iz3w Magazin # 381

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Antisemitismus –  »An allem sind die Juden schuld«

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Vertragsarbeit in der DDR t Hommage an Luis Sepulveda t Weg mit Ecker

Nov./Dez. 2020 Ausgabe q 381 Einzelheft 6 6,– Abo 6 36,–


In dies er Aus gabe . . . . . . . . .

Die Tür der Synagoge von Halle Foto: Amadeu Antonio Stiftung »An allem sind die Juden schuld« ist ein Kabarettsong des jüdischen Komponisten Friedrich Hollaender von 1931

Schwerpunkt: Antisemitismus 17 Editorial 18

»Wir« und die »Anderen« Deutscher Antisemitismus im 21. Jahrhundert von Olaf Kistenmacher

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Neue Heimat, alter Hass Antisemitismus ist auch in Lateinamerika auf dem Vormarsch von Nikolas Grimm

24 3 Editorial

Politik und Ökonomie 4

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Indien: In die Ausbeutung gezwungen

Migration: »Du gehst ins Fleischkombinat«

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Die mosambikanischen Vertragsarbeiter*innen in der DDR von Kathi King

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Denkmäler: Fest auf dem Sockel

Die unsichtbare Macht Zum Verhältnis von Verschwörungsmythen und Antisemitismus von Nikolas Lelle und Jan Rathje

Bonded labour ist in Indien bis heute weit verbreitet von Jakob Rösel

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Zu reich für Solidarität Antisemitismus ist in Großbritannien auch in der Linken verbreitet von Larissa Schober

Haiti: »Ludwig XVIII. wollte die Insel zurückerobern« Interview mit Marlene Daut über Haitis Kampf um die Unabhängigkeit

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Zerstörung über Umwege Die BDS-Bewegung kämpft für die Abschaffung des jüdischen Staates von Tom David Uhlig

Der eingebildete Feind Antisemitismus in Afrika richtet sich vor allem gegen den jüdischen Staat Israel von Felix Riedel

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Der Schädelsammler Alexander Ecker wird in Freiburg noch immer geehrt von Julia Rensing

»Werft die Bombe auf Israel!« Der Antisemitismus im Internet als Echo des Anti-Judaismus von Monika Schwarz-Friesel

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»Warum wird dazu überwiegend geschwiegen?« Interview mit Georges Bensoussan über arabischmuslimischen Antisemitismus

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»Ein Jude versteckt sich hinter mir« Israelbilder in Syrien und Libanon von Hannah Wettig

47 Rezensionen 50 Szene / Impressum

Kultur und Debatte 41

Vergangenheitspolitik: »Das ist für uns unerträglich« Interview mit Mehdi Lallaoui über Frankreichs Kolonialmassaker in Sétif

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Literatur: Für Groß und Klein Hommage an den fabelhaften Schriftsteller Luis Sepúlveda von Ute Evers

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Editorial

Eine Kulturnation vom Feinsten Zu den vielen Eigenheiten deutscher Mentalität zählt, sich in einem Maße am eigenen Altruismus berauschen zu können, das im diametralen Gegensatz zum tatsächlichen Handeln steht. Beispiel »Willkommenskultur«: Im Sommer 2015 sah sich Deutschlands politische Klasse kurzfristig gezwungen, mehrere hunderttausend Geflüchtete auf­ zunehmen, die bereits völlig verzweifelt vor der Grenze standen und nur mit Waffengewalt noch hätten verjagt werden können. Diese Notlage war eine direkte Folge davon, jahrelang absichtsvoll die Augen verschlossen zu haben vor dem Elend in Syrien, Irak und Afghanistan und vor den unhaltbaren Zuständen in Süd(ost)europa. Man gestand sich aber nicht etwa das Versagen der eigenen Flüchtlings- und Migrationspolitik ein, sondern b ­ escheinigte sich umgehend, eine weltweit vorbildliche »Willkommenskultur« etabliert zu haben. Der Höhepunkt des Sich-selbst-auf-die-Schulter-Klopfens war erreicht, als 2019 ein ehemaliger SPD-Bundestagsabge­ ordneter bei der UNESCO beantragte, die »Willkommenskultur« auf die Liste des immateriellen Kulturerbes in Deutschland zu setzen. Der Antrag scheiterte; warum, ist nicht bekannt. Möglicherweise wollte die zuständige UNESCO-Kommission das Nettsein zu Geflüchteten deshalb nicht zum deutschen Kulturerbe zählen, weil sie aus Erfahrung weiß, dass eher das Gegenteil richtig ist. Die bisherige Liste ist übrigens hinsichtlich deutscher Mentalität sehr aufschlussreich. Neben dem unvermeidlichen »Rheinischen Karneval« stehen auch die »deutsche Brotkultur« und das »Schützenwesen« darauf.

Möglicherweise hat die UNESCO auch geahnt, was

sich im März 2020 abspielen würde. Unter willfähriger Beteiligung der SPD lehnte die Große Koalition es ab, auch nur einen kleinen Teil der Geflüchteten vom Elendslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos nach Deutschland zu holen. Lediglich einige wenige Kinder wurden eingelassen, man wollte sich den Ruf als Nation der Wohltäter nicht gänzlich ruinieren. Dass in Moria bereits ohne Corona-Virus Zustände herrschten, die jedem Staat des Globalen Südens heftige Ermahnungen beispielsweise des SPD-Außenministers Heiko Maas eingebracht hätten, wurde ausgeblendet. Für Geflüchtete galt der totale Lockdown. Daran änderte sich auch nichts, als das Lager bei Moria Anfang September in Flammen aufging. Obwohl die Notlage der Geflüchteten nicht dramatischer hätte sein können, entspannte sich in Deutschland eine an Widerwärtigkeit

und Menschenverachtung kaum zu überbietende »­ Debatte« darüber, ob man nun 1.000 oder 5.000 Menschen aufnehmen soll – oder doch lieber gar keine. Engagement zeigte die deutsche Politik allein dabei, die Seenotrettungsschiffe im Mittelmeer an die Kette legen zu lassen. Dies geschah vielfach mit rechtswidrigen Mitteln, wie jüngst gerichtlich festgestellt wurde.

Szenenwechsel: Ende August versammeln sich in Ber-

lin-Mitte 300 Menschen zu einer Kundgebung. Darunter sind viele BPoC (Black and People of Color). Die Stimmung ist für eine antirassistische Manifestation ungewöhnlich ge­ löst, denn es gibt einen Erfolg zu feiern: Kurz zuvor hat die Bezirksverordnetenversammlung beschlossen, die »Mohrenstraße« umzubenennen. Sie soll künftig »Anton-WilhelmArno-Straße« heißen, in Erinnerung an den ersten Gelehrten afrikanischer Herkunft in Deutschland. Damit wird eine Forderung eingelöst, die von Gruppen wie dem Bündnis »Decolonize Berlin« schon seit Jahren erhoben wird. Arno war Anfang des 18. Jahrhunderts als Sklave im Kindesalter von Ghana nach Europa verschleppt worden. Der Hof des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel gewährte ihm die Gnade, eine akademische Ausbildung zu erhalten. Als humanistischer Philosoph wandte er sich dann unter anderem gegen die Entrechtung schwarzer Menschen in Europa. Auf der Kundgebung in Berlin wurde Arno unter anderem von dem Künstler Bonaventure Soh Bejeng Ndikung gewürdigt. Er hat beim Braunschweiger Kunstverein eine Ausstellung mitkuratiert, die Arno als bedeutenden Vorkämpfer gegen rassistische Diskriminierung porträtiert. Die längst überfällige Umbenennung der M-Straße ist bundesweit nicht einzigartig. Das koloniale Erbe wird derzeit in vielen deutschen Städten kritisch diskutiert, es ist durch die Black-Lives-Matter-Proteste einiges in Bewegung gekommen. Man würde sich gerne uneingeschränkt darüber freuen, wenn nicht ein böser Verdacht nahe läge: Je symbo­ lischer die Aktivitäten in Sachen Abschaffung des Rassismus sind, je stärker sie auf der kulturellen Ebene verbleiben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich gehandelt wird und zum Beispiel Straßen umbenannt werden. Wenn es jedoch ganz materiell darum geht, Geflüchteten ein Dach über dem Kopf und einen sicheren Status zu geben, dann wird kaltherzige Ignoranz zur Richtschnur politischen Handelns. Darin bleibt sich die Kulturnation Deutschland noch lange treu, befürchtet die redaktion

