iz3w Magazin # 379

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Rechte Gewalt – Faschismus tötet überall

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Corona in Simbabwe t Interview mit Sea-Watch t Afrokuba im Roman

Juli/Aug. 2020 Ausgabe q 379 Einzelheft 6 6,– Abo 6 36,–


In dies er Aus gabe . . . . . . . . .

Titelbild: Gedenkdemonstration für die Opfer des Mordanschlags in Hanau (Februar 2020) | Videostill: ZDF

Schwerpunkt: Rechte Gewalt 3 Editorial

16 Editorial 17

Politik und Ökonomie 4

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Corona I: Krisen haben ein Geschlecht Eine feministische Perspektive auf die Pandemie im Libanon von Dagmar Ihlau und Hannah Riede

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Corona II: Die intensivierte Repression

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Corona III: Chinas Tschernobyl…

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»Victory or Violence« Südafrika als militärischer Kampfort und rassistische Projektionsfläche von Andreas Bohne

Seenotrettung: »Menschen sind trotz Corona unterwegs und in Lebensgefahr«

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Einigkeit und Recht und Ordnung Russische Rechte sind fraktionsübergreifend gewalttätig von Ute Weinmann

Interview mit Lena V. über Sea-Watch

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»Rettet das weiße Südafrika« Wie die BRD zur Gewalt des Apartheid-Regimes beitrug von Gottfried Wellmer

… oder Eintritt ins Asiatische Jahrhundert? von Uwe Hoering

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»Wir sind das Volk« Die Konjunkturen Rechter G ­ ewalt in Deutschland von Thorsten Mense

Die Corona-Krise im Post-Konfliktland Simbabwe von Rita Schäfer

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Liebe zur Gewalt Warum Faschismus und Terror unzertrennlich sind von Mathias Wörsching

Sudan: »We have hope« Die Demokratiebewegung zwischen Fortschritt und Frust von Mario Wolf

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Rohstoffe: Ausgepresst

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Töten im Namen des Türkentums Türkische Rechte morden um den Staat zu schützen

von Jan Keetman Leben für Hindutva Der indische Hindu-Nationalismus als Gewaltprojekt von Jürgen Weber und Christa Wichterich

Fracking in Argentinien zeigt die Schattenseite des Ressourcenbooms von Sören Scholvin

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Mörderische Anti-Weiblichkeit Warum ist – nicht nur rechte – Gewalt immer Männergewalt? von Klaus Theweleit

Kultur und Debatte 37

Postkolonialismus: Tod in Ndola Wurde UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld ermordet? von Henning Melber

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Literatur: Schwarzer Rassismus und viel Gewalt Zum Roman »Die Kathedrale der Schwarzen« von Marcial Gala von Ute Evers

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La Réunion: »Die Bevölkerung sollte in Armut gehalten werden« Interview mit Françoise Vergès über »Le ventre des femmes«

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Antifaschismus: Flucht nach Manila Die Philippinen nahmen während des NS verfolgte Juden auf von Rainer Werning

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47 Rezensionen 50 Szene / Impressum


Editorial

»Ich kann nicht atmen« George Floyd starb am 25. Mai 2020 in Minneapolis, ­erdrosselt von einem Polizisten. Er wurde 46 Jahre alt. Es ist eine grausame Tatsache, dass George Floyd nicht der erste Afroamerikaner war, der in den letzten Jahren in den USA tödlicher Polizeigewalt zum Opfer fiel. Er ist auch nicht der erste, dessen grausamer Tod auf Video festge­ halten wurde. Doch etwas scheint diesmal anders zu sein. Die Proteste unter dem Schlagwort »Black Lives Matter« ent­falteten eine ungeahnte Wucht. Vielleicht hat sich zu lange nichts geändert. Die Black Lives Matter-Bewegung entstand 2013 als Reaktion auf den Freispruch George Zimmermans, der den schwarzen Teenager Trayvon Martin erschossen hatte. Seitdem wurden immer wieder Schwarze Menschen von der Polizei getötet. Zuletzt starben Breonna Taylor im März dieses Jahres und Sean Reed im Mai. Beide Fälle erhielten zu Hochzeiten der Corona-Pandemie wenig Aufmerksamkeit. Nach George Floyds Tod wurden sie aber sofort aufgegriffen. Seit 2017 ist mit Donald Trump ein Präsident im Amt, der nicht einmal mehr leere Beileidsfloskeln ausspricht, sondern Öl ins Feuer gießt und die Proteste diskreditiert. Und dies nun mitten in der Corona-Krise, von der Afroameri­ ka­ner*innen überdurchschnittlich betroffen sind. Das Risiko an Corona zu sterben ist in Chicago für S­ chwarze sieben Mal höher als für Weiße. Die strukturelle Diskri­minierung ist derzeit besonders offensichtlich. Das alles hat zu einem Ausbruch der Wut geführt. Vielleicht stellt George Floyds Tod einen Wendepunkt dar: Die aktuellen Proteste sind demographisch diverser geworden. Zudem fanden von Pendleton, Oregon, bis Bar Harbour, Maine, Black Lives Matter-Proteste auch in kleineren Städten statt. Es scheint, dass Rassismus tatsächlich als gesamtgesellschaftliches Problem begriffen wird.

Gleichzeitig bekamen die Proteste weltweit Anknüp-

fungspunkte: In Paris war es der Fall Adama Traoré, in Mexiko-Stadt die anhaltende Polizeigewalt, in London die rassis­tischen Polizeikontrollen während des Corona-Lockdowns, in Sydney die fast 400 Aborigines, die seit 1991 in Polizeigewahrsam starben. Zehntausende Menschen gedachten George Floyds und klagten gleichzeitig die rassistischen Zustände in ihren Ländern an. Das ging bis zum Abriss von Kolonialismus-verherrlichenden Statuen wie im britischen Bristol. Auch in Deutschland gingen im ­Juni zehntausende Menschen gegen Rassismus auf die Straße. Zumindest für einen Moment erzwangen sie Gehör für die Rassismuserfahrungen

der People of Color in Deutschland. Erst der Umweg über die USA ermöglichte den Aufschrei gegen Rassismus. Zuvor brachte der rassistische Terroranschlag von Hanau deutlich weniger Menschen auf die Straße. In den USA sind die Proteste ein Aufstand gegen Trumps Amerika, und das zu Recht. Im deutschen Kontext könnte ein gewisser Antiamerikanismus mitschwingen. Und mit dem Finger auf andere zu zeigen ist immer einfacher. Die derzeit variiert vorgetragene Erzählung, dass »so etwas« in Deutschland nicht möglich sei, ist ein Märchen. Die Polizei ist hier anders strukturiert, aber nicht weniger rassistisch. Wer von George Floyd spricht, darf in Deutschland von Oury Jalloh nicht schweigen. Der Asylbewerber aus Sierra Leone verbrannte vor 15 Jahren in einer Polizeizelle in Dessau (siehe zuletzt iz3w 376), eine wirkliche Aufklärung des Falls wird bis heute behindert. Gerade wurde ein rechtsextremes Netzwerk innerhalb der hessischen Polizei aufgedeckt, außerdem flogen bewaffnete rechte Preppergruppen auf, in denen Beamte verschiedener Sicherheitsbehörden aktiv waren.

Auch jenseits von rassistischer Polizeigewalt bleibt

Rassismus ein massives deutsches Problem. Auf einer Mahnwache in Gedenken an Georg Floyd in Freiburg fragte ein Redner: »Wo sollen wir anfangen, wenn wir heute über Rassismus sprechen?« und schlug einen Bogen von George Floyd über Oury Jalloh, Alltagsdiskriminierung, Racial ­Profiling und die mangelnde Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte hin zu dem eigenen, oft unbewussten Rassismus der anwesenden Weißen, der viel zu wenig thematisiert wird. Beim »Offenen Mikrofon« berichteten einige Schwarze Mitbürger*innen, wie ihnen alltäglich die Luft zum Atmen abgeschnürt wird. Ja, wo sollen wir anfangen? Rassismus hat in Deutschland andere Ausgangsbedingungen als in den USA, das macht ihn nicht minder gefährlich. Noch immer sind PoC hierzulande benachteiligt. Noch immer sterben Menschen an den europäischen Außengrenzen. Noch immer werden nichtweiße Menschen exotisiert. Noch immer gilt Kolonialismus als ein Problem anderer Länder. Noch immer wird Asylsuchenden aus fadenscheinigen Gründen Schutz verwehrt und sie werden brutal abgeschoben. Noch immer gibt es keine wirkliche Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama. Noch immer ist das deutsche Parlament, das deutsche Fernsehen, die Vorstellung der idealen Nachbarn: weiß. Noch immer tötet Rassismus. Auch und gerade in Deutschland. die redaktion

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Co r o n a

Krisen haben ein Geschlecht Eine feministische Perspektive auf die Pandemie im Libanon

Corona ist nur eine Krise neben anderen im Libanon. Wirtschaftskollaps, Bankenkrise und die humanitäre Krise der Geflüchteten vor allem aus Syrien verschränken sich mit der Pandemie zu einer verheerenden Gesamtsituation. Für Frauen sind die Folgen besonders einschneidend, denn Krisen sind nie geschlechtsneutral. Ein feministischer Blick auf die Pandemie ist daher (nicht nur) im Libanon nötig.

von Dagmar Ihlau und Hannah Riede

Im Libanon verschärft die Pandemie eine bereits desolate Situa­tion. Das Land erlebt seit Jahren eine katastrophale Wirtschafts- und Finanzkrise. Die seit letztem Herbst anhaltenden Proteste gegen Korruption, Misswirtschaft und soziale Ungerechtigkeit wurden durch die Corona-Epidemie jäh unterbrochen. Das Land ist pleite, die Inflation rast, die Arbeitslosigkeit ist hoch und das Gesundheitssystem marode.

In isolierten Lagern

tt Wie sehr sich durch die Pandemie die Lage für jene Gruppen Lange hieß es, Covid-19 diskriminiere nicht. Was dabei meist zuspitzt, die ohnehin von Diskriminierungen betroffen sind, zeigt unerwähnt blieb: Es sind die bereits vorhandenen Ungleichheitsverauch der Blick auf Geflüchtete. Im Libanon, einem Staat mit knapp hältnisse, die diskriminieren und auf die die Corona-Krise wie ein 4,5 Millionen Einwohner*innen, haben schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen Schutz vor dem Krieg in Syrien gesucht, davon Katalysator wirkt. Die Folgen der Pandemie lassen sich deshalb nur realistisch erschließen, wenn man sie im Kontext verschränkter 70 Prozent Frauen und Kinder. Der Libanon hat dabei das AbkomUngleichheiten etwa entlang von Geschlecht, Klasse oder Einwanmen von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge nicht ratiderungsstatus betrachtet. fiziert. Auch gibt es keine nationale Gesetzgebung, die sich eindeutig mit Geflüchteten befasst. Die Weigerung der Regierung, Frauen sind in Krisen einem höheren Risiko kultureller, sozialer legale Aufenthaltstitel und Arbeitserlaubnisse zu gewähren, hat und ökonomischer Benachteiligung ausgesetzt. So steigt etwa die Gefahr für Frauen, geschlechtsspezifische Gewalt zu erleben, in zur Folge, dass Frauen ohne legalen Status einem hohen Risiko Krisenzeiten erheblich an. In der Corona-Krise kommt erschwerend sexueller Ausbeutung ausgesetzt sind – etwa durch Vermieter*innen, die soziale Isolation hinzu: Weltweit wird als Folge des Shutdown Arbeitgeber*innen oder Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen. ein Anstieg häuslicher Gewalt gemeldet. Frauen sind zudem besonAuf Drängen der libanesischen Regierung ist es dem Flüchtders häufig von den sozialen und ökonomischen Folgen betroffen, lingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) zudem seit 2015 untersagt, neu ankommende Geflüchtete zu registrieren. Dadurch da sie meist die unbezahlte Care-Arbeit leisten, überproportional oft im informellen Sektor angestellt sind und entsprechend eher werden viele Geflüchtete illegalisiert und leben in unzähligen inihre Arbeit verlieren. Und sie sind gerade in jenen (meist unterbeformellen Siedlungen in der ohnehin strukturschwachen Bekaazahlten) Berufen tätig, die in der Pandemie ein Ebene. Hier haben es Hilfsorga­ni­ besonders hohes Infektionsrisiko bergen: im sationen schwer, flächendeckend Krankenhaus, in der Altenpflege und in Erziehumanitäre Hilfe anzubieten. NGOs, Im Libanon gibt es kein Gesetz, hungsberufen. Im Libanon beispielsweise sind die Hygieneartikel und medizinische das geschlechtsspezifische 79,5 Prozent der Krankenpfleger*innen weiblich. Ausrüstung verteilen wollen, brauGewalt ausdrücklich verbietet In der politischen Reaktion auf das Virus zeigt chen derzeit aufgrund der Coronasich zudem ein Muster, das bereits aus anderen Krise Genehmigungen der örtlichen Polizei. Krisenkontexten bekannt ist: Obwohl Frauen in vorderster Reihe an der Krisenbewältigung und Prävention der Die informellen Geflüchteten-Camps sind räumlich, sozial und Pandemie beteiligt sind, werden sie weder als Expertinnen wahrgeökonomisch isoliert, was Probleme für alle Bewohner*innen mit nommen, noch sind sie in ausreichender Zahl an der politischen sich bringt. Studien zeigen aber, dass Frauen zusätzlich dazu in diesen kriegsbedingten Flüchtlingslagern Gefahr laufen, geEntscheidungsfindung beteiligt. Dies führt dazu, dass die Maßnahmen zur Krisenbewältigung große Blindstellen aufweisen, wenn es schlechtsbasierte Gewalt zu erfahren. Das hat viele Gründe: Männlich dominierte Machtstrukturen, fehlende Schutz- und Rückzugsum die spezifischen Probleme von Frauen geht. So auch im Libanon. Abir Chbaro, Expertin für Genderpolitik im räume, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Existenzängste und Nationalen Frauenkomitee des Libanon, kritisiert genau dies mit Blick konfliktbedingte Traumata. Dazu erschwert es der unzureichende auf den Notfallplan der libanesischen Regierung: Zwar wurden sehr Zugang zu Polizei und Rechtsberatung, Übergriffe anzeigen. Frauenrechtsorganisationen suchen Mittel und Wege gegen früh strikte Ausgangssperren verhängt. Frauenorganisationen kritisieren jedoch, dass die Regierung es verpasst habe, Geschlechtergedie Isolation der Lager, welche in Corona-Zeiten noch verstärkt rechtigkeit in der Pandemie-Bewältigung zu berücksichtigen: »Diewird: Über »Focal Points« in den informellen Siedlungen holt ein ser Aktionsplan ist nicht nur geschlechterblind, er enthält auch keine Netzwerk von Organisationen Informationen ein, um von betrofAntwort auf die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der fenen Frauen in den ansonsten isolierten Lagern zu erfahren, Krise, insbesondere für die am stärksten Gefährdeten«, so Chbaro. welche Unterstützung sie benötigen – notfalls via WhatsApp. tt

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Infomelle Siedlung in der libanesischen Bekaa-Ebene | Foto: Christina Brun

I­nformationsveranstaltungen zu Prävention und Behandlung von Covid-19 werden nun auf virtuellen Plattformen angeboten.

