerksamkeitsökonomie der Politik Kosovos, Hashim Thaci. zulässt. An den Verhältnissen in Bosnien, wo die UN noch immer massive Einflussmöglichkeiten haben, ändert sich auch deshalb ... und ein internationales Protektorat nichts, weil man sich von westlicher Seite aus nicht mehr damit tt In Bosnien beruht die internationale Präsenz auf dem Friedensbeschäftigen will. Aktuell werden in Bosnien keine strategischen abkommen von Dayton, das 1995 den Bosnienkrieg offiziell beInteressen berührt. So lange es dort nicht zu dramatischen Entendete. Etliche Aufgaben wurden durch das Abkommen an verwicklungen kommt, belässt man lieber alles beim Alten, auch wenn schiedene internationale Organisationen übertragen: Etwa die es nicht funktioniert. Mit einer neuen Balkanroute für Flüchtlinge Entsendung europäischer Richter*innen an das Bosnische Verfaskönnte allerdings schneller ein strategisches Interesse entstehen, sungsgericht, die Ausbildung der Polizei durch die UN oder die als es der EU lieb ist. Stationierung der NATO-geführten Friedensmission IFOR. Der bis heute problematischste Eingriff der Internationalen Gemeinschaft war jedoch die Schaffung des Amts des Hohen Rett Larissa Schober ist Redakteurin im iz3w und hat zu innerstaatpräsentanten für Bosnien und Herzegowina durch die Resolution lichen Konflikten geforscht. iz3w • Mai / Juni 2020 q 378

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Das Child Rights Movement (CRM) setzt sich für die Rechte von Mädchen in Pakistan ein | Foto: CRM

Wer hat das letzte Wort? Eine kritische Würdigung der UN-Kinderrechtskonvention Die Kinderrechtskonvention wurde 1989 von der UN-General­ versammlung verabschiedet und von 196 Staaten ratifiziert. Trotz aller Mängel und Lücken ist sie bis heute das wichtigste Rechtsinstrument auf globaler Ebene, um Kinderrechten Geltung zu verschaffen. Worin bestehen diese Mängel und wie ließe sich Abhilfe schaffen? von Manfred Liebel Das Menschenrechtssystem der UN basiert auf dem Grundsatz, dass sich die Nationalstaaten verpflichten, die von ihnen ratifizierten Menschenrechtsverträge zu erfüllen. In diesem Sinne beginnen auch viele Artikel der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) mit Formulierungen wie: »Die Vertragsstaaten erkennen an …, sichern …, achten …, treffen geeignete Maßnahmen …«. Dieses System, das die Umsetzung der Menschenrechte garantieren oder zumindest wahrscheinlicher machen soll, ist die Funktionsbedingung des heutigen Völkerrechts. Die KRK hat allerdings nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen. Mit Michael Freeman lässt sich in der KRK ein »zweckdienlicher Maßstab« sehen, der zu grundlegenden Veränderungen und mehr Gerechtigkeit im Leben der Kinder auf der ganzen Welt beitragen kann und auch schon beigetragen hat. Aber angesichts der Erwägung, dass die KRK »eher ein Anfang als das letzte Wort über Kinderrechte ist« (Freeman), ist es ebenso wichtig, über ihre Begrenzungen nachzudenken. tt

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Die Grenzen der Kinderrechte Die KRK ist der bis heute stärkste und verbindlichste Ausdruck der Kinderrechte. Doch es wäre eine Verengung, die Kinderrechte mit ihr gleichzusetzen. Kinderrechte sind wie alle Menschenrechte ein umfassendes Projekt, das über zwischenstaatliche Vereinbarungen hinausreicht. Wenn wir die Kinderrechte als Rechte der Kinder verstehen, als Rechte, von denen die Kinder selbst Gebrauch machen tt

können und die ihrem »besten Interesse« verpflichtet sind, ist es unabdingbar, sich zu fragen, was sie für die Kinder selbst bedeuten und in welcher Weise diese sie verstehen und handhaben (können). Vielen Kindern sind die Kinderrechte bis heute nicht nur deshalb fremd, weil ihnen zu wenig die Inhalte und der Sinn der KRK vermittelt werden (was ohne Zweifel der Fall ist), sondern auch, weil zu wenig bedacht wird, dass Kinder ihre Rechte nur als sinnvoll verstehen können, wenn sie mit ihrem Leben verbunden sind und sie tatsächlich etwas mit ihnen anfangen können. Unter diesem Aspekt besteht ein Problem der KRK darin, dass sie ohne jegliche Beteiligung von Kindern entstanden ist. Sie »antwortet« nicht auf Probleme, Fragen oder Forderungen von Kindern, sondern drückt aus, was erwachsene Kinderexpert*innen und Staatenvertreter*innen in den 1980er Jahren für Kinder als notwendig erachteten. Das Ergebnis ist nicht gering zu schätzen. Erstmals wurden Kinder zu Subjekten des Völkerrechts. Zusammen mit Schutzund Förderrechten, in denen zivile, soziale und kulturelle Rechte verbunden sind, werden ihnen erstmals auch Partizipationsrechte zugesprochen, in einem eingeschränkten Sinne zwar, aber mit dem erklärten Willen, Kindern »zuzuhören« und ihr »bestes Interesse« zu achten. Allerdings erhalten Kinder nicht das Recht, selbst Entscheidungen in öffentlichen Angelegenheiten zu treffen. Es bleibt Erwachsenen respektive den Staaten vorbehalten, das »beste Interesse« der Kinder zu definieren und in ihrem Sinne zu handeln. Im Unterschied zu anderen Menschenrechtsabkommen ist in der KRK kein Mechanismus vorgesehen, der es erlaubt, die Einhaltung der in dem Abkommen formulierten Rechte durchzusetzen, indem sie vor nationalen oder internationalen Gerichten eingeklagt werden. Das seit Dezember 2011 bestehende Zusatzprotokoll zur KRK billigt Kindern zwar ein individuelles Beschwerderecht zu, aber angesichts der darin vorgesehenen langwierigen Prozeduren besteht wenig Aussicht, dass sie es je in Anspruch nehmen können. Der einzige Kontrollmechanismus besteht in Form des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes. Dieser Ausschuss, dem gegenwärtig 18 von den Staaten vorgeschlagene und von der UN-Vollversammlung