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Der blanke Horror: Ziegelherstellung im Jahr 2020 in Chattisgarh | Foto: M. Kisko Bola

In den letzten Jahren brachten wir in der iz3w immer wieder Artikel über die sozialen Verhältnisse in Indien. Trotz Bemühungen der postkolo­ nialen Regierungen, trotz Wirtschaftsaufschwung und neuer Arbeitsplätze: Das soziale Elend bleibt. Warum? Welche Strukturen verhindern in der Republik Indien die Verallgemeinerung von lebenssichernder Arbeit? Wie reproduziert sich der informelle Sektor immer wieder neu? Eine Antwort darauf zeigt sich im Blick auf bonded labour, was im Deutschen nur halbwegs treffend mit »unfreie Arbeit« übersetzt werden kann. Verschiedene Formen der Schuldknechtschaft sind ein fester Bestandteil der indischen Ökonomie. Weder die postkoloniale Staatsgründung, tt

noch die Industrialisierungspolitik oder sozialpolitische Reformen und auch nicht der Wirtschaftsaufschwung im heutigen »Shining India« haben daran etwas geändert. Wenn man verstehen will, warum das indische Wirtschaftswachstum keine breite Verbesserung der Lebensumstände mit sich bringt, braucht es sicher den kritischen Blick auf die kapitalistische Vergesellschaftungsweise und weltwirtschaftliche Reichtumsverteilung. Aber das genügt nicht. Eine spezifische indische ­Synthe­se aus vormodernen und modernen Herrschafts- und Ausbeutungsweisen (und mit ihnen bonded labour) prägen das Land bis heute nachhaltig.

In die Ausbeutung gezwungen Bonded labour ist in Indien bis heute weit verbreitet 6

von Jakob Rösel Wie so vieles in Indien beschreibt bonded labour ein umfassendes Phänomen mit einem importierten Begriff – wie übrigens auch »Kaste« oder »Hinduismus«. In den indischen Sprachen steht dagegen auch für bonded labour eine Fülle von Begriffen bereit. Sie umschreiben die regionalen Varianten und einzelnen Mechanismen sozialer und politischer Abhängigkeit von Schuldknechtschaft sowie unfreier oder abhängiger Arbeit. Um abhängige und »erbverschuldete« Arbeitsverhältnisse in Indien zu verstehen, muss man die Lebenslagen und ritualisierten Sozialstrukturen seit dem indischen Altertum betrachten. Dabei geht es um die für die Landwirtschaft und das Dorfleben konstitutiven Formen von (sozialer) Unterwerfung, (wirtschaftlicher) Abhäng­ tt

igkeit, (finanzieller) Verschuldung, (politischer) Rechtlosigkeit und (ritueller) Degradierung. Sie werden zusammengefasst in den Begriffen Knechtschaft, Landlosigkeit, Erbverschuldung, Ohnmacht und Unberührbarkeit. Dieses Zusammenspiel vielfältiger Faktoren bildet das Fundament für bonded labour. Bonded labour zeigt sich darüber hinaus bereits traditionell in einer weiteren Form: contract labour. Hierbei handelt es sich um die Anwerbung, Anleitung und den Einsatz vorrangig ländlicher Abhängiger außerhalb der Dörfer auf Baustellen und für Projekte vielfältiger Art. Diese Kontraktarbeit – am ehesten im Sinne einer Vertragsknechtschaft – expandiert, vervielfältigt und universalisiert damit bonded labour über die Begrenzungen des Dorfes hinaus.

