iz3w Magazin # 335

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Wissenschaft global – das Rektorat bleibt im Norden

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem: t Flüchtlinge in Australien t Frauenpower in Tansania t Der Westen in Mali t Filmschaffende in Afrika t Islamismus in Ägypten …

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März/April 2013 Ausgabe q 335 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


I n d ieser A u sga b e

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Titelmotiv: iz3w-Archiv / Collage: G.Wick

Schwerpunkt: Wissenschaft Süd-Nord 3 Editorial

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Politik und Ökonomie 4

Mexiko: Kämpfend schreiten sie voran Die Zapatistas melden sich zurück von Rosa Lehmann

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Senegal: Y’en a marre

Den Ton angeben oder das Wort abtreten Asymmetrien in der Genderforschung von Veronika Wöhrer

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Kämpferisch gegen Hegemonie Gewerkschaftswissen zwischen Nord und Süd von Ercüment Çelik

Ägypten: Die lange Geschichte des Islamismus Die Konfliktlinien im neuen Ägypten kommen nicht überraschend von Lutz Boßhammer

Unheilige Allianz Die westliche Wissensgesellschaft als Entwicklungsparadigma von Maren Borkert und Nina Witjes

Mali: Wiederherstellung eines Staates Die Intervention ist Teil einer regionalen Kapitalstrategie von Olaf Dehler

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Philippinen: Von Rechts wegen Mittels illegaler Verhaftungen geht der Staat gegen AktivistInnen vor von Hannah Wolf

Zentrum versus Peripherie Hierarchien der Wissenschaft im Weltmaßstab von Wiebke Keim

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Lokalisieren, nicht kopieren Internationale Beziehungen aus Perspektive der chinesischen Politikwissenschaft von Christian Ersche

Eine erfolgreiche Jugendrevolte von Louisa Prause

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Klimaanpassung: Agents of Change im Einsatz Frauen und Klimaanpassung im ländlichen Tansania von Katja Flockau

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Australien: Ab auf die Inseln Australien setzt gegenüber Bootsflüchtlingen auf Abschreckung von Till Schmidt

Kultur und Debatte 37

Debatte: Falschmünzerei statt Wertkritik David Graebers Buch »Schulden« ist das Geld dafür kaum wert von Peter Bierl

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Film I: »Den eigenen Ideen treu bleiben« Interview mit June Giovanni über Süd-Süd-Kooperationen im afrikanischen Film

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Film II: Für die Würde Das Filmfest FrauenWelten präsentierte Filme zum Opfer-Täter-Ausgleich von Martina Backes

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45 Rezensionen 49 Szene / Tagungen 50 Impressum

Film III: Märchenhafte Selbstermächtigung Tarantinos »Django Unchained« ist ein filmischer Rachefeldzug gegen die Sklaverei von Winfried Rust

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Edi t o r ia l

Auf der Tiefe der ZEIT Es gibt immer wieder gute Gründe, die Provinz zu loben. Eine bemerkenswerte Weitsicht bewies beispielsweise das Amtsgericht Schwäbisch Hall. In einem Urteil mit der ­Geschäftsnummer 6 C 154/00 entschied es: Wer einen Schwarzen öffentlich als »Neger« bezeichnet, darf ungestraft »Rassist« genannt werden. In der Begründung äußerte die Richterin, dass es für sie »schwer vorstellbar« sei, dass dem Kläger (dem angeblich nicht bewusst war, dass es sich um ein Schimpfwort handelt) der diffamierende Charakter des Ausdrucks »Neger« nicht bekannt gewesen sein soll. Mit dieser erfahrungsgesättigten Feststellung ist die Richterin wesentlich mehr auf der Höhe der Zeit als die gleichnamige Wochenzeitung aus dem großstädtischen Hamburg (obwohl das Urteil bereits vom 15. Juni 2000 stammt). Die in der ZEIT seit Jahresbeginn 2013 geführte Debatte um die Ersetzung des N-Wortes in einigen Kinderbüchern führte zu reaktionären Ausbrüchen, die man so nicht erwartet hätte im Leitorgan des deutschen Bildungsbürgertums. Den ZEIT-Literaturkritiker Ulrich Greiner beispielsweise trieb es regelrecht auf die Barrikaden, dass der Thienemann Verlag nun beabsichtigt, aus Büchern von Otfried Preußler und Michael Ende »politisch nicht mehr korrekte Begrifflichkeiten zu entfernen«: »Wie anders als Zensur oder Fälschung soll man das nennen?«, fragt Greiner rhetorisch. Und legt dann nach: »Es ist nicht Orwells Großer Bruder, der interveniert, sondern der Kleine Bruder politische Korrektheit«. Er realisiere sich im Tun jener »Tugendwächter, die in höherem Auftrag, sei es Feminismus, Antisemitismus (sic!) oder Antirassismus, agieren und die mit ideologisch geschultem Nachtsichtgerät dunkle Abweichungen vom Pfad der Gerechten unverzüglich aufdecken«.

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iese Tugendwächter sollen nach dem Willen Greiners den inzwischen erwachsenen LeserInnen der Kinderbücher »nicht die Erinnerung stehlen« dürfen. Aha, sind die guten Erinnerungen an die Geschichten von Preußler oder Astrid Lindgren an das N-Wort gebunden? Und wenn ja, warum? Greiner beantwortet diese sich aufdrängenden Fragen lieber nicht, weiß aber über Lindgrens Umgang mit dem N-Wort zu sagen: Es sei doch »sonnenklar, dass Pippis ‚Neger’ nichts anderes sind als eine haltlos-unschuldige Spielerei mit jenem Phantasma des naiven Naturvolks, das schon Gauguin umgetrieben hat.« Der Mann hat ganz offensichtlich noch nie etwas von den vielfältigen Erscheinungsformen des Rassismus gehört – etwa davon, dass der Exotismus Gauguin’scher Prägung eine spezifische Variante des rassistischen Blicks ist, nicht aber sein Gegenteil. Die anhaltende Wirkungsmächtigkeit rassistischer Sprache will der Literaturkritiker schon gleich

gar nicht zur Kenntnis nehmen. Ins selbe Horn tutet Autor Axel Hacke. Er bringt im fraglichen ZEIT-Dossier nicht das geringste Verständnis dafür auf, warum der Titel seines Buches »Der weiße Neger Wumbaba« auf Kritik stößt. Mit dieser Haltung stehen die ZEIT-Autoren in der Auseinandersetzung um das N-Wort freilich nicht allein. Aus einer anderen Hamburger Redaktionsstube, der von Spiegel online, lässt Kolumnist Jan Fleischhauer tief blicken: »Ich zum Beispiel habe noch nie einen Schwarzen getroffen, der daran Anstoß genommen hätte, dass in Deutschland über Jahrzehnte die berühmten Negerküsse und Mohrenköpfe verkauft wurden. Das mag daran liegen, dass ich die falschen Schwarzen kenne.« Es liegt wohl eher daran, dass Fleischhauer fest entschlossen ist, die – nicht nur von Schwarzen Deutschen vielfach öffentlich geäußerte – Kritik am Alltagsrassismus zu ignorieren.