Pandemie und Schattenpandemie Schon vor der Corona-Pandemie war die Lage auch für Frauen mit libanesischer Staatsbürgerschaft oft prekär. Zwar hat der Libanon eine Reihe nationaler Gesetze und internationaler Verträge für Frauenrechte ratifiziert, doch es gibt noch immer kein Gesetz, das geschlechtsspezifische Gewalt ausdrücklich verbietet. Die ­schlechte wirtschaftliche Situation sowie Stress und Frustration in der Bevölkerung haben konfessionsübergreifend dazu beigetragen, dass Gewalt gegen Frauen stetig zunahm. Schon vor der Corona-Krise betrieben verschiedene Frauenrechtsorganisationen Notfall-Telefone, Schutzhäuser oder stellten psychosoziale und rechtliche Beratungsangebote für Frauen zur Verfügung. Aufgrund der erwähnten »Geschlechterblindheit« des staatlichen Maßnahmenkataloges gegen Covid-19 sind es nun auch vor allem Frauenrechts-NGOs, die für den Schutz von Frauen während der Corona-Pandemie agieren. Sie bieten ihre Beratungen mittlerweile über Telefon, Video und die Sozialen Medien an. Die Partnerinnen der Frauenrechts-NGO AMICA verzeichnen im März doppelt so viele Anrufe über ihre Hilfe-Hotline als im Vormonat. Allein für den April berichten sie von sechs getöteten Frauen. Die Dunkelziffer der von UN Women als globale »Schattenpandemie« bezeichneten häuslichen Gewalt wird noch deutlich höher geschätzt. Denn in Isolation – häufig gemeinsam mit dem Täter – ist es für viele Frauen unmöglich, die Hilfs­ organisationen anzurufen. »Seit März haben wir einen deutlichen Anstieg der Kontakt­ aufnahme von Frauen über die Sozialen Medien bemerkt. Es scheint der einfachere Zugang für Frauen während der Ausgangssperre tt

zu sein.« berichtet eine libanesische Frauenrechts-NGO. So erklärt sich auch, dass sie von syrischen Frauen weniger Anrufe erhalten als sonst. »Das bedeutet nicht, dass die Gewalt gegen Frauen abnimmt. Vielmehr ist es ein Indikator für das zunehmende Level an Furcht, Einsamkeit und Isolation, das die Frauen aufgrund der strikten Ausgangsbeschränkungen in den Camps erleben. Sie können nicht einmal raus, um Geld abzuheben oder einkaufen zu gehen, geschweige denn, die Übergriffe zu melden oder anzu­ zeigen.« Der ohnehin begrenzte Raum für zivilgesellschaftliche Akteur*innen schrumpft in Zeiten von Corona. Auch die NGOs sind von den strikten Ausgangsbeschränkungen betroffen. Doch feministische Organisationen im Libanon setzen sich weiterhin für Frauen, Geflüchtete, LGBTQ*-Personen und Menschen mit Behinderung ein, trotz und gerade in der Corona-Krise. Sie sind mit Kampagnen zur Gesundheitsaufklärung aktiv und verteilen Flyer in Apotheken, Arztpraxen und den Camps. Sie fordern, dass alle Zugang zu Unterstützungsleistungen bei Gewalterfahrungen erhalten und dass das Polizeipersonal in der Lage sein muss, rund um die Uhr auf Fälle häuslicher Gewalt zu reagieren. »Zu Hause bleiben darf nicht soziale Distanzierung bedeuten«, heißt der Appell. Er richtet sich auch an die internationale Gemeinschaft, gerade jetzt Programme zum Schutz vor geschlechtsbasierter Gewalt zu unterstützen und an alle, globale Solidarität zu zeigen gegen die im Wortsinn virulenten Ungleichheiten.

Dagmar Ihlau und Hannah Riede sind Mitarbeiterinnen der Frauenrechtsorganisation AMICA, die in Krisen-und Kriegsregionen mit lokalen Frauenrechts-NGOs zusammenarbeitet. Für ihre Partnerinnen im Libanon, Libyen, der Ukraine und Bosnien-Herzegowina sucht AMICA Unterstützung unter: https://bit.ly/2ZIDJ0c tt

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Mitarbeiter der Stadt Bulawayo säubern die 5th Avenue, die bis vor Kurzem für Gemüse- und Obsthändler*innen vorgesehen war | Foto: KB Mpofu / ILO

Die intensivierte Repression Die Corona-Krise im Post-Konfliktland Simbabwe Vierzig Jahre nach der politischen Unabhängigkeit Simbabwes, die am 18. April 1980 nach einem anti-kolonialen Krieg besiegelt wurde, haben die Simbabwer*innen nichts zu feiern. Seit Ende März 2020 gilt der Ausnahmezustand, den staatliche Sicherheitskräfte brachial durchsetzen. Er verstärkt die massiven, jahrzehntealten Wirtschafts- und Infrastrukturprobleme des Landes.

Doch können die Simbabwer*innen nun aufatmen, weil die Gelder Verbesserungen für alle ermöglichen? Um die dortige Bewältigung der Corona-Pandemie zu erfassen, reicht keine Momentaufnahme. Vielmehr muss man einen Blick auf die etablierten Machtmuster und Gewaltverhältnisse in diesem autoritär regierten Staat werfen.

Recht auf Nahrung und Gesundheit Für die meisten Bürger*innen verstärkten die drohenden Covid19-Infektionen und die Versorgungsprobleme die strukturellen Schwierigkeiten bei der alltäglichen Existenzsicherung, die sie schon seit langem bedrängen. Denn bereits im November 2019 hatte die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Nahrung, Hilal Elver, gewarnt, dass 60 Prozent der zirka 14 Millionen Sim­ babwer*innen von Nahrungsmittelmangel betroffen seien. Als Gründe für Ernteeinbußen nannte sie die Folgen des Klimawandels, die jahrzehntelange Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Hyperinflation von 490 Prozent. Dringender Handlungsbedarf bestehe, um die Prostitution von Frauen und Mädchen zur Beschaffung von Grundnahrungsmitteln zu verhindern. Insbesondere in den Städten, wo weder der formelle noch der informelle Sektor ausreichende Einkommen böten, sei Mangelernährung von Kindern ein Problem, das vor allem Frauen aufgeschultert werde. Weitere Kritikpunkte waren die bevorzugte Vergabe von Nahrungsmittelhilfe an Mitglieder der Regierungspartei, die desolate Situation in den Krankenhäusern und die marode Wasserversorgung in den Städten. tt

von Rita Schäfer Die offiziellen Zeremonien zum 40. Jahrestag der Unabhängigkeit Simbabwes wurden wegen der Corona-Pandemie abgesagt. Ende März 2020 hatte Präsident Emmerson Mnangagwa kurzfristig eine Ausgangssperre verhängt und den nationalen Ausnahmezustand erklärt. Dieser sollte zunächst nur für 21 Tage gelten, inzwischen wurde er auf unbefristete Zeit verlängert. Dabei hat das Virus laut offizieller Angaben das Land im südlichen Afrika weitgehend verschont. Am 22. Mai 2020 – also gut fünfzig Tage nach dem Beginn des Lockdown – gab es laut Regierungsinformationen 51 Erkrankte und vier Tote. Knapp 35.000 Menschen waren auf Covid-19 getestet worden. Zeitgleich versprachen internationale Geber umfangreiche Finanzhilfen zur Bewältigung der Corona-Folgen: die Europäische Kommission will 13 Millionen US-Dollar zur Verfügung stellen, das britische Außenministerium 44 Millionen US-Dollar, die japanische Regierung 15,3 Millionen US-Dollar, die Afrikanische Entwicklungsbank 13,7 Millionen US-Dollar und die Weltbank 7 Millionen US-Dollar. tt

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Co r o n a Der Gesundheitssektor hatte ab den 1990er Jahren durch die HIV/ Zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Women’s Coalition of AIDS-Pandemie und drastische Einsparungen in Folge des vom Zimbabwe forderte die gerechte Verteilung internationaler NahWeltwährungsfonds geforderten Spardiktats massiv an Personal rungsmittelhilfe in allen Landesteilen und an alle gesellschaftlichen verloren. Bei der Infrastruktur, etwa in der Wasserversorgung, Gruppen – unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Vielerorts herrschte Korruption: Notwendige Reparaturen wurden nicht sorgte die Bevorzugung von Mitgliedern der Regierungspartei für durchgeführt, Chemikalien zur Wasseraufbereitung verschwanden Ärger. Konflikte eskalierten auch beim Zugang zu Trinkwasser. In auf dem Schwarzmarkt. urbanen Wohngebieten, wo die Wasserversorgung der Haushalte Diese Strukturprobleme hatten vermeidbare Cholera-Epidemien längst zusammengebrochen war, beanspruchten Jugendliche im zur Folge. 2008/2009 waren 98.592 Menschen an Cholera erkrankt Auftrag der Regierungspartei an den wenigen öffentlichen Pumpen und 4.288 gestorben. Den unterfinanzierten staatlichen Krankendie Kontrolle. häusern fehlten einfache lebensrettende BehandlungsmöglichkeiDie sexuelle Belästigung von Frauen und Mädchen beim Wasser­ ten. 2010 und 2011 verursachte das verkeimte Trinkwasser Choholen ist ein zusätzliches Problem, das Frauenrechtsaktivistinnen lera-Ausbrüche mit jeweils über tausend Fällen. 2018/19 litten skandalisierten. Sie kritisierten auch die erhöhte familiäre Gewalt landesweit über 10.000 an Cholera, 69 starben. Allein in der Hauptals Folge existentieller Versorgungsmängel. Pflegebelastungen von stadt Harare erkrankten 2.000 Menschen Frauen stiegen ebenfalls, wenn Famil­ 2008/2009 an Cholera und über 850 an ien­mitglieder an Malaria oder AIDS Typhus – verursacht durch marode Wassererkrankten. Während der Ausgangssperre leitungen. Pflegepersonal und Ärzt*innen Der Zugang zu anti-retroviralen Mediwurden gewaltsame Übergriffe protestierten wiederholt, da sie keine Medikamenten bei HIV und AIDS wurde dokumentiert kamente zur Behandlung der Kranken hatten. während der Ausgangssperre noch Auch eigene HIV-Infektionen wurden zum schwieriger als zuvor. Bereits 2019 manProblem, da es an Schutzausrüstung, etwa gelte es daran, so dass etliche der über bei Geburten oder Operationen von HIV-Positiven, fehlte. Wenn 1,3 Mil­lionen HIV-Positiven lebensbedrohliche Tuberkulose-­ Gewerkschaften im Gesundheitssektor Verbesserungen forderten, Infektionen fürchteten. Heal Zimbabwe, ein Netzwerk von verhallten ihre Hilferufe ungehört. Etliche Gesundheitsarbeiter*innen Menschenrechts­aktivist*innen, berichtete im Mai 2020 über Prosahen sich zur Emigration nach Südafrika oder Großbritannien bleme von Schwangeren, Geburtsstationen zu erreichen. Dabei gezwungen, auch weil sie mit den sehr geringen Gehältern die war die Mütter­sterblichkeit mit 462 pro 100.000 Geburten im Jahr steigenden Lebenshaltungskosten nicht mehr decken konnten. Als 2019 bereits sehr hoch. Ein Viertel aller Gebärenden war unter 18 das verbliebene Gesundheitspersonal wegen der Hyperinflation und Jahre. Nicht nur für Jugendliche wurde der Zugang zu Verhütungsder großen Arbeitsbelastungen 2018/19 für Gehaltserhöhungen mitteln während der Corona-Krise schwieriger oder wegen der streikte, wurden viele fristlos entlassen (siehe iz3w 375). RegierungsAusgangssperre unmöglich. vertreter, die sich und ihre Familien auf Kosten der Steuerzahler*innen in ausländischen Privatkliniken behandeln ließen, warfen den Strei… werden Menschenrechte verletzt kenden Gier und Verantwortungslosigkeit vor. Gewaltsame Einschüchterungen sollten Kritiker*innen brechen. tt Zur Durchsetzung der Ausgangssperre setzte die simbabwische Regierung von Anfang an auf Repression. Polizei und Militär zerstörten Verkaufsstände von lokal produzierten Lebensmitteln. Mit Im Schatten der Corona-Krise … Nilpferdpeitschen, einem kolonialen Relikt, und Kampfhunden tt Die engagierten Ärzt*innen ließen sich nicht mundtot machen. zogen sie durch Wohngebiete. Beim Abtransport von willkürlich Festgenommenen und während ihrer Inhaftierung wurden AbWährend der Corona-Krise forderte die Zimbabwean Association of Doctors for Human Rights auf juristischem Wege mehr Schutzkleidung standsvorschriften nicht eingehalten. Menschen, die kein Geld und Medikamente, um das Recht auf Gesundheit durchzusetzen. hatten, um die von Polizisten oder Gefängnispersonal geforderten Bestechungsgelder zu zahlen und damit freizukommen, fürchteten Denn zeitgleich eskalierten Malaria-Infektionen. Zwischen Januar und April 2020 waren über 236.000 Menschen an Malaria erkrankt Infektionen in den überfüllten Gefängnissen, wo seit Jahren kataund 226 daran gestorben. Die Symptome von Malaria und Covidstrophale hygienische Bedingungen herrschen. 19-Infektionen ähneln sich, für seriöse Blutuntersuchungen fehlten Menschenrechtsorganisationen dokumentieren gewaltsame vielerorts die Testmöglichkeiten. Mitte Mai 2020 warteten über Übergriffe staatlicher Sicherheitskräfte während der Ausgangs­ 4.000 Tests auf ihre Auswertung. sperre, dazu zählten bis zum 20. Mai 2020: 333 Festnahmen, 253 Die von einem chinesischen Geschäftsmann geschenkten 40.000 Körperverletzungen und 14 Angriffe auf Journalist*innen. Drei Covid-19-Testeinheiten erwiesen sich als unbrauchbar. Auch einige Menschen sind spurlos verschwunden. Dabei hatte der Oberste technische Geräte und Sanitärartikel – ebenfalls Geschenke von Gerichtshof Mitte April verfügt, staatliche Sicherheitskräfte sollten chinesischen Firmen – dienten vor allem der staatlichen Propagankeine Gewalt zur Durchsetzung der Corona-Vorschriften anwenden. da in Simbabwe, die Regierenden inszenierten sich als Gönner. Schon zu Beginn der Ausgangssperre wollten zivilgesellschaftliche Allerdings gerieten auch lokale Hersteller von Hygieneprodukten Aktivist*innen die verstärkte Repression verhindern und formulierten Vorschläge zur gemeinsamen Krisenbewältigung. Die Antwort in die Kritik. Eine Stichprobe im Mai 2020 ergab, dass die Hälfte der Herrschenden war jedoch: Repression und Gewalt. nicht den notwendigen Qualitätsstandards entsprach und keinen Infektionsschutz bot. Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen kritisierten auch Missstände in den überbelegten Corona-Quarantänezentren, tt Rita Schäfer ist freiberufliche Wissenschaftlerin und forscht wo Desinfektionsmittel und andere Grundausstattung fehlten. zum südlichen Afrika. iz3w • Juli / August 2020 q 379