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Indien Während der Kolonialzeit weiteten sich zuvor eher lokale und respielsweise der Monsun ausblieb. Für diese verdrängte Verbindung gionale Arbeits- und Herrschaftsformen enorm aus. Das Empire zu Staat und Markt war der Großbauer, der Grundsteuerverantschaffte mit der Durchsetzung von Geldwirtschaft, Eigentumsrecht, wortliche, Getreidehändler oder Geldverleiher zuständig – oft in pan-indischer und globaler Arbeitsmobilität sowie Investitionsmeein und derselben Person. chanismen neue Entfaltungsmöglichkeiten für bonded labour. Seit Es lag im wohlbegründeten Interesse der Dorfelite, dass Großbauern, Getreidehändler, Grundsteuerverantwortliche, Lehn- und der Unabhängigkeit 1947, vor allem aber seit der (Neo-)Liberalisierung der Nehru‘schen Planwirtschaft ab Stiftungsherren oder auch Geldverleiher den mittellosen Bauern und Bäuerinnen Konsum1981 erfolgten Entwicklungen, die bonded Bei der Verschuldung der labour noch einmal in ein völlig neues Spankredite, Saatgut und andere Hilfen vorschossen. Tagelöhner ging es um die nungsfeld rücken. Hier zeigt sich bonded Diese Kredite waren grundlegend für das Überlabour als bislang notwendiger Bestandteil leben der Dörfer – und nicht zuletzt für die Sicherung billiger Arbeit eines unvollständigen ModernisierungsproGrundsteuereinnahmen der Regionalreiche. zesses. Diese bonded labour ist heute verbunTürmten sich unbezahlte Schulden oder starb den mit Kinder- und Frauenarbeit, überwiegend getragen von jenem der verschuldete Bauer oder Tagelöhner, dann trat der Sohn in die Fünftel der indischen (Land-)Bevölkerung, das aus bedrohten indinunmehr erbliche Schuldknechtschaft. Bei der Verschuldung der genen Gemeinschaften und seit Jahrhunderten verelendeten »UnTagelöhner ging es dem Schuldherrn nicht primär um das Schulberührbaren« (heute Dalits genannt) besteht. deneintreiben, sondern um die fortdauernde Sicherung billiger, Diese Form der abhängigen Arbeit existiert bis heute in den beliebig einsetzbarer Arbeit, um Unterwürfigkeit und Loyalität. Millionenströmen saisonaler Wander-, Ernte- und Industriearbeiter­ Der Funktionsmodus des traditionellen Indiens, das für mehr als *­innen sowie in der cottage industry, ergo der Heim-, oder präziser neun Zehntel der Bevölkerung gültige Dorf- und Jajmani-Modell, gesagt Slumarbeit. Bonded labour zeigt sich aber auch bei allen hielt damit seit jeher ethnische und kastenspezifische Zwangslagen staatlichen Bau-, Infrastruktur- und Industrieprojekten sowie im bereit, die auf eine dauerhafte Verschuldung hinausliefen. Falsche Plantagen- und Bergwerkssektor. Hier wird seit langem und neuGeburtsgruppe oder Kaste, falscher Geburtsort, die Stammesperierdings qua Outsourcing Arbeit mithilfe von Kontraktoren als pherie oder aber ein Unfall, ein zu geringer Monsun oder eine contract labour organisiert. Dabei reproduzieren und verfestigen Überschwemmung schoben wie von selbst ganze Bevölkerungssich ökonomische und soziale Strukturen, welche die Entwicklung schichten in erbliche Schuldknechtschaft. Hatte der Schuldenherr höherer Produktivität oder von »guter Lohnarbeit« behindern. etwa die Kosten und die Ausstattung für die Hochzeit des Sohnes des Schuldners übernommen, dann musste der Sohn in die Schuldknechtschaft gehen. Die gleichen Verschuldungsrisiken operierten Bonded labour im alten Indien … auch auf der Ebene der Tempel-, Basar- und Palaststädte. tt Mit China bildet Indien bis heute die größte und in Teilen alterDort wurde der zusätzliche Mechanismus der Kontraktarbeit tümlichste Bauerngesellschaft der Erde. Die heute 640.000 Dörfer, wesentlich, weil der Kontraktor die bargeldlose Schuldenwelt des auf die sich zwei Drittel der aktuell 1,3 Milliarden Bewohner*innen Dorfes mit dem geldgesättigten Milieu der Stadt zusammenbrachte: Dabei ging es um große Bau-, Bewässerungs- und TempelproIndiens, ein Sechstel der Erdbevölkerung, verteilen, erhielten sich jekte, um Heereskampagnen, Handelskarawanen und Überseefahrnach einem einfachen, vielfach variierten Modell, dem sogenannten Jajmani-Modell: Eine oder mehrere unter sich bleibende Bauten. Dafür brauchte man verfügbare, gering qualifizierte Arbeiter erngruppen, zumeist die Hälfte der Dorfbevölkerung, dominierten – also erblich verschuldete bonded labour. Die Verschuldung zwang Boden, Dorfgeschehen und Politik. Ihnen unterworfen waren zur Arbeit und Arbeitsmigration. Die Migrationskosten setzten spezialisierte Handwerker- und Dienstleistungsfamilien, die für wiederum den Vorschuss, also die weitere Verschuldung und neue Anbau, Wirtschaft, Festtagszyklen und rites de passage notwendige Schuldenherren voraus: Bonded labour wird Voraussetzung ebenso Geräte und Dienste lieferten. Dafür wurden sie mit Ernteanteilen wie Konsequenz von contract labour. Kontraktoren mobilisieren damit bereits in vormonetären Zeiten das Arbeitspotential einer oder bescheidenen Landparzellen entlohnt. Von noch geringerem Status waren jene Gruppen, die tageweiextrem ungleichen Bauerngesellschaft für die Ambitionen der se oder saisonal entlohnt wurden. Diese arbeiteten etwa als KuhPolitik, der Religion und des Handels. hirten, Gärtner, Bewässerungshelfer oder Palmheger (toddy tappers). Dazu zählten auch jene, die stark degradierenden Beschäftigungen … und im kolonialen Britisch-Indien nachgingen: Wäscher*innen, Barbiere, Latrinenreiniger, Abdecker, Lederarbeiter oder Leichenträger. Außerhalb von Saat- und Erntett Die britische Herrschaft setzte vor allem nach der Etablierung zeiten mussten viele aus dieser Gruppe mit Gelegenheitsarbeiten, Indiens als Kronkolonie 1857 neue Rahmenbedingungen für die dem Sammeln von Baumfrüchten und Ernteresten und mit WanAusweitung der Schuldknechtschaft. Bereits die Mogulherrschaft derarbeit überleben. hatte die Ausweitung der Geldwirtschaft vorangetrieben. Die East India Company machte in ihren Territorien endgültig Schluss mit Die indische Bauerngesellschaft ruhte keineswegs auf der von Gandhi und der Kongress-Partei verklärten »Dorfrepublik«, sondern der Bezahlung der Grundsteuern in Form von Getreidekontingenauf einem Herrschaftssystem, in dem wie überall und wie in allen ten oder Kaurimuscheln. Mit der Durchsetzung des Company-SilberRupien-Systems bei der Grundsteuereintreibung durchdrang die traditionellen Gesellschaften Hierarchie und Arbeitsteilung, Hegemonie und Kooperation unauflösbar zusammenwirkten. Und entGeldwirtschaft jetzt hunderttausende Dörfer. Hinzu kamen der gegen der Kongress-Legende von der Gleichheit, Selbständigkeit Ausbau lokaler Wochenmärkte, der Bau des zweitgrößten Eisenbahnnetzes der Erde sowie der Überseeexport neuer cash crops wie und Selbstversorgung war »das indische Dorf« nie autonom. Auch in Zeiten begrenzter Geldwirtschaft produzierte das Dorf begrenzt Opium, Seide, Salpeter, Weizen, Reis, Baumwolle und Tee. Bengafür Märkte, zahlte Grundsteuern und brauchte Hilfe, wenn beilen, der Punjab, das Irrawaddy-Delta, Gujarat und Assam wandeln iz3w • November / Dezember 2020 q 381

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sich zu Weltmarktexportlandschaften. Umgekehrt importierte InBanken und Geldverleiher. In völlig neuen Dimensionen wird nun dien fast alle Fertig-, also Industrieprodukte aus Großbritannien. Kredit aufgenommen – von unfähigen Agrarmagnaten (Zamindaren), Damit setzte spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert von tüchtigen steuerverantwortlichen Mittelbauern (Ryots), von ein Prozess ein, der sowohl vom britischen Imperialismus als auch Kanalkolonisten und cash crop-Produzenten ebenso wie von absteigenden Dorfhandwerkern, erpressbaren Tagelöhnern und vervom indischen (Befreiungs-)Nationalismus eher diskret behandelt wurde: Der britische Industriewarenexport nach Indien, später der armten Teilpächtern. Das britische Bankensystem verkehrt aber nur nachholende indische Industrialisierungsprozess erodierten das mit den größten der indischen Handels- und Industriehäuser. So dörfliche Jajmani-System. Allerdings kaum in sozial fortschrittlicher werden indische Gruppen für die lokalen Geld- und InvestitionsWeise. Zurück blieb ein Ausgrenzungs- und Besitzgeschäfte, aber auch die Überlebenszwänge system, das für die Abhängigen keine Absicherungen von 300 Millionen Bauern, Handwerkern und Die Verschuldung bot. Der britische und heute der nationale IndustriLandlosen zuständig. zwang zu Arbeit und alisierungsprozess trafen die Dorfbevölkerung als Diese können jetzt dank Eisenbahn, DampfGanzes. Wenn Kochtöpfe aus Sheffield, später aus schiff, Telegraf, Post und money order weiterArbeitsmigration dem nordindischen Moradabad und heute aus Chigespannte Netzwerke bilden: Der dörfliche na auf dem Markt sind, bedarf es keines Dorftöpfers Getreidehändler vergibt Kredite distriktweit, mehr. Das gleiche gilt für Seiler, Schmiede, Dachdecker, Mattendie größeren Mahajans und Handelshäuser provinzweit und die flechter, Lederarbeiter oder Dorfweber. seit Mogulzeiten finanztätigen Marwaris (aus Marwar) und GujaSo durchläuft Indien, an den bescheidenen Urbanisierungsraten ratis (aus Gujarat) über Gesamtindien. Die südindischen Geldverablesbar, eine ungenügende Transition. Kein Amerika und auch leiher, die Nattukottai Chettiar, vergeben ihre Kredite global, zunicht die nur langsam wachsenden indischen Städte absorbieren mindest bis Südostasien und Ostafrika und auf den Inseln des die Millionen Menschen, die in hunderttausenden Dörfern zu Indischen Ozeans an die indische tamilische Diaspora. Daneben überleben versuchen, obwohl ihre Produkte und Dienste, ihre geben Dorfälteste, Grundsteuerverantwortliche, erfolgreiche cash Unterwürfigkeit immer weniger gebraucht werden. Angesichts crop-Bauern und enge Verwandte Kredite für Ochsen, Pflüge, Zukauf eines ungenügenden Industrialisierungs-, Alphabetisierungs- und von Land – oder für das schlichte Überleben. Urbanisierungsprozesses stellt die verarmte Landbevölkerung keine Die Kolonialmacht schwankt angesichts dieser neuen Verschulindustrielle Reservearmee dar, sondern lediglich ein agrarisches dungsprozesse zwischen Liberalismus und Paternalismus: Kredit ist Lumpenproletariat. für die Entwicklung und Öffnung Britisch-Indiens notwendig. Aber Die britische koloniale und später die nationale Transformation schaffen damit neue Abhängigkeiten und Zwangslagen. Das bringt in Ansätzen auch neue Chancen und Spielräume: temporäre und schließlich dauerhafte Industriearbeit, Saison- und Erntearbeit über immer größere Distanzen, Arbeit auf großen und kleinen Kanal-, Eisenbahn-, Damm- und Bauprojekten, Abwanderung in Plantagenund Bergwerksdistrikte. Schon seit 1840 gehörte dazu auch die Auswanderung zu Arbeitsplätzen des expandierenden Empires und seiner Plantagen in Asien, Afrika und in der Karibik.

