iz3w Magazin # 380

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Science-Fiction – Aliens, Utopien und der ganze Rest

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Stürzende Denkmäler t Corona in den Philippinen t HipHop in der DDR

Sept./Okt. 2020 Ausgabe q 380 Einzelheft 6 6,– Abo 6 36,–


In dies er Aus gabe . . . . . . . . .

Titelbild: »Space is the Place« (John Coney, 1974), © A North American Star System Production & Rapid Eye Movies

Schwerpunkt: Science-Fiction 16 Editorial 18

Politik und Ökonomie 4

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Corona: Das Leben im New Normal 25

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Ein Referendum entscheidet über die Souveränität Neukaledoniens von Adèle Cailleteau

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Chile: Venceremos!

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Denkmalstürze I: Stürzende Altbauten

»Wir wollen Science-Fiction aus seiner anglophonen Hülle herauslösen« Interview mit Bodhisattva Chattopadhyay über Science-Fiction in Indien

Denkmalstürze II: Eine neue Konsequenz

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Transdimensionale und kulturpolitische Grenzen Science-Fiction auf Kuba von Nikolas Grimm

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Denkmalstürze III: »Diese Denkmäler verherrlichen Verbrechen«

Black Heroes for Future Konstruktionen, Unterdrückungen und Bearbeitungen des Schwarzen von Georg Seeßlen

Interview mit Karfa Diallo über Denkmalproteste in Frankreich

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Sozialismus am Wegesrand Zur sowjetischen Science-Fiction-Literatur von Matthias Schwartz

Auch in Belgien und den Niederlanden geht es gegen Kolonialdenkmäler von Tobias Müller

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»Science-Fiction gewinnt in China an Einfluss« Interview mit dem chinesischen Autor Cixin Liu

Die Denkmalproteste bezeugen kritisches Geschichtsbewusstsein

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Nazis in Reichsf lugscheiben Rechte machen mit Untergangsszenarien Propaganda von Jean-Philipp Baeck

Neukaledonien: Richtung Kanaky

Warum der chilenische Weg zum Sozialismus ein Vorbild sein kann von Nils Brock

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Was wäre, wenn es kein Geschlecht gäbe? Das machtkritische Potential der feministischen Science-Fiction von Alice Rombach

Antiziganismus: »Man kann dieser Rhetorik nicht entkommen« Interview mit Magdalena Marsovszky über Antiziganismus in Ungarn

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African Science-Fiction is still Alien Was können der US-amerikanische Afrofuturismus und die afrikanische Science-Fiction? von Diana Haußmann

Corona verändert den Alltag in den Philippinen von Sophie Thomas

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Ziemlich am Anfang – ein Krieg der Sterne Geschichte und Entwicklung von Science-Fiction von Franz Rottensteiner

3 Editorial

Denkmalstürze IV: Mit einer Lüge aufräumen Über die Statuenstürze in den USA von Kathi King

Kultur und Debatte 41

47 Rezensionen

Musik: »Ein Hauch von New York« Interview mit Leonard Schmieding über HipHop in der DDR

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50 Szene / Impressum

Sklaverei: Das verschwundene afrikanische Erbe Der Sklavenhandel am Persischen Golf von Oliver Schulten

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Editorial

Deutsche Projektionen Am 11. Juli wurden in Potočari bei Srebrenica acht Männer beigesetzt, die vor 25 Jahren dem Genozid in Srebrenica zum Opfer gefallen waren. Jedes Jahr werden im Rahmen einer Gedenkfeier Opfer beigesetzt, die erst jetzt identifiziert werden. Das liegt unter anderem daran, dass einige Massen­ gräber während des Bosnienkrieges mehrfach umgebettet wurden. Dieses Jahr fielen die Gedenkfeierlichkeiten wegen der Corona-Krise kleiner aus als für den 25. Jahrestag ursprünglich geplant. Aufgrund des »runden« Anlasses bekam das Thema dennoch zumindest kurz Aufmerksamkeit in den deutschen Medien, die sich sonst kaum für die Region und die Folgen des Bosnienkrieges von 1992–1995 interessieren. In der Berichterstattung fiel oft einiges durcheinander. Ein kennzeichnender Satz, hier aus tagesschau.de, über das größte Kriegsverbrechen im Jahr 1995 lautet: »Beim Massaker von Srebrenica starben über 8.000 muslimische Jungen und Männer.« Daran ist vieles ungenau bis falsch. Die Zahl der identifizierten Opfer erhöht sich bisher jedes Jahr, da forensische Teams weiter an den Massengräbern forschen. Bisher konnten sie 8.372 Personen identifizieren, darunter 570 Frauen und Mädchen. Der Satz setzt also die Gesamtzahl der Opfer zu niedrig an und macht weibliche Opfer unsichtbar. Zudem arbeitet der Satz mit zwei problematischen Begriffen. Zunächst: »muslimisch«. Tatsächlich war die Mehrheit der Opfer muslimisch. Wenn gleichzeitig die Täter j­edoch als »serbisch« bezeichnet werden, geraten die Ebenen durch­ einander: Die Opfer werden nach ihrer Religion benannt, die Täter nach ihrer Ethnie. Richtig wäre, von bosniakischen Opfern und serbischen Tätern zu sprechen. Oder, wenn man denn möchte: von muslimischen Opfern und christlichen Tätern.

Das mag sich nach Haarspalterei anhören, wenn man

aber in der Auseinandersetzung mit dem Bosnienkrieg nicht Stere­o­type reproduzieren will, ist ein differenzierter Blick zentral. Dazu gehört auch der Sachverhalt, dass Religion in vielen innerstaatlichen Konflikten (etwa auch in Nordirland) als Marker fungiert, um sich von einer anderen Gruppe abzugrenzen. Gerade wenn es, wie in Bosnien, keinen anderen Marker wie beispielsweise Sprache gibt. Der zweite problematische Begriff im Beispielsatz ist das Wort »Massaker«. In den letzten Jahren gab es eine durchaus fragwürdige Tendenz dazu, jegliches Massensterben als ­»Genozid« zu bezeichnen. Warum aber wird ausgerechnet Srebrenica als Massaker bezeichnet, wo es doch von UNGerichten als Genozid klassifiziert wurde?

Damit ist man mitten in der Auseinandersetzung um die Definition des Genozid-Begriffes und die Relativierung von Genoziden, die im Fall Srebrenica auch die internationale und deutsche Linke betrifft. Die UN-Konvention definiert Genozid als »Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«. Diese Definition hat ihre Probleme, etwa, dass sie Verfolgung aus politischen Gründen nicht abdeckt. Aber sie ist die einzig international anerkannte Definition. Wichtig ist, dass schon die Absicht zum Genozid strafbar ist, weshalb das Argument, dass eine bestimmte Opferzahl nicht »groß genug« für einen Genozid sei, hinfällig ist. In Bezug auf Srebrenica wird letzteres Argument manchmal angeführt. So schrieb das linke Jacobin Magazine aus den USA zum 20. Jahrestag des Genozids, dass Srebrenica kein Genozid gewesen sei, da beispielsweise die Massaker in Indonesien 1965/66 nicht als solcher klassifiziert wurden, obwohl dort mehr Menschen starben. Dabei handelte es sich überwiegend um Kommunist*innen – die verfolgte Gruppe wurde also politisch definiert und fällt nicht unter die Genozid-Definition der UN. Diese UN-Definition nicht explizit zu kritisieren und Massaker gegeneinander aufzurechnen ist jedoch analytisch falsch und es instrumentalisiert die Opfer.

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iese Relativierung war auch in der deutschsprachigen Linken verbreitet. Ähnlich wie bei Jacobin, wo Srebrenica zuerst als Rechtfertigung für US-Interventionen gelesen wird und der Analyserahmen der US-Imperialismus ist, ist die Auseinandersetzung mit den Jugoslawienkriegen in der deutschen Linken von Projektion geprägt. Nach der Wiedervereinigung war die Kritik am deutschen Nationalismus zentral. Das war richtig, daraus aber eine kritiklose Solidarität mit Serbien abzuleiten, war es nicht. Ebenso falsch war es, die Schablone des Zweiten Weltkriegs auf die Konflikte der 1990er Jahre zu legen. Das führte zu einer Solidarisierung mit einem serbisch-jugoslawischen Regime, das nominell sozialistisch war und als Statthalterin der Unterdrückten ausgemacht wurde. Der Konflikt wurde nicht analysiert, sondern entsprechend der Bedürfnisse der Linken im eigenen Land betrachtet. Das kann nur falsch sein. Dagegen sollte man einen Genozid als solchen benennen und sich auch abseits von tragischen Jahrestagen mit Jugosla­ wien und seinen Nachfolgestaaten zu befassen. Zumal viele Jüngere kaum etwas über die damaligen und aktuellen Auseinandersetzungen in dieser Europaregion wissen.