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Co r o n a

Chinas Tschernobyl … … oder Eintritt ins Asiatische Jahrhundert? Die Corona-Krise könnte »Chinas Tschernobyl« sein, orakelte ein Kommentator in der Zeitschrift The Diplomat. Bricht China also bald auseinander – so wie die Sowjetunion fünf Jahre nach der Atomkatastrophe in der Ukraine am Ende war?

ebenso wie Exporte und Investitionen. Besonders rasch verläuft laut NZZ vom 15. Mai die Erholung in Hightech-Sektoren und in »Neuer Infrastruktur« wie Digitalisierung. Anscheinend zahlte es sich aus, dass die Regierung bereits frühzeitig staatliche Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft ergriffen hatte.

von Uwe Hoering

China als Großgläubiger

Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es. Aber tatsächlich ist die Corona-Krise für die Regierung in Peking eine Herausforderung. Sie gefährdet ihre Ambitionen, die Volksrepublik bis 2049, ihrem 100. Gründungsjubiläum, zu einer vollumfänglichen Großmacht zu machen. Der geopolitische Konflikt mit den USA hat sich dabei verschärft. Peking hat – nicht ganz ohne eigenes Verschulden – USPräsident Trump ein Narrativ geliefert, dass China für die CoronaKrise, und damit für die wirtschaftliche Rezession und menschliches Leid, verantwortlich sei.

Ob daraus eine Rückkehr zu Wachstumsraten wie vor der Krise wird, hängt stark von der Entwicklung der weltweiten Konjunktur ab. Damit China abermals als Wachstumslokomotive fungiert, müssen Logistik, Produktions- und Handelsketten wieder anfahren. Vorrangig dafür sind die Entwicklungen in den Industrieländern. Aber auch die wirtschaftlichen Perspektiven der über 100 Länder der Belt & Road Initiative (BRI), die einen wachsenden Anteil am chinesischen Handel und Auslandsinvestitionen haben, sind unverzichtbar. Entlang der sogenannten »Neuen Seidenstraße«, den Gütertransporten und Schiffsrouten zwischen China und Europa, sowie zwischen Asien und Lateinamerika, hat Peking in den vergangenen Jahren Imageprobleme mit Corona dreistellige Milliardenbeträge in Infrastruktur und Industrien investiert, tt Ähnlich wie bei der Tschernobyl-Katastrophe waren die ersten begleitet von einer Offensive »weicher Diplomatie«. Durch die Erschließung von Märkten und Investitionsstandorten Wochen von Chinas Corona-Politik gelinde gesagt holprig. Es gab sollen die eigenen wirtschaftlichen Probleme wie Überkapazitäten Vorwürfe, der Staat habe zu spät reagiert, Warnungen missachtet in Schlüsselindustrien und stagnierende Exportmärkte abgemildert und verschleiert, sowie Berichte über Unmut und Proteste in der Bevölkerung. Es drohte ein innenpolitischer Legitimations-GAU. werden. Die Partnerländer können zudem Chinas steigenden Energie­ Umso drakonischer dann die Maßnahmen wie die Totalblockade hunger sichern und die Lieferung von Rohstoffen wie Lithium, der Industriemetropole Wuhan, was der Regierung zunächst höchsKobalt und Kupfer gewährleisten, die für die Modernisierung seiner tes Lob einbrachte: Trump dankte am 24. Januar Chinas Präsident Industrie (»Made in China 2020«) notwendig sind. Diese Pläne und die entlang der neuen Seidenstraßen entstandenen strategischen Xi Jinping für den Einsatz, das Virus einzudämmen: »Die Vereinigten Staaten würdigen die Anstrengungen und die Transparenz.« Allianzen und politischen Freundschaften wären durch wirtschaftNachdem Regierungen in anderen Ländern – ebenfalls mit liche Probleme in den beteiligten Ländern gefährdet. Verzögerungen – gewahr wurden, dass das Virus sich globalisiert, Unmittelbar wird die Schuldenlast vieler Länder, die mit Covid-19 untragbar geworden ist, zu einem Sprengsatz für dieses Vorzeigewurden Lockups, Shutdowns, Reisebeschränkungen à la chinoise zur häufig imitierten Blaupause. Das Motto projekt, das eng mit Xi Jinpings Namen und Powar nun: »Von China lernen ...«. Und mit litik verbunden ist. Kapitalflucht und sinkende dem zwei Monate später offiziell verkün­ Einnahmen aus Rohstoffen oder Tourismus haben Als Großgläubiger steckt deten Nullwachstum von Neuinfektionen diese Länder hart getroffen. Weltweit werden die chinesische Politik in konnte Xi Jinping sein Image als erfolgreidaher Forderungen nach Schuldenerleichterung einer Zwickmühle cher Viren-Bändiger wiederherstellen. laut. Dem kann sich auch China nicht entziehen, Die wirtschaftlichen Folgen der Maßnahwelches in den vergangenen Jahren zum größten men sind tiefer und länger. Auch sie heizten bilateralen Gläubiger der Länder des Globalen die Spekulationen über einen Legitimationsverlust an, ist die ReSüdens geworden ist. Geschätzt haben chinesische Banken allein gierung doch auf hohe Wachstumsraten angewiesen, um den seit 2013, dem Beginn von BRI, 461 Milliarden US-Dollar für Proversprochenen »bescheidenen Wohlstand für alle« zu erreichen. jekte in 138 Ländern zugesagt, die allerdings wohl noch nicht voll Im ersten Quartal sank Chinas Bruttoinlandsprodukt um 6,8 Prozent, ausgezahlt wurden. anstatt, wie für 2020 angestrebt, um sechs Prozent zu wachsen. Ein erster, kleiner Schritt ist die Beteiligung an der G20-Initiative, Zahlen des deutschen Forschungsinstituts MERICS zeigen im Bausekbilaterale Zinszahlungen und Tilgungen für einkommensschwache tor Produktionseinbrüche von fast 20 Prozent, in der Auto- und in Länder bis Ende 2020 auszusetzen. BRI-Projekten in finanziellen Schwierigkeiten soll durch staatliche Entwicklungsbanken geholfen der Textilindustrie bis zu 30 Prozent, in der verarbeitenden Industrie insgesamt von 10 Prozent. Die Exporte sanken um 13,3 Prozent, werden. Solche Hilfen sollten allerdings nach ökologischen und der Umsatz im Einzelhandel um 20 Prozent. sozialen Kriterien eingesetzt werden, fordert eine internationale Koalition zivilgesellschaftlicher Organisationen, da viele GroßproInzwischen gibt es allerdings erste Anzeichen für einen Wiederaufschwung: Die Industrieproduktion steigt bereits seit März wieder, jekte schwere Schäden für Mensch und Umwelt verursachen. tt

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Von China lernen... Die Maskenpflicht gilt jetzt auch in Deutschland | Foto: Macau Photo Agency

Als Großgläubiger steckt die chinesische Politik in einer Zwickmühle. Gewichtigen Schuldnern muss sie entgegenkommen, zumal die Debatte über die chinesische »Schuldenfalle« bereits schwere Imageschäden verursacht. Zudem müssen befreundete Partnerregierungen bei der Stange gehalten werden. Bereits in der Vergangenheit hat Peking daher Schuldnerländern Erleichterung verschafft. Und China ist anscheinend auch bereit, deren Wünschen nach Industria­ lisierung weiterhin nachzukommen – im beiderseitigen Interesse. Andererseits verfügt auch China nicht über unbegrenzte Finanzmittel. Die Verschuldung von Zentralregierung, Provinzregierungen und staatlichen Banken ist bereits sehr hoch. Bei einigen Politik­ berater*innen der Regierung und im chinesischen Internet rumort es beharrlich, dass zu viel Geld für fragwürdige Projekte und korrupte Regierungen vergeudet wurde, welches im Land selbst dringend benötigt wird. Die Financial Times vom 30. April zitiert einen chine­ sischen Finanzexperten damit, dass Probleme mit 20 Prozent des Portfolios verkraftbar seien, »aber wir können es nicht hinnehmen, wenn die Hälfte den Bach runter geht«.

Das Krisenmanagement des starken Staats Parallel versucht sich China in »Masken-Diplomatie«: Anlässlich der Lieferung von medizinischer Ausrüstung und der Entsendung von Ärzteteams Mitte März 2020 nach Italien rückte Präsident Xi Jinping die vor drei Jahren mit der Weltgesundheitsorganisation WHO vereinbarte enge Zusammenarbeit an einer »Seidenstraße der Gesundheit« ins Scheinwerferlicht. Auch zahlreichen anderen Ländern, vor allem in Asien und in Afrika, bietet China tatkräftige Hilfe im Kampf gegen die Corona-Epidemie an, unter anderem mit Tracing-Apps und Digitalisierung im Gesundheitswesen. Geschickt nutzte Peking die Schwächung der WHO durch Regierungen der tt

Industrieländer, um seine Position in internationalen GovernanceStrukturen zu verbessern – wofür die WHO jetzt als »Chinas Komplizin« bei der Verbreitung der Pandemie gescholten wird. Insgesamt scheint China weitaus besser aufgestellt, die Krise zu überstehen, als viele westliche Industrieländer. Seine Vorteile sind die weitreichenden Eingriffs- und Steuerungsmöglichkeiten des Staatskapitalismus in Wirtschaft und Gesellschaft, erhebliche Finanzierungsmöglichkeiten, der Vorsprung bei der Modernisierung von Infrastruktur und Industrie, der gewaltige Binnenmarkt. Als größter Erdölimporteur profitiert China von den betreffenden Dumpingpreisen. Und der Internationale Währungsfonds (IMF) hält im World Economic Outlook April 2020 die Wachstumsaussichten der Schwellenländer, viele davon BRI-Partner, für günstiger als die für Industrie­ länder. Damit könnte China seine Position in der weltwirtschaftlichen Systemkonkurrenz ausbauen und als autoritäres System im Vergleich mit den liberalen Demokratien und alten Industrieländern punkten. Das Orakel um Chinas Niedergang oder Erwartungen eines Legiti­ mationsverlustes wären dann nur Wunschdenken. Statt eines Zusammenbruchs befördert die Corona-Krise möglicherweise eher den seit längerem bereits angekündigten Eintritt ins Asiatische Jahrhundert. Und der von Trump ausgelöste weltweite Shitstorm, der bei Chinas Partnern und Verbündeten Zweifel an Chinas Eignung als neuer globaler Ordnungsmacht hervorrufen soll und ein weiteres Anheizen des Wirtschaftskrieges befürchten lässt, zeigt die Panik, die die Aussicht von Chinas Aufstieg auslöst.

Uwe Hoering ist seit den 1980er Jahren als freiberuflicher Journalist und Publizist für entwicklungspolitische Organisationen tätig. Er betreibt die Internetseite www.globe-spotting.de. tt

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»Menschen sind trotz Corona unterwegs und in Lebensgefahr« Interview mit Lena V. über die aktuelle Arbeit von Sea-Watch Nach einer längeren Zwangspause ist das Schiff Sea-Watch 3 der Organisation für Seenotrettung Sea-Watch zu ihrem nächsten Einsatz im Mittelmeer aufgebrochen, ausgehend von der italienischen Stadt Messina. Aktuell ist es das einzige Rettungsschiff vor Ort. Die iz3w sprach mit Lena V., die bei den letzten beiden Einsätzen zwischen Weihnachten 2019 und März 2020 dabei war.

iz3w: Wie laufen eure Einsätze konkret ab? tt Lena V.: Unsere Crew auf der Sea-Watch 3 besteht aus 22 Personen, darunter Kapitän*in, Offizier*innen, drei Maschinist*innen, medizinisches Team, Elektriker*in, Köchin, Schlauchbootfahrer*innen, Cultural-Mediaton und Guest-Coordination. Die meisten von uns arbeiten ehrenamtlich, es gibt einzelne Aufgaben, die professionell sein müssen und bezahlt werden. Wir treffen uns auf dem Schiff, bereiten es auf drei bis vier Wochen auf See vor und beginnen mit unseren Trainings. Wir trainieren für die Sicherheit auf See und speziell für die Einsätze, wie etwa Schlauchboottraining. Außerdem erhalten wir ein psychologisches Briefing. Dann stechen wir in See. Es dauert etwa zwei bis vier Tage, bis wir unser Einsatzgebiet vor der libyschen Küste erreicht haben. Wir patrouillieren aktiv außerhalb der 24-Seemeilenzone vor der Küste. Das heißt, wir suchen nach Booten und warten auch, ob uns Notfälle gemeldet werden.