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Selbstbestimmt und selbst­ bewusst: Bildung für Kinderrechte in Pakistan | Foto: CRM

gewählte unabhängige Expert*innen angehören, kommentiert die einher oder tragen zumindest dazu bei. Nicht immer ist dies auf von den Staaten alle vier Jahre einzureichenden Berichte über die den ersten Blick erkennbar, da die Regierungen in der Regel einen Umsetzung der KRK und spricht Empfehlungen aus. Diese Empdoppelzüngigen Diskurs pflegen. Kaum eine Regierung der Welt fehlungen sind durchweg in vorsichtiger diplomatischer Sprache stellt offen den Sinn und die Geltung der Kinderrechte in Frage. formuliert und es gibt keinerlei Garantie, dass ihnen entsprochen Viele Verletzungen der Kinderrechte erfolgen in indirekter Weise, etwa in der Wirtschafts- und Handelspolitik, die sich nicht ausdrückwird. Sie werden von den Staaten häufig ignoriert, eigenmächtig lich auf Kinder und ihre Rechte bezieht. interpretiert oder bestenfalls selektiv aufgegriffen. Mangelnde Sozialpolitik beispielsweise kann zu einer VergrößeWeder Organisationen der Zivilgesellschaft noch Kinder selbst rung der Kinderarmut führen und damit zu einer Verletzung des haben bisher rechtliche Möglichkeiten, auf der Erfüllung der von den Staaten eingegangenen Verpflichtungen Rechts auf bestmögliche Lebens- und zu bestehen. Der UN-Kinderrechtsausschuss Entwicklungsbedingungen und die MenMit der Konvention wurden versucht diesem Mangel zu begegnen, indem schenwürde der Kinder. Oder sie zwingt er nichtstaatliche Organisationen und neuerKinder und ihre Eltern, zu emigrieren und Kinder erstmals zu Subjekten dings auch Kinder und deren Organisationen unter großen Risiken in wohlhabenden des Völkerrechts … einlädt, sich zu den Staatenberichten zu äuLändern ihr Glück zu versuchen. Oft verßern und gelegentlich an den Debatten des geblich: Die deutsche Bundesregierung Ausschusses teilzunehmen. Diese Berichte und Stellungnahmen hat zwar 2010 ihren »ausländerrechtlichen Vorbehalt« gegenüber geben vor allem Aufschluss über die Nicht-Einhaltung der staatlichen der KRK zurückgenommen, nötigt aber viele geflüchtete Kinder Verpflichtungen und sind wichtige Dokumente der öffentlichen weiterhin dazu, längere Zeit in Not- und ErstaufnahmeeinrichtunMeinungsbildung. Aber sie finden im Handeln der Staaten nur gen zu verbringen, wo ihre Rechte erheblich eingeschränkt sind. insoweit Berücksichtigung, wie die jeweiligen Regierungen bereit Die gleichzeitige Propagierung der Kinderrechte wird auf diese sind, ihnen zu folgen. Dies ist eher selten der Fall und hängt vor Weise oft zum Alibi, das die tatsächlichen Folgen einer Politik verallem von den gesellschaftlich-politischen Machtkonstellationen in schleiert, die auf soziale Exklusion von Kindern hinausläuft. Oder den jeweiligen Ländern und den dort vorherrschenden Denkweisen sie wird in instrumenteller Weise dazu benutzt, die Verletzung der ab. Die Einflussmöglichkeiten von Kindern sind hierbei besonders Kinderrechte anderen Staaten oder nichtstaatlichen Organisationen in die Schuhe zu schieben und sich selbst in der Rolle des Unschuldsgering, da ihnen verwehrt oder nicht zugetraut wird, sich in das lamms oder gar eines Verteidigers der Kinderrechte zu sonnen. Politikgeschäft der Erwachsenen einzumischen. Bisher dominiert die paternalistische Vorstellung, dass es sich Dies gilt auch im Falle der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Sie bei den Kinderrechten um Rechte handelt, die von Erwachsenen stellen sich öffentlich als globale Vorreiterinnen der Menschen- und Kinderrechte dar, blenden aber aus, dass sie durch ihre Wirtschafts-, zugunsten der Kinder, aber nicht von den Kindern selbst ausgeübt werden. Diese Vorstellung kommt selbst im Falle der Partizipa­ Handels- und Migrationspolitik dazu beitragen, in Ländern des tionsrechte zum Tragen, indem die Partizipation der Kinder meist Südens die Not der Menschen zu vergrößern und deren Rechte auf Projekte beschränkt wird, die von Erwachsenen konzipiert auf ein menschenwürdiges Leben zu verletzen. Noch immer besteht werden. Kinder haben bisher wenige Möglichkeiten, die Interpreein großes Machtungleichgewicht: Kinder, die in armen und abtation ihrer Rechte zu beeinflussen und ihre eigenen Interessen zur hängigen Ländern leben, haben viel geringere Möglichkeiten, zu Geltung zu bringen. ihrem Recht zu kommen, als Kinder, die in wohlhabenden und mächtigen Ländern wohnen.