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berhaupt treten derzeit massenhaft Leute als Expert­ Innen für (Anti-)Rassismus auf, bei denen jede einzelne Auslassung erkennen lässt, dass sie sich noch nie ernsthaft damit befasst haben. Nehmen wir die Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger, die in der ZEIT zum Besten gab: »Rassismus ist eine Gesinnung, an der sich leider wenig ändert, wenn man Wörter abschafft.« Richtig daran ist allenfalls, dass die Abschaffung von Wörtern alleine nicht ausreicht, um den Alltagsrassismus zu schwächen. Aber der auf freiwilliger Einsicht beruhende Akt eines Verlages, in Kinderbüchern diskriminierende Worte durch neutrale zu ersetzen, kann sehr wohl zur Marginalisierung von Rassismus beitragen. Sprache ist ein wesentliches Medium des Rassismus, wie überhaupt jedes politische und gesellschaftliche Denken erst durch Sprache zum Ausdruck kommt. Umso widersinniger ist es, dass nun ausgerechnet LiteraturkritikerInnen und SchriftstellerInnen der Sprache keine Relevanz für die Schaffung von Bewusstsein beimessen. Was für ein Armutszeugnis. In einem ist Nöstlinger allerdings zuzustimmen, wenn sie den von ihr geschmähten »Political-Correctness-Sheriffs« entgegenhält: »Wer meint, ein bestimmtes Buch könnte einen Schaden in Kinderseelen anrichten oder Minderheiten verletzen, muss es nicht erwerben.« Genau – es gibt inzwischen viele tolle Kinderbücher, die ohne das N-Wort und ohne rassistische oder sexistische Stereotypen auskommen. Unsere Kinder werden sich gerne an sie erinnern, wenn sie erwachsen sind. Und die Greiners, Hackes, Fleischhauers und Nöstlingers, die so offensiv auf ihr Recht pochen, sich weiterhin am N-Wort zu ergötzen, erinnern wir hiermit an das Urteil aus Schwäbisch Hall. Sie dürfen sich davon mit angesprochen fühlen. die redaktion

P.S. Das Jahresregister 2012 mit Stichworten zu Ländern und Themen steht ab sofort auf www.iz3w.org/zeitschrift/register. Das N-Wort werden Sie dort vergeblich suchen.

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Australien

Militarisierung der Meere. Australische Seekadetten üben am Boote-Simulator

Foto: B.Krekorian

Ab auf die Inseln Australien setzt gegenüber Bootsflüchtlingen auf Abschreckung Mit Verweis auf die steigende Zahl von Bootsflüchtlingen hat die australische Labor-Regierung jüngst die Flüchtlingspolitik verschärft. Sie setzt auf Abschreckungskampagnen und richtet extraterritoriale Flüchtlingslager ein. Wie passt das zur Selbstdefinition des Einwanderungslandes Australien als »multikulturell«? von Till Schmidt »Es nützt nichts mehr, Geld und Leben zu riskieren, um mit den Booten der Schleuser nach Australien überzusetzen«. Mit zahlreichen Äußerungen dieser Art rechtfertigte Premierministerin Julia Gillard von der Aus­ tralian Labor Party die Mitte August 2012 verabschiedeten flüchtlingspolitischen Maßnahmen ihrer Mitte-Linksregierung. Das Parlament beschloss unter anderem, die Asy­ lanträge von Bootsflüchtlingen auf den abgelegenen Pazifik­inseln Nauru (ein Inselstaat) und Manus Island (gehört zu PapuaNeuguinea) bearbeiten zu lassen. Diese Regelung betrifft alle Personen, die am oder nach dem 13. August 2012 unau­ torisiert über die zum australischen Hoheits­ gebiet gehörenden Inseln eingereist sind – inklusive Familien mit Kindern sowie Min­derjährige ohne Begleitung.1 Die mit Abstand meisten Bootsflüchtlinge stammten im Fiskaljahr 2011-12 2 aus Afghanistan und tt

dem Iran, gefolgt von Asylsuchenden aus Sri Lanka und Pakistan. In der Regel gelangen die Bootsflüchtlinge über Indonesien auf die etwa 350 Kilometer südlich gelegene australische Weihnachtsinsel. Sie kommen in ein Internierungslager auf dieser Insel oder werden auf eines auf dem Festland oder auf externen Pazifikinseln verteilt.

Die »pazifische Lösung« tt Dem vom australischen Immigrationsministerium herausgegebenen Bericht »Asylum Trends Australia 2011-12« zufolge wurden in diesem Zeitraum die Asylanträge von insgesamt 7.379 Bootsflüchtlingen registriert. Das ist trotz eines Anstiegs eine geringe Zahl, verglichen mit anderen Aufnahmeländern sowie angesichts der großen Bedeutung, die den »Boat-People« im australischen Migra­ tionsdiskurs eingeräumt wird.