Dazu muss gesagt werden, dass die Situation viel schwieriger geworden ist. Früher haben die Behörden mehr mit uns zusammengearbeitet. So hat uns beispielsweise das Rettungskoordinationszentrum in Rom mitgeteilt, wenn sie von Seenotfällen erfahren haben. Aber jetzt gibt das Zentrum direkt der libyschen Küsten­wache Bescheid, was unserer Ansicht nach illegal ist. Diese Entwicklung war absehbar, da Europa keine Verantwortung für die Geflüchteten übernimmt und Italien, Spanien und Malta alleine gelassen werden. Der Regierungswechsel 2018 in Italien war aber ausschlaggebend dafür, dass es in der Politik einen Wechsel vom Wegschauen zu aktivem Verhindern der Rettung von Geflüchteten gab. Wir sind jetzt ziemlich auf uns allein gestellt, erhalten aber noch Informationen von der Alarm-Phone-Initiative oder privaten Schiffen. Was passiert, wenn ihr auf Menschen in Seenot trefft? tt Der kritische Punkt ist der Erstkontakt. Viele Menschen auf den Schlauchbooten können nicht schwimmen und tragen keine Schwimmwesten. Wenn dann Panik ausbricht, droht das Boot zu kentern. Daher muss man einen sehr ruhigen Ansatz haben und zuerst Schwimmwesten verteilen. Danach werden die Leute an Bord gebracht. Unser Schiff ist nicht darauf ausgelegt, Menschen lange an Bord zu haben, sondern auf eine Notfallrettung. Früher konnten wir die Geretteten beispielsweise an die italienische Küstenwache überge-

Die Sea-Watch 3 auf Mission | Foto: Chris Grodotzki / Sea-Watch.org / CC BY-SA 4.0

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Seenotrettung ben und so im Einsatzgebiet bleiben. Das ist jetzt nicht mehr der Fall: Wir müssen auf einen sicheren Hafen warten und da beginnt das politische Ringen, wer die Menschen aufnimmt. Das kann Tage bis Wochen dauern. Solange sind wir blockiert und können nicht mehr Leute retten.

frustrierend, wenn man bedenkt, dass zu dieser Zeit noch Fähren nach Marokko fuhren und – bis auf Kreuzfahrtschiffe mit bestätigten Fällen – ansonsten keine Schiffe in Quarantäne mussten. Wegen der Quarantäne lag die Sea-Watch 3 dann zwei Wochen vor Messina und in dieser Zeit verschärfte sich der Corona-Ausbruch in Italien. Deshalb war es dann schwierig, einen Crew-Wechsel zu Warum ist es so schwierig, einen sicheren Hafen zu finden? machen. Ab da war das Schiff wegen der Corona-Lage nicht mehr tt Nach internationalem Seerecht müssen Menschen, die in Seenot einsatzfähig. sind, gerettet werden. Und das sind Geflüchtete auf diesen Booten Wir haben lange überlegt, wie wir die Seenotrettung trotz ­Corona immer. Nach Rechtslage müssen sie in den nächsten sicheren aufrechterhalten können, weil ja weiter Menschen auf dem MittelHafen gebracht werden. Aus unserer Sicht kann das nicht Libyen meer unterwegs und in Lebensgefahr sind. Mittlerweile haben wir ein Konzept erstellt. Die Crew, sein, wo viele Geflüchtete gerade Folter und ähnlichem entkommen sind. Daher die jetzt im Einsatz ist, war »Staaten nehmen die Corona-Krise zum liegt der nächste sichere Hafen fast immer davor zwei Wochen in Quaauf Malta oder Italien. Unsere Aufgabe rantäne und wurde auf Co­rona Vorwand, Geflüchtete nicht aufzunehmen« ist es daher nach internationalem Seegetestet. Natürlich ist Schutzrecht, die Menschen dorthin zu bringen. ausrüstung an Bord. Wir wolMit dem politischen Ringen, das dann häufig losgeht, haben len auf jeden Fall sicherstellen, dass die Crew nicht die Geflüchteten ansteckt, zumal diese häufig in einem schlechten körperlichen wir eigentlich nichts zu tun. Wir kommen unserer Pflicht als Seefahrende nach, Menschen zu retten. Danach sollten sich eigentlich Zustand sind. staatliche Institutionen um sie kümmern. Weil das aber nicht passiert und uns immer wieder die Anlandung verweigert wird, fragen Wie wirkt sich Corona auf den politischen Umgang mit Seenotrettung aus? wir mittlerweile bei mehreren Häfen an. tt Es ist offen, was passiert, sobald die Sea-Watch 3 wieder Gerettete an Bord hat. Italien hat angekündigt, keine Geflüchteten aufHat es jemals funktioniert, dass ihr euch nach dem Seerecht richten zunehmen, und dies auch mit der Corona-Pandemie begründet. und den nächsten sicheren Hafen anfahren konntet? Ähnliches gilt für die Verteilung der Geflüchteten in Europa. Das tt Es ist nie unproblematisch gelaufen, nur früher lief das Ganze konnte man schon bei der Debatte um das Evakuieren von Menschen aus dem Lager Moria auf Lesbos sehen. Staaten nehmen die Corokoordinierter ab. So haben beispielsweise die verschiedenen Küstenwachen zwar weniger aktiv Boote gesucht, aber wenn sie auf na-Krise zum Vorwand, um Geflüchtete nicht aufzunehmen. Der welche getroffen sind durchaus auch diese Menschen gerettet, Umgang mit der Situation war schon vorher katastrophal. Aber beziehungsweise uns Gerettete abgenommen. Schon vor dem durch Corona hat man jetzt ein zusätzliches Mittel in der Hand, um italienischen Regierungswechsel hieß es dann, dass wir die Geretdas zu rechtfertigen. teten selbst nach Italien bringen sollen. Das führte dazu, dass wir vier Tage weniger im Einsatzgebiet waren. Und Stück für Stück Wie sieht es mit der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Situation von Geflüchteten aus? wurde die zivile Seenotrettung immer mehr kriminalisiert. tt Corona hat alles überlagert, das gilt nicht nur für die SeenotretHabt ihr im Blick, wie es für die Geretteten weitergeht, nachdem ihr sie tung. Corona betrifft besonders die Ärmsten und Menschen in den an Land gebracht habt? Lagern. Zu Beginn der Krise gab es öffentlichen Druck, gerade was tt Natürlich ist es nicht damit getan, Menschen irgendwo hinzudie Evakuierung von Moria anging, aber es ist nichts passiert. Darbringen. Es gib viele Engagierte und Organisationen in Italien, die über, wie sich Corona in ärmeren Staaten wie beispielsweise Libyen sich dann um die Geflüchteten kümmern. Wir arbeiten zusammen, auswirkt, wird zudem überhaupt nicht gesprochen. aber der Fokus von Sea-Watch ist dabei die Seenotrettung. Was mich auch vor Corona gestört hat, ist die Tatsache, dass die Seenotrettung vor allem dann im Fokus ist, wenn es um die RettenMir ist persönlich klar geworden, dass ich nicht so sehr danach schauen kann, was mit den Menschen passiert, nachdem sie einen den geht. Nachdem Carola Rackete 2019 ohne Genehmigung in Hafen erreicht haben. Das übersteigt meine emotionalen Kapa­ Lampedusa angelegt hat, gab es viel Solidarität aus der Zivil­ zitäten. So ist es ein offenes Geheimnis, dass viele Frauen in Italien gesellschaft. Das ist richtig und wichtig. Aber der Fokus sollte auf den Betroffenen liegen. Auch dieses Interview hier wird mit mir und in der Prostitution landen oder unter sklavenähnlichen Bedingungen in der Ernte arbeiten (siehe iz3w 378). Ich versuche mich nicht mit einer betroffenen Person geführt. damit nicht zu sehr zu beschäftigen, weil ich auf dem Schiff einen Ich finde es schwierig, wenn Seenotrettung und ähnliches als Heldentum dargestellt wird. Es ist unsere Verantwortung, uns für gewissen Optimismus verbreiten muss, um die Menschen sicher Geflüchtete einzusetzen, etwa weil unser Reichtum auf der Ausbeuin den nächsten Hafen zu bringen. tung anderer Menschen und Länder beruht. Solange die Staaten Wie beeinflusst die Corona-Pandemie eure Arbeit? sich ihrer Verantwortung verweigern, liegt es an der Zivil­gesellschaft, tt Ende Februar sind wir mit 194 Menschen an Bord Richtung das Thema nicht ruhen zu lassen. Italien gefahren und nach acht Tagen haben wir in Messina einen sicheren Hafen gefunden. Das war etwa zeitgleich mit dem ersten tt Lena V. lebt in Freiburg und ist regelmäßig als Guest-Coordina­ Corona-Ausbruch in Norditalien. Genau wie das Schiff von Ärzte ohne Grenzen musste auch unser Schiff in Quarantäne. Dabei tion auf der Sea-Watch 3 im Einsatz. Dort kümmert sie sich um die waren wir alle untersucht worden und der behandelnde Arzt hatte Logistik für die Geretteten (Guests) an Bord. Das Interview führte Larissa Schober (iz3w). keine Verdachtsfälle ausgemacht. Diese Quarantäne ist besonders iz3w • Juli / August 2020 q 379

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Editorial

Rechte Gewalt Laut Amadeu-Antonio-Stiftung forderte Rechte Gewalt seit 1990 in Deutschland 208 Todesopfer. Die unter anderem auf Wikipedia veröffentlichte Liste der Opfer ist ein ebenso erschütterndes wie aufschlussreiches Dokument. Die meisten Ermordeten tragen keinen deutsch klingenden Namen, was auf Rassismus als häufigstes Tatmotiv verweist. Trotzdem – oder deshalb – waren der Staat und weite Teile der Politik lange Zeit blind gegenüber Rechter Gewalt. Nur wenn es gar nicht mehr von der Hand zu weisen war, wurde zugestanden, dass die Gewalt von Rechten und aus ideologischen Motiven begangen worden war. Der NSU-Skandal ist nicht nur diesbezüglich ein eindrückliches Lehrstück.

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rst die Ermordung des weißen, christlichen CDU-Poli­ tikers Walter Lübcke im Juni 2019 veränderte die gängige Wahrnehmung der Rechten Gewalt. Innenminister Horst See­hofer sprach zwar verharmlosend von einem »Alarmsig­ nal« (als ob es davon nicht schon Abertausende gegeben hätte) und befand, »der Rechtsextremismus ist eine erhebliche und ernstzunehmende Gefahr für unsere freie Gesellschaft« (als ob gleichermaßen alle Menschen von Rechter Gewalt betroffen seien). Aber immerhin sind rechte Gewalt­ täter*­innen und ihre ideologischen Wegbereiter*innen seither deutlich stärker in den Fokus staatlicher Behörden gerückt. Würde Rechte Gewalt endlich in jeder Hinsicht als Gefahr anerkannt, müsste sich die deutsche Gesellschaft einer weiteren traurigen Wahrheit stellen: Dass rechte Gewalttäter­ *innen keine versprengten Einzeltäter*innen sind, sondern sie immer wieder eine erfolgreiche politische Avantgarde bilden. Die faktische Abschaffung des Asylrechts in Deutschland im Jahr 1993 durch die Mehrheit des Bundestages wäre nicht möglich gewesen ohne die vorangegangenen rassistischen Anschläge in Mölln, Hoyerswerda, Solingen oder Rostock-Lichtenhagen. Bis weit in die Sozialdemokratie hinein glaubte man, nur durch die Gängelung von Geflüchteten dem Rassismus begegnen zu können – wenn man denn Rassismus überhaupt als Problem anerkannte. Ähnliches wiederholte sich ab Herbst 2015, als sich Gewalt gegen Refugees häufte.

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Rechte Gewalt wird in der Regel assoziiert mit Faschismus und Nationalsozialismus sowie deren politischen Erben (die es nicht allein in Europa gibt). Dabei stellt sich ein

Defini­tionsproblem: Was ist Rechte Gewalt? Was unterscheidet sie von faschistischer Gewalt? Eine verbindliche Antwort auf diese Frage hat bisher niemand gegeben, auch dieser Themenschwerpunkt kann es nicht. Eines aber ist auffällig: Rechte Strategien und Denkarten ähneln sich weltweit auf erschreckende Weise, etwa durch die Markierung von Minderheiten als ‚Volksfeinde‘. Rassismus, Antisemitismus, ­Homophobie und Hass auf Frauen scheinen eine Art Grundkonsens rechter Gewalttäter*innen zu bilden. Xenophobe Gewalt in Südafrika oder die Anschläge hindunationalistischer Mobs gegen Muslime in Indien verweisen aber darauf, dass ein allein am historischen Faschismus angelehnter Begriff von Rechter Gewalt zu eng gefasst ist. Insbesondere die neuen internetbasierten Formen Rechter Gewalt sind in vielen Ländern zum Problem geworden. Selbst in Ländern wie Neuseeland, die kein Hotspot polarisierter Auseinandersetzungen sind, kosteten sie viele Menschenleben. Der von Anders Behring Breivik 2011 in Norwegen verübte Massenmord wurde zum Weckruf für eine ganze Reihe von Attentätern, die ihm nacheifern, in Deutschland zuletzt in Halle und Hanau. Nicht immer sind diese Täter außer in Internetforen vernetzt. Aber ohne logistische und ideologische Unterstützung könnten sie ihre Taten kaum verüben und Resonanz erzielen. Zu diesem unterstützenden Umfeld zählen neben rechten Regierungen auch neurechte Bewegungen. Sie existieren in Netzwerken und organisierten Strukturen, aber auch in kleinen Zellenkonzepten, die nur ideologisch Bezug aufeinander nehmen. Daneben gibt es weiterhin gut organisierte, eher ‚klassische‘ gewaltbereite Strukturen der Rechten wie Combat18, Blood&Honour, Ku-Klux-Klan und andere. So neu ist die Rechte also gar nicht immer, wie in allen Beiträgen dieses Themenschwerpunkts deutlich wird. Die Ermordung von George Floyd in den USA zeigte überdies einmal mehr, dass Rechte Gewalt oft von Angehörigen staatlicher Institutionen wie der Polizei verübt wird. So unterschiedlich Rechte im Einzelnen sein mögen: Ihnen allen ist die Gewalt tief eingeschrieben, im Hass gegen Abweichendes sowie in ihrem unbedingten Willen zur Herrschaft. Deshalb formiert sich auch der Widerstand gegen Rechte Gewalt so kategorisch als ein entschiedenes »Nie wieder«. Denn Niederlagen gegenüber der Rechten Gewalt enden tödlich. die redaktion

Der Themenschwerpunkt Rechte Gewalt wurde gefördert durch die Amadeu-Antonio-Stiftung und die Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Demo »Kein Schlussstrich« in Hamburg (Juli 2018) | Foto: Rasande Tyskar

Liebe zur Gewalt Warum Faschismus und Terror unzertrennlich sind Faschismustheorien unterscheiden sich in ihren Definitionen von Faschismus und setzen differierende Akzente bei der Ursachenforschung. In einem sind sie sich jedoch einig: Die Nähe zu Gewalt ist ein Grundmerkmal aller faschistischer Bewegungen. Welche Ausprägungen nimmt deren Terror heute an?