Der modernisierte Anachronismus … Die zentralen Hebel, um dieses Arbeitskräftepotential zu mobilisieren, sind hinsichtlich technischer Entwicklungen Telegraph, Eisenbahn und Dampfschifffahrt; juristisch-institutionell sind es law and order und ein neues Grundsteuer- und damit Grundbesitzersystem. Finanziell gesehen sind es neue Investitions- und Bankensysteme, money order und globalisierte cash crop-Systeme; kolo­ nialwissenschaftlich betrachtet die imperial sciences (Statistik, Vermessungskunde, Medizin, Hydraulik, Agronomie), überwölbt von einem wissenschaftsweltlichen scientific empire. Dieses kombiniert die oriental sciences (etwa Indologie) mit den neuen S­ ozial- und Kulturwissenschaften, kooptierte aber auch native gentlemen und stützte sich auf traditionelle Herrschaftsrituale. Das gesamte Rahmenwerk wäre aber nutzlos gewesen ohne die beiden seit jeher bestehenden, jetzt aber unbegrenzt einsetzbaren Antriebseffekte: fortwährende Verschuldung (bonded labour) und deren ­effizienteste Organisationsform, die Kontraktarbeit (contract labour). Umfassende Geldwirtschaft, deutliches Bevölkerungswachstum und damit Besitzfragmentierung, Weltmarktanbindung, cash cropGewinne, Ersparnisse und Investitionen: All diese Triebkräfte während der kolonialen Transformation erweitern das Tätigkeitsfeld der tt

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Zwangsarbeit für den Weltmarkt: Teepflücker in Kerala | Foto: S. Shankar

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Indien wann wird Verschuldung sozial und dann politisch bedrohlich? Seit Ende des Ersten Weltkriegs ist die Verschuldung und Enteignung in der Landwirtschaft ein prominentes Problem – allerdings nicht die wachsende Verschuldung des unteren Bevölkerungsdrittels, also der Landlosen: Bonded labour gilt als unvermeidliche Begleiterscheinung, contract labour als unverzichtbare Grundlage kolonialer Herrschafts- und Wirtschaftsentwicklung.

… bleibt überall auffindbar Diese Organisationsformen verschuldungsgeprägter Kontraktarbeit bestehen bis heute fort. Zum Teil wirken sie weit über den indischen Subkontinent hinaus: So schuf die von Kontraktoren organisierte Auswanderung neue Plantagensektoren. Eine mehrere Millionen Menschen umfassende indische Diaspora entstand etwa auf Sri Lanka, in Malaysia, in Südafrika/Natal und in der Kari­ bik, in Britisch-Guayana, auf Trinidad und Tobago und auf Réunion. Zu diesem Plantagensektor gehören aber auch die Teegärten von Assam, Darjeeling und den südindischen Nilgiris. Zum anderen ermöglichte die innerindische Migration von bonded labour qua Kontraktarbeit etwa den Bau eines riesigen Eisenbahnsystems und die Entstehung vollständig neuer Kanal- und Agrarzonen. Ohne Kontraktoren wären die nötigen Massen an Arbeitskräften nicht mobilisierbar gewesen. Bonded labour ist dabei nicht nur Männer-, sondern vor allem Kinder- und Frauenarbeit. Bonded labour ist zudem massiv in vielen Sektoren und Formen präsent: Sie zeigt sich auf dem Land in Form tt

von Hausdiensten, lokaler Landarbeit und der inzwischen weit gespannten Ernte- und Saisonarbeit. Außerhalb des Agrarsektors ist sie in fast allen Handwerks-, Manufaktur- und Industriebereichen ebenso wie im Dienstleistungsbereich zu finden. Nach Akteur*innen und Sektoren könnte man bonded labour unterteilen in: Kinderarbeit, Frauenarbeit, Landarbeit, Arbeit in Bergwerken, Plantagen und im Baugewerbe, Arbeit im traditionellen und im modernen halbmechanisierten Sektor (also Weben, Teppichmanufaktur, Glasbläserei und Herstellung von Glasringen, Beedi-Zigaretten, Zündhölzer, Messingartikel, Schlösser und Werkzeuge, Stoffdrucken und Edelsteinschleifereien, Bleistiftmanufaktur, Töpferei, Juwelierartikel und eine weit verbreitete Souvenirindustrie); und schließlich Arbeit in der Illegalität und Parastaatlichkeit, also Prostitution, Drogen- und Alkoholhandel, sowie eine cottageund Recyclingindustrie, die sich auf die Slums der Großstädte konzentriert.

Was macht die Regierung?

Dabei stellt sich die Frage: Was haben die Regierungen in ­Indien bislang gegen bonded labour getan? Allen war bonded labour eher peinlich und ein Überbleibsel, das die Modernisierung erledigen sollte. Deshalb hat sich der Gesetzgeber mit der besser fassbaren contract labour, mit migrant labour, mit Kinderarbeit und Frauenarbeit beschäftigt. Es dauerte bis 1976, bis der bislang einzige Bonded Labour Abolition Act verabschiedet wurde. Zwei Jahre später kam eine erste Studie. Damit begann ein bis ins Jahr 2008 weitergeführtes Befreiungs- und Rehabili­ tierungsprogramm. Rund 300.000 bonded labourers wurden inBonded labour dienweit identifiziert und publikumswirksam ist heute in vielen über die nächsten 24 Jahre befreit. 20.000 Rupien sollte jede/r zur Rehabilitation erhalSektoren und ten. Das Geld kam leider oft zu spät – die Formen präsent Befreiten waren zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben oder unauffindbar. Für die Regierung war damit einerseits das Problem statistisch erfasst: Nur rund 300.000 Menschen, also ein Drittel Promille der Bevölkerung Indiens, waren bonded labour. Zugleich war das Problem nun angeblich vollständig gelöst, schließlich waren mehr als 90 Prozent davon befreit und rehabilitiert worden. Die Realität ist davon weit entfernt. Mit Robert Stern, dem Autor von »Changing India«, kann man zwar sagen: »In Indiens Verfassung, seinen neun aufeinander folgenden Fünfjahresplänen, Hunderten von Parteiprogrammen, Tausenden von Gesetzen und Myriaden von Reden seiner Politiker findet sich eine scheinbare Verpflichtung (zur Hilfe) für die Armen.« Aber nach 70 Jahren, nach enormem gesellschaftlichem und politischem Wandel und einer – wie viele sagen – bourgeois revolution gilt nach wie vor: Die Armen und die Verschuldeten, sie sind immer noch da. tt

