iz3w Magazin # 351

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Sex sells – zwischen Akzeptanz und Stigma

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Antisemitismus in der Türkei t Resilienz in der Entwicklungspolitik t Buddhismus und Gewalt in Burma

Nov./Dez. 2015 Ausgabe q 351 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


In dies er Aus gabe

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Schwerpunkt: Sexarbeit

Titelmotiv: G. Wick

22 Editorial 23

3 Editorial

Politik und Ökonomie 26 4

Flucht I: »Losziehen kann auch sterben heißen«

Flucht II: »Das soll Demokratie sein?«

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Frauenrechte: »Es bleibt noch viel zu tun« Gegen Gewalt gegen Frauen in Burkina Faso von Renate Staudenmeyer und Irma Bergknecht

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Myanmar: Happy Season für Mönche In Myanmar werden muslimische Rohingya durch Buddhisten bedroht von Dominik Müller

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Entwicklungspolitik: Das Paradox der Resilienz Ein neues entwicklungspolitisches Modewort verhindert Ursachenbekämpfung von Thomas Gebauer

Der Zwang der Verhältnisse Der europäische Kampf gegen Frauenhandel ist ein Krieg gegen MigrantInnen von Mary Kreutzer

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»Unglückliche Gewinnerinnen der Globalisierung« Einblicke in die Lebens- und Arbeitsverhältnisse migrantischer Sexarbeiterinnen von Maritza Le Breton

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»Prostitution ist mit Gewalt verbunden« Die Situation von Sexarbeiterinnen im Libanon von Anna-Theresa Bachmann

Türkei: »Die unser Blut saugen« Antisemitismus ist in der Türkei tief verankert von Jan Keetman

»Sexarbeit ist eine feministische Handlung« Interview mit der queeren Sexarbeiterin Emy Fem über den Kampf gegen Stigmatisierung

Iran: »Sie trauen sich wieder« Interview mit Ali Schirasi über die heutige iranische Studentenbewegung

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Kanada: Gewalt im Internat Verbrechen an Kindern der First Nations von Doro Wiese

Das Unbehagen an der Prostitution Sexpositiv? Ja, gerne. Frauen als Konsumprodukte? Nein, danke. von Eva Gutensohn und Katrin Dietrich

Interview mit Alassane Dicko von der Association Malienne des Expulsés

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Vom »Dirnenberuf« zur »Sexarbeit« Die zwiespältige Geschichte des staatlichen Umgangs mit der sexuellen Arbeit von Sonja Dolinsek

In Mali organisieren sich Opfer der europäischen Abschottungspolitik von Susanne U. Schultz

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Prostitution versus Sexarbeit Worum geht es in den kontroversen feministischen Debatten? von Carolin Küppers

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Aufmerksamkeiten für schöne Männer Ethnosexuelle Beziehungen in Ägypten unterlaufen die Geschlechterverhältnisse von Anna-Theresa Bachmann

48 Rezensionen 50 Szene / Tagungen Impressum

Kultur und Debatte 44

Musik: Antisemitismus im »Zion Train« Die internationale Reggae-Szene neigt zu seltsamen Ansichten von Patrick Helber

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Nachruf: Ohne Rückfahrkarte nach Venezuela Mit Heinz R. Sonntag starb ein 68er, der zum Chávez-Kritiker wurde von Nikolaus Werz

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Comic: Kopfjäger mit Maschinengewehr Die »Deutsche Südsee« im Comic von Stefan Brocza und Andreas Brocza

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Editor ia l

Bitterer Beigeschmack Sorgen, Sorgen, Sorgen. In diesen Tagen machen sich so viele Menschen Sorgen. Wie beispielsweise Winfried Ex aus dem beschaulichen Kurort Badenweiler. Er schreibt in einem Leserbrief an die Badische Zeitung: »So genannte Wirtschaftsflüchtlinge haben keinen Platz hier, rauben den wirklich Bedürftigen den Raum und sollten unverzüglich ‚rückgeführt’ werden. Die uns Regierenden haben geschworen, ‚Schaden vom deutschen Volk abzuwenden’. Die derzeitig geübte Lock-/Willkommenskultur bewirkt genau das Gegenteil.«