Das »Offshore-Processing« wurde schon unter John Howard von der konservativen Liberal Party durchgeführt. Howard war von 1996 bis 2007 Premierminister. Ab September 2001 ließ er im Rahmen der »Pacific Solution«Politik eine Reihe äußerst rigider flüchtlingspolitischer Maßnahmen umsetzen, die den jüngsten Beschlüssen ähneln. Mit dem damaligen Gesetzespaket wurden Außenposten wie die Kokos-Inseln, das Ashmore-Riff und die Weihnachtsinsel aus der offiziellen australischen »Einwanderungszone« ausgegliedert. Flüchtlinge, die dort ankamen, fielen nicht mehr unter die auf dem Festland geltende Asylgesetzgebung. Sie erhielten keinen Zugang zu rechtlicher Betreuung und konnten, falls ihr Asylantrag abgelehnt wurde, auch keinen Widerspruch bei einem australischen Gericht einlegen. Die Asylverfahren von Bootsflüchtlingen wurden schon damals auf den extraterritorial gelegenen Inseln Nauru und Manus Island oder auf der Weihnachtsinsel geprüft. Darüber hinaus fing die australische Marine unautorisiert einreisende Boote ab und brachte Flüchtlinge in den Transitstaat Indonesien zurück. Diese Verschärfung des Asylrechts sollte nicht nur potentielle Bootsflüchtlinge abschrecken. Das Parlament legalisierte mit dem

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­ esetzespaket nachträglich auch die Ent­ G den indigenen Bevölkerungsteilen Australiens scheidung der Regierung, das norwegische aus. Auch stellte die Labor-Partei in Aussicht, Transportschiff Tampa entern zu lassen. Im Bootsflüchtlinge weniger rigide zu behandeln. August 2001 befanden sich auf der Tampa Im Februar 2008 wurden die »Pacific Solution«433 aus Seenot gerettete Bootsflüchtlinge, Politik formal beendet und die Flüchtlingslager die ihr Kapitän auf die Weihnachtsinsel bringen auf Nauru und Manus Island geschlossen. wollte. Aber die Howard-Regierung wollte das Allerdings ließ die Rudd-Regierung nun BootsEinlaufen in australisches Hoheitsgebiet verflüchtlinge für ihre Asylverfahren auf der Weihhindern. So veranlasste sie nach mehr als einer nachtsinsel internieren. Auch hier entsprachen Woche erzwungener Wartezeit auf See und die Asylverfahren nicht den auf dem Festland unter Aufsicht der Marine die Beförderung geltenden rechtlichen Standards, da die Insel der Flüchtlinge zum Inselstaat Nauru, wo ihre aus der »Einwanderungszone« ausgegliedert Asylanträge bearbeitet werden sollten. blieb. Aufgrund von Überbelegung wurden Die »Tampa-Krise« nahm schließlich eine ab Ende 2010 viele Bootsflüchtlinge auf das Festland gebracht. herausragende Rolle im Wahlkampf ein. Zwar vertrat Howards Kontrahent Kim Beazly ebenDie Weihnachtsinsel liegt knapp 2.000 Kilometer vom australischen Festland entfernt. falls restriktive Positionen. Doch letztlich zahlSie hat eine Fläche von etwa 135 Quadrat­ ten sich Howards schon unter Beweis gestellte harte Haltung sowie dessen Stigmatisierung kilometern, etwa sechzig Prozent davon gevon Bootsflüchtlingen als nationales Sicherhören zum Nationalpark, der zum größten heitsrisiko aus. Die konservative Koalition Teil aus Regenwaldgebiet besteht. Seit 1958 gehört die Insel zu Australien, die »Christmas konnte die Wahlen gewinnen. Dabei hatte sie Island Tourist Association« bewirbt sie auf wenige Wochen vor der »Tampa-Krise« in Umfragewerten deutlich hinter der Labor ihrer Homepage als ein »Naturwunder«. Neben dem Phosphatabbau ist ­Party gelegen. der Tourismus der wichtigste »Wir werden entWirtschaftszweig der abge­ scheiden, wer in dieses Im australischen Land kommt und unter legenen Insel. Staatlichen Migrationsdiskurs haben Schätzungen zufolge leben welchen Umständen«, die Bootsflüchtlinge dort derzeit 1.400 Bewoh­ brachte Howard seine nerInnen. zentrale politische Boteine große Bedeutung Im Jahr 2001 ließ die Howschaft kurz nach den ard-Regierung auf der WeihWahlen im November nachtsinsel eine temporäre Internierungsein2001 auf den Punkt. Durch die Anschläge richtung für Bootsflüchtlinge eröffnen. 2008 vom 11. September hatte sich die Wahrnehwurde das eigens errichtete Christmas Island mung der Bootsflüchtlinge als Sicherheitsri­ siko noch verstärkt. Dem vom australischen Immigration Detention Centre (IDC) in Betrieb genommen, das etwa zwanzig Kilometer vom Parlament 2012 herausgegebenen Bericht Stadtgebiet entfernt im Nationalpark liegt. »Boat arrivals in Australia since 1976« zufolge Mehrere, ebenfalls geschlossene Einrichtungen unterstützen im September 2001 77 Prozent sind hier angegliedert. Den Angaben des der australischen Bevölkerung die Entscheistaatlichen Department of Immigration and dung, die Tampa vom australischen HoheitsCitizenship zufolge hat die Hochsicherheitsgebiet fernzuhalten. 71 Prozent befürworteten internierungseinrichtung reguläre Kapazitäten die Internierung von Bootsflüchtlingen für die für 400 Erwachsene. Im Oktober 2012 waren Dauer ihres Asylverfahrens. Aufgrund der noch während des Wahldort nach Recherchen der Australian Human Rights Commission4 (AHRC) jedoch 915 Perkampfes und auch mit den Stimmen der opsonen untergebracht. positionellen Labor Partei beschlossenen »PaInsgesamt ließ der australische Staat auf cific Solution«-Politik verringerte sich die Zahl der eintreffenden Bootsflüchtlinge drastisch. der Weihnachtsinsel im Oktober 2012 1.989 Menschen internieren, darunter 315 Kinder. Schafften es im Kalenderjahr 2001 dem »Boat Nach Angaben der AHRC waren zu diesem arrivals«-Bericht zufolge noch 5.516 Personen, Zeitpunkt in einigen der an das IDC angeglievia Boot unautorisiert nach Australien einzureisen, gelang dies 2002 nur noch einer einderten Einrichtungen Erwachsene, Familien zigen Person. Die Zahlen stiegen in den folmit Kindern und unbegleitete Minderjährige genden Jahren zwar teilweise an, blieben gemeinsam untergebracht. Neben der akuten Überbelegung kritisierte die AHRC in ihrem insgesamt aber mit maximal 161 Personen Report vom Dezember 2012 »Immigration im Jahr 2008 weiterhin sehr niedrig.3 detention on Christmas Island« insbesondere den »gefängnisartigen Charakter« des IDC. Weihnachtsinsel als Gefängnis Weiter beanstandet sie die »rigiden Verhältnisse« in den angegliederten Einrichtungen tt Die Labor-Partei gewann die Wahlen 2007. sowie die »Unangemessenheit« des sogenannDer neue Premierminister Kevin Rudd galt als ten Construction Camps als Unterbringungsliberaler Hoffnungsträger. So sprach er Mitte Februar 2008 vor dem Parlament eine erstmöglichkeit für Familien mit Kindern und malige offizielle Entschuldigung gegenüber unbegleitete Minderjährige. Ohnehin empiz3w • März / April 2013 q 335

fiehlt die AHRC der australischen Regierung, sich um flüchtlingsfreundlichere Alternativen zum Internierungs-System auf der Weihnachtsinsel zu bemühen.