Jakob Rösel ist ehemaliger Lehrstuhlinhaber an der Universität Rostock, Südasienexperte und unter anderem (mit Pierre Gottschlich) Autor des Buches »Indien im neuen Jahrhundert«, Nomos Verlag 2008. Eine Langfassung dieses Artikels mit Fußnoten und Literatur­angaben steht auf www.iz3w.org beim Inhaltsverzeichnis zu dieser Ausgabe. tt

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iz3w – Zeitschrift zwischen Nord und Süd Die seit 1970 erscheinende iz3w ist eine der profiliertesten inter­na­tionalistischen Zeitschriften im deutschsprachigen Raum. In Hinter­grundanalysen, Kommentaren und Diskus­sions­­ beiträgen beschäftigen wir uns mit politischen, ökono­mischen und kulturellen Aspekten von Globalisierung, Migration und Rassismus, Entwicklungs­ politik und -theorie, Gender, sozialen Bewegungen, Ökologie und M ­ edien. Sechs Mal pro Jahr werden die 52 bis 64 Seiten der iz3w mit Kriti­schem und Hinter­ gründigem sowie einem zirka 20-seitigen Themenschwerpunkt gefüllt.

iz3w Backlist

2019

2020 iz3w 381: iz3w 380: iz3w 379: iz3w 378: iz3w 377: iz3w 376:

Antisemitismus Science-Fiction Rechte Gewalt 75 Jahre UNO Mode Smartphones

iz3w 375: iz3w 374: iz3w 373: iz3w 372: iz3w 371: iz3w 370:

Fundamentalismus Sozialstaaten Erinnerungskultur Klimawandel Über Verschwörungstheorien Gefängnisse und Strafsysteme

Einzelheft je 6 6,–

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Jugendliche und Erwachsene ......

Der Nahost-Konflikt in den Medien Warum wir eine antisemitismuskritische Berichterstattung brauchen – und wie sie gelingen kann« ......

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Editorial

Klarheit statt Mittäterschaft Die iz3w -Redaktion plant langfristig und ist gerade bei ­Themenschwerpunkten selten aktuell. Bei diesem Themenschwerpunkt leider doch. Als wir im September 2019 beschlossen, uns mit Antisemitismus zu beschäftigen, war der Anschlag von Halle noch nicht geschehen und die CoronaPandemie, die zu einer starken Verbreitung von Verschwörungsmythen beitrug, noch nicht absehbar. Wir hatten uns nach mehreren antisemitischen Attentaten in den USA für diesen Schwerpunkt entschieden. Die Zahl antisemitischer Übergriffe war angestiegen und die Rede vom »Großen Austausch« wurde immer populärer. Auf das Motiv des »Großen Austauschs« bezogen sich auch der Attentäter von Halle und jener von Christchurch, der im März 2019 in zwei Moscheen 51 Menschen ermordete. D ­ ieses Attentat ist durch und durch islamfeindlich, der Täter wendet sich in seiner Begründung aber auch gegen »die Juden«. Hinter der Rede vom »Großen Austausch« steht der Glaube, dass Migration gegen die Interessen »des Volkes« von einflussreichen Gruppen gesteuert sei. Dabei ist die Rede von sogenannten Globalisten, Eliten und natürlich von den Juden, gerne exemplifiziert am neurechten Lieblingsfeind, dem jüdi­ schen Mäzen George Soros. Der Antisemitismus ist ein Weltbild, das Erklärungen für das große Ganze bietet: Bestimmte Mächte, letztlich »die Juden«, würden im Geheimen die hoch­ komplexe moderne Gesellschaft lenken. Der »Große Austausch« zeigt ein weiteres Spezifikum des Antisemitismus auf: Die migrierenden »Fremden« werden per Rassismus abgelehnt. »Die Juden« hingegen seien die Drahtzieher in diesem Spiel. Der Verschwörungsmythos vom »Großen Austausch« wird immer wieder bei den antisemitischen Terroranschlägen genannt: Der Terrorist Anders Breivik wendet sich in seiner Verteidigungsrede gegen »alle anderen Eliten, die Multikulturalismus und Masseneinwanderung stützen«. Ende Oktober 2020 erscheint dieser Themenschwerpunkt nun mit erschreckender Aktualität kurz nach einem brutalen Angriff auf einen jüdischen Studenten in Hamburg. In Deutschland, aber auch weltweit, nimmt der Antisemitismus weiter zu, und er wird gewalttätiger.

Zu dieser ansteigenden Tendenz kommt die Vielseitigkeit des Antisemitismus hinzu. Es gibt den Antisemitismus der Linken, der »Mitte« und der Rechten. Es gibt den religiös legitimierten Antisemitismus etwa christlicher und muslimischer Provenienz. Derzeit werden finstere Mächte als Strippen­ zieher hinter der Corona-Pandemie ausgemacht. Im Modus

der antisemitischen Umwegkommunikation redet man zuerst über Bill Gates, Merkel und globalistische Eliten – bis dem Star der Corona-Leugner-Szene, Attila Hildmann, der Kragen platzt: »Na, merkt ihr, wie Rothschild-Raute euch immer tiefer den Bolschewiken-Dildo in den Arsch schiebt?«. In diesem Themenschwerpunkt versuchen wir, diese Phänomene mit Blick auf unterschiedliche Kontinente zu besprechen. Es zeigen sich Unterschiede in der Ausprägung des antisemitischen Ressentiments. Die Existenz eines linken Antisemitismus ist dabei unübersehbar, er gilt aber oft als nicht gleichsam mörderisch wie der rechte. Damit wird in der Linken sehr unterschiedlich umgegangen. Für uns gibt es jedenfalls keinen Grund, Antisemitismus kleinzureden, weil dies angeblich muslimischen oder antikolonialen Belangen dient. Wie schon beim Antirassismus kann der Kampf gegen Antisemitismus nicht in eins gesetzt werden mit dem gegen rechts.

Antisemitismus ist ein imaginierter Abwehrkampf gegen

die Umbrüche der Moderne. Der Topos vom »Großen Austausch« ist nur ein Beispiel dafür. In diesem Heft überwiegen die warnenden Stimmen, die das Ansteigen des Antisemitismus beschreiben: beispielsweise im Internet, in afrikanischen Staaten oder in Mexiko. Doch ausgerechnet im Nahen und Mittleren Osten könnte eine Trendwende erfolgen: hin zur Normalisierung der Beziehungen mit Israel, wie es sich bei den Friedensschlüssen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie mit Bahrein andeutet. Oder auch in versöhnlichen zivilgesellschaftlichen Statements aus dem Libanon und Syrien (siehe Seite 38). Das könnte dem aufflammenden globalen Antisemitismus den Sauerstoff entziehen, denn Israel ist ein prominenter Aufhänger für das antisemitische Ressentiment. Egal wo man den Antisemitismus antrifft, gilt für uns die Warnung, wie sie Omer Bartov im aktuellen Suhrkamp-Sammelband »Neuer Antisemitismus?« formuliert: Die gesellschaftliche Krankheit Antisemitismus sei frühzeitig zu behandeln, denn was »zunächst als Anomalie erschien, entwickelt sich zu einem alltäglichen, alles durchdringenden Zustand«. Die frühzeitige Behandlung heißt: »Wenn ein malaysischer Ministerpräsident antisemitische Ansichten äußert, darf man nicht versuchen, das Unentschuldbare zu entschuldigen. Wenn eine selbsternannte Befreiungsorganisation die Vernichtung des jüdischen Staates verlangt, darf man nicht so tun, als verlangte sie etwas anderes. Wo die Klarheit aufhört, da beginnt die Mittäterschaft.« die redaktion