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ir kennen Herrn Ex nicht. Gut möglich, dass er ein unsympathischer Fiesling ist, dem wir aus dem Weg gingen, wenn wir ihn träfen. Ebenso gut möglich ist, dass er ein freundlicher Mensch mit guten Manieren und liebenswerten Eigenschaften ist. Einer, wie wir ihn alle im Verwandten- und Bekanntenkreis haben. Ein Mensch, den wir persönlich schätzen, weshalb wir uns auf engagierte Diskussionen mit ihm über Äußerungen wie die obige einlassen. Auch und gerade dann, wenn uns seine Wortwahl irritiert. Wir mögen ihn zu sehr, um seine Ansichten unwidersprochen hinzunehmen oder ihn als Nazi zu beschimpfen. Wir halten also mit Argumenten gegen Herrn Ex: »Es stimmt nicht, dass Flüchtlinge Schaden anrichten. Sie sichern unsere Rente in Zeiten, in denen die deutsche Bevölkerung schrumpft.« Wir verweisen auf eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, laut der die 6,6 Millionen Menschen ohne deutschen Pass den hiesigen Sozial­ kassen im Jahr 2012 einen Überschuss von 22 Milliarden Euro beschert haben. Wir ergänzen, dass laut Studie jeder ausländische Mensch pro Jahr durchschnittlich 3.300 Euro mehr Steuern und Sozialabgaben zahlt, als er oder sie an staatlichen Leistungen erhält, und dass das Plus pro Kopf in den letzten zehn Jahren um mehr als die Hälfte ge­stiegen ist. Wenn Herr Ex weiter zweifelt, holen wir aus. Wir bemühen Herbert Brücker, einen Professor für Volkswirtschaftslehre, der die Exes der Republik in einem Interview regelrecht beschwört: »Jetzt in Bildung und Ausbildung der Flüchtlinge zu investieren, ist sehr gut angelegtes Geld. Wir wissen aus früheren Migrationsbewegungen, dass das einer Volkswirtschaft hohe Renditen bringt. Jeden Euro, den wir dafür ausgeben, werden wir mit Zins und Zinseszins in den Sozialkassen zurückbekommen. Am Anfang kostet das wie jede Investition Geld, aber später

zahlen die Menschen Steuern und Abgaben, und sie brauchen gleichzeitig keine oder wenige Sozialleistungen.« Falls Herr Ex in unserem Streitgespräch hartnäckig bleibt, bemühen wir Gewährsleute, die bei Konservativen hohes Ansehen genießen. Etwa den Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes, Bernhard Krüsken, der die deutsche Scholle künftig gerne von Nichtdeutschen beackern lassen will: »Die Beschäftigung von Flüchtlingen in der Landwirtschaft ist absolut sinnvoll. Wenn wir mehr Möglichkeit hätten, werden wir das auch begrüßen.« Und einem weiteren Argument kann sich Herr Ex doch nicht verschließen, vor allem, wenn es von einem Wirtschaftsmann wie Christoph Minhoff vom Spitzenverband der deutschen Lebensmittelwirtschaft vorgebracht wird: »Wenn mehr Menschen in Deutschland leben, gibt es auch mehr Kunden und damit mehr Umsatz für die Lebens­ mittelbranche.« Wir bemühen die taz, die Leuten wie Herrn Ex ebenfalls wuchtige Argumente entgegenschleudern will, und die deshalb Minhoff mit einer Modellrechnung assistiert: 1,36 Milliarden Euro Umsatzplus gäbe es durch die 800.000 Geflüchteten bei Lebensmitteln, selbst wenn nur der Mindestsatz von 144,66 Euro nach Hartz IV zugrunde gelegt sei!