»An der Flucht per Boot hindern« Die Maßnahmen vom August 2012 gehen jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Die überwiegende Mehrheit der momentan auf der Weihnachtsinsel internierten Personen ist am oder nach dem 13. August 2012 eingereist und darf somit nach Nauru und Manus Island gebracht werden. Asylsuchende, die vor dem Transfer in ein Drittland standen, wurden dort bisher bis zu 48 Stunden vor ihrer Abschiebung in einem Hochsicherheitstrakt festgehalten – unter fortwährender Kameraüber­ wachung ihrer Einzelzellen, inklusive der Toilette und dem Badezimmer. Im Paket mit den äußerst rigiden Maßnahmen gegenüber Bootsflüchtlingen fasste das australische Parlament im Sommer 2012 nur einen einzigen flüchtlingsfreundlichen Beschluss: Das jährliche Aufnahmekontingent für vom UNHCR offiziell anerkannte Flüchtlinge wurde von 13.500 auf 20.000 Personen erweitert. Alle Entscheidungen gehen zurück auf die Empfehlungen einer parlamentarischen Sonderkommission, die Premierministerin Gillard eingesetzt hatte, um einen parteiübergreifenden Kompromiss zu erzielen. Boat-People auf der einen, die vom UNHCR anerkannten Flüchtlinge auf der anderen Seite: Das australische Grenzregime zeichnet sich durch diese Trennung in unerwünschte und erwünschte Flüchtlinge aus. Zumeist wird salbungsvoll auf die moralische Verwerflichkeit von Menschenschmuggel sowie die – tatsächlich nicht zu unterschätzenden – Gefahren einer Bootsüberfahrt hingewiesen. So betonte etwa der ehemalige Premier- und Außenminister Kevin Rudd Mitte September 2012 im Interview mit der taz, dass Australien schon zuvor die nach den USA und Kanada weltweit dritthöchste Zahl von UNHCR-Flüchtlingen aufnahm. »20.000 können jetzt pro Jahr aus allen Flüchtlingslagern der Welt zu uns kommen«, sagte Rudd. Zugleich sprach er sich für die restriktiven Beschlüsse vom August 2012 aus. Angesichts der stark zunehmenden Zahl der Bootsflüchtlinge sei die Gillard-Regierung ­gezwungen gewesen, »neue Maßnahmen zu ergreifen«. »Von denen, die per Schiff übers Meer zu uns fliehen, ertrinken viele. Deshalb müssen wir Menschen an der Flucht per Boot hindern«, möchte Rudd einen humanitären Anschein erwecken. Das Department of Immigration and Citizenship hat eine Kampagne zu den jüngsten Veränderungen für Bootsflüchtlinge gestartet. Mithilfe von in verschiedene Sprachen übersetzten Broschüren, Postern, »Fact sheets« und Videoclips wird nachdrücklich hervorgehoben: Bootsflüchtlinge sollten mit »keinen Annehmlichkeiten« rechnen. Es lohne sich tt


Australien oder als InhaberInnen von BesucherInnen- und »Working Holiday«-Visa an. Die Hauptherkunftsländer waren China, Indien und Pakistan. »Menschenrechtskatastrophe »Das einzige Ziel hier ist es, uns Flüchtlinohne Ende« ge zu zwingen, in unsere Heimat zurückzutt Eine Politik der Auslese ist dem australikehren«, konstatiert ein Asylsuchender gegenschen Grenzregime seit jeher nicht fremd über einer Recherche-Gruppe von Amnesty (siehe Kasten). Sie bildet den Hintergrund für International, die das neu eröffnete Flüchtdie panikartige Abgrenzung gegenüber den lingslager in Nauru Ende November 2012 für Bootsflüchtlingen. Sobald sich deren Anzahl drei Tage besuchte. Amnesty charakterisiert steigert, wird auf Abschreckung und Abschotdie dortigen Zustände als »grausam, inhuman tung gesetzt. Diese und degradierend«. Das Flüchtlingslager sei eine Tendenz lässt sich seit Auslese ist dem australischen der Ankunft der ers»Menschenrechtskatastten »Boat-People« im rophe ohne Ende«. Die Grenzregime nicht fremd Jahr 1976 feststellen. Asylverfahren der dort Allerdings belegen internierten 386 Männer jüngere repräsentative Umfragen auch, dass seien noch nicht einmal begonnen worden. Die Bootsflüchtlinge sind in Zelten untergefür WählerInnen die Frage der Bootsflüchtlinge nicht oberste Priorität haben muss, obbracht, sie sind Enge, Hitze, hoher Luftfeuchschon sie auf Nachfrage einen sehr restriktiven tigkeit und Überflutungen des Camps ausgeUmgang befürworten. Eine andere Gruppe setzt und dürfen sich auf der Insel nicht frei Asylsuchender wird in der Regel in der austbewegen. Es kam zu einem Suizidversuch und ralischen flüchtlingspolitischen Debatte außer Hungerstreiks. Und tatsächlich entscheiden Acht gelassen. Immerhin stellten im Fiskaljahr sich der staatlichen Informationsplattform 2011-12 neben den Bootsflüchtlingen 7.036 Newsroom zufolge immer mehr aus Sri Lanka weitere Personen einen Asylantrag. Nur reisstammende Bootsflüchtlinge dafür, Nauru ten sie mit dem Flugzeug ein und kamen mehrheitlich als internationale StudentInnen