– einschließlich verbaler und psychischer sowie insbesondere institutioneller und struktureller Gewalt. Damit ist für linke Gesellschaftskritik eigentlich weniger der faschistische Terror an sich erklärungsbedürftig als vielmehr das stets erneute, jedes Mal ratlose Entsetzen einer liberalen Öffentlichkeit nach dem jeweils letzten faschistischen Mordanschlag.

17 Die faschistischen Krieger…

von Mathias Wörsching

Bürger*innen werden dann faschistisch, wenn sie aus den ohnehin gewaltsamen Verhältnissen des modernen Kapitalismus die »Gewaltkonsequenz« ziehen, wie der marxistische Faschismusforscher Reinhard Opitz es nannte. Faschistische Subjekte vertreten also eine besonders radikale und aggressive Variante der Ungleichwertigkeitsideologien; sie fordern lautstark die Anwendung von Gewalt (auch Staatsgewalt) im Sinne dieser Ideologien – oder sie schreiten gleich selbst zum Terrorakt. Woher kommt die besondere Aggressivität des Faschismus? Opitz formulierte, Faschisten seien Menschen »in Rebellion gegen die richtig als ungerecht empfundenen Verhältnisse, aber den Kopf tt

Ideologien menschlicher Ungleichheit und Ungleichwertigkeit wie Nationalismus, Rassismus, Sexismus und Antisemitismus gehören zum Wesenskern des Faschismus.1 Für linke Gesellschafts­kritik ist klar, dass solche menschenfeindlichen Ideologien tödliche Konsequenzen haben, dass Sexismus und Frauenverachtung ebenso zum Femizid führen können wie Rassismus und Antisemitismus zu Pogrom und Terror. In einer Gesellschaft, die insgesamt von Ungleichheit, Unfreiheit, Konkurrenz und Ausgrenzung geprägt ist, mag der faschistische Terror nur als Spitze eines Eisbergs permanenter Gewalt erscheinen tt

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vollgefüllt mit der Ideologie der Herrschenden«. Er beschrieb die -netzwerke agieren oder auch als wenig organisierte Schlägertrupps faschistische Bewegung als von unten aufsteigendes autoritäres auf der Straße. Protestpotenzial – wütende, enttäuschte Anhänger*innen nationaDie nach dem Ersten Weltkrieg in Italien gegründeten ultranalistischer, rassistischer und imperialistischer Ideologie, die deren tionalistischen, antidemokratischen und antimarxistischen »fasci konsequente, gewalttätige Umsetzung einfordern. Solche Leute di combattimento« (Kampfbünde) gaben dem Faschismus seinen sind laut Opitz massenhaft vorhanden, weil diese Ideologie fortNamen. Das Personal der »fasci« und der späteren nazistischen während »von oben« mit hohem Aufwand in der Bevölkerung »Sturmabteilungen« (SA) in Deutschland, aber auch anderen verbreitet wird, während die gesellschaftlichen Verhältnisse besonrechtsextremen Paramilitärs im damaligen Europa ähnelte sich. ders in Krisenzeiten viele Menschen in Wut und Verzweiflung treiben. Hoch war der Anteil ehemaliger Frontsoldaten, unter ihnen nicht Laut Opitz radikalisieren die Anhänger*innen des Faschismus wenige Elitekämpfer und Offiziere. Daneben gab es viele Männer, die herrschende Ideologie und verlangen nach hartem Durchgreidie auf den Fronteinsatz gebrannt hatten, jedoch zu jung für ihn fen gegen innere und äußere Feinde: »Das Kennzeichen dieser gewesen waren und das Kriegserlebnis dann in den Kampfbünden Mentalität besteht, auf einen Satz gebracht, darin, daß sie aus dem gewissermaßen nachholten.9 imperialistischen Feindbild die Gewaltkonsequenz zieht und nach Die Nähe zwischen den staatlichen Gewaltorganisationen Mi2 deren praktischer Einlösung verlangt.« Für Opitz wie für viele litär und Polizei einerseits und den faschistischen Kampfbünden andere marxistische Denker*innen muss die faschistische Ideologie andererseits zieht sich durch die gesamte Geschichte des Faschisden Menschen also erst »von oben« durch Propaganda und Mamus. Soldatisch und autoritär geprägte Männer aus den Staatsnipulation eingepflanzt werden; sie bleibt den Subjekten im Grunapparaten drängen zum Faschismus; faschistische Männer drängen de äußerlich. in Militär und Polizei, besonders in diejenigen Bereiche, die Kampfpraxis und elitären Charakter zu bieten haben.10 Die Nähe zum Hingegen kamen die sowohl psychoanalytisch als auch marxis3 4 tisch inspirierten Theorien von Wilhelm Reich , Erich Fromm und Staatsapparat ermöglicht den Faschisten oftmals Zugang zum Fachwissen über organisierte Gewalt, zu Waffen und Waffentraining. Theodor W. Adorno5 ebenso wie die marxistische »Kritische Psychologie« zu folgender Erkenntnis: Autoritarismus und UngleichSo wird das mörderische Potenzial des faschistischen Terrors verwertigkeitsideologien samt der mit ihnen verbundenen Aggression vielfacht. Aber auch ohne direkte Verbindung zum Staatsapparat sind tief in der Persönlichkeitsstruktur der Einzelmenschen verankert und professionelles Training sind viele Faschisten als »soldatische und werden von ihnen selbst immer wieder neu hervorgebracht. Männer« begeistert, ja besessen von Waffen. Die faschistische Revolte gibt sich nicht zufrieden mit reaktionärBesonders wichtig zum Verständnis des faschistischen Terrors ist die von Klaus Theweleit analysierte Persönlichkeitsstruktur der konservativen Reparaturvorschlägen für die herrschende Ordnung, »soldatischen Männlichkeit« (siehe auch Seite 34). Den Männern sondern strebt mit oft terroristischen Mitteln die faschistische Wieder- oder Neugeburt einer Gemeinschaft an. Im Mythos von dieser Art ist blutiger, öffentlich ausgestellter Terror gegen Andersdenkende und Minderheiten ein zwingendes, geradezu körperliches Wieder- oder Neugeburt erkannte der Faschismusforscher Roger Bedürfnis.6 Griffin ein zentrales ideologisches Element des faschistischen UltAuf einen anderen Aspekt faschistischer Mentalität wiesen der ranationalismus.11 Welche neue Art von Gemeinschaft schwebt 7 Politologe Zeev Sternhell sowie lange vorher und auf andere faschistischen Subjekten vor? Hier kommen wieder die KampfbünWeise der marxistische Philosoph Ernst Bloch8 hin: Ein Element de ins Spiel. Nach dem Soziologen und Historiker Michael Mann12 früher faschistischer Bewegungen war die ist es der Paramilitarismus der Faschisten, Rebellion junger, meist bürgerlicher und der ihr Gesellschaftsideal vorwegnimmt: Woher kommt die besondere kleinbürgerlicher Männer gegen die induseine straff hierarchische und gleichwohl trielle Massengesellschaft des modernen von Kameradschaft und Leistungsprinzip Aggressivität des Faschismus? Kapitalismus. Die westlich-moderne Welt geprägte Gemeinschaft, in der Führer und erschien diesen Jungmännern zu kalt und Geführte, Herrschende und Beherrschte eine kämpfende Einheit gegen Feinde und Fremde bilden. Zur gefühllos; das bürgerliche Leben war ihnen zu berechenbar, einförmig, engstirnig und langweilig. Sie verwarfen dieses Leben raVerwirklichung dieser militaristisch-totalitären Vorstellung von dikal zugunsten einer »Liebe zu Heldentum und Gewalt«, so SternGemeinschaft müssen die – aus Sicht des Faschismus – bedrohlichen hell. Typisch dafür ist eine Äußerung des französischen Faschisten und störenden inneren wie äußeren Feinde bekämpft werden. Die Georges Valois: Das Schwert zu ziehen, sei die Antwort auf Schwei»Lehre von den Gegnern«13, also davon, welche Gruppen und nezüchter, Finanziers und Ölhändler, die sich für die Herren der Mächte zu bekämpfen sind, macht einen großen Teil jeder faschisWelt halten und sie nach dem Gesetz des Geldes beugen wollen. tischen Ideologie und Propaganda aus. Typisch für den Faschismus Diese antibürgerliche, kriegerische und heroische Attitüde trug ist hierbei, sich nicht mit dem Zurückdrängen der Feinde zu bewesentlich zu einem zentralen Teil faschistischer Praxis bei: dem gnügen, sondern deren vollständige, endgültige Vernichtung anzustreben. kriegerischen Männerbund oder männlichen Kampfbund. Der Faschismus rechtfertigt seinen Terror, der meist Schwächere und Wehrlose trifft, mit immer ähnlichen Erzählungen: Die … und die faschistischen Kampfbünde brutale Gewalt sei nur Selbstverteidigung gegen eine feindliche tt Männliche Kampfbünde entstehen zwangsläufig, wenn sich Übermacht, ja sie sei eine Rettungsmaßnahme für die eigene »soldatische Männer« zum Terror gegen Andersdenkende und Gruppe, die sonst bald unvermeidlich untergehen würde. Derlei Minderheiten zusammenfinden. Abhängig von den jeweiligen Erzählungen haben eine hochgradig mobilisierende Wirkung; politischen Gegebenheiten und Kräfteverhältnissen mögen diese zweifellos werden sie von den meisten faschistischen Subjekten Kampfbünde paramilitärisch-milizartige oder regulär-militärische wirklich geglaubt. Die extreme Destruktivität des rechten Terrors Formen annehmen; sie können als klandestine Terrorzellen und speist sich auch aus diesem Glauben. iz3w • Juli / August 2020 q 379