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elbst wenn Herr Ex nun doch beeindruckt ist und wir das Rededuell gewinnen – wir fühlen uns hinterher gar nicht gut. Wir wissen, welch bitteren Beigeschmack es hat, den ökonomischen Nutzen von Geflüchteten zu bemühen, um Rassismus zu begegnen. Wider besseren Wissens hintertreiben wir die Universalität der Menschenrechte. Wir ärgern uns, zu wenig über Fluchtursachen und die Schuld Europas an der Misere gesprochen zu haben. Wir gingen davon aus, dass Herr Ex nur mit wirtschaftlichen Argumenten zu beeindrucken ist, und erlegten uns diskursive Selbstbeschränkung auf. So gesehen hat eigentlich Herr Ex gewonnen. Wir fassen daher einen guten Vorsatz: Gerade in Zeiten, in denen das »Sommermärchen« zum »Winteralptraum« für Geflüchtete zu werden droht (so konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza), biedern wir uns bei Herrn Ex nicht mehr an. Gerade wenn wir ihn eigentlich mögen, sagen wir ihm, dass er wie ein Rassist spricht und wir ihm die Freundschaft aufkündigen, wenn das so bleibt. Wir lassen uns von Leuten wie ihm nicht mehr dazu zwingen, dem Wort »schädlich« das Wort »nützlich« entgegen zu halten. Das sind wir uns, aber mehr noch den Geflüchteten und ihrer Würde schuldig, findet die redaktion

P.S.: Im nächsten Heft bringen wir abweichend von der bisherigen Planung einen Themenschwerpunkt zu Refugees (siehe Vorschau auf Seite 50). Herr Ex wird darin keine Rolle spielen, die Vorstellungen von Geflüchteten umso mehr.

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iz3w-Backlist 350: Anti-Rassismus im Süden 349: Leidbranche Logistik 348: Gesellschaftskritik im Spielfilm 347: Folter im 21. Jahrhundert 346: Ausbeutung der Meere 345: Barrieren & Behinderungen 344: Geschäfte mit Uran 343: Fotografie & Macht 342: Protest in der Türkei 341: Asyl & Politik 340: Eigentor Brasilien 339: Faschimus international 338: Fairer Handel 337: Arabische Frauenbewegungen 336: Armut 335: Wissenschaft global 334: Antiziganismus 333: Krise & Kapitalismus 332: Stadt für alle 331: Restitution geraubter Gebeine 330: Arabischer Frühling 2.0 329: Globales Lernen 328: Drogen

327: Grüner Kapitalismus 326: LGBTI gegen Homophobie 325: Chinas roter Kapitalismus 324: Revolte in der arabischen Welt 323: Islamdebatte 322: Verteilungskämpfe 321: FrauenKörper 320: Was bewegt Zentralamerika? 319: Afrika postkolonial 318: Alte und neue Grenzregimes 317: US-Außenpolitik 316: Südafrika abseits der WM 315: Digitale Welten 314: Zentralasien post-sowjetisch 313: Gender & Krieg 312: Nazi-Kollaboration 311: Iran 310: Politik des Hungers 309: Arbeit macht das Leben schwer 308: Literatur in der Türkei 307: 60 Jahre Menschenrechte 306: Panafrikanismus oder Nationalstaat 305: Die Misere der Klimapolitik

Einzelheft: € 5,30 Heft 322 bis 333: € 4,– / ältere Hefte: € 3,–

ratte: banksy

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Myanmar

Dokumentarfilm »Yangon Calling – Punk in Myanmar« von Alexander Dluzak und Carsten Pieflke

Happy Season für Mönche In Myanmar werden muslimische Rohingya durch Buddhisten bedroht Seit dem Einlenken der Militärdiktatur und dem Antritt einer zivilen Regierung 2011 hofften viele in Myanmar auf Demokratie und Menschenrechte. Doch die politischen Verhältnisse bleiben autoritär und menschenverachtend: Willkür und Gewalt wenden sich im weitgehend buddhistischen Myanmar nun vor allem gegen die muslimische Minderheit der Rohingya. Die wirtschaftliche Liberalisierung des Landes wird dies noch verstärken.