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die redaktion

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Co r o n a

Das Leben im New Normal Corona hat den Alltag in den Philippinen stark verändert Neue Regierungsverordnungen und massive Militär- und Poli­ zeipräsenz im öffentlichen Raum prägen den philippinischen Alltag seit Beginn der Corona-Pandemie. Während Präsident Duterte per Notstandsgesetz seine Machtbefugnisse ausweitet, werden Bürgerrechte weiter eingeschränkt.

von Sophie Thomas Die Philippinen sind relativ stark von der Corona-Pandemie betroffen und gelten als ein Hotspot in Südostasien. Bis zum 22. Juli gab die Weltgesundheitsorganisation WHO 1.837 bestätigte Todesfälle an. Dabei ist das Land inzwischen für harte Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus bekannt. Deshalb sind die Philippinen ein Beispiel dafür, dass eine harte Ordnungspolitik allein das Virus nicht bannt. Des Weiteren sind die Philippinen ein Beispiel für den widersprüchlichen Umgang autoritärer Regime mit dem Corona-Virus: Zuerst verharmloste der rechtspopulistische Präsident Rodrigo Duterte die Gefahr. Der Präsident spielte mit Sätzen wie »Ein oder zwei Fälle sind kein Problem« die Situation herunter und ergriff keine weitreichenden Maßnahmen. Die Infektionszahlen stiegen an. Angesichts der Möglichkeiten für eine Politik der harten Hand und der Ausweitung eigener Machtbefugnisse griff er jedoch beherzt zu. Inzwischen haben sich die Vorfälle von Polizeischikanen und Einschränkungen der Menschenrechte und Meinungsfreiheit besorgniserregend ausgeweitet. Es begann am 30. Januar 2020, als laut der WHO der erste Covid-19-Fall einer chinesischen Staatsangehörigen auf den Philippinen bestätigt wurde. Danach wurde es ruhig um das C-Wort. Schiffe und Flugzeuge aus China durften weiter anlegen und landen. Am 7. März wurde die erste lokale Weiterverbreitung des Virus bestätigt und die Regierungslinie veränderte sich. Es folgte Mitte März eine einmonatige »community quarantine« für die hauptstädtische Manila-Region, analog zu international üblichen AntiCorona-Maßnahmen. Das Virus breitete sich dennoch rasch auf der gesamten Hauptinsel Luzon und weiteren Landesteilen aus, da Viele Hauptstadt fluchtartig verließen. Es folgte ein vollständiger landesweiter Lockdown (bis jetzt 80 Tage) – der weltweit bislang längste. Unter 18-jährige und ältere Menschen durften ihre Häuser nicht verlassen, während der Rest der Bevölkerung nur einzeln und nur zum Einkaufen und Arbeiten hinaus durfte. Militär und Polizei errichteten Checkpoints, um die Regelungen umzusetzen und die Berechtigungen zu kontrollieren. tt

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Der Schaden ist immens Mittlerweile wurden die Maßnahmen gelockert. Aber Präsident Duterte regiert weiter per Notstandsgesetz. Nachts gilt weiterhin eine Ausgangssperre und die Bewegungsfreiheit ist teilweise eingeschränkt. Es gibt eine dreistufige »community quarantine«, die je nach Gefahreneinschätzung verordnet wird: Erstens die »enhanced tt

community quarantine«, zweitens die »general community quarantine« und drittens die »modified general community quarantine«. Stufe 1 bedeutet einen vollständigen Lockdown mit Ausgangsbeschränkungen. Momentan wurde je nach Region auf Stufe 2 und 3 heruntergestuft, jedoch steigen die Infektionszahlen wieder an. Die meisten Tourist*innen sind weg. Der Flugbetrieb wurde teil­weise wieder aufgenommen und man kann mit Qatar Airways wieder nach Europa gelangen. Die Ticketpreise sind nach oben geschnellt. Das Land ist zum so genannten »New Normal« übergegangen: Landesweit herrscht Maskenpflicht in der Öffentlichkeit. Die Maskenpflicht und andere Maßnahmen sollen weitere Infektionen und Corona-Ausbrüche verhindern. Die Maxime heißt »better safe than sorry«, man stellt sich auf weitere Infektionswellen ein. Der wirtschaftliche Schaden durch die Pandemie ist immens. Viele Arbeiter*innen insbesondere im Niedriglohnsektor sowie informell Beschäftigte haben ihre Arbeitsplätze und ihr gesamtes Einkommen verloren. Soziale Sicherungsnetze sind ein Luxusgut. Viele Familien kämpfen ums Überleben. Die Regierung gibt an, die Armenviertel mit Essenspakten zu beliefern, aber viele Hilfsmaßnahmen greifen nicht und das Essen kommt nicht an. Alle, die es vor dem Lockdown aus Manila heraus geschafft haben, sind froh, selbst wenn sie ihre Arbeit verloren haben. So auch Grace1: »Ich habe durch die Krise zwar meinen Job verloren, aber ich bin froh, dass ich bei meiner Familie sein kann.« Nachdem der Lockdown aufgehoben wurde, sind viele Menschen in ihre Heimatregionen zurückgekehrt und haben so zur Ausbreitung des Virus beigetragen. Die Fallzahlen steigen wieder an.

»Gott wird es richten« Bezeichnend beim Umgang der Bevölkerung mit der Pandemie sind eine unermüdliche Hoffnung und der dominante christliche Glaube, dass es Gott schon richten werde. »Gott unser Vater, wir wenden uns in Zeiten der Not an Dich und bitten um Schutz vor dem Corona-Virus«, hieß ein ‚vorgeschriebenes‘ Gebet (Oratio imperata) der philippinischen Bischöfe. Es wird etwa die Hoffnung geäußert, dass mit der weltweiten Krise langfristig positive Veränderungen kämen. Man lerne das Leben, Gesundheit und Familie mehr zu schätzen. Es sei an der Zeit umzudenken. Meine Umfrage unter philippinischen Bekannten nach ihren persönlichen Einschätzungen zur staatlichen Krisenpolitik ergab keine oder sehr ausweichende Antworten. So sagte Rodrigo, er habe »keine wirkliche Meinung zu politischen Themen«. Aufgrund der philippinischen Geschichte und der Repression im DuterteRegime äußern sich viele Filipinos und Filipinas nur ungern zu politischen Geschehnissen. Lediglich Dianne wagte eine Kritik an der Corona-Politik: Es gäbe sehr wenige Corona-Virus-Tests. Zudem agiere die Regierung teilweise militaristisch und es habe »zahlreiche Situationen gegeben, in denen Menschen Unrecht erlitten haben«. Es gebe viele Kontroversen über das harte Vorgehen der Regierung. Die Presse- und Meinungsfreiheit ist auf einem neuen Tiefpunkt angelangt. Mit der Verhaftung von Maria Ressa vom Nachrichtentt

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Notfallversorgungshilfe in der Hauptstadtregion | Foto: Eric Sales/ADB

portal Rappler Online und der Schließung des größten Fernsehsenders ABS-CBN wird die Lage für Journalist*innen immer gefährlicher. Es ist das zweite Mal, dass der Fernsehsender seine Arbeit einstellen muss – das erste Mal vor 48 Jahren, es folgten vierzehn Jahre Diktatur unter Ferdinand Marcos. Die Parallelen sind erschreckend. Auch heute kann man nicht mehr von einer freien Presse sprechen. Unter dem Motto »Stay Safe Not Silent« protestieren verschiedene Gruppierungen für Pressefreiheit und Demokratie.

Zahlen sprechen von 40.000 neu Inhaftierten. Dies löst Proteste aus. Wer jedoch Hashtags wie #BigasHindiBala! (Reis statt Schüsse), #OustDuterte (Stürzt Duterte), und #SolusyongMedikalHindiMilitar (medizinische Lösungen, nicht militärische) verwendet, muss mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Den Präsidenten als »verrückt« zu bezeichnen, reicht aus, um verhaftet zu werden. Die Philippinen gehören zu den Ländern mit den überfülltesten Gefängnissen weltweit. Seit Beginn des Duterte-Regimes und seinem erbarmungslosen Anti-Drogenkrieg füllen sich die Gefängnisse weiter. Gerade dort gibt es viele Fälle von Covid-19. Deshalb wur»Reis statt Schüsse« den zehntausend Gefangene mit leichten Haftstrafen aus der Haft tt Die Rede vom »New Normal« ist trügerisch. Die Regierung greift entlassen. Die verbliebenen 215.000 Häftlinge leben aber weiter zur Durchsetzung des Lockdowns auf Polizei und Militär zurück. unter den schlechtmöglichsten Bedingungen. Menschen, die sich Checkpoints sprießen aus dem Boden. Das Militär patrouilliert und nicht an die Corona-Verordnungen halten, können ebenfalls in­ kontrolliert die Ausgangsbeschränkungen. Der Präsident verkündet haftiert werden. Wenn sie dann die Geldstrafe nicht bezahlen vollmundig, Menschen zu erschießen, wenn sie sich können, bleiben sie in Haft. nicht an den Lockdown halten. Diese Warnung ist Unbestritten ist, dass das Klima »Statt Ärger zu machen, werdet ernst zu nehmen, denn seit dem Amtsantritt Duterder Gewalt auf den Philippinen tes erschossen staatliche und halbstaatliche Rackets einen neuen Höchststand erihr von mir ins Grab geschickt« über 8.000 vermeintliche Drogendealer*innen auf reicht hat. Seit der Präsident offenbar willkürlicher Grundlage (siehe iz3w 371). durch das Notstandsgesetz noch Das erste Todesopfer der Corona-Schikanen war ein 63 Jahre alter mehr Befugnisse besitzt und die Grundrechte weiter eingeschränkt sind, ist die Verschiebung zur Diktatur unübersehbar. Die CoronaMann, der ohne Gesichtsmaske kontrolliert wurde und im angetrunkenen Zustand gegen lokale Behördenvertreter gewettert Politik zeigt sich als ein Baustein darin. Es ist fraglich, ob Duterte hatte. seine neuen Machtbefugnisse nach Ablauf der angekündigten drei Sich an den Lockdown halten zu können, ist jedoch ein Privileg. Monate zurückgibt. Wahrscheinlicher ist, dass sich die autoritären Wer beispielsweise als Verkäufer*in auf der Straße arbeitet, kann Züge des Duterte-Regimes noch weiter verstärken. auch nur dort sein Geld verdienen. Auf Proteste in Manilas Armenvierteln, sagte der Präsident: »Statt Ärger zu machen, werdet ihr Anmerkung von mir ins Grab geschickt.« Das Ausmaß der alltäglichen Polizei 1 Zum Schutz der Interviewten sind alle Namen geändert. schikanen ist momentan schwer zu fassen, weil eine kritische Berichterstattung kaum möglich ist. Im März wurden etwa in Santa Cruz Laguna fünf Jugendliche in einen Hundekäfig gesperrt, weil tt Sophie Thomas ist Ethnologin und forscht zu den Philippinen. sie die Ausgangsbeschränkung nicht eingehalten hatten. Offizielle iz3w • September / Oktober 2020 q 380