Migration in Australien Mit einer Bevölkerung, die etwa zur Hälfte aus im Ausland Geborenen und deren Kindern besteht, gilt Australien als Inbegriff eines Einwanderungslandes. Die ersten europäischen Siedler kamen 1788 in das heutige Australien, die meisten von ihnen als Strafgefangene Großbritanniens. Die indigenen Bevölkerungsteile lebten dort schon seit Jahrtausenden, was die britischen EinwanderInnen aber nicht davon abhielt, den Kontinent zum »Niemandsland« zu erklären. Freiwillige britische ImmigrantInnen erreichten das Gebiet ab 1793. Von 1831 an wurde versucht, insbesondere mit Hilfe von weitreichender Unterstützung bei Überfahrten aber auch durch das Anbieten von kostenlosem Grundbesitz, die Einwanderung von BritInnen zu fördern. Zur Arbeit in den britischen Goldlagerstätten kamen ab 1848 die ersten chinesischen »Kulis«, als ZwangsarbeiterInnen und auch freiwillig, schreibt der Politikwissenschaftler Don McMaster in seinem Buch »Asylum Seekers: Australia’s Response to Refugees«. Zwischen 1857 und 1877 kam es in einem Klima des Rassismus und der verstärkten ökono­ mischen Konkurrenz zu gewalttätigen antichinesischen Ausschreitungen. ChinesInnen

»freiwillig« zu verlassen und in ihr Herkunftsland zurückzukehren.

Anmerkungen 1 Derzeit prüft das Senate Legal and Constitutional Committee das im Oktober 2012 eingebrachte Gesetzesvorhaben, auch Bootsflüchtlinge, die unautorisiert auf dem australischen Festland eingereist sind, in Drittstaaten auszuweisen. Der Report soll im Februar 2013 erscheinen. 2 Das Fiskaljahr umfasst den Zeitraum vom 1. Juli bis zum 30. Juni des folgenden Jahres. Aktuellere offizielle Zahlen lagen zu Jahresbeginn 2013 nicht vor. 3 Auf den Pazifikinseln Nauru und Manus Island wurden im Rahmen der »Pacific Solution«-Politik insgesamt 1.637 Bootsflüchtlinge interniert. Etwa siebzig Prozent davon erhielten schließlich einen Resettlement-Platz in Drittländern, insgesamt sechzig Prozent in Australien. Neben den USA und Kanada nimmt Australien die weltweit dritthöchste Zahl Flüchtlinge im Rahmen dieser freiwilligen Neuansiedlungsprogramme des UN-Flüchtlingskommissariats auf. 4 Die AHRC ist als nationale Menschenrechtsorganisation damit beauftragt, Australiens Verpflichtungen im Hinblick auf internationale Menschenrechtsverträge zu überwachen.

Till Schmidt ist Autor und Redakteur des Hinterland Magazins.

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Motiv: definatalie

nicht, unautorisiert via Boot nach Australien einzureisen.

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wurden zunehmend als »vom Norden ausschwärmende Horden« imaginiert, die die weißen Bevölkerungsteile angeblich zu »überschwemmen« drohten. Allerdings, betont der Politikwissenschaftler James Jupp in »From White Australia to Woomera«, waren für den australischen Rassismus gegenüber EinwanderInnen nicht Pogrome, sondern die Exklusion durch staatliche Gesetze charakteristisch. 1901 formierten sich die Kolonien zum Australischen Bund, der sechs Jahre später die nahezu vollständige Unabhängigkeit vom

»Mutterland« Großbritannien erhielt. Als eines der ersten Gesetze verabschiedete das australische Parlament 1901 den »Immigration Restriction Act«. Damit begann die »White Australia«-Politik, die die Einwanderung von Nicht-Weißen verhindern sollte und bis 1973 in unterschiedlichem Ausmaß betrieben und auf verschiedene ethnische Gruppen ausgeweitet wurde. »Bring a Briton« lautete der anfängliche Immigrationsleitspruch – alle anderen waren im Wesentlichen unerwünscht. Später akzeptierte man unter bestimmten Auflagen Nord-EuropäerInnen, nach 1945 alle EuropäerInnen. 1973 wurde eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die unter anderem die Staatsbürgerschaft nach drei Jahren Aufenthalt in Australien ermöglichten. 1977 erfolgte die offizielle Definition von Australien als »multikulturelle Gesellschaft«. Bei der Einwanderungspolitik hat sich seither eine Auswahl nach streng ökonomischen Kriterien durchgesetzt.

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Edito r ia l

Ana Esther Cecena ist Professorin am Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) in Mexiko-Stadt. Sie promovierte in Paris an der Sorbonne. Sie gibt die Zeitschrift »Chiapas« heraus, die über die politische und kulturelle Situation im gleichnamigen südmexikanischen Bundesstaat berichtet. In zahlreichen Studien und Aufsätzen befasste sie sich mit den Auswirkungen neoliberaler Globalisierung auf peripherisierte Regionen und Bevölkerungsgruppen. Derzeit forscht sie zu Geopolitik und Militarisierung in Lateinamerika und zu Infrastrukturpolitiken wie Staudammprojekten.

Joseph Ki-Zerbo (geb. 1922, gest. 2006) schrieb die »Geschichte Schwarzafrikas«. Mit diesem Standardwerk brachte der Historiker aus Burkina Faso ans Licht, was ihm während des Studiums an der Pariser Sorbonne vorenthalten wurde. Ki-Zerbo, der als Professor für Geschichte in Orléans, Paris, Ouagadougou und Dakar lehrte, überarbeitete sein Buch mehrmals – und widersetzte sich damit der Monopolisierung afrikanischer Geschichtsschreibung durch Europa. Als Mitglied des Wissenschaftlichen Komitees der UNESCO war er Autor des ersten Bandes der voluminösen achtteiligen »History of Africa«. Ki-Zerbo gilt als Verfechter einer eigenständigen Entwicklung Afrikas. Als ­Vorsitzender der sozialistischen Partei (PDP/PS) und Abgeordneter des burkinischen Parlaments vertrat er seine panafrikanische Vision auch in der Politik. Er grün­dete 1980 das Centre d’Études pour le Développement Africain (CEDA) in Ouagadougou und musste 1983 vor der Militärdiktatur fliehen.