von Dominik Müller Nach Jahren der Militärdiktatur ist Myanmar zum weltweiten Vorzeigeprojekt geworden: Wahlen und Marktöffnung sorgen, so heißt es, für Demokratie und Menschenrechte. Doch die Nachrichten aus dem ehemaligen Burma passen nicht zu diesem Bild: Muslimische Minderheiten, insbesondere die 1,3 Millionen Angehörigen der Rohingya, fühlen sich massiv bedroht. Radikale buddhistische Mönche, die sich in der Organisation Mabatha »zum Schutz der Nation und der Religion« zusammengeschlossen haben, warnen vor einer »schleichenden Islamisierung« ihres Landes und fordern dazu auf, Muslime gesellschaftlich zu isolieren. Davon inspiriert ziehen buddhistische Fundamentalisten mordend durchs Land, verbrennen Dörfer und zerstören Moscheen. Die Regierung erlässt Gesetze, die Muslimen und Muslima das Wahlrecht absprechen und sie in ihrer Mobilität und Berufswahl einschränken. Die Oppositionspolitikerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi schweigt dazu. Und der Westen beschränkt sich auf lauwarme Ermahnungen, denn das Land gilt als wichtiger Investitt

tionsstandort und hat aufgrund seiner Lage zwischen Indien und China große geostrategische Bedeutung. Die Nachrichten von Tausenden Rohingya, die in ihren Booten auf dem Indischen Ozean als Boatpeople umhertrieben, gingen im Mai dieses Jahres um die Welt. Kein Staat wollte die Flüchtlinge aus Myanmar aufnehmen. Von den 1,1 Millionen Rohingya in Myanmars nördlichem Rakhaing-Staat sind seit 2012 mehr als hunderttausend in Flüchtlingslagern eingesperrt, die meisten anderen in Ghettos oder Dörfern, die sie nur mit Sondergenehmigungen verlassen dürfen. Im Frühsommer und Herbst 2012 kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Rakhine, einer buddhistischen Ethnie, und den muslimischen Rohingya. Offiziell gab es 167 Tote, die meisten davon Rohingya.

Als Minderheit unsichtbar gemacht Seit 2012 sind Rohingya völlig aus dem öffentlichen Leben verbannt: In Sittwe, der Hauptstadt des Rakhaing-Staates sowie anderen Städten sind keine mehr zu sehen. Ihre einst prachtvolle Moschee an der Hauptstraße wurde stark beschädigt, Tag und Nacht wird sie von PolizistInnen bewacht. Niemand darf das Gelän­ de betreten. Am Straßenrand stehen einige ausgebrannte ­Häuser und zahlreiche leer stehende Geschäfte. »Viele Muslime waren Ladenbesitzer und Händler«, erzählt Amy Martin, die für die Vereinten Nationen die humanitären Angelegenheiten im Rakhaing-Staat koordiniert. Die Stimmung gegenüber den ausländischen Organisationen ist feindselig. Im März 2014 hatten radikale BuddhistInnen sogar die Büros und Einrichtungen der internationalen Hilfsorganisationen in Sittwe gestürmt und tt