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Stürzende Altbauten Die Denkmalproteste bezeugen ein kritisches Geschichtsbewusstsein Nach dem Polizeimord an George Floyd am 25. Mai in Minneapolis kam es weltweit zu Protesten. Ein erstaunlicher Aspekt der Proteste war, dass sie sich auch gegen etwas richteten, das normalerweise niemand sieht. Der Schriftsteller Robert Musil schrieb einmal: »Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler.« Das stimmt und ist paradox, denn Denkmäler sind für eine exponierte Sichtbarkeit gemacht. Weniger paradox ist die Auswahl der Denkmäler, die den Unmut der Protestierenden auf sich zog. Statuen, häufig errichtet zur Hochzeit der diversen Nationalismen zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, welche die koloniale Vergangenheit verherrlichen. Der antirassistische Protest nahm Denkmäler (aber auch Straßennamen) in den Blick, die die historische Akzeptanz von Sklaverei, Vertreibung oder Rassismus repräsentieren: beispiels­weise die Statuen von Christoph Kolumbus, dem britischen Sklaven­händler Edward Colston oder Robert E. Lee (siehe S.14). In Deutschland widerlegt ein Blick in den öffentlichen Raum, dass dieses Land keine Kolonialgeschichte hätte oder dass Rassismus nur in der Vergangenheit und wenigen unbelehrbaren Milieus besteht. Das Schild der Berliner U-Bahn-Station Mohrenstraße wurde bald in George-Floyd-Straße umgestaltet. Daran knüpfte eine Debatte um die Namensgeschichte dieser Straße an. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn man etwa den Stadtplan des südwestdeutschen Freiburg auf der Webseite des iz3w-Projektes »freiburg-postkolonial« betrachtet, so stehen die kolonialen Treffertt

Christoph Kolumbus wurde unter anderen in St. Paul, Minnesota vom Sockel geholt

pfeile dicht an dicht: Admiral-Spee-Straße, Eckerstraße und -büste, Wilhelmstraße, Bismarckstraße, eine Generalgouverneur-LeutweinGedenktafel und so weiter. Erinnert wird so an einen Vizeadmiral mit dem Kommando über das koloniale Ostasiengeschwader; an einen schädelsammelnden Rassehygieniker; an ‚den‘ deutschen Kolonisator; an ‚den‘ Kongo-Konferenz-Strategen; an einen Gouver­ neur der Kolonie »Deutsch-Südwest« am Vorabend des deutschen Genozids 1904/05 an den Herero und Nama; und so fort.

Eine neue Konsequenz Auch in Belgien und den Niederlanden geht es gegen Kolonialdenkmäler von Tobias Müller Belgien und die Niederlande sind kleine europäische Länder, leninseln im Jahr 1863. In Belgien stand am 30. Juni das 60. Unab­ doch an kolonialer Ausbeutung waren beide im großen Stil beteihängigkeitsjubiläum der Demokratischen Republik Kongo an. ligt. Die beiden Nachbarn erlebten im Frühsommer eine auffallend Beide Anlässe gaben den Ereignissen einen inhaltlichen Rahmen parallele Debatte um die eigene Vergangenheit: und zeitlichen Fokus. Fraglos gilt in beiden Im Zuge von Protesten der Black Lives MatterFällen auch, dass danach die allgemeine In Ostende will man der Bewegung nahmen antirassistische Aktivist*innen Aufmerksamkeit wieder abnahm. Vergangenheit »direkt ins sich auch hier Denkmäler kolonialer Protagonisten Festzuhalten ist dennoch: Die Aktionen an vor. In Belgien konzentrierten sich diese vor allem kolonialen Denkmälern zeugen von einer Gesicht schauen« auf König Leopold II., der von 1885 bis 1908 mit neuen Konsequenz, mit der die belastete Vergangenheit diskutiert und als Grundlaeiserner Hand über seinen Privatbesitz, den »Freistaat Kongo«, h ­ errschte. In den Niederlanden waren das Ziel die ge des aktuellen Rassismus wahrgenommen wird. In Belgien etwa, damaligen Funktionsträger der Westindischen Kompanie (WIC) wo Aktivist*innen mehrere der 17 Statuen Leopolds II. mit roter und der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC). Farbe bemalten, entfernten die Kommunen in Gent und Leuven Für zusätzliche Brisanz sorgte jeweils ein historisches Datum: Monumente des tyrannischen Monarchen, ebenso – zumindest Die Niederlande gedachten am 1. Juli der formalen Abschaffung vorläufig – im Antwerpener Distrikt Ekeren, wo das Denkmal zuvor der Sklaverei in Surinam und auf den von ihnen kolonisierten Antil­ angezündet worden war. tt

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Denkmalstürze

Trotzdem kann in Deutschland von nennenswerten Denkmalprotesten keine Rede sein. Vielleicht wegen der deutschen Besonderheit, »seine« kolonialen Untertanen in Über­ see komplett von Deutschland fernzuhalten. Die Zeugnisse der eigenen kolonialen Vergangenheit beschränken sich so auf den gesellschaftlichen Reichtum, an dem der Kolonialismus einen Anteil hat und der manchmal in »Kolo­nial­ waren«-Aufschriften an Fassaden aufscheint. Andererseits gibt es die steinerne und blecherne Zeugenschaft von Moltke, Fürstenberg, Winterer und wie sie alle heißen. Foto: Tony Webster CC BY 2.0 Diese Kolonialnamen im öffentlichen Raum lösen kein Nach­denken aus. Sie sind gedacht als a­ ffirmative Botschaft. Eine Namensgebung gilt als Ehrung und nicht jede*r ist »denkmalwürdig«. So wirkt die koloniale Botschaft weiter ins Unterbewusstsein. Es ist folgerichtig, dass die koloniale Vergangenheit und deren Fortwirken nicht zuletzt bei den Denkmälern angegriffen werden. Der Denkmalsturz ist die Zeit des Umbruchs. Mehr noch: Die Dekolonialisierung wird derzeit mit Leben gefüllt. Man fragt sich, ob Dekolonialisierung und Stadtbilder zusammenpassen – und nimmt Veränderungen vor. Winfried Rust

Nichtsdestotrotz offenbart die Denkmalfrage eine bemerkenswerte Ambivalenz. Einer Umfrage der Universität Antwerpen zufolge finden zwar drei Viertel der Befragten eine Entschuldigung Belgiens gegenüber Kongo angebracht. Zugleich ist die Hälfte der Meinung, Belgien habe in der einstigen Kolonie mehr Gutes als Schlechtes bewirkt – eine Diskrepanz, die offenbar mit dem auffällig niedrigen Wissensstand der Befragten zur Kolonialgeschichte zu tun hat.

Noch alle Statuen am Platz Dass noch mehr Denkmäler entfernt werden, ist derzeit nicht zu erwarten. Die dominierende Reaktion der belgischen Politik ist eher, entsprechende Monumente mit Erklärungstafeln zum histo­ ri­schen Kontext zu versehen. So fordert etwa Silke Beirens, grüne Dezernentin in Ostende, das dortige Monument nicht einfach abzubauen, da sonst auch die Kolonialgeschichte vergessen werde. Lieber wolle man der Vergangenheit »direkt ins Gesicht schauen«. Um auch die Kritik daran im öffentlichen Raum sichtbar zu machen, plant man am Ostender Reiterstandbild ein »Gegen-Monument«. In den Niederlanden wurde noch keine der betroffenen historischen Figuren vom Sockel geholt. Die Protestaktionen im Juni stellten aber einen ersten Vorstoß in Richtung einer fundamental tt

kritischen historischen Sichtweise dar. Diese stellt die bis heute anhaltende Bewunderung für WIC und VOC sowie das vermeintlich »Goldene 17. Jahrhundert« in Frage, als die koloniale Handelsmacht Niederlande auf dem Höhepunkt ihrer Macht war. In den Fokus gerieten etwa der Generalgouverneur in Niederländisch-Indien, Joannes van Heutsz (auch bekannt als »Schlächter von Aceh«), WIC- Kommandant Piet Hein, VOC-Gouverneur Jan Pieterszoon Coen und ihr Mitbegründer Johan van Oldenbarnevelt. Das Standbild des Letzteren versah die Gruppe Aliansi Merah Putih (»Rot-weiße Allianz«, eine Anspielung auf die indonesische Flagge) mit antikolonialen Parolen. Aktionen bei weiteren Denkmälern sind angekündigt. Damit rückt auch die bisher vermiedene Auseinandersetzung mit der gewalttätigen niederländischen Vergangenheit in Indonesien in den Blickpunkt. Von einer erweiterten Perspektive im niederländischen Diskurs zeugt auch, dass Ende Juni mit dem antikolonialen Aktivisten Anton de Kom erstmals eine Person aus Surinam in den offiziellen historischen Kanon des Landes aufgenommen wurde. Mitte Juli stand sein Buchklassiker »Wir Sklaven aus Surinam« 86 Jahre nach der Veröffentlichung erstmals auf der Bestsellerliste. Die niederländische Politik hängt dieser Entwicklung insofern hinterher, als eine offizielle Entschuldigung für die Verbrechen der Sklaverei weiterhin aussteht. »Solange die nicht ausgesprochen ist, wird die Trauer bleiben«, so ­Marian Markelo, Vorstandsmitglied des Instituts zur Erforschung der Sklaverei NiNsee, auf der diesjährigen Gedenkfeier in Amsterdam. Tatsächlich fand sich während einer Parlamentsdebatte über institutionellen Rassismus keine Mehrheit für einen entsprechenden Vorschlag. Laut Premier Mark Rutte berge eine Entschuldigung »das Risiko, dass sie unsere Gesellschaft polarisiert«. Im sorgfältigen Vermeiden dieses Schritts und seiner etwaigen Folgen in Form von Reparationsforderungen liegt eine weitere Parallele zum Nachbarland Belgien. Dort brachte ausgerechnet König Philippe das Thema auf den Tisch, als er in einem Schreiben an den kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi sein »tiefstes Bedauern« angesichts der Erfahrungen der Kongoles*innen unter belgischer Herrschaft aussprach. Charis Basoko, Politologe und Menschenrechtsaktivist aus Kinshasa, begrüßte dies in der Zeitung De Morgen als »einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern«. Als deren logische Folge nannte er eine Entschuldigung. Bei den Feier­ lichkeiten zum 30. Juni in Matonge, einem kongolesisch geprägten Quartier Brüssels, wurde die Aussprache des Königs von Redner*innen als »erste Etappe« bewertet. Dafür, dass die Debatte darüber bald wieder belebt wird, könnte nicht zuletzt die neue »Kongo-Kommission« sorgen, die nach dem Sommer im belgischen Parlament ihre Arbeit beginnen soll. Ihre Mission: die koloniale Vergangenheit des Landes aufarbeiten und für Versöhnung sorgen.