Wissenschaft Süd-Nord

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»Universalität ist erst dann möglich, wenn die Gesprächspartner frei von dem Bedürfnis sind, sich gegenüber den Anderen durchzusetzen.« Diese Worte des afrikanischen Philosophen Paulin J. Hountondjis beschreiben eine Bedingung, die im Bereich der Wissenschaften noch lange nicht erfüllt ist. Denn allen Ansprüchen der Universalität und Transnationalität zum Trotze sind gerade die Geisteswissenschaften bis heute durch und durch eurozentrisch geprägt. Außereuropäisches Wissen, insbesondere wenn es aus Afrika, Asien und Lateinamerika kommt, wird nicht als konstitutiv für die Genese moderner Wissenschaft angesehen (Ausnahmen bestätigen die Regel). Die hierarchischen Verhältnisse der globalen Wissenschaftslandschaft lassen sich quantitativ und qualitativ erfassen. Die ungleiche Zahl der Publikationen, die stark differierende Verteilung von Ressourcen für die Forschung, die mangelnde Rezeption außereuropäischer Literatur – mit all diesen Indikatoren lässt sich nachweisen, dass die Zentren der modernen Wissenschaft in der Triade EU, Nordamerika und Japan verortet sind. Zwar holen insbesondere die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) auf, doch noch ist die Dominanz der Triade erdrückend. Prozesse wie die Abwanderung ausgebildeter WissenschaftlerInnen (Brain Drain) in die Denkfabriken und Labore der Triade oder die Verteilung internationaler Forschungsgelder an nationale Institute werden ebenfalls von ungleichen postkolonialen Verhältnissen bestimmt – bis hin zur Prioritätensetzung bei der Fragestellung oder der Rollenverteilung im transnationalen ForscherInnenteam. In qualitativer Hinsicht ist die Diagnose noch ernüchternder. Welcher asiatische Philosoph gilt als Begründer einer global verbreiteten Denkschule? Welche lateinamerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin schuf

ein weltweit anerkanntes Paradigma? Welcher afrikanische Physiker wurde je mit einem Nobelpreis geehrt? Forschungsleistungen aus Ländern des Südens werden vom wissenschaftlichen Mainstream in postkolonialer Überheblichkeit kaum zur Kenntnis genommen.

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ie Idee, die globale Wissenschaftslandschaft in einem iz3w -­ Themenschwerpunkt kritisch zu betrachten, kommt von einer Arbeitsgruppe der Universität Freiburg. In ihrem Projekt »Universalität und Akzeptanzpotential von Gesellschaftswissen. Zur Zirkulation von Wissensbeständen zwischen Europa und dem globalen Süden« reflektieren WissenschaftlerInnen kritisch das Verhältnis von Europa zum globalen Süden, und zwar vor allem im Spiegel der Gesellschaftswissenschaften. Im Mittelpunkt der einzelnen Forschungsvorhaben steht das folgende ambivalente Phänomen: »Einerseits genießen der europäische Forschungsraum und seine Errungenschaften zwar ein durchaus hohes Ansehen außerhalb Europas, andererseits aber wird der weltweite Einfluss europäischer Theorietradition zunehmend auch als dominant wahrgenommen und der Universalitätsanspruch europäischen Gesellschaftswissens damit als anmaßend und vermessen zurückgewiesen.« Es blieb nicht nur bei der Idee zu diesem Themenschwerpunkt, die Projektgruppe hat sämtliche Texte beigetragen. Wir bedanken uns herzlich für die angenehme Zusammenarbeit! Die Bebilderung des Schwerpunkts versucht eine Art symbolische Repräsentanz zu schaffen. Porträtiert werden ganz unterschiedliche WissenschaftlerInnen, die Bemerkenswertes vollbracht haben und dennoch hierzulande kaum bekannt sind. Zu Unrecht, findet die redaktion

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Wissenschaft Süd-Nord

Kämpferisch gegen Hegemonie Gewerkschaftswissen zwischen Nord und Süd Das Beispiel der »sozialen Gewerkschaftsbewegung« steht für die Hoffnung, dass aus den sozialen Erfahrungen im globalen Süden auch im Norden gelernt werden kann – und dass eine demokratische und nichthegemoniale Zirkulation von Wissen auf globaler Ebene möglich ist.

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Befreiungsbewegung 1994 den Fall des Regimes erwirkt (siehe iz3w 316 S. XI). Laut Edward Webster, prominenter südafrikanischer Arbeitssoziologe und Anti-Apartheid-Kämpfer, brachte die südafrikanischen SGB die Arbeiterschaft mit den Anti-Apartheid-CommunityBewegungen und der politischen Bewegung in Verbindung. Sie beschäftigte sich mit so­ zialen und politischen Fragen, die weit über Lohn und Arbeitsplatz hinausreichten, und legten einen Schwerpunkt auf Arbeiterkontrolle. SGB waren hier eine spezifische Stratevon Ercüment Çelik gie für peripher-kapitalistische Gesellschaften, tt Die Gewerkschaften erlebten sowohl im in denen große arbeitende Klassen unter globalen Norden als auch im globalen Süden autoritären Regimen entstanden waren. eine Krise. Diese hat in den letzten Jahren die In Brasilien bildeten 1983 die Anführer von Suche nach alternativen Formen der gewerkStreikwellen, zum Beispiel der spätere Präsischaftlichen Organisierung erfordert. Mehr dent Lula aus der Sao Bernardo IG Metall, den oder weniger parallel hat sich eine »soziale neuen Gewerkschaftsverband CUT (Central Gewerkschaftsbewegung« (SGB – social move­ Única dos Trabalhadores). CUT betonte, die ArbeiterInnen seien in allen Ebenen der Orment unionism) entwickelt. Gemeint ist damit ein Bündnis von Gewerkschaften mit sozialen ganisation beteiligt und der Verband von und politischen Bewegungen, das sich als politischen Parteien unabhängig. Angelernte Aktionsform in vielen LänIndustriearbeiterInnen dern des globalen Südens entdeckten, dass sie die In sozialen Gewerkschafts- Gewerkschaften als Vein den letzten zehn Jahren als Alternative zur Stärhikel für politische Forbewegungen zirkuliert kung von Gewerkschaften derungen verwenden ­Wissen im Weltmaßstab bewährte. Die SGB trat konnten. Ihre Bewegung dabei multizentrisch in wurde zentral auch für Erscheinung, sie entwickelte sich an unterumfassendere Forderungen. Eines ihrer Theschiedlichen Orten und war doch miteinander men war die soziale Ungleichheit, die trotz vernetzt. Multizentrisch steht hier für eine ökonomischen Wachstums anhielt – wenn gleichberechtigte Aufnahme von Ideen und nicht sogar anstieg. Gay Seidman, US-amerieine kollektive Herausbildung eines theoretikanische Soziologin, verwies bei ihrem Verschen Ansatzes im Weltmaßstab. Beispiele aus gleich militanter Arbeiterbewegungen in Südafrika, Brasilien, Philippinen, Südkorea und Brasilien und Südafrika darauf, dass SGB unter den USA verweisen auf den Austausch dieser den Bedingungen der späten Industrialisierung Bewegungen zwischen Nord und Süd und unter autoritären Regimen entstanden, in mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen. denen sich die Kämpfe um Löhne und ArbeitsDas SGB-Konzept wurde ursprünglich von bedingungen mit Kämpfen um die Verhältprogressiven WissenschaftlerInnen entwickelt, nisse in Arbeitervierteln sowie um politische Rechte und Demokratie verbinden. die die kämpferischen und schlagkräftigen Arbeiterbewegungen in Schwellenländern wie Auf den Philippinen entstand aus dem Kampf gegen die Marcos-Diktatur in den Südafrika, Brasilien, den Philippinen und Südkorea untersuchten. Diese Bewegungen haben 1980ern eine kleine, aber einflussreiche Gein den 1980er Jahren Seite an Seite mit einer werkschaft, die Kilusang Mayo Uno Labour ganzen Reihe von sozialen Bewegungen für Center (KMU). Sie beschäftigte sich ebenfalls soziale Gerechtigkeit gekämpft. mit Fragen weit über die traditionellen geIn Südafrika schlossen sich die unabhänwerkschaftlichen Themen hinaus und beteigigen »schwarzen« Gewerkschaften 1985 zum ligte sich zum Beispiel an Kampagnen, die Verband Südafrikanischer Gewerkschaften eine Verlängerung von Mietverträgen an USCOSATU zusammen, der ein mächtiger GeMilitärbasen zu verhindern suchten. Diese genspieler des Apartheid-Regimes wurde. Aktionen brachten Städte, Provinzen und 1987 COSATU hat de facto die Führung des Antisogar die ganze Nation zum Stillstand. Zu den Apartheid-Kampfes übernommen und zusamSiegen der KMU gehört zum Beispiel die Rückmen mit anderen Organisationen aus der nahme von Kraftstoffpreiserhöhungen. Im iz3w • März / April 2013 q 335