Ambivalenzen staatlicher Machtausübung Die Selbstverpflichtung der Staaten zur Erfüllung der Kinderrechte (wie der Menschenrechte allgemein) steht oft im Widerspruch zur von den Regierungen verfolgten Politik. Politische Maßnahmen gehen häufig sogar mit aktiven Verletzungen der Kinderrechte tt

Rechte als Ergebnis sozialer Kämpfe Diese Probleme machen die Berufung auf international verbürgte Menschenrechte auch im Fall der Kinderrechte nicht sinnlos. Aber sie erfordern, die Kinderrechte nicht nur im Sinne staatlicher tt

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Verpflichtungen zu verstehen, sondern in einem umfassenderen, zu gestalten und nicht als Alibi oder zur Manipulation der Kinder subjektorientierten Sinn als Rechte, die in den Händen der Subjekzu missbrauchen. te und der von ihnen konstituierten Gesellschaften und GemeinDer UN-Kinderrechtsausschuss hat damit ebenso wie einige schaften liegen. Dies legt ein Politik- und Rechtsverständnis nahe, NGOs auf Initiativen reagiert, die von Kindern und Jugendlichen ausgegangen sind. Eine Vorreiterrolle haben dabei Kinder in Ländern das nicht auf Staaten und die legale Form von Rechten fixiert ist, sondern die Menschenrechte ebenso wie die Rechtssysteme als des globalen Südens gespielt, insbesondere die Bewegungen arimmer wieder veränderbares Ergebnis sozialer Kämpfe und Bewebeitender Kinder. Nachdem 1998 eine Organisation arbeitender gungen betrachtet. Kinder in Indien sich mit einem eigenen Report an den UN-Ausschuss Dies ist auch deshalb notwendig, weil die Zentrierung auf staatgewandt hat, haben Kinder- und Jugendgruppen immer häufiger liche Verpflichtungen die Gefahr mit sich bringt, Menschenrechte Alternativberichte eingereicht. Das jüngste Beispiel ist der in Deutschin einer bürokratisierten und instrumentellen Weise zu handhaben, land entstandene Zweite Kinderrechtereport, an dem 2.725 Kinder »wobei Recht und Politik in institutionellen Strukturen zusammenund Jugendliche zwischen 6 und 17 Jahren mitgewirkt haben. gebracht werden, die nach bestimmten ReDiese und andere Interventionen geln, technokratisch und auf andere Weise von Kindern und Jugendlichen be… dennoch sind die Kinderrechte operieren und die emanzipatorischen und deuten allerdings nicht, dass sich expressiven Dimensionen der Menschenrechderen Einfluss auf die Interpreta­tion bislang nicht vor Gericht einklagbar te aushöhlen«, so Neil Stammers. »Ohne die und Umsetzung der Kinderrechte positiven Vorteile des internationalen Menbereits nennenswert verstärkt hat. schenrechtssystems gering zu schätzen, gibt es das größere ProbVor allem fehlen Ombudsstellen, an die sich Kinder mit der Zuverlem, dass die Menschenrechtspraxis zu einer Praxis reduziert wird, sicht wenden könnten, gehört und ernstgenommen zu werden. die durch die institutionalisierten Machtstrukturen bestimmt ist Dies gilt auch für Deutschland, wo zwar seit 2015 beim Deutschen und sich an ihnen orientiert«. Die Institutionalisierung der MenInstitut für Menschenrechte eine unabhängige Monitoringstelle für schenrechte tendiert dazu, »sie vom sozialen Protest abzulösen, die UN-Kinderrechtskonvention besteht, aber weder in Kommunen, indem sie innerhalb des positiven Rechts und seiner zeitlosen Schulen und Heimen noch auf der Ebene der Länder und des BunMajestät sedimentiert werden«, konstatiert Stammers. des leicht zugängliche und verbindliche Beschwerdemöglichkeiten Diese paternalistisch zu nennende Schieflage im UN-Menschenvorhanden sind. rechtssystem wird nur gelegentlich durch nachträgliche EinbezieDas hier dargelegte Verständnis von Kinderrechten zeichnet sich hung von Kindern bei der Konkretisierung und Umsetzung der dadurch aus, dass es nicht mehr auf den Staat und die legale Form Kinderrechte zu kompensieren versucht, etwa durch die Einberufung von Rechten fixiert ist, sondern die Entstehung und Umsetzung von von Kindergipfeln, kinderfreundliche Webseiten oder durch die Rechten in die Gesellschaft und zu den handelnden Subjekten Praxis des UN-Kinderrechtsausschusses, Kinder zu Stellungnahmen zurückholt. Dies heißt nicht, den Staat aus allem herauszuhalten zu ermuntern und zu Sitzungen einzuladen. Dies geschah etwa im und die »Privatsubjekte« nach (neo-)liberalem Muster ungeachtet September 2018, als es darum ging, Kinder als »Human Rights ihrer ökonomischen und sozialen Stellung zu ihres eigenen Glückes Defenders« zu ermutigen und im Rahmen des UN-Systems anzuSchmied zu erklären. Staatliche Verpflichtungen sind unentbehrlich erkennen. und auf ihnen muss bestanden werden, solange es Staaten im herkömmlichen Sinne gibt. Aber sie müssen in ihrer Bedingtheit und ihren Begrenzungen erkannt und durch ein Verständnis und Zurück in die Gesellschaft holen eine Praxis von Menschenrechten erweitert werden, in denen auch tt Die Entwicklung der Kinderrechte ist an einem Scheidepunkt. Kinder als rechtliche und soziale Subjekte agieren und Entscheidungen ebenso beeinflussen wie selber treffen können. War lange Zeit vor allem darauf geachtet worden, wie Kinderrechte von Erwachsenen anerkannt und umgesetzt werden, wird nun Eine solche Erweiterung verweist auf eine Gesellschaft, die nicht stärker darauf geachtet, wie auch Kinder selbst von ihnen Gebrauch mehr des Staats bedarf, sondern in der die Menschen ihre Angelemachen und an ihrer Weiterentwicklung mitwirken können. Begenheiten in freier, selbstbestimmter Assoziation regeln und in mühungen, Kinder bei der Umsetzung der Kinderrechte einzubedenen Kinder gleichberechtigte und gleichgewichtige Akteur*innen ziehen und ihre aktive Rolle in der Kinderrechtspraxis zu fördern, des Gemeinwesens sind. haben signifikant zugenommen. Zahlreiche NGOs haben dazu Literatur Konzepte formuliert und der UN-Kinderrechtsausschuss hat Kinder und Jugendliche ermutigt, ihre Rechte selbst einzufordern und sich –– Der Zweite Kinderrechtereport (2019). National Coalition Deutschland. Netzwerk für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Berlin an den Aktivitäten des Ausschusses zu beteiligen. –– Michael Freeman (2009): Children’s Rights As Human Rights: Reading the In seinem General Comment Nr. 12 (2009) über das »Recht des UNCRC. In: J. Qvortrup, W.A. Corsaro & M.-S. Honig (Hg.): The Palgrave Kindes, Gehör zu finden«, appelliert der Ausschuss an die VertragsHandbook of Childhood Studies, Basingstoke, S. 377-393 staaten, Kindern zu ermöglichen, Gruppen und Organisationen zu –– Neil Stammers (2009): Human Rights and Social Movements. London & bilden, damit sie ihre Ansichten zu den sie berührenden AngeleNew York genheiten zum Ausdruck bringen können. Ebenso legt er den Vertragsstaaten nahe, Kinder anzuhören, auch wenn sie sich kollektiv äußern. Die Vertragsstaaten sollen die kontinuierliche Partitt Manfred Liebel ist Prof. a.D. für Soziologie an der TU Berlin zipation von Kindern bei Entscheidungsprozessen ermöglichen, und Mitgründer des internationalen Masterstudiengangs »Childhood indem sie organisatorische Strukturen wie Schülerräte und die Studies and Children’s Rights« an der FH Potsdam. Zum Thema Mitwirkung in Schulgremien fördern. Außerdem sieht der Ausschuss veröffentlichte er unter anderem das Buch »Kinderinteressen. Zwieine wichtige Rolle von NGOs darin, die Partizipation transparent schen Paternalismus und Partizipation« (Weinheim & Basel 2015). iz3w • Mai / Juni 2020 q 378