Dabei wird die Gemeinschaft, die es aus faschistischer Sicht geGenau diese Entwicklungen nehmen auch die Rassist*innen aller waltsam zu retten gilt, häufig als lebender Körper vorgestellt, der Couleur wahr, und sie sind davon alarmiert und mobilisiert. Ganz von eindringenden Gefährdern und Parasiten, Krankheitsbefall besonders gilt dies für die aggressivsten Strömungen dieses Spekoder Ähnlichem befreit und gereinigt werden muss. Die entspretrums – also die neofaschistischen und damit tendenziell terrorischenden Sprachbilder haben dann oft mit dem tischen. Dass sein Kampf vermutlich ausAusbrennen und Herausschneiden infizierter sichtslos ist, wird den faschistischen Terror Körperteile oder ähnlich gewaltsamen Operatialler historischen Erfahrung nach nicht zum Ein politischer Erfolg des onen zu tun.14 Die Vermutung liegt nahe, dass Aufgeben bewegen, sondern seine Brutaneofaschistischen Terrors lität noch steigern. diese Rhetorik eigentlich von der Angst des faist unwahrscheinlich schistischen Individuums zeugt, sein eigener Welche Entfaltungsmöglichkeiten der faKörper würde von außen wie innen durch feindschistische Terror bekommt, darüber hat liche Mächte bedroht. in der Geschichte immer maßgeblich das Heutige »weiße« faschistische Bewegungen in Europa, Russland, Verhalten der Herrschaftsgruppen in Staatsapparat und Wirtschaft Nord- und Südamerika, Südafrika, Australien und Neuseeland entschieden. In diesem Punkt sind sich die meisten Faschismus­ wollen zurück zu souveränen Staaten und Wirtschaftsräumen mit forscher*innen einig. Werden die heutigen Eliten des Kapitalismus scharf gezogenen, undurchlässigen Grenzen. Vor allem jedoch Distanz zum Faschismus halten, ihn vielleicht sogar wirksam bekämpfen sie für Gemeinschaften, die im rassistischen Sinn ethnischkämpfen? Werden sie die faschistische Gefahr tolerieren, weil ihr kulturell rein sind. Augenmerk auf ganz anderen Gefahren für sie selber liegt? Oder werden sie im eigenen Profit- und Machtinteresse mit dem Faschismus paktieren, wie es in besonders krasser Form in Italien 1922 – Neofaschistischer Terror 1943 und in Deutschland 1933 – 1945 schon einmal geschah? tt Ein zeitgemäßes faschistisches Kampfbund-Wesen entsteht Anmerkungen vielleicht bereits. Seine Konturen zeigen sich heute bei selbstermächtigten »Bürgerwehren« und anderen Pogromhelden15, die 1 Drei hilfreiche Faschismusdefinitionen sind hier nachzulesen: https://faschismustheorie.de/wp-content/uploads/2013/01/17-10-18-Faschismusdefinitioillegalisierte Migrant*innen sowie deren Unterstützer*innen terronen_Handout_MW.pdf risieren. Solche Kampfbünde entdecken die ohnehin militarisierten 2 Reinhard Opitz: Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus. In: Grenzen zwischen reichen und armen Weltgegenden zunehmend Das Argument, H. 7-9, 1974, S. 543-603, 591ff. als Einsatzgebiet für sich und machen dort Jagd auf Zuwan­derer*­ 3 Wilhelm Reich: Die Massenpsychologie des Faschismus (1933) innen, etwa im Süden der USA, auf dem Balkan oder im Mittelmeer. 4 Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit (1941) Aktuell schockiert noch eine weitere Sorte neofaschistischen Terrors: Dessen Täter*innen operieren nicht im Kampfbund, son 5 Theodor W. Adorno u.a.: Studien zum autoritären Charakter (1950) dern als Kleinstgruppen oder »einsame Wölfe«, die jedoch Teil 6 Klaus Theweleit: Männerphantasien (1977/78); Das Lachen der Täter (2015) eines »digitalen Rudels«16 sind. In diese Kategorie gehören zum 7 Zeev Sternhell: Faschistische Ideologie. Eine Einführung (Berlin 2002, zuerst Beispiel die Morde des NSU (2000-2006), des Breivik (Norwegen, 1976). Eine Neuübersetzung von Volkmar Wölk erschien 2019 im Berliner 2011) und des Tarrant (Neuseeland, 2019), außerdem die AnVerbrecher Verlag. schläge und Amokläufe von München, Halle und Hanau (2016, 8 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit (1935) 2019, 2020). Der rassistisch, oft auch verschwörungsideologisch 9 Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im und antisemitisch motivierte Terror dieser Sorte will keinen realitalienischen Squadrismus und in der deutschen SA (2002) politischen Einfluss im nationalstaatlichen Rahmen ausüben, son 10 Heike Kleffner/Matthias Meisner: Extreme Sicherheit. Rechtsradikale in Polizei, dern mediale Zeichen an seine internationale Fangemeinde senden. Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz (2019). Ein aktueller Überblick zur Situation bei Eliteeinheiten der Bundeswehr steht hier: https://bit.ly/2M7vfYA Häufig wird dabei das Ziel verfolgt, ein apokalyptisches Szenario von Systemzusammenbruch, Bürger- und »Rassen«krieg auszulö 11 Roger Griffin: The Nature of Fascism (London 1993) sen oder zu beschleunigen. 12 Michael Mann: Der Faschismus und die Faschisten. In: Mittelweg 36, Feb./ Zu Opfern dieses Terrors werden nicht-»weiße« und jüdische März 2007, 26-54 Menschen, aber auch wirkliche oder vermeintliche Vertreter*innen 13 So der rechtsintellektuelle Antikommunist Ernst Nolte in: Einleitung: Vierzig Jahre Theorien über den Faschismus. In: Ders. (Hg.): Theorien über den Faliberaler Eliten. Die Rechtsterroristen geben diesen Eliten die Schuld schismus. Königstein/Ts. 1984, 15-72 (zuerst 1967), 16/17 an ethnischer und kultureller Vermischung, Massenzuwanderung 14 Der Soziologe Andreas Kemper hat die faschistische Gewaltrhetorik am Beispiel sowie allgemein an der von Rechten beklagten Verweichlichung des AfD-Spitzenpolitikers Björn Höcke analysiert. Siehe https://bit.ly/2TMClWz und Dekadenz der »weißen Völker« und insbesondere des »weißen 15 »Pogromhelden« hießen bei Lenin die Mitglieder antisemitischer, monarchisMannes«. tischer, ultranationalistischer, christlich-fundamentalistischer Kampfbünde in Ein politischer Erfolg des neofaschistischen Terrors ist unwahrRussland um 1900 (»Schwarzhunderter«). scheinlich. Die wirtschaftliche Globalisierung – und mit ihr die von 16 Yassin Musharbash/Holger Stark: Der einsame Wolf und sein digitales Rudel den Rechten beklagte weltweite Hybridisierung und Vereinheitli(DIE ZEIT, 23.3.2019, https://bit.ly/3dm9wI4) chung von Kulturen – würde sich nur sehr schwer zurückzwingen lassen. Die Gesellschaften des globalen Nordens und Westens werden weiterhin ethnisch-kulturell vielfältiger werden, dafür sorgt schon die großstädtische Bevölkerungsentwicklung. Diese Geselltt Mathias Wörsching ist Historiker und Politologe aus Berlin. Er schaften beginnen allmählich, ihren bisher hegemonialen »weißen« betreibt die Internetseite faschismustheorie.de. Jüngst erschien sein Charakter zu verlieren. Und auf internationaler Ebene verlieren sie Buch »Faschismustheorien. Überblick und Einführung« in der R ­ eihe theorie.org beim Schmetterling Verlag (Stuttgart 2020). an Vorherrschaft gegenüber der kommenden Supermacht China. iz3w • Juli / August 2020 q 379

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Was Rechte hassen (I): Black Panthers in Oakland (1969) | Filmstill aus »The Black Panthers: Vanguard of the Revolution«

Mörderische Anti-Weiblichkeit Warum ist – nicht nur rechte – Gewalt immer Männergewalt? Klaus Theweleits Opus Magnum »Männerphantasien« gilt als Grundlagenwerk der kritischen Männerforschung. Im Buch »Das Lachen der Täter« befasste er sich mit der Tötungslust von Attentätern wie Anders Breivik. Der hier veröffentlichte Essay verdichtet Theweleits Thesen über den Ursprung der Gewalt im dominanten Konzept von Männlichkeit.

und für Frauen. Aber es gibt sie so gut wie überall für Männer – organisierte, straflos bleibende, göttliche Kriminalität. Wer nach Fällen weiblicher exzessiver Tötungslust sucht, wird kaum mehr als vier Handvoll Einzelnamen finden, darunter die aus den KZs und aus Abu Ghraib. Aber vierzig Millionen Männernamen.

Aus allen Klassen und Schichten von Klaus Theweleit Ihr fragt mich für diesen Beitrag: »Warum ist Rechte Gewalt historisch wie aktuell so extrem stark männlich geprägt?« Ich frage, »nur Rechte Gewalt«? Und sage: Gewalt ist männlich. Unter Männern (richtigen) ist das keine Frage. Mann ist stolz darauf. Alle Evidenz ist auf seiner Seite. Nennt eine Frau, die irgendetwas mit der Entfesselung vom Ersten oder Zweiten Weltkrieg zu tun hatte. Oder mit dem Tötungswahn des Vietnamkriegs; mit den Terrorakten des »Islamischen Staats«. Gut (bzw. nicht gut): Lady Thatcher oder Madame Albright können in Anschlag gebracht werden, neuerdings auch Frau KrampKarrenbauer, die (verbal) zu zündeln beliebt. Aber das sind Offizial-­ Frauen an der Spitze manndefinierter Institutionen; in solchen Positionen verlieren sich Gender-Zuschreibungen. Die »Macht« wird nicht dadurch weiblich, dass eine Frau sie ausübt. Das VomZaun-Brechen der Golfkriege war keine Frauenproduktion; ihre praktische Durchführung ohnehin nicht. Es gibt keine staatlich geförderte marodierende Killerkultur irgendwo auf der Welt von tt

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Im Buch »Das Lachen der Täter« (2015) – eine Art Fortsetzung der »Männerphantasien« – habe ich eine Universalität lustvoll vollzogener Folter- und Tötungsakte durch soldatische Männergruppen für viele Weltregionen konstatiert: Guatemala, Chile, Argen­tinien, Indonesien, Zerfallskriege Jugoslawiens, Ruanda, ­Kongo, Zentralafrika, Nordafrika, Naher Osten, deutsche SS, britische und amerikanische Truppen im Irak, Afghanistan etc., etc. Überall, wo soldatische Horden, aber auch unmilitärisch organisierte Männergruppen bewaffnet wüten dürfen (oder sollen), setzen sich Formen exzessiver Lust an Tötungsvorgängen durch; mit oder ohne Gebrauch von »Geschlechtswerkzeugen«; exekutiert in tranceähnlichen Zuständen, wie ich sie in »Männerphantasien« modellhaft bei deutschen Freikorps-Soldaten beschrieben habe. Soziologische Zuschreibungen greifen hierbei nicht; beteiligt sind Männer aller Klassen und Schichten. Bei öffentlichen Morden und Massakern kann man die Tätergruppen einschränken: vorwiegend Männer im Alter zwischen 16 und 35. Wo eine staatliche Erlaubnis, die diesen Männern Straflosigkeit garantiert, fehlt, setzen sich Männer, die zum Morden entschlossen tt

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Rechte Gewalt sind, selbst als diesen »Staat«. Breivik etwa stellt sich als ausübendes Woher die Ängste? In »zerstörten« Körpertypen gibt es einen Zwang Organ seiner Tempelritter-Bruderschaft dar: Ein Mann aus eigenem zur Gewalt, der zu tun hat mit dem Wunsch, eine Körperganzheit Recht, aus eigener Göttlichkeit. So wie sich der »Islamische Staat« herzustellen. Es geht um Männer, die leben müssen mit dem, was eben deswegen »Staat« nennt. ich »Fragmentkörper« nenne. Körpern, denen es nicht gelungen Männlich-institutionelle Lebensformen basieren in »unserer ist, aufgrund verschiedener Störungen in ihrer Kindheit und ihrer Kultur« seit Jahrtausenden auf dem Ausschluss von Frauen; sei es weiteren Entwicklung ein Gefühl von Körperganzheit auszubilden. Dieser Begriff ist entlehnt aus der Kinderpsychoanalyse; mir bekannt auf dem Ausschluss von Frauen von religiösen Funktionen der jeweiligen Herrschaftskirchen; sei es dem Ausschluss von wissengeworden ursprünglich über meine Frau und ihre Kolleg*innen von schaftlichen, technologischen und kriegerischen Entwicklungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik, wo sie viele Jahre der kolonialen Eroberung des Planeten durch »weiße Männer«. als klinische Psychologin gearbeitet hat. Psychoanalytisch gesproNicht mal auf Shakespeares Theaterbühnen waren Frauen zu sehen, chen handelt es sich um eine »fehlende libidinöse Besetzung der die Opernkomponisten mussten für die Sopranpartien mit Kastraeigenen Körpergrenzen«. ten auskommen. Viele Jungs, meist schwer geprügelt oder anders misshandelt, Untersuchungen der Weltreligionen ergeben ihre grundsätzliche leben in permanenter Angst vor Einbrüchen von Außen in ihre Übereinstimmung in einem einzigen Punkt: Kontrolle des Frauenangstdurchsetzte unsichere Körperlichkeit. Sie setzen zum Beispiel körpers, insbesondere Kontrolle des Heirats- und Geburtenwesens die gepanzerten Außengrenzen ihres Körpers emotional mit Landurch Gebote und Gesetze. Nirgendwo dürfen Frauen heiraten und desgrenzen gleich – ein Schutzmechanismus. Wir haben in den gebären, wie sie wollen, geschweige denn sich sexuell verhalten, letzten Jahren erlebt, dass die vielen Menschen auf der Flucht so wie sie wollen. Dafür gibt es Kirchen und Gerichte. Gotteswort ist empfunden wurden, als würden sie direkt in die Körper der – sich Manneswort – ohne Ausnahme, weltweit. Auf Abweichung steht – an vielen Orten bis heute – Todesstrafe. Wer so etwas historisch durchsetzt? Die Stärkeren: bewaffnete Männer. Diese sind von Paradoxen geprägt, genauer von Zerrissenheiten: Sie sind nicht die strahlenden »Helden«, als die sie sich gerne sähen. Der »Gewaltmann« ist nicht göttlich, er ist ein armes Schwein; er ist ein kaputter Typ, in seinem Aufwuchs zur Sau gemacht von seinen eigenen Oberen. Männliche Herrschaft ist ungeteilt und hierarchisch. Männliche Herrschaft will niemals Gleichheit. Männliche Herrschaft basiert auf dem Prinzip Führung. »Führer« verlangen Gefolgschaft und Gehorsam. Auf Abweichung steht Todesstrafe. So wie bei Frauen, die das Bett religiöser Gebote verlassen und nicht folgen. Männliche Herrschaft und demokratisches Fühlen sind Gegensätze. Erst wo es geteilte Was Rechte hassen (II): Feministischer Protest in Manhattan Herrschaft gibt, hört sie auf, definitiv männlich zu sein. Filmstill aus »She’s Beautiful When She’s Angry«

Auf Angst folgen Gewaltphantasien Das schärfste Paradox: Gewaltverbundene Männerkörper sind angefüllt mit Angst. Das stärkste Gefühl, zu dem »fragmentierte Körperlichkeit« in der Lage ist, ist die Furcht vor Körperverschlingung. Der Boden geht weg unter den Füßen. Sümpfe, Schlamm, Schleime, Breie, Schlick und Scheiße, die ganze sich in Modder auflösende Umwelt drohen »ihn« zu verschlingen. Es muss zurückgeschossen werden (auch wo niemand schießt). Es »schießt« aber ständig wer. Paradoxerweise genau diejenigen, die nicht bewaffnet sind; jedenfalls nicht mit Männerwaffen. Die Männerwelt »unserer Kultur« hat seit ungefähr 5.000 Jahren beschlossen, dieses »Körperverschlingende« mit einem Namen zu versehen: Weiblichkeit. Immer wo Mannheiten von Sümpfen, Schlamm, Schleimen, Breien, Schlick und Scheiße phantasieren, die sie zu »verschlingen« drohen, reden sie von Gefahren, die vom weiblichen Körper ausgehen; jedenfalls von dem, was sie als »weiblichen Körper« wahrzunehmen behaupten. Dieses Sumpfgebiet »da unten«, in dem es wimmelt von Schlangen-, Spinnen-, Oktopus- und Quallenbrut, die vielarmig darauf lauern, den armen Held-Kerl zu Brei zu machen im Blutstrom verseuchter Vaginalgewässer. Dort sei das Gift (unter anderem die Syphilis; im Deutschland der Welt­kriege auch bekannt unter dem Namen »jüdische Lustseuche«). tt

nun als politisch »rechts« zeigenden – Leute »einströmen«; und nicht einfach nur in deutsche Gebiete. Beim Lesen der Selbstbeschreibungen verschiedener Täter geht einem auf, was Gewalt für sie strukturell bedeutet: eine Überlebensversicherung mit der Ingangsetzung dessen, was die Kinderanalytikerin Margret Mahler »Erhaltungsmechanismen« nennt. Diese beinhalten ein Verfahren der Entlebendigung und Entdifferenzierung der Erscheinungen der Außenwelt; ein Verfahren, sich selbst »heil« zu machen durch Gewalt gegen alles, was sich ihren Forderungen, die sie »Bedürfnisse« nennen, nicht fügt. In den gesellschaftlichen hierarchischen Strukturen, die sie anstreben, ist der Männerkörper oben, der Frauenkörper immer unten. Gesellschaftlich oben stehen ein Führer und das Militär; gegebenenfalls der Adel, dann die Unternehmer und die »richtigen« Politiker; unten die Frauen, die Kinder, das Proletariat und fremde »niedere Rassen«. Das nennen sie »Ordnung«, »naturgegebene«. Wer gegen sie verstößt, ist des Todes. Politisch hat das Faschismus hervorgebracht. Merksatz: Faschismus ist keine Ideologie, sondern eine zerstörerische Art und Weise, die Realität herzustellen. Von hier zurück zum Punkt »Ausschluss«: Das »Rätsel«, warum Frauen, deren Körper auch angefüllt sein kann mit Ängsten und