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verwüstet. Sie unterstellten ihnen, zum Vorteil der Rohingya zu schaftszone. Sie wird 120 Quadratkilometer groß, Teile von Kyaukarbeiten. Daraufhin wurden alle ausländischen MitarbeiterInnen Pyu und insgesamt 40 angrenzende Dörfer sollen dafür weichen. evakuiert. Erst nach Wochen zäher Verhandlungen konnten sie Öffentliche Anhörungen und Debatten mit der ansässigen Bevölzurückkehren und ihre Arbeit wieder aufnehmen. kerung gab es nicht. Die Rohingya werden schon seit vielen Jahren diskriminiert. Auch Im Flüchtlingscamp Dar Paing in Sittwe leben mehrere hundert die alte Militärregierung unterstellte ihnen, unrechtmäßig aus der ehemaligen BewohnerInnen von KyaukPhyu auf engem Raum. Bangladesch eingewandert zu sein. In den Jahren nach der UnabSie waren fast alle in der Fischerei tätig. »Schon als sie vor einigen hängigkeit war das noch anders: Die Rohingya, die schon seit Jahren die Probebohrungen für die Gasförderung machten, durften mehreren Generationen im damaligen Burma lebten, waren eine wir dort nicht mehr fischen«, berichtet die 23-jährige Tin TinNyu, anerkannte Minderheit. Das änderte sich die als eine der wenigen hier lesen und schrei1982. Damals verabschiedet die Militärben kann. »Und als sie dann auf Gas gestoßen Staatliche Stellen waren regierung ein Gesetz, das die Rechte der sind, haben sie die Verbotszone nochmal ausKomplizen bei den Pogromen BewohnerInnen entlang ethnischer Zugegeweitet.« hörigkeit definierte: Insgesamt 135 EthniAuch die geplante Sonderwirtschaftszone hat gegen die Rohingya en sind seitdem als StaatsbürgerInnen gravierende Auswirkungen auf die Bewohner­ anerkannt. Die größte Gruppe, mehr als Innen von KyaukPhyu: »Die Investoren brauchen viel Fläche«, erläutert U Khin Maung Hlaing, der 64-jährige Sprecher 60 Prozent der Bevölkerung, stellen die buddhistischen Bamar. Im Rakhaing-Staat gehören die buddhistischen Rakhine dazu, nicht der Flüchtlingssiedlung, »und unser Land ist jetzt viel mehr wert jedoch die muslimischen Rohingya. als früher. Das wissen auch die Rakhine in unserer Stadtverwaltung.« »Aber sie wollten uns keine Entschädigung zahlen«, ergänzt Tin Als Auslöser für die jüngste Gewalt und Vertreibung verweisen viele Angehörige der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit auf Tin Nyu, »die Gewalt kam ihnen gerade Recht und sie konnten uns eine Vergewaltigung: Drei männliche Rohingya hatten im Frühsomvertreiben, ohne irgendetwas bezahlen zu müssen.« Insgesamt mer 2012 eine junge Buddhistin vergewaltigt, die anschließend seien 5.000 Rohingya aus Kyauk Phyu vertrieben worden. Die ihren Verletzungen erlag. Es folgten Racheaktionen, bei denen chinesische CITIC-Group, der japanische Nippon Koei Co., Ltd unschuldige Koranschüler getötet wurden. Die Gewalt nahm ihren Konzern und die burmesische Htoo-Trading Company, die enge Lauf. Nur Jahan, eine Bewohnerin des Flüchtlingslagers Dar Paing Verbindungen zur Familie des aktuellen Präsidentschaftskandidaten der Regierungspartei unterhält, wollen in der Sonderwirtschafts­ bei Sittwe, kennt diese Rechtfertigungen. »Natürlich müssen die Vergewaltiger zur Rechenschaft gezogen werden, aber deshalb zone ihre Geschäfte machen, vor allem im Energie- und Infrastrukkann man doch nicht alle Rohingya bestrafen«, empört sich die tursektor. 55-Jährige. Quer über ihren Rücken zieht sich die Narbe einer Brandwunde. Sie hat nur knapp überlebt, als buddhistische FanaAngst schüren, Hass ernten tiker das Haus ihrer Familie in Sittwe anzündeten. Die Atmosphäre in Myanmar ist derart vergiftet, dass Nur Jahans tt Mittlerweile wendet sich die Gewalt nicht nur gegen die RohinArgumente keine Chance haben, gehört zu werden. Staatliche gya, sondern allgemein gegen Muslime und Muslima in Myanmar. Stellen waren sogar Komplizen bei den Pogromen gegen die Auch in anderen Landesteilen kam es zu blutigen Übergriffen mit Rohingya: Zeugen berichten, dass Polizisten auf flüchtende Rohinzahlreichen Toten. In vielen Fällen hatten buddhistische Hasspregya geschossen und die Angriffe der nationalistischen Rakhine diger zuvor die Orte besucht und in ihren Reden davor gewarnt, gedeckt haben. dass der Islam im Allgemeinen und die muslimischen Rohingya im Besonderen die buddhistische Religion und die Nation Myanmars unterwandern würden – mit dem Ziel, das Gesetz der Scharia zu Ein Paradies für Investoren verankern. tt Eine Vorzugsbehandlung genießen hingegen Investoren aus Der Einfluss der buddhistischen Mönche auf die Politik in China, Indien, Japan, Südostasien, den USA und Europa, die in ­Myanmar ist kaum zu unterschätzen: Während der so genannten Myanmar Geschäfte machen wollen. Myanmar verfügt über zahl»Happy Season« von Oktober bis Februar werden in jeder Stadt reiche Ressourcen: fruchtbares Ackerland, Erdöl, Erdgas, Kupfer, Myanmars und in jedem Stadtteil ganze Straßen für buddhistische Bauxit und billige Arbeitskräfte. Zusammen mit Investoren will die Predigten abgesperrt. Vor tausenden AnhängerInnen reden MönRegierung mehrere Dutzend Megastaudämme errichten, drei che Abend für Abend über Meditation, Selbstgenügsamkeit und Tiefseehäfen sind geplant, einschließlich angrenzender Sonderwirtdie Tugenden des Buddhismus, aber auch über seine Verteidigung schaftszonen. Sozial-ökologische Wirkungsstudien, geschweige gegen vermeintliche Bedrohungen wie den Islam. Dass nur vier denn entsprechende Schutzrechte, gibt es nicht. Burma gilt als Prozent der Bevölkerung Myanmars Muslime sind, ist dabei nicht Investorenparadies. Die UN-Mitarbeiterin Amy Martin weiß, wer von Belang. Viele der 500.000 Mönche im Land argumentieren mit der Geschichte und behaupten, dass Länder wie Afghanistan den Preis dafür zu bezahlen hat: »Die großen Unternehmen komoder Indonesien früher buddhistisch gewesen seien und Myanmar men, die lokale Bevölkerung wird vertrieben und hat überhaupt das gleiche Schicksal der Islamisierung drohe, wenn man nichts nichts von diesen Projekten.« Eines dieser Investorengroßprojekte ist in Kyauk Pyu angesiedelt, dagegen unternehme. einer Kleinstadt im Rakhaing-Staat: Es umfasst einen Tiefseehafen Es gab eine Zeit, da wurde auch der Buddhismus durch das einschließlich einer 800 Kilometer langen Pipeline, mit der die Militärregime unterdrückt. Mönche und Gläubige konnten ihre China National Petroleum Cooperation, ein chinesisches Staatsunreligiösen Zeremonien nicht frei und in aller Öffentlichkeit begehen. ternehmen, Gas und Erdöl in die unterentwickelte Region Yunnan »Heute ist das anders«, begrüßt Dr. Saw Hlaing Bwa diese Entwicktransportiert. In Planung ist seit 2009 außerdem eine Sonderwirtlung. »Die Mönche werden eingeladen, um auf offener Straße zu iz3w • November / Dezember 2015 q 351