Erfolge und ein Backlash

Die UN und die Frauenrechte

Diskussionsveranstaltung der 63. Sitzung der Frauenrechtskommission, New York 2019 | Fotos: Ryan Brown/UN Women

40 Jahre Frauenrechtskonvention, 25 Jahre Vierte Weltfrauenkonferenz in Peking, zehn Jahre Resolution 1325 – es gibt viele Gründe, die UN als Vorreiterin für Geschlechtergerechtig­ keit zu feiern. Fortschritte wurden trotz heftiger patriarchaler Widerstände erreicht. Aber die UN haben weiterhin keinen langen Arm in die Einzelstaaten und in die gelebten Geschlechterverhältnisse hinein. Den derzeitigen Backlash gegen Frauen­ rechte konnten sie nicht verhindern. von Christa Wichterich Am Anfang war das Wort »Frauen«. Zwei lateinamerikanische Feministinnen, Minerva Bernardino aus der Dominikanischen Republik und die Brasilianerin Bertha Lutz, brachten den Stein 1945 ins Rollen. Sie stritten für die sprachliche Inklusion, nämlich darum, das Wort Frauen in die Präambel der Charta der Vereinten Nationen aufzunehmen. In der Charta bekräftigen die Staaten ihren Glauben »an die Gleichberechtigung von Mann und Frau«. Diese Formulierung wurde in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 übernommen. Damit begann ein langer Kampf, um die Frauenrechte auf die Ebene internationalen Rechts zu hieven. Lutz und Bernardino plädierten dafür, eine ständige »Kommission zum Status von Frauen« (CSW) bei der UNO als Unterkommission der Menschenrechtskommission einzurichten. Als die Kommission einen eklatanten Mangel an Rechtsgleichheit zwischen Mann und Frau und nur minimale Fortschritte in den Mitgliedsstaaten feststellte, schlug sie 1967 eine »Erklärung zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen« vor, die 1979 als Frauenrechtskonvention verabschiedet wurde. tt

Um Gleichberechtigung international zum Politikum zu machen, wurde 1975 zum »Jahr der Frau« erklärt und das Jahrzehnt von 1976 bis 1985 als UN-Frauendekade ausgerufen. Der ersten Weltfrauenkonferenz 1975 in Mexiko folgten drei weitere: 1980 in Kopenhagen, 1985 in Nairobi und die legendäre Vierte Weltfrauen­ konferenz 1995 in Peking. 1976 wurden der Frauenfonds UNIFEM und das Forschungs- und Trainingsinstitut INSTRAW ins Leben gerufen; beide wurden 2010 zu UN WOMEN zusammengelegt. Im Jahr 2000 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1325, die dazu verpflichtet, Frauen gleichberechtigt bei der Herstellung und Sicherung von Frieden zu beteiligen und Vergewaltigung als Mittel kriegerischer Auseinandersetzung zu ahnden.

Eine Kampfgeschichte Soweit die Chronik der Institutionalisierung von Frauenthemen bei der UNO. Dahinter verbirgt sich eine Kampfgeschichte. Frauen­ bewegungen machten Druck, damit Themen wie emanzipatorische Bildungs- oder Scheidungsrechte den langen Marsch durch die Institutionen bis zur UNO antreten konnten. Entscheidende ­Impulse kamen von Aktivist*innen aus dem Westen wie aus dem Globalen Süden, die mit sympathisierenden Frauen in den Institutionen und weiblichen Delegationsmitgliedern, auch Femokratinnen genannt, interagierten. Es gab in den 1950 und 1960er Jahren nur wenige Frauen in Regierungsdelegationen und in der UNO-Administration. Frauenpolitische Fortschritte gingen fast ausschließlich auf das Konto dieser Femokratinnen, Männer verhielten sich absti­nent gegenüber Frauenthemen. t tt