Tobias Müller lebt in Amsterdam und ist BeNeLux-Korrespondent für mehrere Zeitungen. tt

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Editorial

Martin Luther King war ein Trekkie »Space – the final frontier.« Den meisten Science-Fiction-Fans dürften diese Worte bekannt vorkommen. Sie erklingen zu Beginn jeder Folge der Fernsehserie »Star Trek«, die in den USA erstmals 1966 ausgestrahlt wurde. Als »Raumschiff Enterprise« flimmerte die Serie ab 1972 in Deutschland über die Bildschirme. Sie erreichte international eine solche Popularität, dass bis heute zahlreiche Nachfolge- und Spin-offSerien, 13 Kinofilme, dutzende Comics, tausende Fanclubs mit Trekkie-Treffen und Fan-Fiction, sowie zahllose kulturwissenschaftliche Abhandlungen über das Star Trek-Universum entstanden sind.

Und so beschäftigte sich Nichols alias Uhura weiter mit außer­ irdischen Sprachen, steuerte in Notfällen das Raumschiff, rettete die Crew und wurde in einem der späteren Star TrekKinofilme zur kommandierenden Offizierin befördert. Großes Aufsehen erregte der berühmte Kuss zwischen Leutnant Uhura und Captain Kirk (William Shatner) im Jahr 1968, der als erster Kuss im US-Fernsehen zwischen einer Schwarzen und einem Weißen gilt (im britischen Fernsehen hatte es das fast zehn Jahre zuvor bereits gegeben). NBC sorgte sich um die Reaktionen aus den Südstaaten und ordnete an, dass die Szene in verschiedenen Versionen gedreht werden sollte – mit und ohne Kuss. Aber Nichols und Shatner verhunzten mit voller Absicht alle Szenen ohne Kuss, so dass dem Sender ieser Erfolg war am Anfang nicht abzusehen – ganz keine andere Wahl blieb, als den Knutscher zu senden. Statt im Gegenteil. Als Gene Roddenberry seine Idee einer der befürchteten Kritik gab es massenhaft Briefe von begeis­»Sternenreise« Mitte der 1960er Jahre den Produzenten bei terten Fans. NBC vorstellte, zeigten die sich skeptisch. Nach dem Ende der Serie 1969 spielte Nichols Denn Roddenberrys Zukunfts­vision war femi­ noch in sechs Kinofilmen als Uhura mit. In den nistisch und multikulturell ausgerichtet. So 1980er Jahren wurde sie als Botschafterin von der NASA angestellt. Sie sollte dafür sorgen, bestand die Crew der Enterprise unter anderem aus Leutnant Hikaru Sulu, gespielt dass sich mehr Frauen und People of Colour für vom japanisch-amerikanischen Schauspieler das Weltraumprogramm bewerben – was ihr George Hosato Takai, was 20 Jahre nach dem auch gelang. Sie rekrutierte unter anderem Sally Zweiten Weltkrieg durchaus eine BesonderRide, die erste Frau im Weltraum, ebenso den heit im US-amerikanischen Fernsehen war. ersten afro-amerikanischen Astronauten, Guion Und inmitten des Kalten Krieges arbeitete Bluford. Im Alter von 82 Jahren flog Nichols an an Bord des Raumschiffes der russische NaBord eines NASA Observationsfluges in Stratovigator Pavel Andreievich Chekov, interpresphärenhöhe und auch ein Asteroid ist nach ihr tiert von Walter Koenig. Am außergewöhnbenannt. Als Nichols 2012 im Weißen Haus auf Nichelle Nichols lichsten jedoch war die Besetzung der Rolle Barack Obama traf, gestand ihr der Präsident als Lieutenant Uhura   Foto: Wikimedia des Kommunikationsoffiziers mit einer der Vereinigten Staaten, als kleiner Junge in sie Schwarzen (Oh nein!) Frau (Kreisch!). »verknallt« gewesen zu sein. Die afro-amerikanische Schauspielerin Nichelle Nichols spielte Leutnant Nyota ­Penda Uhura, deren Nachname auf Swahili »Freiheit« be­ as Star Trek-Universum bietet keine perfekte Utopie, deutet. Und zum ersten Mal in der Fernsehgeschichte wurde aber die Serie zeigt eindrücklich, dass Science-Fiction (SF) eine Schwarze Frau als intelligent, hochqualifiziert, in einer politisch bedeutsam sein kann. SF kann eine Analyse der Führungsposition – und nebenbei verdammt gut aussehend bestehenden Verhältnisse liefern, wenn aktuelle Entwicklun– dargestellt. Nichelle Nichols wollte die Serie eigentlich nach gen in dystopischen Szenarien weitergesponnen werden. Sie der ersten Staffel verlassen, um am Broadway zu arbeiten. kann aber auch Wege hin zu besseren Gesellschaften zeigen. Aber dann traf sie auf einen begeisterten Trekkie, der sie Dem Genre hängt immer noch der Ruf an, überwiegend für überzeugte, weiterzumachen: Dr. Martin Luther King Jr. weiße, männliche Nerds interessant zu sein. Wie Stark Trek King erzählte ihr, dass »Star Trek« die einzige Serie sei, und weitere ältere Beispiele zeigen, hat das noch nie gestimmt die seine drei Kinder anschauen dürften, und dass Uhura ein und stimmt immer weniger: In unserem Schwerpunkt werfen Vorbild für Millionen von Schwarzen Mädchen und Frauen wir einen Blick auf den emanzipato­rischen Gehalt des Genres und erkunden außerdem, welche unterschiedlichen Gesellsei. »Das erste Mal können Schwarze Menschen im Fernsehen einen Blick in eine bessere Zukunft werfen«, wird er von schaftsentwürfe in Ländern wie Kuba, Nigeria, Indien oder Nichols zitiert. Als sie meinte, dass sie gerne an seiner Seite China erdacht werden. für die Bürgerrechtsbewegung marschieren würde, entgegnete er: »No, you don’t understand. You are marching!« Als »Lebt lange und in Frieden« Leutnant Nyota Uhura. die redaktion

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Auch nach 50 Jahren einer der besten SF-Filme: »2001: Odyssee im Weltraum« von Stanley Kubrick, USA 1968

Ziemlich am Anfang – ein Krieg der Sterne Geschichte und Entwicklung von Science-Fiction von Franz Rottensteiner Über die Anfänge der Science-Fiction (SF) gibt es verschiedene Auffassungen. Die einen führen sie auf die Ursprünge des Erzählens zurück, auf den über 3.000 Jahre alten Mythos »Gilgamesch«. Andere meinen, sie sei nahezu jungfräulich dem Haupt des luxemburgischen Radiobastlers und Einwanderer in die USA, Hugo Gernsback, entsprungen. Dieser brachte mit »Amazing Stories« im April 1926 das erste SF-Magazin der Welt heraus und prägte 1929 auch den Terminus Science-Fiction. Für Brian W. Aldiss, dem Verfasser der einflussreichen Geschichte der SF-Literatur »Der MillionenJahre-Traum« (1973), begann SF mit Mary Shelleys Roman »Franken­ stein« (1818). Denn der künstliche Mensch des Barons Frankenstein wurde erstmals auf wissenschaftlichem Wege und nicht durch Hexerei oder Magie erschaffen. Viele Entwicklungsstränge führen zur Science-Fiction: der Aufstieg der Wissenschaft, die industrielle Massenproduktion, die auch die Herstellung billiger Druckwerke ermöglichte sowie die fortschreitende Alphabetisierung und Bildung breiter Bevölkerungsschichten. Die Zeit war reif für die Entstehung eines eigenen Genres technischwissenschaftlicher Literatur. tt

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Wild gewordenes Gemüse In der BRD setzte sich mit dem Entstehen einschlägiger Heftreihen, die vornehmlich Übersetzungen aus dem Englischen veröffentlichten, und dem Aufstieg von Taschenbuchreihen wie der Heyne SF ab den 1960er Jahren, der Ausdruck Science-Fiction allgemein durch. Vorher waren Bezeichnungen wie utopische oder utopisch-technische Literatur, Zukunftsroman und technische Märchen üblich. tt