Myanmar predigen und die Gläubigen in Moral zu unterrichten.« Der Baptist ist Professor für Theologie am Myanmar Institute for Theology in Yangon. 1988 hat er sich als Student in Yangon an den Protesten der frühen Demokratiebewegung beteiligt. »Andererseits«, so warnt er, »machen sich Organisationen wie Mabatha diese Entwicklung zu Nutze und predigen ihren Hass auf der Straße. Das ist ein Grund, warum sie bei den einfachen Leuten so viel Einfluss haben.«

Gesetze für die nationale Sache 70 Prozent der Bevölkerung Myanmars leben noch von der Landwirtschaft – oft als Kleinbauern und -bäuerinnen. Doch viele von ihnen fallen zunehmend der Landspekulation zum Opfer, die durch internationale Investoren angeheizt wird. Die Folge: Der Preis für Land und Grundnahrungsmittel ist in den vergangenen Jahren enorm hochgeschnellt. Die Landpreise haben sich je nach Region versiebenfacht, bei vielen Grundnahrungsmitteln gibt es eine zweistellige Teuerungsrate. Das von der Europäischen Union vorangetriebene Investitionsabkommen mit Myanmar wird diese Entwicklung weiter beschleunigen. Denn der schwache Schutz von Menschenrechten und Umwelt, der derzeit in Myanmar Praxis ist, wird durch ein Investitionsabkommen voraussichtlich auf diesem niedrigen Niveau festgeschrieben. Konzerne könnten dann jede gesetzliche Verbesserung über das geplante Schiedsgericht (Bestandteil des Abkommens) als entgangenen Profit und Geschäftsschädigung bei der Regierung Myanmars einklagen. Die Militärs in Burma, die auch in der so genannten »Zivilregierung« noch das Sagen haben, wollen die sozialen Spannungen kanalisieren. Sie setzen auf eine Ethnisierung der sozialen Konflikte, um ihre eigene Position und ihre profitablen Geschäfte abzusichern. Auch für Saw Hlaing Bwa steht fest: Die Konflikte in Myanmar sind von wirtschaftlichen und politischen Interessen geprägt. Die tt