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Gleichzeitig verfolgten die Mitgliedsstaaten in der UNO Interessenpolitik. So wurde 1969 der Bevölkerungsfonds UNFPA gegründet, in dem die westlichen Staaten im Namen von Familienplanung eine Bevölkerungskontrollpolitik gegenüber dem Süden durchsetzten. Das treibende Motiv war die Angst vor »Überbevölkerung« und vor der Verbreitung sozialistischer Kräfte im Süden. Offiziell geschah dies im Namen der Frauenemanzipation. Die Verhandlungsdiplomatie und die sperrige Sprache der UNO verlangten feministischen Aktivist*innen große Anpassungsleistungen ab. Alles beruhte auf den Prinzipien formaler Gleichberechtigung aller Staaten, der Freiwilligkeit und dem Motto: Konsens suchen, Kompromiss finden, Dissens zulassen. Demnach konnten die Mitgliedsstaaten mit abweichenden Positionen Vorbehalte anmelden und sich bei der Umsetzung einfach ausklinken. Themen mussten auf UN-Sprech zugeschnitten werden und verloren ihre Brisanz, wenn etwa die feministische Debatte zu unbezahlter Hausarbeit im Abschlussdokument der Nairobi-Konferenz von 1985 auf die Forderung nach Hausarbeitsstatistiken reduziert wurde. Als Ansporn für Gleichstellung sollte auch das Mapping und Ranking von Staaten etwa im UNDP-Bericht zur menschlichen Entwicklung und verschiedene Messindikatoren des Gender Gaps wirken. Sie wiesen allen Staaten einen Listenplatz im internationalen Vergleich bezüglich Frauenempowerment zu.

Normsetzung und Realpolitik Von zwei höchst dynamischen Dekaden ging eine starke Anschubkraft aus. Das sind zum einen die 1970er Jahre, als eine Welle von Frauenbewegungen viele Länder erfasste. Zum anderen die 1990er Jahre, als das Ende der bipolaren Weltordnung dem UNMultilateralismus eine Hochkonjunktur bescherte. Zuerst hatten sich die UN-Organe auf die rechtliche Gleichstellung von Frauen im Ehe- und Familienrecht sowie in Bildung und Politik konzentriert, denn 1945 hatten Frauen in nur 30 der 51 Gründungsstaaten Wahlrecht. Darauf folgte die Einsicht, dass Gesetze und geschriebenes Recht allein die Lebenschancen von Frauen nicht grundlegend verändern. Deshalb sollte proaktive »Frauenförderung« deren Lebenslagen verbessern. Dabei wurden sie oft instrumentell in Bezug zu Entwicklung und Ökonomie gesetzt. Fanden Frauen in den UNDokumenten zunächst bevorzugt in den Kapiteln zu Armut als Verletzliche und Opfer Erwähnung, so wurden sie nun zunehmend zu Retterinnen aus der Not stilisiert. Die Anti-Diskriminierungskonvention (CEDAW) von 1979 ist von herausragender Bedeutung, weil sie das einzige völkerrechtlich verbindliche Dokument zu Geschlechtergleichheit ist. Sie trug zur Internationalisierung der Gleichstellungsidee bei. Inzwischen haben 189 Staaten CEDAW ratifiziert, Ausnahmen sind etwa Sudan und USA. Mit CEDAW als menschenrechtlichem Referenzrahmen legitimierte die UNO Frauenrechtsbewegungen und nationale Gleichtt

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stellungspolitiken. Die Konvention enthält ein Diskriminierungsverbot und ein Gleichbehandlungsgebot, um die Staaten zu einer Dreifachaufgabe zu verpflichten: Frauenrechte zu respektieren, zu schützen und aktiv einzulösen. Das schließt den politischen Willen ein, strukturelle Diskriminierung zu beseitigen. Für neuformulierte Verfassungen wie die kolumbianische von 1991 oder die südafrikanische von 1996 war CEDAW eine Leitlinie. Derzeit ist die CEDAWGruppe in Kambodscha eine der wenigen Organisationen, die Handlungsspielräume im dortigen äußerst repressiven Regime hat. Die Unterzeichnerstaaten haben Berichtspflicht gegenüber der CEDAW-Kommission. Zusätzlich können zivilgesellschaftliche Organisationen einen regierungskritischen Schattenbericht einreichen. Bei Umsetzungsdefiziten fordert die Kommission Korrekturen. Echte Sanktionen gibt es nicht. Das verweist auf das grundsätzliche Problem der mangelhaften Verbindlichkeit von UN-Normsetzungen und deren nationalstaatlichen Umsetzungen.

Von den goldenen 1990er Jahren ... In den 1990er Jahren ging nach der Implosion des Ostblocks ein Ruck durch den Tanker UN. Rio de Janeiro 1992, Wien 1993, Kairo 1994, Peking 1995: Das sind Chiffren für einen Marathon von UNKonferenzen zu globalen Themen von Umwelt bis Geschlechtergleichheit, mit denen die UN sich als normsetzende Instanz in diesen Themenbereichen etablieren wollten. Internationale Frauen­ netzwerke sahen die Konferenzserie als Chance, Unterstützung für ihre Ziele zu bekommen und mithilfe der UN die Umsetzung von Frauenrechten zu befeuern. Insbesondere die Revitalisierung des Menschenrechtsdiskurses brachte frischen Wind in die UNDebatten. Eine entscheidende emanzipatorische Erweiterung erreichten Frauenbewegungen, indem sie auf Körper, Sexualität und die Privatsphäre als Orte von Menschenrechtsverletzungen fokussierten. Die Integration von Frauenrechten in das Menschenrechtsparadigma sollte die universelle Geltung von Frauenrechten bestärken und die Kluft zwischen Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit verkleinern. Die Realisierung von Frauen­ rechten galt nun weltweit als verbindliche Herausforderung. Gender Mainstreaming wurde als sozialtechnokratische Strategie propagiert, um Gender als soziale Ungleichheitskategorie in allen Politik- und Themenfeldern zu verankern. Voller Zuversicht wurde Gleichstellung als kontinuierlicher Prozess gedacht, der im Gleichtakt mit Modernisierung und wirtschaftlicher Entwicklung erfolgt. Die sogenannte Global Women’s Lobby, die Elite der konferenzkompetent mitmischenden transnationalen Frauennetzwerke, hoffte darauf, dass Normsetzung auf der internationalen Ebene wiederum Druck auf die Staaten ausübt. Es gelang bei diesen Konfe­renzen, geschlechterpolitische Blindstellen der UN-Agenda zu beseitigen und sich als handlungsfähiges Subjekt in der multilateralen Politik tt

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UNO zu beweisen. Bei der Umwelt- und Entwicklungskonferenz 1992 wurden Frauenorganisationen als sachkompetente und relevante gesellschaftliche Gruppe anerkannt. Bei der Menschenrechtskonferenz 1993 gelang es, erstmalig die verschiedenen Formen von Gewalt gegen Frauen auf der UN-Ebene auszuleuchten. Bei der Weltbevölkerungskonferenz 1994 wurde das Konzept sexueller und reproduktiver Rechte verabschiedet. Der Aktionsplan der Weltfrauen­ konferenz 1995 formulierte einen Katechismus für Gleichstellungspolitik und wurde ein Meilenstein für Frauen-Empowerment im internationalen Maßstab.