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Rechte Gewalt Gewaltphantasien, weniger am ekstatischen Massenmorden beteiligt sind, könnte diese Lösung haben: Weil ihre Männer sie nicht dabei haben woll(t)en. Denn welcher IS-Mörder oder Kolonisator wollte oder will denn seine Schwester(n) dabei haben oder seine Frau oder Mutter, wenn er, unterm Gejohle der Kumpanen, einem »ungläubigen« Gefangenen den Kopf abschneidet; wenn er beim Erobern der Zeltdörfer oder der zerbombten Städte schwangeren Frauen die Bäuche aufschlitzt? Wenn er eine Jüdin vergewaltigt, bevor er sie in die Grube schießt? Natürlich sollen die Seinen das nicht sehen. Und ihm diese Lust dann etwa verderben. Nein, das Killen soll mannexklusiv sein. Frauen haben darin keine (für ihn) vernünftige Funktion. Ausschluss auch hier. Frauen haben hier nichts zu suchen! Frauen – seine Frauen – sind für anderes gedacht. Dafür gibt es das »Zuhause«; sie sollen sich um den Krieger kümmern, wenn er abends (oder irgendwann) nach Hause kommt, aus der Schlacht und dem Schlachten – für Gott und Vaterland und für die Frauen. »Denn deshalb tun wir das ja nur, meine Liebe.« Und sie – leckt ihm das Blut ab? So soll es sein, in der gegenderten Welt. Und sie hat, während er »weg« war, niemanden herangelassen an ihre Körperlichkeit. Dafür erfand Mann vor 2700 Jahren das grauenhafte Funktionsmodell Penelope: Sie wartete 20 Jahre zuhause auf ihren Mann Odysseus. Ein Gesetz, das kulturhistorisch verkauft wird als »Liebe«.

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Handicap der Jugendlichen der Weltkriege, dass sie aufs Töten losgelassen wurden, ohne Formen der Liebe zu kennen; aufs Töten von Frauen, ohne Frauen zu kennen. Es ist gerade die Abwesenheit sexueller Gefühle, die männliche Töter befähigt, ihre Geschlechtswerkzeuge einzusetzen, bis der Tod eintritt. Dass sie onanierend daneben stehen können, wo ihren Opfern Brüste und Penisse abgeschnitten werden oder Glasscherben und Eisenstangen eingeführt werden in weibliche Genitalien, wie Pasolini es filmisch vorführte, oder die mordenden Studenten in Ruanda an »lebenden Objekten«. »Sexualisierte Gewalt«? Eher Gewalt gegen Sexualität. In manchen Körpern »lebt«, was in glücklicheren Körpern die sexuelle Empfindung ist, in der Verwandlungsform »Sexualität als Gewalt«. Es gibt männliche Körper, die »Lust« nur erfahren, wenn sie sie aus anderen Körpern vertreiben. Die nur dann »leben«, wenn sie das Leben anderer auslöschen. »Männlich-toxisch«?

Weil die Welt scheiße ist

Ein Indiz aus der Corona-Quarantäne: Kaum ein paar Tage alt, erhob sich die Furcht vor dem Anstieg »häuslicher Gewalt« als erstes Begleitgespenst. Jede(r) wusste, was gemeint war: Dass eingesperrte Männer über kurz oder lang gewalttätig werden gegen jene, die am dichtesten an ihnen dran sind, ihre Frauen und Kinder. Kein konkreter Fall war nötig, um »die Medien« mit Morden im Livestream dem Ruf »mehr Frauenhäuser« zu füllen; eine auch in Nicht-Cott Nach wie vor tobt im verborgen/offenen Zentrum aller männlichrona-Zeiten notwendige Forderung. Corona enthüllte als allgeterroristischen Aktivitäten auf der Welt die mörderische Anti-Weibmeinen Hirnbefund: Männer, die nicht in ihren Kneipen- oder lichkeit. Ihre neue Relevanz erhält sie durch das Netz. Was vor Inanderen Alltagsverbünden ihr Pensum abkämpfen oder wegsaufen ternet-Zeiten unterging als »Sektierertum« in der weitgehenden können, erledigen das nun »daheim«; und wenn da nicht alles Isolation einzelner »Rechter«, versichert sich durch das Netz seiner flutscht, setzt es was im Homeoffice. weltweiten Bedeutung. Und »warum«? Weil die Welt scheiße ist, der Job, die Chefs, Der Altright-Mann Minassian grüßt den Attentäter-Kollegen das sogenannte »Leben«. Zu viel Scheiß und zu wenig Geld und Elliot Roger, der 2014 nahe der University of Santa Barbara sechs zu viele Idioten überall ringsum, und der eigene Verein »kämpft« gegen den Abstieg, so wie Mann selber. Nachbarn und Haus­ Menschen tötete und vierzehn verletzte, kurz vor seinem eigenen meister aller Sorten sind total blöde; das nervt besonders, wenn Attentat als »obersten Gentleman«. Elliot hinterließ ein Manifest, man weg­gesperrt ist und jeden Tag die Altmaiers und Neumeiers in dem er von einer Zukunft ohne Sexualität träumt: Frauen seien in Konzentrationslagern hinzurichten. Die Pogrom-Programme sind ihren Scheiß im Fernseher absondern hört. Das Auto soll Mann formuliert und öffentlich ausgestellt. Ihren Protagonisten bleibt, auch stehen lassen; und wer ist Schuld dran, wenn niemand sonst solange ihnen die gesellschaftlich-politische Macht zu ihrer Durchda ist? Na – weiß doch JEDER. Da müssen doch die Fetzen fliegen. setzung fehlt, der Terrorakt: Attentate mit oder ohne Die Furcht, dass der Anteil ermordeter suizidalem Ausgang. Ehemänner steigt, äußert niemand. So Männliche Herrschaft Keines dieser Attentate ist ein Amoklauf. Jüngste sehr vertraut die (Männer)Welt der Fälle wie die Morde der Täter von Halle und Hanau Friedfertigkeit von Frauen. und demokratisches Fühlen wie auch die der amerikanischen Altright-Männer, Was aber braucht Mann, wenn ihm sind Gegensätze des IS oder des neuseeländischen Massenmörders die Welt quer steht und ihm die ZaTarrant belegen das nachdrücklich. Unwiderleglich, cken aus der (eingebildeten) Krone seit die Mordenden ihre Taten live filmen und in Netzwerken haut? »Wer bin ich denn? Wer sind wir denn? Diktatur der Viro­ streamen. Aber auch die Früheren haben die Taten ihrer »Vorgänlogen! Grundrechte!!« Er braucht eine, die ihm die Zacken wieder ger« genau studiert, haben sich gleiche Waffen besorgt, haben einsetzt. Wie eine Zahnärztin? Das geschieht, indem jemand Anlosgeschlagen an »Gedenktagen« (wie den fünften Jahrestag von deres ­erniedrigt wird. Breiviks Utöya-Morden) oder haben die Orte anderer Attentate »Mann kaputt – dein Name ist Gewalt« tönt es, frei nach aufgesucht. Der Münchner Attentäter David S. hatte das Buch des Shakespeare. Ich zucke also immer ein wenig, wenn die Frage Psychiaters Peter Langman, der alle Schulattentate in den USA »Warum Männer?« in den Raum gestellt wird: Weiß doch Jede(r). untersucht hat, neben seinem Bett liegen. Genaue Planung mit Schön immerhin, dass es auch Männer ohne Krone gibt; beziedem Ziel des Tötens. Bei jedem Attentäter gibt es nachweislich hungsweise nur mit solchen vom Zahnarzt. diesen Entschluss. Radikale Kündigung jedes geltenden Sozialvertrags. Attentäterinnen dieser Art: Keine. tt Klaus Theweleit ist Autor, Literaturwissenschaftler und Die Lust von »Mann kaputt« am Morden hat dabei wenig zu tun mit »Sexualität«. Heiner Müller sah es als das große psychische Kulturkritiker. Er lebt in Freiburg. tt

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Geografie des Rassismus in den USA »Geschichten wurden verwendet, um zu enteignen und um schlechtzumachen, aber Geschichten können auch dazu dienen, zu empowern und zu vermenschlichen. Geschichten können die Würde von Menschen zerstören, aber sie auch wieder reparieren.« Dieser Auszug aus dem berühmten TED-Talk »Die Gefahr der einen einzigen Geschichte« der nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie steht dem Buch When They Blew the Levee voran und darf als dessen Motto verstanden werden. Die Autor*innen Lawless und Lawrence versuchen darin, die Geschichte der afroamerikanischen Ortschaft Pinhook, Missouri zu rekonstruieren. Pinhook liegt im Bootheel von Missouri, jenem Zipfelchen Land, das der südöstlichsten Ecke des am Reißbrett gezeichneten Staates anhängt, nach Osten begrenzt durch den Mississippi. Diese Lage sollte dem Städtchen zum Verhängnis werden: Am 2. Mai 2011 wird es bei einer Flut vollkommen zerstört. Es geht in »When They Blew the Levee« um zwei gegensätzliche Erzählungen der Ereignisse: Da ist einmal die offizielle des Army Corps of Engineers, in der die Dammsprengung, die zur Überflutung und Auslöschung von Pinhook führte, als Erfolgsgeschichte verkauft wird, da sie die Wassermassen von umliegenden Ortschaften ablenkte. Die Existenz des Städtchens wird im offiziellen Narrativ verschwiegen – nur so war es möglich, Pinhook zu Gunsten von Cairo, Illinois, das aufgrund der Sprengung von der Flut verschont wurde, den Wassermassen auszusetzen. Pinhook war nicht einmal gewarnt worden und musste sich innerhalb von 24 Stunden selbst evakuieren. Für die Umsiedlung gab es keinerlei Unterstützung. Das Versagen des Army Corps of Engineers und die fahrlässige Gefährdung der Bewohner*innen werden bis heute geleugnet. Bis heute warten die Bewohner*innen auf Anerkennung von staatlicher Seite, ein Wiederaufbau ist nicht geplant, eine materielle Entschädigung wird verweigert. Lawless und Lawrence wollen dem eine Gegenerzählung gegenüberstellen: die der Bewohner*innen. Pinhook war in den späten 1930er Jahren gegründet worden, als eine Gruppe afroamerikanischer Sharecropper aus dem tiefen Süden auf der Suche nach Land hier siedelten. Die Ansiedlung war nur auf eigenem Land möglich, und Land für Afroamerikaner*innen gab es nur im Überschwemmungsgebiet – dazu noch hoffnungslos überteuert. Es ist eine Erzählung, die sich einreiht in die lange Geschichte struktureller Diskriminierung ländlicher afroamerikanischer Communities. Pinhook ist beileibe nicht die einzige von Afroamerikaner*­ innen gegründete Ortschaft, die aufgrund von Behinderungen beim Landerwerb im Überschwemmungsgebiet gebaut werden musste. Die Geschichte ihrer Bewohner*innen ist Zeugnis einer Community, die trotz des Verlusts ihres Lebensmittel­punkts eine tiefe Verbundenheit pflegt. Im Kampf um Anerkennung und Gerechtigkeit steht sie dafür ein, dass ihre Version der Geschichte gehört wird. Die Autor*innen des Bandes sehen sich als Verbündete in diesem Kampf, ohne aber ihre Rolle als Akademiker*innen und Ethnograf*innen dabei zu überschätzen oder zu glorifizieren. Für die Bewohner*innen sind sie »der Typ mit den Dreads und die weiße Lady«; eine Bezugnahme mit »etwas Belustigung und viel Zuneigung«, so Lawrence und Lawless. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass sie die Stadt niemals kennengelernt hätten, wäre sie nicht zerstört worden. Dabei sind tt