Der Themenschwerpunkt Antisemitismus wurde gefördert durch die Amadeu-Antonio-Stiftung und Demokratie Leben / Amt für Migration Freiburg

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Antisemitismus

Zu reich für Solidarität Antisemitismus ist in Großbritannien auch in der Linken verbreitet Antisemitismus spielt in Großbritannien eine kleinere Rolle als in anderen europäischen Ländern. Dennoch nehmen auch dort antisemitische Vorfälle seit Jahren zu. Mit dem gesellschaftlichen Aufstieg vieler Jüdinnen und Juden seit den 1970er Jahren wurde zudem linker Antisemitismus mehr und mehr zum Problem.

von Larissa Schober 2019 verzeichnete der Community Security Trust (CST) in Großbritannien mit 1.805 Vorfällen den höchsten Stand von antisemitischen Vorfällen seit Beginn der Aufzeichnungen 1984. Im ersten Halbjahr 2020 waren es 789. Das ist ein leichter Rückgang, den der CST mit dem Corona-Lockdown im Frühjahr erklärt. Allerdings beobachtet der CST zugleich, dass die Übergriffe nach dem Lockdown aggressiver wurden. Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Messerattacke auf einen Rabbi am 12. Juni in Stoke Newigton, einem Stadtteil im Nordosten von London. Der benachbarte Stadtteil Stamfort Hill ist ein zentraler Ort für orthodoxes jüdisches Leben in Großbritannien: Mit etwa 30.000 Mitgliedern lebt dort die größte chassidische Gemeinschaft in Euro­ pa. Anders als nicht-orthodoxe Jüdinnen und Juden ist diese ­Gruppe aufgrund ihrer Kleidungsvorschriften deutlich erkennbar. Der CST spekuliert, dass dies einer der Gründe ist, warum der Verwaltungsbezirk Hackney, der ein linkes Image genießt und zu dem Stamfort Hill wie auch Stoke Newington gehören, in den Statistiken zu antisemitischen Übergriffen überproportional vertreten ist. Jüdische Sichtbarkeit, so der CST, »kann von Täter*innen als Bedrohung für ihre eigene Kultur und ihr Territorium oder als Zeichen für etwas so Unterschiedliches interpretiert werden, das leichter zu entmensch­ li­chen und zu degradieren ist. Gleichzeitig kann es ihnen eine Gewiss­heit darüber geben, wen und was sie angreifen«. tt

Antisemitismus in der Parteipolitik ... Während gewalttätige Übergriffe häufig dem rechten oder islamistischen Milieu zuzuordnen sind, ist bei antisemitischen Äußerungen der Anteil der Fälle in linken Milieus und insbesondere in der Labour Partei erschreckend hoch. Dieser linke Antisemitismus machte außerhalb Großbritanniens zuletzt 2018 Schlagzeilen, als sich die Führungsspitze der Labour Partei unter dem Vorsitzenden Jeremy Corbyn weigerte, die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance in den Verhaltenskodex der Partei zu übernehmen. Dabei ging es um jene Teile der Defini­ tion, die sich mit Israel befassen. So sollte in der Labour-Version die Unterstellung, dass Juden und Jüdinnen ihren Herkunftsländern gegenüber weniger loyal sind als gegenüber Israel, nicht mehr als Beispiel für Antisemitismus geführt werden, ebenso wie die Problematik, andere Standards an das Verhalten Israels im Vergleich zu anderen Nationen anzulegen. tt

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Der Labour-Führung ging das zu weit, sie sprach davon, dass damit auch reine Kritik an der Politik Israels als antisemitisch eingestuft werden könne. Nach langem Streit innerhalb der Partei wurde schließlich die gesamte Definition übernommen, allerdings mit dem Zusatz, dass »dies die Meinungsfreiheit in Bezug auf Israel und die Rechte der Palästinenser*innen in keiner Weise untergraben wird«. Corbyn hatte einen längeren Zusatz vorgeschlagen, der auch eine Kritik an der Gründung Israels als rassistisches Unterfangen ermöglicht hätte, konnte sich damit aber nicht durchsetzen.

… und außerhalb des Parlaments Während es in dieser Debatte überwiegend um Parteipolitik ging, ist Antisemitismus innerhalb der gesamten Linken auf der britischen Insel ein drängendes Problem, das jedoch kaum thematisiert wird. Die radikale Linke ist keine Ausnahme: Laut dem UK Antisemitism Barometer glauben 60 Prozent aller Brit*innen, die sich der radikalen Linken zugehörig fühlen, mindestens an ein antisemitisches Stereotyp – mehr als in rechten Kreisen. Wie so oft hängt dieser Umstand auch mit dem Nahostkonflikt zusammen. Anders als in der deutschsprachigen Linken geht es dabei nicht um die Frage, welche Konfliktseite man unterstützt, sondern darum, wie weitreichend die Unterstützung für die Palästi­ nenser*innen ist und welche Lösung des Konfliktes man als erstrebenswert erachtet – die Ein- oder Zwei-Staatenlösung. Wie auch in Deutschland wird die eigene Position zum Nahost-Konflikt dabei oft identitär und gerne mit dem Kampf gegen Rassismus vermischt. So twitterte am 28. Juni der offizielle Account von »Black Lives Matter UK«: »Während Israel die Annexion des Westjordanlands voran­treibt und der britischen Mainstream-Politik das Recht auf Kritik am Zionismus und den kolonialen Bestrebungen der israelischen Siedler genommen wird, stehen wir laut und deutlich neben u ­ nseren palästinensischen Kameraden.« Während sich auch viele Akti­vist*in­ nen von diesem Tweet distanzierten, ist eine ähnliche Kritik an ­Israel in der britischen Linken gang und gäbe. Israel als »Kolonial­staat« zu bezeichnen, Ultragruppen, die auf antirassistischen Demonstrationen Banner tragen wie »Arsenal-Fans against Apartheid – Free Palastine«, oder die universitäre Unterstützung der BDS-Kampagne: Solidarität mit Palästina gehört zum guten Ton. Labour-Mitglieder wie die Schatten-Außenministerin Lisa N ­ andy zeigen, dass diese Solidarität nicht zwangsläufig antisemitisch sein muss. Sie ist Vorsitzende der Gruppierung »Labour Friends of Palas­ tine« und kritisiert regelmäßig die Politik Benjamin Netanjahus. Dennoch lehnt sie die BDS-Kampagne ab, setzt sich für die ZweiStaaten-Lösung ein und bezeichnet sich selbst als Zionistin – was im britischen Kontext in erster Linie bedeutet, das Existenzrecht Israels anzuerkennen. Diese grundlegende Anerkennung verweigern Teile der ­radikalen Linken in Großbritannien dem jüdischen Staat. Sie verstehen I­srael als kolonialen Siedlerstaat und als Apartheidregime. Dass diese Positionen in Großbritannien vehementer vertreten werden als tt