Antike Vorläufer sind Lukian von Samosatas »Ikaromenippus oder Die Luftreise« und vor allem seine »Wahren Geschichten« aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Mit Reisen in den Weltraum, einem Krieg zwischen dem König der Sonne Phaeton und dem König des Mondes Endymion im Streit um die Kolonisierung der Venus, mit Gemetzeln bis zur völligen Vernichtung des Gegners und seltsamen, außerirdischen Lebensformen warten die Geschichten auf. In den Streitkräften beider Seiten kommen anthropomorphe Pilze, auf Eicheln reitende Kynozephale, Pferdegeier, Flohschützen und Zentauren aus Wolken und allerlei wild gewordenes Gemüse zum Einsatz. Eine Vorwegnahme der »Star Wars«. Sprachlich erfindet Lukian bereits Neologismen zur Beschreibung neuer Lebensformen und liefert eine blitzgescheite Parodie auf andere antike Literatur, die auch die Religion nicht verschont. Bemerkenswert ist die Perspektive biotechnischer Innovation im sozialen Kontext. Fahrten in den Weltraum, zum Mond und zu anderen Planeten lieferten einen Hauptstrang für die Entwicklung der SF. Diese waren schon im 17. Jahrhundert beliebt, etwa in Cyrano de Bergeracs (1619 –1655) »Die Staaten und Reiche des Mondes« sowie »Die Staaten und Reiche der Sonne« bis hin zu H. G. Wells »Die ersten Menschen im Mond« (1901). Genauso wichtig ist die soziale Komponente, die Sehnsucht nach der besten aller Welten, wie im Werk des englischen Staatskanzlers Thomas Morus »Utopia« (1516), oder Edward Bellamys »Rückblick aus dem Jahr 2000« (1888) mit seinen zahlreichen Nachahmer*innen und Gegner*innen. Theodor Herzls zionistische Utopie »Altneuland« (1902) ist wohl die einzige, die Wirklichkeit geworden ist. Utopische Spuren finden sich durch-

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Science-Fiction

gehend in der SF, markant etwa im Werk von Ursula K. Le Guin oder in den »Kultur«-Romanen von Iain Banks mit einem galaktischen Reich, in dem Menschen, unzählige Formen von Aliens und künstliche Intelligenzen koexistieren.

organ der »New Wave«, einer Gruppe von Autor*innen, die literarische Werte in die SF einbringen wollte. Jede dieser Entwicklungsstufen brachte neue Autor*innen hervor oder bereits länger tätige zu neuer Blüte.1 Mit dem Aufstieg der Taschenbücher verloren die SF-Magazine zunehmend an Bedeutung, während manche Autor*innen sogar Düstere Moderne im Hardcover zu Bestsellern wurden wie Isaac Asimov, Arthur C. tt Im 20. Jahrhundert trat eine zunehmende Verdüsterung der Clarke, Robert A. Heinlein oder Frank Herbert. Zudem verlagerte Horizonte ein, mit den Stationen »Wir« (1920) von Jewgenij sich Science-Fiction zusehends von der Literatur weg in andere ­Samjatin, »Schöne neue Welt« (1932) von Aldous Huxley, die aber Medien. Fernseh- und Film-Serien wie »Star Trek«, »Star Wars«, manchen als hedonistische Utopie totaler sexueller Freiheit und »Alien« oder »Terminator« hatten den Effekt, das einst von den Fans verachtete Formen wie »Space Operas« – in den Weltraum nicht als Schreckensbild biologisch-psychologischer Konditionierung erscheint, Karin Boyes »Kallocain« (1940) und als politischer verpflanzte Western – auf der Leinwand triumphal wiederkehrten. Höhepunkt totaler Überwachung »1984« (1948) von George Höhepunkt des künstlerischen Films: Stanley Kubricks »2001: OdysOrwell. In jüngster Zeit finden sich Dystopien, die speziell die see im Weltraum« (1968). Unterdrückung der Frau, oft unter religiösen Vorzeichen, etwa Nichts geht in der SF verloren, alles koexistiert, das Gute wie Margaret Atwoods »Der Report der Magd« (1985) oder die Verdas Schlechte. Zunehmend an Bedeutung gewann die Parahistorie, wendung des Menschen als Ersatzteillager für Orgdie Auslotung alternativer Geschichtsabantransplantationen anprangern, wie zum Beispiel läufe, wie das Paradebeispiel »Was, wenn Das ganze Universum in Rainer Erlers Film »Fleisch« (1979) oder Kazuo die Nazis den Krieg gewonnen hätten?«. Ishiguros »Alles, was wir geben mussten« (2005). So muss sich SF nicht unbedingt mit der wurde zur Spielwiese Zu den modernen Vätern der Science-Fiction Zukunft beschäftigen, sondern mit modellzählen E. A. Poe (1809–1849) und Jules Verne (1828– haften Situationen, Weltentwürfen, ande1905), der unermüdliche Sammler und Aufbereiter natur­kundlicher ren Planeten mit vernunftbegabten Wesen und ihren Gesellschaften. Fakten in abenteuerlicher Form sowie H.G. Wells (1866–1946). In ihren besten Beispielen ist Science-Fiction ein Gedanken­ experiment, sozialer, philosophischer oder sogar theologischer Dieser geniale Utopist, Visionär und Fabulator steckte bereits die Themenkreise der späteren SF ab: Invasion aus dem Weltall, irdische Natur. »Hard SF« ist technisch-naturwissenschaftlich bestimmt, wie und kosmische Katastrophen, Zeitreise, die Zwiespältigkeit von die New Space Opera. Aber zunehmend verlagert sich das InterInnovationen wie Unsichtbarkeit und biolo­gische Manipulationen. esse auf gesellschaftliche und psychologisch-soziale Fragen. James Sein großes Thema war die Evolution und die Gefahren einer ­Tiptree Jr. (Pseudonym für Alice B. Sheldon) erforschte in ihren Devolution, in biologischer wie sozialer Hinsicht. Geschichten die häufig schmerzhafte Vielfalt sexueller Erfahrungen, Joanna Russ war eine kämpferische Feministin, Samuel R. Delany ist ein afroamerikanischer Homosexueller, der seine Erfahrungen Eine Science-Fiction-Community verarbeitet, Philip K. Dick ein Genie mit psychotischer Weltsicht, tt Gegenüber Verne oder Wells stellte die Magazin-SF zunächst der jede Wirklichkeit in Zweifel zog. einen literarischen Rückschritt dar. Aber sie brachte eine UnbefanScience-Fiction hat sich vielfach aufgespalten, und nicht nur aus genheit ins Spiel, man könnte es auch Unbedarftheit oder UnverMarketinggründen. Es gibt military SF, parahistorische Geschichten schämtheit nennen, mit der das ganze Universum zur Spielwiese und den Cyberpunk eines William Gibson oder Bruce Sterling. Es wurde. Während europäische Autor*innen sich bis in die 50er gibt Steampunk, queere SF, transhumanistische und die verschieJahre kaum ins Sonnensystem hinauswagten, flitzten die Protagodenste kulturell geprägte wie afrikanische SF oder Afrofuturismus. nisten von E. E. Smith, dem »Weltenzerstörer«, Edmond Hamilton Die englischsprachige SF ist heute in der ganzen Welt verbreitet, oder Jack Williamson nach Belieben im Universum umher. und sie ist auch offener für andere, etwa chinesische, russische oder Die SF-Magazine schufen eine Community von Autor*innen polnische Einflüsse geworden. und Leser*innen, die Leserbriefe schrieben, »ihre« Literatur in Science-Fiction ist in erster Linie abenteuerliche Unterhaltungsliteratur, die sich verkaufen muss. Aber es ist erstaunlich, wie viele eigenen Fanzeitschriften kritisch diskutierten und die davon träumten, selbst SF herauszugeben, zu illustrieren oder zu schreiben – und tiefsinnige Probleme in dieser Unterhaltungsliteratur aufgeworfen diese Träume oft auch verwirklichten. Science-Fiction ist eine werden, und das in einer Weise, die sie zuweilen bis in die Welt­ Lite­ratur mit einem Fandom, oder, wie es Donald A. Wollheim literatur führt. (1914–1990), Altfan und einflussreicher Herausgeber, ­ausdrückte: »SF builds upon SF.« Anmerkung Die Entwicklung zur SF ist eine nachträgliche Konstruktion der 1 J.G. Ballard, Isaac Asimov, Robert A. Heinlein, A. E. van Vogt; Alfred Bester, Robert Sheckley, Frederic Brown, Theodore Sturgeon, Frederik Pohl, C.M. Gelehrten, es war Zufall, welche Vorläufer ein*e Autor*in gelesen Kornbluth, William Tenn, Judith Merril; Michael Moorcock, Thomas M. Disch, hatte. Erst mit den Magazinen entstand eine gemeinsame Lek­ Pamela Zoline oder Joanna Russ. türebasis, die von ihren Herausgebern geprägt war. In den 40er Jahren war es John W. Campbell Jr. mit »Astounding Science ­Fiction«, in den 50er Jahren Anthony Bouchers »The Magazine of Fantasy and Science Fiction« und Horace L. Golds »Galaxy«, ­Mitte tt Franz Rottensteiner lebt in Wien und war von 1980 bis 1998 der 60er Jahre Michael Moorcock mit »New Worlds« als ZentralHerausgeber der »Phantastischen Bibliothek« im Suhrkamp Verlag. iz3w • September / Oktober 2020 q 380

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Fritz Langs »Die Frau im Mond« (1929) ging als einer der letzten großen Stummfilme in die deutsche Filmgeschichte ein

Was wäre, wenn es kein Geschlecht gäbe? Das machtkritische Potential der feministischen Science-Fiction Anfang der 1970er Jahre forderte eine erste Welle feministischer Science-Fiction das prototypische männliche SF-Narrativ heraus. Aktuell erleben wir eine Wiederbelebung des Genres, in der auch ältere dystopische Entwürfe neu gelesen werden. Feministische Autorinnen damals wie heute sehen soziale Bewegungen als Inspirationsquelle für ihre Werke. Damit ermutigen sie gleichzeitig Aktivist*innen und schaffen neue Möglichkeiten zur Weiterentwicklung von Theorie und Praxis.