Hinblick auf die Philippinen schlug Kim Scipes, Soziologe aus den USA, eine ähnliche sozialwissenschaftliche Analyse wie Webster und Seidman vor. Er betonte, Kämpfe um politische Rechte sowie Allianzen mit sozialen Bewegungen auf gleichberechtigter Basis und gewerkschaftliche Basisdemokratie seien hier charakteristisch. In Südkorea sind ebenfalls SGB entstanden. Der Ursprung der Korean Confederation of Trade Unions (KCTU) stellte zugleich den Aufschwung des militanten Kampfes der ArbeiterInnen 1987 dar, kurz nach den von Studenten angeführten Protesten. Über eine Million KoreanerInnen nahmen im Juni 1987 an den Kundgebungen gegen die Diktatur teil und forderten eine demokratische Verfassungsreform. Außerdem zeigten koreanische ArbeiterInnen durch ihre Streiks, dass politische Demokratie nichts als leere Worte bedeutet, solange in der Wirtschaft keine Gerechtigkeit herrscht. Hagen Koo, Soziologe an der Universität Hawaii erklärt, dass das SGB-Konzept in Südkorea verwendet wurde, um die Militanz der zuvor marginalisierten ArbeitnehmerInnen (insbesondere Frauen und MigrantInnen) zu beschreiben. Während die ArbeiterInnen in vielerlei Hinsicht gewannen und bessere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und eine bessere Behandlung erkämpften, hielten doch die strukturellen Ungleichheiten an – ähnlich wie in Südafrika und Brasilien.

Vom Süden lernen Das in Ländern des globalen Südens e­ ntstandene SGB-Konzept wurde bald zum Vorbild für GewerkschaftsstrategInnen in ­etablierten industriellen Demokratien, die befürchteten, ihre Stärke und breite Unter­ stützung zu verlieren. Amerikanische Ge­ werkschaftsstrategInnen etwa fingen an, den globalen Süden als Ort für neue Ideen zu sehen. Kim Moody, Gründer der unabhängigen Gewerkschaftszeitung Labor Notes in Detroit, sah 1997 die Militanz in Südafrika oder Brasilien als neues Modell: An Stelle des hoch institutionalisierten Rahmens, der die amerikanische Gewerkschaftsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg prägte, brauchten diese einen neuen Ansatz – einen, der neue Mitglieder außerhalb der traditionellen Mitgliedschaft von SchwerindustriearbeiterInnen mobilisiert. Die Vision der SGB ist völlig anders als die des traditionellen »Business Unionism«. Die Gewerkschaften sind für Fragen der sozialen Gerechtigkeit zuständig, nicht nur für die tt


Foto: iz3w-Archiv

Neville Alexander (geb. 1936, gest. 2012), war zuletzt Direktor des Projektes Study of Alternative Education in South Africa (PRAESA) an der Universität Kapstadt. Als promovierter Linguist setzte er sich im wissenschaftlichen Kontext und in der politischen Praxis für ein reformiertes Bildungs­ system in Südafrika ein. Bevor er Atheist wurde, ließ er sich zum Priester weihen. Bevor er zur südafrikanischen Kommunistischen Partei in Opposition ging, war er Mitglied der Trotzkisten in einem Township. Nachdem der in Südafrika geborene Sohn eines Schreiners in Tübingen Geschichte studiert hatte, schloss er sich der Black Consciousness Bewegung Steve Bikos an. Und bevor er Soziologie in Kapstadt lehrte und als Direktor des South African Committee of Higher Education (Sached) für die Aufhebung der Klassen kämpfte, gründete er während einer zehnjährigen Haftstrafe die University of Robben Island und trug maßgeblich zur Weiterbildung der Gefängnisinsassen bei. Der Erziehungswissenschaftler Neville Alexander ­stärkte als Vorstandsmitglied der African Academy of Languages den Multilingualismus.