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Jüdische Stimmen gegen Rassismus: Mitglieder der Jewish Socialist Group auf einer Demonstration in London, März 2015 | Foto: Larissa Schober

andernorts, hat mehrere Gründe. Rabbi David Mason von der gehörten viele Jüdinnen und Juden in Großbritannien zur ArbeiterMuswell Hill Synagoge in Nord-London meint dazu: »Der Israelklasse, mittlerweile sind sie überwiegend Teil der Mittelschicht. Lisa Nandy thematisierte das in einer Parlamentsdebatte zu AntisemiFetisch der britischen Linken ist ein Überbleibsel des Antiimperialismus der 1960er Jahre. Aus diesem Antiimperialismus speist sich tismus so: »Es ist eine Art von Rassismus, die nach oben, nicht nach auch das der Linken hier nahezu eingeschriebene Axiom, dass die unten tritt. Die argumentiert, dass jüdische Menschen privilegiert USA und alle Staaten, die von ihnen unterstützt werden, schlicht und mächtig sind. Und weil es Menschen auf der linken Seite gibt, böse sind«. Der Nahostkonflikt wird so noch stärker als in anderen die glauben, dass es ihre Aufgabe ist, Privilegien und Macht herauszufordern, argumentieren sie daher fälschlicherLändern vor allem im Framing eines klassisch leninistischen Antiimperiaweise und schändlich, dass jüdische Menschen ein »Corbyn hat Antisemitismus lismus begriffen: Das imperialistische legitimes Ziel für Rassismus seien.« Lager (angeführt von den USA, im Das zeigt sich auch bei der Debatte in der Labour immer nur als ein Problem Konflikt vertreten durch Israel) bePartei: Corbyn und mit ihm viele radikale Linke lehnen von rechts gesehen« kämpft das antiimperialistische Lager Antisemitismus zwar prinzipiell ab, verstehen ihn aber (in diesem Fall die Palästinenser*innen). nicht ausreichend. Rabbi Mason: »Das Problem mit Der zweite Grund ist die Kolonialgeschichte Großbritanniens. Jeremy Corbyn war, dass er tief verwurzelt im Anti-Zionismus ist und Antisemitismus immer nur als ein Problem von rechts gesehen hat. Sie ist im Königreich nur unzureichend aufgearbeitet worden und Die Idee von linkem Antisemitismus, der besonders auf der Vorsteldeshalb zu Recht ein zentrales Thema für die britische Linke. Da lung des 'bösen Juden' fußt, war für ihn nicht vorstellbar.« Dieses Palästina einst britisches Mandatsgebiet war, wird der Nahostkonflikt stark aus diesem Blickwinkel betrachtet und die britische Versehr eingeschränkte Verständnis davon, welche Formen Antisemiantwortung in den Vordergrund gerückt. Dabei wird jedoch die tismus annehmen kann, führt dazu, dass linker Antisemitismus britische Kolonialherrschaft im Nahen Osten mit der jüdischen häufig schlicht geleugnet und das Problem nicht bearbeitet wird. Besiedlung Palästinas und der späteren Gründung Israels gleichgeEine ehrliche Auseinandersetzung damit ist dringend nötig, setzt. Das Konzept Kolonialismus auf Israel anzuwenden, ist jedoch zumal auch die Linke anerkennt, dass die Corona-Krise die Bedroanalytisch problematisch: Kolonisierte Gebiete werden zum Vorteil hungslage für sämtliche Minderheiten inklusive der jüdischen verdes kolonisierenden Landes ausgebeutet. Dieses »Hinterland« schärft. Oder wie Mason es ausdrückt: »Die Linke muss erwachsen existiert im Fall des jüdischen Staates nicht. werden! Sie muss eine robuste Israel-Kritik entwickeln, die nicht antisemitisch ist. Das ist möglich. Man kann Israel kritisieren und dennoch akzeptieren, dass Israel Teil der jüdischen Identität ist«.

Eingeschränktes Verständnis von Antisemitismus

Hinzu kommt die Problematik, dass Juden und Jüdinnen oft als prinzipiell zu reich und zu privilegiert begriffen werden, als dass sie Opfer von Rassismus werden könnten. Bis in die 1970er Jahre tt

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Larissa Schober ist Redakteurin im iz3w und lebte länger in

Großbritannien.

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Shoah-Relativierung auf dem T-Shirt: »Hygienedemo« am 16. Mai 2020 in Berlin | Foto: Belltower.News

Die unsichtbare Macht Zum Verhältnis von Verschwörungsmythen und Antisemitismus Verschwörungsmythen haben Hochkonjunktur. Zwischen ihnen und Antisemitismus bestehen starke Verbindungen, Antisemitismus ist vielleicht der älteste Verschwörungsmythos überhaupt. Im Mittelpunkt antisemitischer Erzählungen steht »die jüdische Weltverschwörung«. Dieses Motiv wird in der Covid-19-Pandemie aktualisiert.

von Nikolas Lelle und Jan Rathje Verschwörungsideologien verbreiten und erneuern sich besonders in Krisenzeiten (siehe iz3w 371). Die aktuelle Krise im Zuge der Covid-19-Pandemie verdeutlicht das eindrücklich. Dabei wandeln sich die zentralen Mythen um Covid-19 im Laufe der P­ andemie: Zu Beginn wurde das Virus als Waffe dargestellt oder seine Existenz geleugnet. Der mutmaßliche chinesische Ursprung diente im Frühjahr als Rechtfertigung für antiasiatische, rassistische Anfeindungen und Übergriffe. Parallel wurden jedoch auch antisemitische Anschuldigungen in verschwörungsideologischen Milieus verbreitet. Im Laufe des Jahres verschoben sich die Hauptnarrative und warnten nun vor der Übertreibung der Gefährlichkeit des Virus, mit der angebliche »Zwangsimpfungen« zur Bevölkerungskontrolle gerechtfertigt werden sollten. Hinzu kommen weitere Verschwörungen rund um das Virus, welche angeblich etwa auf eine »Neue Weltordnung« (NWO) »satanistischer« »Globalisten« hinauslaufen. Der »Widerstand« gegen diese »Verschwörungen« versammelt Menschen aus unterschiedlichen Milieus: Verschwörungside­ tt

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olog*innen, Unternehmer*innen und Selbständige, Esoteriker*innen, Friedensbewegte, Rechtsextreme und Pegida-Fans, »Reichsbürger« und andere Souveränist*innen sowie Impfgegner*innen und vereinzelte christliche Gruppierungen. Regional unterscheidet sich die Zusammensetzung der Teilnehmenden, die größte Einheit aus den Milieus konnte die Stuttgarter Organisation Querdenken 711 auf zwei Demonstrationen im August 2020 herstellen. Bei genauerer Betrachtung der von diesen unterschiedlichen Gruppierungen geteilten Erzählungen und Feindbilder wird eine antisemitische Struktur deutlich. Fragt man nach, wer etwa die »Finanzeliten« oder »Globalisten« sind, werden häufig jüdische Namen genannt. George Soros und die Bankiersfamilie Rothschild würden laut dieser Verschwörungsmythen die Menschen und Organisationen steuern – und natürlich werden dem auch nichtjüdische Namen wie etwa Bill Gates beigefügt. Prominente antisemitische Verschwörungsideolog*innen nutzen Codes und Chiffren wie »NWO«, »Hochfinanz«, »Finanzeliten«, »Globalisten« und andere, um latent vorhandene antisemitische Einstellungen anzusprechen. Dies wird durch einen weiteren Umstand erleichtert: Die Erzählungen um die Pandemie sind selten neu, sondern lassen sich, vor allem im Internet, schnell auf das wichtigste Dokument des Antisemitismus zurückführen, die fiktiven »Protokolle der Weisen von Zion«. In ihnen sind viele moderne Verschwörungserzählungen versammelt und antisemitisch gelabelt. Teil des Planes zur Erringung einer »jüdischen Weltherrschaft« sei laut ihnen: die Steuerung von Ökonomie, Politik, Medien, Wissenschaft, radikaler Bewegungen

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Antisemitismus und ähnlichem. Aber auch die Verursachung von globalen Wirtschaftskrisen oder die Verbreitung von Krankheiten. Die daraus resultierenden Ausnahmezustände würden schließlich für den Übergang zu einer autoritären Herrschaft instrumentalisiert. Vieles, was man aktuell bei von Corona-Leugner*innen auf den Straßen hört, klingt sehr ähnlich.