... zur Erosion des Multilateralismus

einer Dekolonisierungsperspektive hinterfragt. Sie kritisieren das Menschenrechtskonzept und die Frauenrechtskonvention als ein aus der westlichen Aufklärung stammendes eurozentristisches Konstrukt mit einem Fokus auf individuellen Rechten. Der Universalitätsanspruch würde hegemoniale Machtansprüche des Westens wie auch globale Ungleichheiten verschleiern. Solidarisierung auf Augenhöhe sei nicht möglich, weil sich der westliche »imperiale« Feminismus als normsetzend durchsetzen würde.

Mehr Papier und weniger Einfluss

tt In der Logik der UNO mit ihrem Anspruch auf internationale Diese Fortschritte wurden gegen den Widerstand konservativer Regelungskompetenz und unter ständigem Anpassungsdruck sollen immer spezifischere Dokumente von Sonderorganisationen die Staaten erzielt, vor allem gegen eine »unheilige Allianz« zwischen Gleichstellungsdefizite beseitigen helfen. Dabei ist die triparitätische dem Vatikan, den die UN als Staat anerkennen, und islamischen internationale Arbeitsorganisation ILO (mit ihrer Zusammenarbeit Staaten. Diese Allianz richtete sich zuerst gegen sexuelle und reproduktive Rechte und gegen das vermeintlich »unnatürliche« von Politik, Unternehmen und Gewerkschaften) wegweisend. Das Gender-Konzept. Dieser Widerstand verstärkte sich in der Folgezeit gilt sowohl in Bezug auf Interaktion mit zivilgesellschaftlichen sowohl in den Zivilgesellschaften als auch unter den Staaten – und Organisationen als auch inhaltlich: Beispiele sind die ILO-Konvention 100 von 1951 zur gleichen Entlohnung von Männer- und das heißt: aus den UN selbst heraus. Der Backlash, von dem heute die Rede ist, ist keine plötzliche politische Kehrtwende, sondern das Frauenarbeit wie auch die neuen Konventionen 189 zu HausangeErstarken altgedienter Gegenpositionen, während gleichzeitig der stellten und 190 zu sexueller Gewalt am Arbeitsplatz. Zumindest haben diese Normsetzungen und Regelsysteme Erosionsprozess des UN-Multilateralismus einsetzte. So haben die USA CEDAW niemals ratifiziert, weil die Republikaner bereits in den öffentliche Aufmerksamkeit für Probleme und für die Notwendigkeit 1980er Jahren der Meinung waren, dass die eigene Verfassung politischer Lösungen erzeugt. Die politische Verbindlichkeit wächst multilateralem Recht überlegen sei und emanzipatorische Rechte damit jedoch nicht, da die Ratifizierung freiwillig ist. Jede Umsetzung setzt politischen Willen und Finanzmittel voraus. Sowohl die Millen­ die göttliche oder natürliche Ordnung der Familie zerstörten. Heute sind die Vierteljahrhundert-Jubiläen Rio+25, Kairo+25, nium Development Goals (MDG) als auch die Sustainable DevePeking+25 vor allem Chiffren für den Bedeutungsverlust des UNlopment Goals (SDG), die beide gleichstellungsbezogene Ziele Multilateralismus. Der Universalitätsanspruch enthalten, eröffneten Finanzierungsder Menschenrechte wird aus verschiedenen möglichkeiten für Maßnahmen von Regierungen und zivilgesellschaftlichen Richtungen kritisiert. Konservative RegierunHinter der Institutionalisierung gen melden kulturrelativistisch Vorbehalte an, Organisationen. Aber es besteht das von Frauenthemen steckt eine weil die postulierten Frauenrechte der Kultur, Risiko des Versandens von Zielen in Kampfgeschichte Religion oder den Traditionen eines Landes einer bürokratischen Endlosschleife. widersprächen. Das Argument kultureller SouDie Impulse für Frauenrechte, die von veränität wird in Sachen Geschlechtergleichden UN ausgegangen sind, haben neue heit auffallend häufig bemüht. Es wurde durch rechtspopulistische Möglichkeitsräume eröffnet. Doch keiner davon war ein Selbstläuund nationalistische Kräfte noch verstärkt. Damit stellt sich die fer. Zuletzt sind die Widersprüche innerhalb des Multilateralismus, Frage, ob das Paradigma »Frauenrechte sind Menschenrechte – aber auch in den Geschlechterbewegungen größer geworden. Menschenrechte sind Frauenrechte« zur Disposition steht. Zwar finden sich heute mehr Frauen in führenden UNO-Positionen, Dafür wurde beim UN-»Bevölkerungsgipfel«, der im November aber die UN-Generalsekretär*in lässt noch auf sich warten. 2019 in Nairobi 25 Jahre nach der Weltbevölkerungskonferenz von Das Coronavirus torpedierte Anfang März 2020 die Peking+25 Treffen in New York. Die UNO zeigt sich wenig geneigt, einen Kairo stattfand, ein Exempel statuiert. Vorab meldeten elf Regierungen von den USA über Uganda bis Polen Vorbehalte an: Sie lehnen neuen Termin anzusetzen und die beiden für 2020 in Paris und das in Kairo beschlossene Konzept sexueller und reproduktiver Mexiko geplanten Gender Equality Foren abzuhalten. In einer Rechte ab, weil es Abtreibung, Sexualaufklärung für Kinder und »feministischen Erklärung« erinnert der Women’s Rights Caucus LGBTIQ befürworte. Aus der Sicht dieser Regierungen zerstört das die UN und Regierungen daran, dass »der Aktionsplan von Peking die patriarchale Familie als ordnungspolitische Keimzelle der Gesellunseren Bewegungen gehört.«1 Auf der multilateralen Ebene steckt schaft. Ultrakonservative Regierungen und der Vatikan kamen erst Geschlechtergleichheit in einer Sackgasse. Befreiungsschläge sind gar nicht nach Nairobi. Nach der Konferenz kündigte Brasiliens derzeit weniger von den UN als von lokalen Kämpfen um DemoRegierungschef Jair Bolsonaro den »Konsens« von Kairo auf, so wie kratie und Emanzipation zu erwarten. Trump das Klimaschutzabkommen aufgekündigt hat. Ein Ausstieg Anmerkung aus dem Multilateralismus wegen der Ablehnung von Frauenrechten wird auch bezüglich der Beschlüsse der Peking-Konferenz befürch 1 https://bit.ly/3a8KMlj tet. Es könnte so dazu kommen, dass Multilateralismus auf gleichgesinnte Staaten und »Koalitionen der Willigen« enggeführt wird. Gleichzeitig wird das Menschenrechtsparadigma als normative tt Christa Wichterich ist feministische Soziologin und Grundlage von Geschlechterpolitik auch von Feminist*innen aus ­freiberufliche Publizistin. tt