eng gefassten Interessen der gewerkschaftlich Organisierten. Die Neuorientierung des USamerikanischen Gewerkschaftsdachverbands AFL/CIO seit 1995 stärkte diese Ideen und es wurden mehrere Kampagnen initiiert. Der Verband verpflichtet sich selbst, die bislang Unorganisierten zu organisieren, sich für Stadtteilthemen, die Beschäftigte angehen, einzusetzen und Allianzen mit den Communities vor Ort aufzubauen. Die SGB soll die gewerkschaftliche Basisdemokratie und extensives Mitwirken aktiver Ehrenamtlicher erhöhen. Während das SGB-Konzept ursprünglich beschreibend war, entwickelte es sich nun zu einem Modell für Gewerkschaften, das nun sowohl im industriellen Norden als auch im Kampf gegen die kapitalistische Globalisierung durch »globale Solidarität« angewendet wird. Für Peter Waterman, Aktivist, Bildungsreferent bei Gewerkschaften in verschiedenen Ländern Europas und Afrikas und Arbeitshistoriker am International Institute for Research and Education in Amsterdam, dem die Prägung des SGB-Konzepts gutgeschrieben wurde, war es nicht nur ein anderes Gewerkschaftsmodell, sondern ein anderes Verständnis von der Rolle der Arbeiterklasse, in dem diese sich mit neu entstehenden sozialen Bewegungen wie dem Feminismus, indigenen Kämpfen, Menschenrechts- und Umweltbewegungen verbündet. So argumentiert Kim Moody, dass die Gewerk-

schaften im globalen Norden von ihren südlichen KollegInnen lernen und die SGB als strategische Ausrichtung annehmen sollten. Das SGB-Konzept kann als Beispiel für eine nichthegemoniale Zirkulation von Wissen im Weltmaßstab betrachtet werden, die gängige Muster in den Sozialwissenschaften unterläuft. Meist ist die Produktion von Wissen durch eine ungleiche Nord-Süd-Beziehung geprägt, in der die Hegemonie des Nordens einen Transfer von im Norden produziertem Wissen in den Rest der Welt konsolidiert hat. Daher haben die Kritik des Eurozentrismus einerseits und der Aufstieg der Theorie aus dem globalen Süden andererseits einen zentralen Platz in der jüngsten Literatur eingenommen. Diese Kritik wies vor allem auf die Notwendigkeit des Lernens von der Peripherie und den Aufbau einer Gegenhegemonie hin, die wiederum die Bildung einer multizentrischen Sozialwissenschaft im Weltmaßstab herbeiführen sollte. Besonders gegenseitiges Lernen wird als entscheidend für eine internationalisierte Sozialwissenschaft gesehen. Die SGB kann aus mehreren Gründen als Beispiel für eine nichthegemoniale Zirkulation von Wissen im Weltmaßstab betrachtet werden: Sie bezieht sich auf eine Alternative zur traditionellen Form der Industriegewerkschaften, was Struktur, Mitgliedschaft, Organisation, Kampagnen, Allianzen etc. betrifft. Auch

beruhen die als SGB bezeichneten Bewegungen jeweils auf lokalen Engagements, Bewegungen und Erfahrungen, die als Modell einen Fall des Lernens vom Süden darstellen. Und tatsächlich wurden in dem Konzept der SGB multiple Fälle berücksichtigt; jeder empirische Fall und jeder konzeptuelle Ansatz hat – das zeigen die angeführten Beispiele – seinen eigenen Schwerpunkt. So ergeben sich verschiedene Eigenanteile an der allgemeinen Konzeptbildung der SGB. Diese entstand nicht im Rahmen hegemonialer Beziehungen, sondern kumulativ und komplementär. Obwohl primär die SGB aus Schwellenländern »hörbar« und »sichtbar« gewesen sind, haben die Gewerkschaften des Südens heute Schwierigkeiten, das SGB Konzept weiter umzusetzen oder zu stärken. Seit den späten 1990er Jahren, als die Gewerkschaften in eine neo-korporatistische Sozialpartnerschaft mit ihren Regierungen eintraten, haben die SGBModelle viele ihrer Charakteristika verloren (COSATU in ­Südafrika, KCTU in Südkorea, CUT in Brasilien, KMU in Philippinen). Abzuwarten bleibt, ob die Fraktionen der Gewerkschaften, die eine Revitalisierung der SGB fordern, künftig wieder erfolgreich sein werden und ob dies auch einen Raum für eine Süd-Süd-Kooperation eröffnen wird.

Literatur –– Koo, H. 2001: Korean Workers: The Culture and Politics of Class Formation. Ithaca: Cornell Univer­sity Press. –– Moody, K. 1997: Workers in a Lean World: Unions in the International Economy. London: Verso. –– Scipes, K. 1996: KMU: Building Genuine Trade Unionism in the Philippines, 1980-1994. Quezon City, Philippines: New Day Publishers. –– Seidman, G. 2011: »Social Movement Unionism: From Description to Exhortation«, in: South African Review of Sociology, 42 (3): 94-102. –– Waterman, P. 2008: »Social Movement Unionism in Question: Contribution to a Symposium«, in: Employee Responsibility and Rights Journal, 20 (4): 303-308. –– Webster, E. 2000: »The Rise of Social Movement Trade Unionism: Two faces of the black trade union movement in South Africa« in E. Webster et.al. (eds.) Work and Industrialisation in South Africa: An Introductory Reader. Randburg: Ravan Press.

Ercüment Çelik ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg. tt

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Deutscher Kolonialismus – Texte aus der Zeitschrift iz3w

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Mit Beiträgen von: Jan-Frederik Bandel, Manuela Bauche, Felicitas Becker, Heike Becker, ­ tephan Besser, Sebastian Bischoff, Helmut Bley, Janntje Böhlke-Itzen, Susanna Burghartz, S Anette ­Dietrich, Martin Eberhardt, Rosa Fava, Philip Geck, Susanne Grindel, Gruppe „Trans­ nationale Genealogien“, Susanne Heyn, Rolf-Henning Hintze, Alexander Honold, Reinhart Kößler, Birthe Kundrus, Sabine Kuss, Susanne Kuß, Britta Lange, Mechthild Leutner, Manfred Loimeier, ­Henning Melber, Stefanie Michels, Heiko Möhle, Johann Müller, Karl Rössel, Anton Rühling, Gerhard Scheit, Kai Schmidt-Soltau, Birgit Schmitz, Uwe Schulte-Varendorff, Anke Schwarzer, Christoph Seidler, Frank Oliver Sobich, Celia Sokolowsky, Jörg Später, Verena Uka, Heiko ­Wegmann, Annika Wust, Joachim Zeller, Peer Zickgraf, Jürgen Zimmerer

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