von Alice Rombach »Die Science-Fiction hat Monster und Raumschiffe; speculative fiction könnte hingegen tatsächlich passieren«, sagte Margaret Atwood, Altmeisterin der feministischen Science-Fiction (FSF) über ihr Genre. Auch andere Autorinnen dieser Gattung, wie Ursula K. Le Guin, Marge Piercy und Joanne Russ, sprechen lieber von Speku­ lativer Fiktion. Damit grenzen sie sich zum einen von hegemonialen Narrativen ab, die einen männlichen weißen Helden ins Zentrum ihrer Geschichten stellen. Zum anderen von realen politischen Utopien, die von ihnen als statische Idealbilder empfunden werden – wie beispielsweise der Klassiker »Utopia« von Thomas Morus (1516) oder »Eiland« von Aldous Huxley (1962). Diese utopischen Werke beschreiben eine ideale Welt, in der jegliche Formen von Leid und Ungerechtigkeit nicht mehr existieren. Hier wird Utopia zum Nicht-Ort, also zu einer fernen Insel mit glücklichen Menschen und einem perfekten Staat als in sich abgeschlossene Alternative. In der Science-Fiction gehe es laut der US-amerikanischen Auto­ rin Ursula K. Le Guin darum, einen Raum für das Experimentieren mit Möglichkeiten zu öffnen: Also für »ein Spiel, dessen Regeln sich ständig ändern«, bei dem es nicht darum gehe, festgelegte oder tt

gar bestmögliche Szenarien zu entwerfen. In den 1970er Jahren entwickelte sich im Kontext der fordistischen Krise und der 68erBewegung ein breit angelegtes Experimentieren mit der Auflösung von Geschlechtergrenzen, welches auch die FSF bewusst als Stilmittel einsetzte. Autorinnen nahmen in ihren Werken Selbstbilder, gesellschaftliche Strukturen und Rollenmodelle in den Blick. Dadurch erprobten sie neue geschlechterpolitische und intersektionale Konzepte. Ursula K. Le Guin, Joanna Russ oder Marge Piercy, aber auch Octavia Butler als frühe afroamerikanische FSF-Stimme sowie queere Autor*innen wie Melissa Scott oder Larissa Lai inspirierten damit die Weiterentwicklung feministischer, queerer, Schwarzer, ökologischer sowie wachstumskritischer Bewegungs- und Theoriekontexte.

Dystopie als Warnung In den Fokus der Aufmerksamkeit geriet in den letzten Jahren vor allem ein dystopisches feministisches Werk: Im Jahr 2195 werden in dem christlich fundamentalistischen Staat Gilead Frauen je nach Fruchtbarkeit als Hausfrauen, Gebärmaschinen oder Sklavinnen eingeteilt und Fortpflanzung wird durch rituelle Vergewaltigungsakte vollzogen. Margaret Atwoods Roman »The Handmaid’s Tale« (1985) war als Serie verfilmt worden und wurde überaus po­ pu­lär. Atwood hat nach Erscheinen des Buches erklärt, sie beschreibe darin nichts, was es nicht schon auf der Welt gegeben habe. Atwoods Roman schildert extreme gesellschaftliche ­Rückschritte hin zu fundamentalistischen, antifeministischen und homophoben gesellschaftlichen Strukturen. Auffallend ist, dass dieses visionäre Werk gerade dann erinnert wird, wenn erkämpfte reproduktive Rechte von rechten Akteur*innen wieder in Frage gestellt werden. Einerseits sind öffentliche Auseinandersetzungen in den letzten tt

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Jahrzehnten diverser geworden und haben progressive Dynamiken In einem neueren Werk, »Vox« von Christina Dalcher (2018) erhalten: Debatten um #metoo, Gender Pay Gap und No-meansstehen Frauen hundert Worte pro Tag zu, reglementiert durch ein No-Kampagnen werden nun auch im Mainstream geführt. Auf Zählwerk an ihrem Handgelenk, das bei Überschreibung Stromstruktureller Ebene gab es einige Änderungen: Seit dem 22. Dezem­ schläge bis hin zur Ohnmacht aussendet. Doch auch in dieser ber 2018 besteht beispielsweise in Deutschland die Möglichkeit, Dystopie gibt es eine Widerstandbewegung. Dalcher macht das im Personenstandsregister die Angabe »divers« eintragen zu lassen. Instrument der Stimme – verdammt zum Schweigen oder genutzt Im selben Jahr stufte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in für einen mächtigen Aufschrei – ganz explizit zum wachrüttelnden ihrem grundlegend überarbeiteten Krankheitenkatalog Trans*Zentrum der Erzählung. Personen nicht länger als Menschen mit »Störung der Geschlechtsidentität« ein und sogar in Irland wurden Abtreibungsrechte geGeschlecht als fluide Kategorie setzlich verankert. Andererseits ist ein starker Backlash und die Zunahme repressiver Diskurse zu beobachten. Befeuert von einer tt Ordnungen des sozialen Geschlechts – mit und ohne Wirkung antifeministischen und homophoben Rhetorik auf der politischen von biologischen Voraussetzungen – können in der FSF nach Belieben umkonstruiert werden. Naheliegend ist dabei das Austesten Weltbühne und einem Wiedererstarken rechtspopulistischer Stimmen wurde eine gewaltvolle Sprache zunehmend normalisiert. vermeintlich extremer Gesellschaftsformen: Was wäre, wenn es Diese richtet sich explizit gegen all diejenigen, die patriarchale gar kein Geschlecht gäbe? Ursula K. Le Guin entwirft in ihrem Privilegien kritisieren. Roman »The Left Hand of Darkness« (1969) eine Gesellschaft, die Die dystopische FSF entwirft ein extrem düsteres Zukunftsmodell und warnt damit vehement vor der vollen Entfaltung dieses geschlechterpolitischen Rollbacks. »Das Normale«, sagte Tante Lydia in Atwoods Werk vor mehr als dreißig Jahren, »ist das, was ihr gewohnt seid. Was ihr jetzt erlebt, mag euch vorläufig noch nicht normal vorkommen, aber nach einiger Zeit wird sich das ändern. Es wird das Normale werden.« Ein Zukunftsentwurf, in dem alle Errungenschaften der Frauenbewegung ausgelöscht worden sind, ist ambivalent: Die Dystopie der einen kann die Utopie der anderen sein. Denn was für manch radikalen Christen, Ultrarechten oder misogynen Menschen die Verwirklichung seiner Wunschvorstellung sein könnte, wäre für Frauen und Feminst*innen ein Albtraum. Es ist die erzählerische Frauen als Gebärmaschinen: »The Handmaid’s Tale« (2017) nach Margaret Atwood Perspektive, die entscheidet – wozu und in welcher Art Gewalt dargestellt wird, inwiefern Geschlechterverhältnisse darin thematisiert werden und insbesondere, ob ein Ausblick auf kollektive Widerstandformen gegeben wird. In ohne die identitäre Einteilung von Geschlechterrollen im alltäglichen »The Handmaid’s Tale« ist es die Magd Desfred, die sich auflehnt, Leben und Arbeiten auskommt und dementsprechend frei von geschlechtsspezifischen Hierarchien ist. Auf dem Planeten Winter sich trotz massiver Tyrannei die Vision einer anderen Lebensweise leben geschlechtslose Menschen, die sich nur einmal im Monat bewahrt und versucht, einen Weg aus der Sklaverei zu finden. entscheiden, ob sie kurzzeitig männliche oder weibliche Geschlechts­ Die filmische Umsetzung von Atwoods Werk erschütterte viele – gerade die Parallelisierung der dargestellten männlichen Gewaltattribute annehmen wollen, um ihre Sexualität auszuleben. Geherrschaft mit möglichen Konsequenzen aktueller antifeministischen schlecht sei für die Bewohnenden dieses Planeten »keine absolute Repressionswellen inspirierte Aktivist*innen. In den USA protestierKategorie, eher etwas, das flexibel und fluide ist«, sagte Le Guin. ten beispielsweise Mitglieder der Vereinigung »Planned Parenthood« Mit der Figur eines Gesandten der Erde setzt die Autorin einen gegen Abtreibungsverbote, dabei trugen sie rote Kutten, die einen Identifikationspunkt zwischen der uns bekannten und dieser geklaren Bezug zu dem Erscheinungsbild der schlechtslosen Welt ein, um ihr in neue entMägde in »The Handmaid’s Tale« herstellen. worfene Gedankenräume folgen zu können. Die Dystopie der einen kann Aber es gab auch Stimmen, die gerade jene Mit der Idee einer Welt, in der ausschließlich Szenen expliziter Gewaltdarstellung gegen Frauen leben, wird ein utopischer Ort geschafdie Utopie der anderen sein den Frauenkörper als durchaus nah an »torfen, an dem das Potential einer vermeintlich ture porn« kritisierten. Eine reine Inszeniehomogenen Gruppe – der Frauen – ohne den rung von degradierten Körpern ohne Aussicht auf Widerstand oder relationalen Abgleich mit Maskulinität und patriarchalen Strukturen selbstbestimmtes Handeln ist sicherlich nicht im Sinne einer emanuntersucht werden kann. Diese Utopie entwerfen unter anderem zipatorischen FSF. Joanna Russ, Marge Piercy oder auch schon Charlotte Perkins Der Erfolg der Serie hält an, es wurden zwei weitere Staffeln Gilman in einem sehr frühen Werk (»Herland«, 1915). In Joanne gedreht, die über das Romanende hinausgehen. Inzwischen gibt Russ’ Roman »The Female Man« (1975) begegnen sich vier Frauen es mit dem Buch »Die Zeuginnen« auch eine literarische Fortsetzung, auf vier parallelen Zeitspuren. Janet lebt auf dem Planeten Whilein der Atwood Elemente der Serie aufgenommen hat und für das away, der weitgehend von Landwirtschaft geprägt ist. Männer sind sie 2019 den wichtigsten britischen Literaturpreis, den Booker hier ausgestorben, Frauen gehen miteinander Liebesbeziehungen Prize, erhalten hat. ein und pflanzen sich eingeschlechtlich fort. Jeannine befindet sich iz3w • September / Oktober 2020 q 380