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»Nostalgie ist Bequemlichkeit« Interview mit Marko Dinić über die postjugoslawische Generation In seinem Roman »Die guten Tage« erzählt Marko Dinić (32) von einem wütenden jungen Mann, der per Bus im sogenannten »Gastarbeiterexpress« von Wien in seine Geburtsstadt Belgrad fährt. Er will der Beerdigung seiner geliebten Großmutter beiwohnen. Während der Fahrt erzählt er, inspiriert von den Mitreisenden, im inneren Monolog und im Gespräch von Belgrad, toxischer Männlichkeit, Kriegsverherrlichung und einer traumatisierten jungen Generation, welcher wenig mehr als die Wut auf ihre Eltern-Generation und die Verhältnisse bleibt. Wie sein Ich-Erzähler ist Dinić in Belgrad aufgewachsen und lebt heute in Wien. »Die guten Tage« ist sein erster Roman. Die iz3w sprach mit ihm über sein Buch, die aktuelle Situation in Serbien und das alte Problem der Nostalgie.

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sich auch im Politischen widerspiegeln. Es gibt in Belgrad etwa nach wie vor keine U-Bahn. Die Kanalisation wurde seit den 1970erJahren nicht mehr erneuert und so weiter. Es gibt viele strukturelle und Infrastruktur-Probleme, die die Bewohner*innen direkt im Alltag betreffen.

Du nennst Belgrad deinen liebsten Ort auf der Welt, wohnst allerdings in Wien. Was müsste passieren, damit du nach Belgrad zurückgehst? tt Puh. Ich will nicht sagen, dass die Leute, die dort leben, auch gerade die jungen Leute, die dort leben und kämpfen, für mich jetzt das Feld bestellen müssten, damit ich wieder zurückkehre. Ich sehe mein Schreiben ebenfalls als Beitrag zu dem Kampf um Verbesserungen. Damit bestelle ich auch selbst das Feld für eine Verbesserung und Rückkehr. Es muss sich viel ändern, zum Beispiel, dass auch jungen Leuten Gestaltungsraum zugestanden wird, iz3w : Du sagst über den Ich-Erzähler deines Romans, dass du ihn abseits der etablierten und sehr problematischen Politiklandschaft. problematisch findest. Warum entwirft man eine Hauptfigur, die man Institutionen und Rechtssicherheit müssten gestärkt werden. Akproblematisch findet? tuell werden die Leute mit ihren ProMarko Dinić: Weil ich Menschen in ihblemen alleine gelassen. Es gibt eine ren Ambivalenzen beschreiben möchte Solidarität der Bevölkerung unterei»Eine in der serbischen Gesellschaft und mit ihren Abgründen. Gerade wenn nander, aber es gibt keine Solidarität lange verschwiegene Wahrheit ist die es um Themen wie die jugoslawischen des Staates mit seiner Bevölkerung. Sezessionskriege und den darauf folgenUnd das muss sich ändern, damit Belagerung Sarajevos« den Umgang damit geht, tun sich viele nicht nur ich, sondern auch die AnWidersprüche auf. Der Hauptprotagoderen, die jetzt weggehen, wieder nist sieht sich damit konfrontiert und es ist für ihn sehr schwierig, zurückkommen. Sie kommen erst wieder, wenn sie Gestaltungsraum diese Widersprüche aufzudröseln. Wenn man im Schreibprozess bekommen und wenn sie sich frei bewegen können, auch mit ist, verfolgen die einzelnen Protagonisten zudem ihre eigene Logik. ihrer Kritik an den serbischen Verhältnissen. Die ist nicht unproblematisch, weil alle diese Menschen voller Widersprüche und Vorurteile sind. Wenn ich idealisiert schreiben Nostalgie ist ein großes Thema im Roman. Im ex-jugoslawischen Raum gibt es häufig eine große Tito-Nostalgie. Ist das auch für Serbien der würde, würde das dem Thema nicht gerecht. Fall oder ist es dort eher eine nationalistische Nostalgie? Im Roman spielt die Stadt Belgrad eine große Rolle. Sie kommt schlecht tt Ich verstehe Nostalgie als eine Bequemlichkeit. Als eine Bequemweg und ist ein heruntergekommener, vom Nationalismus geschändelichkeit, in die sich viele im ehemaligen Jugoslawien flüchten, ter Ort. Als Tourist*in hat man einen ganz anderen Eindruck von Belgrad: gerade auch die ältere Generation mit ihren Tito-Jahren. Aber die Die Stadt erscheint als spannende Metropole, mittlerweile ist sie ein Tito-Jahre haben mit meiner und der nachfolgenden Generation, beliebtes Ziel für Partytourismus. Wie passen die zwei Bilder zusammen? die während der Milošević -Jahre in den Neunzigern aufgewachsen tt Mein Protagonist bekommt diese Partymetropole gar nicht mit. ist, wenig zu tun. Nach meinem Erachten ist das weniger eine Er sagt von sich selbst, dass er kein Kind Serbiens ist, nicht mal ein nationalistische Nostalgie, sondern eher ein Beschwören guter alter Zeiten. Mit der Lebensrealität der Leute heute hat das nichts Kind Belgrads, sondern ein Kind seines Viertels. Das Viertel, in dem er aufwächst, ist eines der sozial schwächeren Viertel Belgrads. zu tun. Es ist sogar gefährlich, weil es keinen Raum für neue, alterJugendliche, die dort aufwachsen, haben oft mit dem, was im native Gedanken bietet. Das heißt nicht, dass es nicht Menschen Zentrum passiert, wenig zu tun. Das Belgrad-Bild vom Roman passt geben würde, die sich diese Räume erobern. Gerade in Belgrad nicht mit dem Tourismus-Bild des heutigen Belgrad zusammen. gibt es eine große alternative Szene. Aber sobald man Belgrad Das soll es auch nicht, weil hier eine auf den Protagonisten zugeverlässt, wird es schnell karg. schnittene, verengte Sichtweise erzählt wird. Dein Buch ist auch ein Beitrag zur Aufarbeitung der Jugoslawienkriege, In Bezug auf das heutige Belgrad tun sich da große Widersprüche auf. Belgrad ist einerseits eine blühende junge Metropole, die die deiner Meinung nach in Serbien jetzt gerade beginnt. Woran würdest du das festmachen und wie ordnest du dein Buch in diesen aber andererseits sehr strukturschwach ist. Vieles davon soll durch Prozess ein? dieses exzessive – auch für Tourist*innen offene – Partymachen kaschiert werden. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es tt Das mache ich allein schon an Gesprächen mit Leuten fest. Nicht nur in Serbien sondern in der ganzen Region. Wissenschaftler*­ in Serbien und auch in Belgrad noch sehr viele Probleme gibt, die iz3w • Mai / Juni 2020 q 378