beide Forscher*innen in Missouri aufgewachsen, Lawless wohnte sogar nur wenige Meilen von Pinhook entfernt. Mit Hilfe von Oral-History-Methoden erzählen sie in der Tradition der US-amerikanischen Folkloreforschung die (Kultur-)Geschichte einer ausgelöschten Stadt, deren Community allerdings nicht ausgelöscht wurde. Sie tragen damit zu einer Historiografie »von unten« mit dezidiert politischer Schlagrichtung bei, wie sie in den USA eine lange Tradition hat. Aufgrund der Zentralität mündlicher Überlieferungen in vielen Schwarzen Communities und der Bedeutung kreativer Ausdrucksformen wie Blues, Jazz und Gospel spielen diese Praktiken gerade für die afroamerikanische Community eine wichtige Rolle. Geschichte und Geschichten stiften Identität, vermitteln Wertschätzung und dokumentieren die Entwicklungen in den Communities. Selbstverständlich laufen derartige Herangehens­ weisen Gefahr, in Bilder zu münden, die die Subjekte exotisieren und sozialromantischen Darstellungen Vorschub leisten. Allzu oft wollen solche Darstellungen den Sehnsüchten und Erwartungshaltungen einer vornehmlich weißen urbanen Leser*innenschaft entsprechen, die in sentimentaler Weise die Tragik des Geschehenen im Untergang einer mythischen, einfachen Welt des ländlichen Zusammenlebens sehen will. Lawless und Lawrence versuchen dem entgegenzuwirken, in dem sie ihre Feldforschung politisch und reziprok gestalten. Sie bauen freundschaftliche Beziehungen zu den verstreut lebenden Bewohner*innen auf, besuchen deren Zusammenkünfte, ermöglichen ihnen, auf Konferenzen zu sprechen und besprechen das rekonstruierte Narrativ immer wieder bezüglich der Richtigkeit mit ihnen. Sie sind bewusst zurückhaltend, wenn es um politischen Aktivismus ihrerseits geht: Die Bewohner*innen sollen im Vordergrund stehen, sei es nun das Narrativ des Buches oder bei der Publikmachung des Skandals um die Dammsprengung. Dennoch erscheint in ihrem Buch das Pinhook vor seiner Zerstörung als allzu idyllischer Ort. Konflikte scheint es nicht zu gegeben zu haben, einzig die Lage im Überschwemmungsgebiet wird beklagt – mehrfach musste nach größeren Fluten wiederaufgebaut werden. Tatsächlich mögen soziale Konflikte angesichts der existenziellen Not, unter der viele Bewohner*innen heute noch leiden, in den Hintergrund treten und die wiederkehrenden Überschwemmungen gegen den aktuellen Verlust jeder Lebensgrundlage als bloße Unannehmlichkeit erscheinen. Trotz dieser Schwäche ist »When They Blew the Levee« ein beeindruckendes Werk, das anhand des Beispiels von Pinhook den zutiefst rassistischen Umgang mit »all-black towns« in den USA beschreibt. Es ist eine Geschichte, die hiesigen Leser*innen und auch vielen US-Amerikaner*innen bislang völlig unbekannt sein dürfte. Es ist außerdem eine gelungene Ethnografie, die auf Augenhöhe mit den betrachteten Subjekten verfasst wurde. Bislang sieht es aber nicht danach aus, dass sie ihr Ziel – Gerechtigkeit für Pinhook – einlösen kann. Kathi King Elaine J. Lawless, David Todd Lawrence: When They Blew the Levee. Race, Politics, and Community in Pinhook, Missouri. University Press of Mississippi, 2018. 224 Seiten (br.), 23,50 Euro.

tt

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»Die Bevölkerung von La Réunion sollte in Armut gehalten werden« Interview mit Françoise Vergès über »Le ventre des femmes«

Françoise Vergès wurde 1952 geboren und wuchs auf der Insel La Réunion im Indischen Ozean auf – eine ehemalige französische Sklavenkolonie. In ihrem Buch »Le ventre des femmes« (Der Bauch der Frauen) zeigt die Politologin und Feministin, dass der französische Staat dort eine koloniale Politik ­fortführte, auch nachdem 1946 La Réunion zu einem französischen Übersee-Département wurde. Der Ausgangspunkt ihrer Studie sind tausende Zwangsabtreibungen, die in den 1960er Jahren auf La Réunion vorgenommen wurden.

iz3w: In den 1960er Jahren, als Schwan-

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1946 wurden einige französische Kolonien zu Übersee-Départements. Der Staat war der Ansicht, dass Martinique, Guadeloupe, Französisch-Guayana und die Insel La Réunion »unmöglich« zu entwickeln waren. Die Einführung der Geburtenkontrolle ist eine Folge der politischen Entscheidung, die Bevölkerung von La ­Réunion in Armut und in einem neokolonialen Regime zu halten. La Réunion hätte sich ohne diese Abhängigkeit von Frankreich völlig eigenständig entwickeln können. Aber die lokalen Kleinindustrien – auch sie bildeten die ungerechte Kolonial- und Sklavenwelt nur ab – wurden systematisch zerstört. Noch als ich auf der Insel aufwuchs, gab es dort viele Krankheiten wie Elephantiasis oder Kropf. Die Kinder waren schlecht ernährt, es gab keine Kanalisation, kein fließendes Wasser. tt

gerschaftsabbrüche in Frankreich noch ­kriminalisiert waren, nahmen Ärzt*innen im Übersee-­Departement La Réunion erzwungene Abtreibungen vor. Worum geht Der Skandal um die ungewollten Schwangerschaftses hier? abbrüche offenbart also auch eine fortbestehende Kolonisierung nach der offiziellen Dekolonisierung? Françoise Vergès: Im Juni 1970 reichte t Ja, die Geburtenkontrolle ist nicht von einer ein Arzt eine Beschwerde ein, nachdem er ein junges Mädchen wegen einer fortbestehenden kolonialen Politik zu trennen. schlecht durchgeführten Abtreibung im Weiter diente die Deindustrialisierung dieser als eigenen Blut liegend auffand. Damit wurnutzlos erachteten Gebiete in den 1960er Jahren de ein Skandal aufgedeckt: Seit Mitte der als Rechtfertigung für eine Politik zur Massen­ 1960er Jahre wurden in La Réunion jährauswanderung. Der Staat organisierte die Auslich bei 6.000 bis 7.000 Frauen Abtreireise tausender junger Menschen – aus Martibungen und oft auch Sterilisierungen nique, Guadeloupe, Französisch-Gua­yana oder Françoise Vergès | Foto: Llann Wé² durchgeführt – ohne die Einwilligung der La ­Ré­union – in den französischen Arbeits­markt. Frauen. Von Sozialarbeiter*innen oder Der Staat erklärte den Menschen, dass sie z­ uhause Ärzt*innen an Kliniken überwiesen wurde ihnen gesagt, dass sie keine Zukunft hätten, keine Arbeit finden würden, dass die Zukunft anderswo liegen würde. Denn die französischen öffentlichen Dienssich einer Operation mit Vollnarkose unterziehen müssten. Es waren von Armut und Rassismus betroffene Frauen, die oft kein te, Krankenhäuser, Hospize, Kinderkrippen oder Schulen brauchten Französisch verstanden. Einige von ihnen waren im fünften oder Arbeitskräfte im Niedrig­lohnbereich. Die Industrie brauchte Ungelernte und die Familien der Bourgeoisie eine Dienerschaft. sechsten Monat schwanger. Damals verfolgte der französische Staat eine doppelte Bevölkerungspolitik: Einerseits wurde in Frankreich eine natalistische Politik Umgekehrt gab und gibt es auch Menschen aus Frankreich, die ermuverfolgt, die Frauen durch Sozialgesetze wie Mutterschaftsurlaub tigt werden, in die Übersee-Départements zu gehen. oder Krippen zur Reproduktion ermutigte. Dazu wurde Abtreibung tt Sehr sogar. Diese neuen Départements brauchten Ärzt*innen, scharf bestraft und der Zugang zu Verhütungsmitteln noch nach Krankenpfleger*innen, Lehrer*innen, Professor*innen und so weiter. Da bis in die 1980er Jahre hinein keine Ausbildung vor Ort orgaihrer Legalisierung 1969 erschwert. Gleichzeitig förderte der Staat aber in den sogenannten Überseegebieten, also in ehemaligen nisiert wurde, kamen ganze Kontingente weißer Franzosen. Erst Kolonien wie La Réunion, Abtreibung und Sterilisierung sowie die viele Jahre später wurden Einheimische Ingenieur*innen, Lehrer*innen oder Ärzt*innen. Verbreitung von Verhütungsmitteln. Es ist ein Skandal, der mehrere Probleme vermischt: die Macht weißer Männer über rassifizierte Frauen, das Fortbestehen von Kolonialpolitik trotz offizieller Die Situation hat sich also seit den 1970er Jahren etwas verbessert? Dekolonisierung und die Einflußnahme des Staates darauf, wer tt Strukturell hat sich nichts geändert: Es sind immer noch die Kinder haben soll und wer nicht. Franzosen aus Frankreich, die auf der Insel das Sagen haben. Der Präfekt, der ja der Vertreter des Staates ist, ist stets ein weißer Mann Wie wurde diese doppelte Bevölkerungspolitik gerechtfertigt: eine aus Frankreich. Zwischen 70 und 90 Prozent der Waren werden ­natalistische Politik in Frankreich und eine antinatalistische Politik immer noch aus Frankreich in die Überseegebiete importiert. Das auf La Réunion? Leben ist dort viel teurer, während die Einkommen viel geringer iz3w • Juli / August 2020 q 379


La Réunion

sind. Frankreich entscheidet weiter über die wirtschaftlichen und sozialen Prioritäten. Die Veränderungen sind den Kämpfen vor Ort zu verdanken. Die Bevölkerung blieb nicht passiv: Es gab 2009 große Streiks. Die Bewegung der Gelbwesten war auf La Réunion sehr wichtig. Verbesserungen sind immer nur das Ergebnis von Kämpfen, denn die neokoloniale oder postkoloniale Politik des französischen Staates ändert sich nicht von alleine.

wie sich Kolonialismus und Sklaverei auf Weiblichkeit, Männlichkeit und Reproduktion in den Kolonien auswirkten.

Diese Blindheit der Feministinnen der 1970er Jahre gegenüber der Kolonialfrage steht in seltsamen Kontrast dazu, dass sie sich ausgiebig der kolonialen Rhetorik bedienten. tt Die »Frauenbefreiungsbewegung« (Mouvement de libération des femmes, MLF) wird als Echo der nationalen Befreiungsbewegungen in kolonialisierten Ländern bezeichnet. Und in der »­ Hymne Sie stellen die These auf, dass es für die Frauen speziell auf La Réunion der MLF« lautet der erste Vers des Refrains: »Lasst uns Sklavinnen ein Akt des Widerstands war, Kinder zu bekommen. Wieso? erheben«. Schon im 18. Jahrhundert haben sich Frauen, die heute tt Dem neoliberalen demografischen Diskurs zufolge ist es negativ, als Feministinnen gelten, mit Sklavinnen verglichen, weil sie ihren viele Kinder zu haben. Aber Kinder sind Leben. Weiterhin Kinder Brüdern, Vätern oder Ehemännern »gehörten« und sich nicht scheiden lassen oder wählen gehen konnten. Diese Metapher zu wollen, gerade als der Staat dem massiv entgegen arbeitete, sehe ich als Widerstandsakt. Heute ist La Réunion das Überseewurde von der MLF aufgegriffen. Doch weiße Frauen waren besser Département mit der jüngsten Bevölkerung. Zwar hat die Regierung gestellt als schwarze Frauen. Manche besaßen sogar Sklav*innen außer der Geburtenkontrolle auch die Emigration gefördert; Maroder lebten dank ihren Männern vom Zucker-, Kaffee- oder Baumtinique und Guadeloupe waren aber noch stärker wollhandel: Ihr Reichtum beruhte auf davon betroffen. Heute haben diese beiden DéparSklaverei. »Die Frau« ist eine fiktive tements die älteste Bevölkerung der Französischen Kategorie. »Die Geburtenkontrolle ist Diese Äquivalenz beruht auf einer Republik. nicht von einer kolonialen Blindheit gegenüber der realen Situa­ Politik zu trennen« Wenige Monate nach der Enthüllung des Skandals der tion jener Frauen, die versklavt wurden Zwangsabtreibungen veröffentlichte die Wochenzeiund darunter leiden mussten, dass sie tung »Le Nouvel Observateur« 1971 das feministische Frauen waren, dass sie schwarz waren, »Manifest der 343« für die Legalisierung von Abtreibungen. Darin fand dass sie Sklavinnen waren und daher als Handelsware galten, als sich keinerlei Hinweis auf die in La Réunion durchgeführten ZwangsKörper, die gehandelt, vergewaltigt, oder gefoltert werden konnten. abtreibungen, obwohl diese in der Presse Aufmerksamkeit bekamen. Auch die Situation der französischen Frauen war damals nicht Wie ist das möglich? beneidenswert! Aber sie entsprach weder der Situation afrikanischer tt Einerseits teilte die französische feministische Bewegung der Frauen, die entführt und systematisch vergewaltigt wurden, noch 1970er Jahre die verbreitete Illusion, dass der französische Kolonijener von Frauen, die in Sklavengesellschaften geboren wurden. alismus 1962 mit dem Ende des Algerienkriegs abgeschlossen sei. Andererseits befasste sich der französische Feminismus weder mit seiner eigenen Geschichte noch mit der Haltung von Frauen, die tt Das Interview führte und übersetzte Adèle Cailleteau (iz3w). Eine als Feministinnen gelten, gegenüber der Sklaverei und dem Kolofranzösische Langfassung steht auf www.iz3w.org nialismus. Vielmehr wurde im 19. Jahrhundert die Kolonisierung weithin als Mittel zur Verbesserung der Situation von Frauen in diesen »zurückgebliebenen« Gesellschaften angesehen. Zweitens wurde die Unterdrückung der Frauen nur im Tunnelblick der als universell angesehenen Männerherrschaft betrachtet, als ob sie selbst nicht von Rassismus und Sexis­ mus betroffen wären. Frauen würden in erster Linie von Männern unterdrückt, überall in gleicher Weise. Die französischen Feministinnen der 1970er Jahre berücksichtigten nicht,

La Réunion, Markt von Saint-Pierre. Jean Legros (1920 – 2004) hat das Foto in den 1960er Jahren gemacht. Foto: Jean Legros. Mit freundlicher Genehmigung von M. Legros iz3w • Juli / August 2020 q 379

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ISSN 1614-0095

t iz3w Kronenstraße 16a 79100 Freiburg www.iz3w.org

Widersprüche 156

Zur alltäglichen Arbeit an den Grenzen von Zugehörigkeit Praxen der Migration zwischen Partizipation und sozialer Ausschließung 2020 – 132 Seiten – 15,00 € ISBN 978-3-89691-026-4

Christine Resch Thomas Wagner (Hrsg.)

Migration als soziale Praxis: Kämpfe um Autonomie und repressive Erfahrungen 2019 – 258 Seiten – 28,00 € ISBN 978-3-89691-269-5

Carina Book / Nikolai Huke Norma Tiedemann Olaf Tietje (Hrsg.)

Autoritärer Populismus im Auftrag der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung 2020 – 189 Seiten – 25,00 € ISBN 978-3-89691-257-2

www.dampfboot-verlag.de

Foto: Matthias Coers / zweischritte.berlin

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