Science-Fiction auf einer Zeitspur, in der die Weltwirtschaftskrise andauert und der Zweite Weltkrieg nie stattgefunden hat. Jael lebt in einer Zukunft, in der sich Männer und Frauen seit Jahrzehnten in einem bitteren Krieg bekämpfen, in dem sie unter anderem auch Kinder gegen Ressourcen eintauschen. Joannes Welt wiederum ähnelt sehr der unseren in den USA der 1970er Jahre. Die einzelnen Begegnungen der vier J‘s lösen weitreichende Dynamiken in ihrem jeweiligen Paralleluniversum aus, nicht zuletzt durch die Figur der Janet auf dem männerlosen Whileaway. Das Spektrum der Varianzen innerhalb eines Geschlechts und die individuellen Ausprägungen einzelner Figuren werden entfaltet und beleuchtet, und dabei wird Geschlecht als dualistische Kategorie entlarvt und überflüssig gemacht.

zeitig wird darin das Versprechen einer Befreiung aus heteronormativen Reproduktionsmöglichkeiten sichtbar – aktuelle queerfeministische Bewegungen fordern den erweiterten Einsatz solcher Technologien, um neue Familienformen zu ermöglichen. Octavia Butler, Marge Piercy oder jüngst auch Laurie Penny nehmen die Frage nach der Rolle von Technik und neuen Bio- und Reproduktionstechnologien für feministische utopische Möglichkeiten als gedanklichen Ausgangspunkt. Marge Piercys Roman »Woman on the Edge of Time« (1976) spielt in einer anarchistischen ­Kommune mit gentechnisch modifizierter Agrikultur. Hier gibt es Brüter, in denen Babys geboren werden, die von Männern wie Frauen gestillt werden. Durch diese Konstruktion kann Piercy eine Erzählung aufspannen, die dort beginnt, wo Männer und Frauen sich unter gleichen Voraussetzungen dem Thema Reproduktion und Care widmen. Heterosexualität als Perversion Die Biologin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway tt Melissa Scott (»Shadow Man«, 1995) dreht den Spieß um und bezog sich in den 1980er Jahren auf feministische Zukunftsentwürfe und sprengte somit bewusst Genregrenzen zwischen Wisbeschrieb eine Welt, in der fünf Geschlechter und neun Sexualitäten die Normalität sind. Zweigeschlechtlichkeit sowie Heterosexusenschaft und FSF. In ihrem Cyborg-Manifest aus dem Jahre 1985 alität werden als Perversion eingestuft. In Nicky Draydens Roman verweist Haraway auf Joanne Russ‘ Werk und verwebt Auszüge davon in ihren sprunghaften Gedankenspielen aus FSF-Szenen, »Escaping Exodus« (2019) leben Menschen im Inneren einer riesigen Kreatur, in der sie durch den Weltraum reisen. In der strengen wissenschaftlichen Analysen und eigenem fiktionalen Schreiben. Hierarchie eines Clan-Matriarchats entwickelt sich die Ihr omnipräsentes Thema: die Liebesgeschichte zweier Frauen verschiedener Kasten. Auflösung der Grenzen zwischen In Christina Dalchers Roman Larissa Lai (»Salt Fish Girl«, 2002) hingegen zeichnet Mensch und Maschine wie auch eine von Unternehmen dominierte Zukunft, in der der künstlich gesetzten Grenzen »Vox« stehen Frauen hundert zwischen Natur und Kultur sowie sie unter Aushandlung von lesbischen Beziehungen Worte pro Tag zu Mann und Frau. Es war Marge queere Ideen zur Reproduktion aufgreift und ethnische Identitätszuschreibungen ins Post-Humane aufPiercys Roman, der sie zum Entlöst. Ihre Protagonistin ist ein Shape-Shifter, die ihre Form zwischen wurf ihrer »blasphemischen, antirassistischen-feministischen Figur« Mädchen, Fisch, Frau und Schlange wechseln kann und sich zwider Cyborg inspirierte, die diese Grenzen überwindet. Im Kontext schen einem China im 19.Jahrhundert und einer futuristischen der Frauenbewegung wie auch der linken Bewegung ihrer Zeit Mega-City an der Pazifikküste durch die Zeiten bewegt. bezieht sich Haraway explizit darauf, den Einsatz von Technologie Olivia Butlers Werke (unter anderem »Kindred« von 1979) nicht per se als kapitalistisch, patriarchal und militärisch abzulehnehmen die Kategorien Race und Gender unter die Lupe, um von nen. Sie schlägt vor, sich aktiv einzumischen und diesen Einsatz dort aus in posthumane Bereiche vorzudringen. Die Schwarze vielstimmig mitzugestalten und subversiv zu unterlaufen. Haraway Protagonistin aus den USA der 1970er Jahre begegnet auf Zeitreibetont im Cyborg-Manifest, dass »Cyborg-Technologien zur sen zurück in das rassistische System der Sklaverei sowohl ihren Herrschaftssiche­rung wie zu deren Unterwanderung eingesetzt eigenen Vorfahren als auch einem jungen weißen Sklavenhändler, werden können«. dessen Leben sie rettet. Dabei verstrickt sie sich immer tiefer in den Literatur verschiedenen Orten, Zeiten und Körpern, in denen sie die unvollständig aufgearbeiteten Traumata der afrikanischen Diaspora erlebt. –– Charlotte Perkins Gilman: Herland, 1915 Außerirdische Wesen landen vor der nigerianischen Hauptstadt –– Ursula K. Le Guin: The Left Hand of Darkness, 1969, dt.: Die linke Hand der Dunkelheit Lagos … – dies ist der Ausgangspunkt von Nnedi Okorafor afrofu–– Joanna Russ: The Female Man, 1975, dt.: Planet der Frauen turistischen Romans »Lagoon« (2014). Die nigerianisch-amerikanische Schriftstellerin hatte immer vergeblich nach »komplexen –– Marge Piercy: Woman on the Edge of Time, 1976, dt.: Frau am Abgrund der Zeit schwarzen Frauenfiguren« in Büchern gesucht und vermisste zudem – – Octavia Butler: Kindred, 1979 die spezifische Perspektive der afrikanischen Diaspora in der Science–– Margaret Atwood: The Handmaid’s Tale, 1985, dt.: Der Report der Magd. Fiction-Literatur. Deshalb ist ihr Werk geprägt von der Verbindung The Testaments, 2019, dt.: Die Zeuginnen sozialer Utopie mit afrofuturistischer Vision und postkolonialer – – Donna Haraway: A Cyborg Manifesto, 1985, dt.: Ein Manifest für Cyborgs Kritik. Dass afrofuturistische Werke nicht nur in der Schwarzen –– Melissa Scott: Shadow Man, 1995 Community rezipiert werden, beweist die Überreichung der beiden –– Larissa Lai: Salt Fish Girl, 2002 wichtigsten Science-Fiction-Preise der USA – der Hugo-Award und –– Nnedi Okorafor: Lagoon, 2014, dt.: Lagune, 2015 der Nebula-Award – an Nnedi Okorafor. –– Christina Dalcher: Vox, 2018 –– Nicky Drayden: Escaping Exodus, 2019

Ambivalente Technik tt Neben den Kategorien Körper und Geschlecht ist die Angst vor Unterwerfung der Frauen mittels Fortpflanzung durch neue Bio- und Reproduktionstechnologien ein häufiges Motiv in der FSF. Gleich-

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Alice Rombach ist Soziologin und freie Journalistin.

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Rezensionen ... Aus dem Schatten treten Unter dem Eindruck vermehrter Migration stellen sich der deutschen Gesellschaft viele Fragen, beispielsweise nach »Integration« sowie nach kultureller und politischer Teilhabe von Migrant*innen. Häufig werden diese Fragen aus Sicht der »empfangenden« Gesellschaft formuliert: Wie wollen »wir« mit »denen« umgehen? Helge Schwiertz dreht diese Perspektive in seinem Buch um. Zur Sprache kommen migrantische Jugendliche in den USA und in Deutschland. Thema ist dabei insbesondere ihr Engagement für ein neues Demokratieverständnis und ihre Vorstellungen für eine postmigrantische Gesellschaft. Im Kern des Buchs steht die umfangreiche Analyse zweier politischer Gruppen migrantischer Jugendlicher: Jugendliche ohne Grenzen (JoG) auf der deutschen und California Immigrant Youth Justice Alliance (CIYJA) auf der amerikanischen Seite. Interviews mit Gruppenmitgliedern sowie die Dokumentation ihrer Arbeit werden von Schwiertz mit radikaler Demokratietheorie in Anschluss an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Jacques Rancière und Étienne Balibar zusammengeführt. Die Fallbeispiele zeigen, dass Demokratie weit mehr ist als die Teilnahme an Wahlen. Sie zeigen, dass die Kämpfe der migrantischen Jugendlichen um Rechte und Teilhabe an existierenden Ordnungen rütteln. Eine Jugendliche bei JoG stellt fest: »Demokratie ist, was für eine gilt, muss auch für alle gelten«. Schwiertz berichtet von der Praxis des »Coming out of the shadows«, bei der Jugendliche ohne Papiere öffentlich über ihre Lebensumstände in Kalifornien berichten, singen oder rappen – und damit eine Abschiebung riskieren. Sie treten damit aber »aus dem Schatten« heraus, verweisen auf die Brutalität des Migrationssystems und können Vertt