Literatur

Und die Aufarbeitung fängt jetzt gerade erst an? t Absolut. Es sind 20 Jahre seit dem Bombardement Serbiens vergangen, 25 Jahre seit Ende des Bosnienkrieges. Wir fangen gerade erst an und tragen die ersten Schichten ab. Das trägt sogar schon Früchte. Etwa in Serbien ist Aufarbeitung schwierig, weil auch von offizieller Seite das Narrativ der Mythisierung gefahren wird, hier ist es das Narrativ des ewigen Opfertums. Der Prozess der Aufarbeitung wird lange dauern. Vielleicht werde ich es nicht erleben, wie sich zukünftige Generationen sehr viel freier aufeinander zu bewegen können. Viel freier als wir heute, die das doch mit sehr viel Vorbehalten, Scham und Vorsicht tun. Marko Dinić | Foto: Mark Prohaska

innen oder Literat*innen fangen langsam an, sich der wirklich happigen Themen anzunehmen. Der Themen, die bisher No-goAreas sind, weil sie von den nationalistischen Narrativen besetzt sind. Langsam fangen die Leute an, diese Themen aufzugreifen und einen objektiveren Zugang zu wählen. Letzteres ist in meinem Roman anders, weil es Literatur ist und damit subjektiv. Ich verstehe meine Literatur und eigentlich jede Literatur, die sich mit historischer Aufarbeitung beschäftigt, egal ob in Serbien, Deutschland oder Österreich, als die Schau einer offenen Wunde. Als einen Weg dorthin, wo es eben weh tut. Was ist ein Beispiel für diese tabuisierten Themen? tt Ganz grundsätzlich die Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Jede Nation oder Ethnie hat ihre eigene Geschichtsschreibung und vor allem ihre Mythisierung der eigenen Opfer. An diesen Opfern darf man nicht rühren. Aber es gibt auch jenseits dieser beschränkten Erzählung eine Wahrheit der Opfer und der Opferzahlen und des Krieges. Eine in der serbischen Gesellschaft lange verschwiegene Wahrheit ist etwa die Belagerung Sarajevos. Sie war über eine lange Zeit überhaupt nicht im Gedächtnis der Menschen in Serbien verankert. Es werden jetzt viele solcher Themen freigelegt, die unter dem Geröll begraben waren.

Auf deinen Lesungen kritisierst du immer wieder die Balkan-Politik der Europäischen Union. Was würdest du dir von der EU und von den Menschen in der EU wünschen im Hinblick auf die Balkanländer? tt Wenn man sich die Beziehungen zu jenen Ländern, die zu Europa, aber nicht zur EU gehören, anschaut, dann wünsche ich mir eine realistischere Selbsteinschätzung: Auch in der EU ist nicht alles perfekt, sie braucht dringend Reformen. Und sie hat auch eine Kolonialvergangenheit, auch auf dem Balkan, das wird gerne vergessen. Ich würde mir wünschen, dass man eine wirkliche Werteunion und eine kulturelle Union aufbaut, ansttat dass man das Ganze auf dem ewigen Mantra des Ökonomischen beruhen lässt. Weg mit dieser Idee, dass nur der Handel uns vor Krieg retten kann. Man sollte den Menschen in den anderen Ländern wirklich zuhören, anstatt Kulturalisierung zu betreiben. So hätte man während der Wirtschaftskrise ab 2008 Menschen anstatt Banken retten können; da hatte man zudem diesen Diskurs von den faulen Pleitegriechen. Das zeugt von einer Arroganz, die mir zuwider ist. Die schlägt natürlich gerade strukturschwachen Ländern entgegen – und muss sich dringend ändern. Marko Dinić: Die guten Tage. Zsolany Verlag, Wien 2019. 240 Seiten, 22 Euro. tt

tt

Das Interview führte Larissa Schober (iz3w).

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ISSN 1614-0095


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