Der Soziologe Thomas Haury hat drei Strukturmerkmale des Anti­ semitismus identifiziert, die sich auch in Verschwörungsideologien finden lassen. Beide Ideologien sind erstens durch ein manichäisches Weltbild geprägt, also eines, in dem Gut und Böse einen existentiellen Kampf gegeneinander führen. Die Verschwörungsgläubigen wähnen sich als Erweckte im Widerstand gegen das Böse. Zweitens denken beide gesellschaftliche Zusammenhänge personifiziert – für das Übel in der Welt und hochkomplexe Ereignisse soll also eine Von der Ritualmordlegende… konkret benennbare Gruppe verantwortlich sein und daran vertt Historisch kann man feststellen, dass der Antisemitismus vielleicht dienen. Drittens sind beide vorherigen Elemente mit der Vorstellung die älteste Verschwörungserzählung der Welt ist. Schon der christidentitärer Kollektive verbunden, in denen Individuen unveränliche Antijudaismus verbreitete die Erzählung, »die Juden« hätten derliche Eigenschaften aufgrund ihrer Herkunft, Kultur oder Religionszugehörigkeit zukommen. den sogenannten Messias gekreuzigt und würden christliche Kinder ermorden. Diese Ritualmordlegende hat Ein Merkmal ist zu ergänzen. Vervielen Jüdinnen und Juden das Leben gekosschwörungsmythen und Antisemitistet und wurde immer wieder zum Anlass für mus sind beide UnterlegenheitsfantaDie »Protokolle der Weisen von antisemitische Pogrome genommen. Nicht sien. Immer ist angeblich »die breite Zion« versammeln viele moderne Masse«, »der kleine Mann«, »das Volk« nur historisch besteht eine Verbindung zwiVerschwörungserzählungen schen Antisemitismus und modernen Ver– je nachdem – beherrscht von einer schwörungsmythen, auch systematisch. Sie übermächtigen, aber zugleich besiegbaren Gruppe. Das ist eine gänzlich treten oft zusammen auf, verweisen aufeinander, sie befruchten sich und ähneln sich in ihrer Struktur und andere Logik als die des Rassismus, der die Überlegenheit der eiFunktion. Diese Ähnlichkeit hat zur Folge, dass Verschwörungsmygenen »Rasse« propagiert. Im Antisemitismus und in Verschwöthen tendenziell auf Antisemitismus zulaufen. rungsideologien ist die eigene Gruppe der anderen unterlegen, So ist auch der moderne Antisemitismus wesentlich durch weil die Verschwörer*innen über unsichtbare, abstrakte und verVerschwörungsmythen geprägt. Im Mittelpunkt seiner Erzählungen mittelte Macht verfügen. steht »die jüdische Weltverschwörung«, mit Rückgriff auf die »Protokolle«. Die in ihnen beschriebene unsichtbare Herrschaft »der Tödliche Unterlegenheitsfantasie Juden« kann als Vorbild für viele Verschwörungserzählungen gelten; auch für solche, in denen es nicht sichtbar um Jüdinnen und Juden tt Der deutsche Nationalsozialismus war beides, rassistisch und geht. antisemitisch. An seinen Verfolgungs- und Vernichtungspraktiken lässt sich der Unterschied ausmachen: Während russische und Zentral sind die »Protokolle« nicht nur, weil sie ein bis heute weit verbreiteter Text sind, sondern auch weil die Charakterisierung polnische Menschen verschleppt und zu Arbeit unter erbärmlichs»der Juden« mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen ten Bedingungen gezwungen wurden, sollten Jüdinnen und Juden Verschwörungserzählungen Konjunktur haben, korrespondiert. durch diese Arbeit vernichtet werden. Dem eliminatorischen AnDer Historiker Moishe Postone wies auf den Zusammenhang zwitisemitismus des Nationalsozialismus reicht die Beherrschung von schen Kapitalismus und Antisemitismus hin: Die Eigenschaften, die Jüdinnen und Juden nicht. Deren Übermacht kann, so der antise»den Juden« in Verschwörungserzählungen wie den »Protokollen« mitische Wahn, nur durch ihre Vernichtung gebrochen werden. zugesprochen werden, entsprechen bestimmten Eigenschaften Der Holocaust-Forscher Saul Friedländer spricht deshalb auch vom des Kapitalismus selbst. »Die Juden« werden, so Postone, als »wurzel­ »Erlösungsantisemitismus«. los, international und abstrakt« vorgestellt. Das sind übrigens Die beschriebene strukturelle Verwandtschaft zwischen Anti­ Eigen­schaften, die auch heute oft den neuen v­ erschwörerischen semitismus und Verschwörungsideologie führt dazu, dass Verschwö­ Mächten zugeschrieben werden. Der »künstlichen« und abstrakten rungsmythen tendenziell auf Antisemitismus zulaufen, besonders Welt »des Jüdischen« wird eine »natürliche« und konkrete eigene auf der Ebene der Weltverschwörung. In der Covid-19-Pandemie gegenübergestellt. Antisemitismus und Verschwörungsmythen ließ und lässt sich das wie in einem Zeitraffer beobachten. Es gibt liefern so nicht nur ein Fremdbild, einen Personenkreis gegen den keine andere historisch etablierte Unterlegenheitsfantasie, die den Personenkreis so genau bezeichnet. Auch deshalb greifen Verschwö­ gehandelt werden und der gehasst werden soll. Sie stiften auch rungsgläubige auf Antisemitismus zurück, mal offen, mal verdeckt. ein positives Selbstbild. Gefährlich sind antisemitische Verschwörungsmythen nicht nur, weil sie das Gefühl des Erweckt-Seins vermitteln, sondern auch, …zu QAnon weil sie zur Tat drängen. Die »Widerstand«-Rufe auf den Coronatt Die Ritualmordlegende und die »jüdische Weltverschwörung« Demos im Ohr und den antisemitischen Anschlag von Halle im sind zwei Beispiele für alte Verschwörungsmythen, die regelmäßig Kopf ist es ein Leichtes zu sehen, wohin das führen kann. aktualisiert werden – und das bisweilen auch ohne Bezug auf Jüdin­ nen und Juden. Diesen strukturellen Antisemitismus konnte man auch in den letzten Monaten beobachten. So vereint etwa die seit der Pandemie in Deutschland populäre QAnon-Verschwörungstt Nikolas Lelle ist Sozialphilosoph und forscht zu National­ ideologie um eine globale, liberale Elite satanistischer Pädophiler sozialismus, Antisemitismus und Kritischer Theorie. Jan ­R athje ist verschiedene antisemitische Stereotype und Konzeptionen von der Politikwissenschaftler und forscht über Antisemitismus, VerschwöRitualmordlegende bis hin zur Teufelsanbetung. rungsideologien und Rechtsextremismus im Internet. iz3w • November / Dezember 2020 q 381

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ISSN 1614-0095

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