Make Antifa Great Again Nachdem Reaktionäre von Donald Trump bis hin zur AfD immer wieder ein Verbot »der Antifa« fordern, erscheint es sinnvoll, sich einmal näher mit ihr auseinanderzusetzen. Als Einführung in Form eines Comics bietet sich hierfür Antifa – Hundert Jahre Widerstand des kanadischen Autors und Comiczeichners Gord Hill an. Hill zeichnet die Geschichte des Faschismus im letzten Jahrhundert sowie den militanten antifaschistischen Kampf dagegen nach. Von der Entstehung des Faschismus in Italien reicht die Erzählung über den Ku-Klux-Klan bis zur »neuen Rechten« in Europa. Hill beschreibt die ideologischen und politischen Inhalte des Faschismus. Doch der Schwerpunkt liegt auf dem Widerstand, beginnend bei den Arditi del Popolo (»Die Kühnen des Volkes«), die sich in den 1920er Jahren bewaffnet den Schwarzhemden Mussolinis in den Weg stellten. Hill dokumentiert den aktiven Kampf der deutschen Kommu­ nist*innen vom Roten Frontkämpferbund und der 1932 gegründeten »Antifaschistischen Aktion« gegen die Nazi-Sturmtruppen. Die zahllosen militanten Antifaschist*innen, die in den internatiott

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bündete für ihre Sache gewinnen. Sie machen sich sichtbar und zeigen, dass sich die Dinge ändern müssen: Migration ist eine Tatsache und Ausschluss ein Problem, dem unzählige Menschen existenziell ausgeliefert sind. Das Auftreten gegen diesen Ausschluss ist somit laut Schwiertz eine mutige Selbstermächtigung: »Durch ihre Selbstorganisierung erschaffen migrantische Jugendliche eine Bühne, auf der sie als Betroffene und zugleich als politische Subjekte erscheinen. Sie sind es, die ihre Stimmen erheben, die ihre gemeinsam entwickelten Forderungen zur Sprache bringen, die ihre Körper einsetzen, um Rechte zu erlangen.« Da die politischen Kulturen in den USA und in Deutschland recht unterschiedlich sind, ist es umso erstaunlicher, »dass die Selbstorganisierungen für sich genommen mit sehr ähnlichen Strukturen, Praxen und Erfahrungen einhergehen«. Das ist die große Stärke des Buchs: Es vergleicht, ohne zu essenzialisieren. Es nimmt sich den Raum, analytisch in die Tiefe zu gehen und aus der Untersuchung praktischer Beispiele Erkenntnisse für die Theoriebildung zu entwickeln. Jedoch wird das Buch dadurch sehr voraussetzungsvoll und ist eher für Menschen mit Theorieaffinität oder Fachwissen geeignet. Für dieses Publikum hat Schwiertz ein Buch verfasst, an dessen Ende »die Reflexion von möglichen Anfängen« steht, die Demokratie weiter zu denken. Janika Kuge Helge Schwiertz: Migration und radikale Demokratie. Politische Selbstorganisation migrantischer Jugendlicher in Deutschland und den USA. Edition Politik: Band 80. Transcript, Bielefeld 2019. 398 Seiten, 34,99 Euro. tt

nalen Brigaden in Spanien gegen das FrancoRegime kämpften, werden ebenfalls gezeigt. Dass Hill auch den Kampf der Alliierten gegen das nationalsozialistische Deutschland in die Tradition des antifaschistischen Kampfes stellt, verwundert angesichts der Appeasement-Politik der 1930er Jahre. Jedoch richtet er den Fokus vor allem auf die widerständigen Praktiken der Edelweißpiraten, der Studierenden der Weißen Rose, aber auch auf die Aufständischen des Warschauer Ghettos sowie die Partisan*innen in Italien, Jugoslawien und Griechenland. Hier zeigt Hill auch den Zusammenhang zwischen Antifaschismus und Revolution auf. Vielen Kämpfer*innen ging es nicht nur um das Ende der faschistischen Herrschaft, sondern auch darum, eine neue postkapitalistische Ge­ sell­schaft zu errichten. Im zweiten Teil beleuchtet der Comic den internationalen Antifaschismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Verschiedene Länder und ihre Gruppen werden vorgestellt, wie das Southall Youth Movement oder die Anti-Nazi-League, die das Wiedererstarken des Faschismus

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Das Leben ist (k)ein Kaugummiautomat Olivia Wenzels erster Roman 1000 Serpentinen Angst spricht Leser*innen bereits durch den knallgelben Schutzeinband an, auf dem sich pinke, schwarze und gelbe Kugeln wie in einem Kaugummiautomat tummeln. Die in drei Kapitel unterteilte Erzählung handelt von einer namenlosen Schwarzen Protagonistin, die in Ostdeutschland aufwächst, ihrem Zwillingsbruder, der Suizid beging, ihrer lesbischen Freundin Kim und ihrer Mutter, einer DDR-Altpunkerin, die keine Nähe zur Tochter zulassen kann. Der Roman ist über weite Strecken ein Dialog der Protagonistin mit einer weiteren Person. Manchmal fragend, manchmal antwortend wirkt diese teils wie das Unter­bewusstsein, teils wie die Freundin Kim oder wie der tote und schmerzlich vermisste Bruder. Trotz der Zeitsprünge, Textmontagen und Ortswechsel lässt sich die häufig einem Bewusstseinsstrom ähnelnde Konversation wunderbar in einem Fluss durchlesen: »WAS SAGE ICH NICHT? Dein Vater ist in Angola mittlerweile ein ziemlich wohlhabender Mann. Er hat frühzeitig in Ölpipelines investiert. Einmal im Monat überweist er dir Geld. Deshalb kannst du dir leisten, was du dir leistest. WARUM MACHT ER DAS? Er hat nach dem Tod seines Sohnes damit angefangen. Du begreifst es als eine Art von Schmerzensgeld. ABER MEINEN VATER VON DIESEM GELD ZU BESUCHEN, KOMMT MIR NICHT IN DEN SINN.« Wenzels Roman erinnert stark an Mirna Funks Buch Winter­nähe, das 2015 ebenfalls bei S. Fischer erschien. Beide Autorinnen wählen marginalisierte Protagonistinnen, die im Osten Deutschlands sozia­ lisiert wurden, zeigen aber auch deren Ermächtigungsstra­tegien und Selbstbewusstsein. Beide Romane richten sich primär an ein weißes bzw. nicht-jüdisches Lesepublikum, um diesem via ­Literatur tt

in Großbritannien bekämpften, oder die autonomen AntifaGruppen, die in den 1980er Jahren in Westdeutschland entstanden. Weitere Kapitel widmen sich Antifa-Gruppen in Italien, Griechenland, Russland, Frankreich und Ukraine, aber auch in Syrien, Schweden, den USA und Kanada. Der Comic feiert die Held*innen der Vergangenheit und Gegenwart. Hill dokumentiert kraftvolle Momente des Wider­ stands aus den Blickwinkeln der Protagonist*innen selbst. So vermittelt er ein starkes Gefühl und einen globalen Blick auf die Bewegung. Kritikwürdig ist die etwas grobschlächtige Darstellung im Comic: Auf der einen Seite böse Nazis mit Glatze, viele Hakenkreuze und gestreckte rechte Arme, auf der anderen Seite Antifa-Logos, Schwarzer Block und entschlossene, aber sympathische Aktivist*innen. Das tut dem Buch keinen Abbruch, macht aber seinen einführenden ­Charakter deutlich. Christopher Wimmer Gord Hill: Antifa – Hundert Jahre Widerstand. Bahoe Books, Wien 2020. 116 Seiten, 17 Euro.

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die verletzende und traumatisierende Wirkung von alltäglichem Rassismus und Antisemitismus zu vergegenwärtigen. Beide Protagonistinnen kennzeichnet eine schwierige Beziehung zu ihren Fami­ lien, die Erfahrung der Diaspora und das Privileg zu reisen, etwa nach Vietnam und Thailand oder in die USA und Israel, um ihr Leben aus verschiedenen Perspektiven zu reflektieren. Die Ortswechsel ermöglichen den Leser*innen multi­ple Perspektiven. Städte wie New York bei Wenzel und Tel Aviv bei Funk dienen zur Konfrontation des Publikums mit Ereignissen wie der Wahl Donald Trumps im Jahr 2016 und #BlackLivesMatter oder dem israelischen Alltag unter Raketenbeschuss im Gaza-Krieg 2014 und den darauf folgenden antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland. Mirna Funks Schlüsselfigur Lola und Olivia Wenzels Hauptdarstellerin könnten sich neben der Begegnung im Bücherregal auch an einem fiktiven Strand in Asien oder vor einem Kaugummiautomat in Ost-Berlin begegnen, austauschen, trösten oder gar verbünden: »Wenn ich mich vor den Automaten stelle und ein wenig bücke, weckt er eine Nostalgie in mir, die vielleicht mit meiner Kindheit zu tun hat oder mit dem Entstehen der BRD, auf jeden Fall mit einem diffusen Früher. In seinem Inneren, hinter den Glasfenstern, befinden sich billiger Schmuck, Spielwaren und Süßigkeiten in drei Behältern.« Patrick Helber Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 352 Seiten, 21 Euro.

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Mirna Funk: Winternähe. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 352 Seiten, 19,99 Euro.

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37. JAHRGANG

JULI-AUGUST 2020

GENOSSENSCHAFTEN

BIOTONNE

4'50 EUR KUNST & KULTUR

49

SCHWERPUNKT Kunst – sozial und politisch www.contraste.org


ISSN 1614-0095

t iz3w KronenstraĂ&#x;e 16a 79100 Freiburg www.iz3w.org

Die Wochenzeitung

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