Pressefreiheit bleibt ein wichtiges Indiz für die Demokratisierung Foto: D. Müller 2015

Religion wird nur instrumentalisiert. »1988 und 2007, als die Leute gegen die Militärregierung aufgestanden sind, haben die Mönche die Bewegung zusammen mit den Studierenden angeführt«, erklärt er, »also müssen sie heute die Mönche auseinander dividieren und so die Möglichkeit ihres politischen Engagements auf der Seite der Armen schwächen.«

Die Saat scheint aufzugehen. Kaum ein buddhistischer Mönch in Myanmar wagt sich, Mabatha, die Organisation zum »Schutz der Rasse und Religion«, zu kritisieren. Schon auf der Gründungskonferenz Anfang 2014 legte Mabatha ein Paket mit Gesetzesvorschlägen vor: Die Mönche forderten, dass das Konvertieren von einer Religion zu einer anderen von den lokalen Behörden genehmigt werden muss; dass in Regionen mit hoher Geburtenrate Frauen per Gesetz verpflichtet werden sollen, weniger Kinder zu bekommen; dass buddhistische Frauen, die Männer mit anderer Religionszugehörigkeit heiraten, nicht konvertieren dürfen. Als sich mehrere Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen im Mai 2014 gegen diese Vorschläge aussprachen, weil dadurch Frauen und Minderheiten diskriminiert würden, erhielten die UnterzeichnerInnen Morddrohungen und wurden von Mabatha als »Verräter der nationalen Sache« bezeichnet. Im Sommer sind sämtliche Gesetzesvorschläge der Mabatha mit deutlicher Mehrheit im Parlament verabschiedet worden. Die Mabatha-Mönche inszenierten daraufhin Jubelfeiern – unter anderem in der symbolträchtigen Shwedagon Pagode in Yangon, die nicht nur eine Touristenattraktion ist. Dort trafen sich in den 1920er Jahren antikoloniale Kräfte und 2007 war die Pagode Ausgangspunkt der Protestbewegung gegen das Militärregime.

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Dominik Müller ist freier Journalist und lebt in Köln.

Wahlen in Myanmar tt Am 8. November finden die ersten landesweiten Parlamentswahlen seit der Freilassung der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi 2011 statt. Obwohl sie als aussichtsreiche Kandidatin gilt, wird sie nicht Präsidentin werden. Das verhindert die Verfassung, denn ihre Söhne sind ausländische Staatsbürger. Anträge, diesen Teil der Verfassung zu ändern, sind vom amtierenden Parlament abgelehnt worden. Es wird von den alten Militärs und ihrer Partei, der USDP (Union Solidarity & Development Party) kontrolliert. Zur Wahl stehen im November nur 75 Prozent der insgesamt 664 Sitze im Ober- und Unterhaus. Die restlichen 25 Prozent sind einer direkten Ernennung durch die Militärs vorbehalten. Die Partei der Friedensnobelpreisträgerin, NLD (National League for Democracy), stellt mit insgesamt 1.151 die meisten Kandidaten von allen 90 Parteien, die sich zur Wahl stellen. Obwohl die Muslime als größte religiöse Minderheit Myanmars die NLD immer unterstützt hatten, findet sich unter den NLD-Kandidaten kein einziger Muslim. Aus tak­tischen Gründen hatte es Aung San Suu Kyi in den vergangenen zweieinhalb Jahren vermieden, sich für die verfolgte muslimische Minderheit auszusprechen. Im Gegenteil plädierte sie in einem BBCInterview am 24. Oktober 2013 sogar für Verständnis gegenüber den Tätern, die »von Angst getrieben« seien. »Ich denke«, appellierte sie an die Zuschauer der BBC, »wir teilen doch alle die Auffassung, dass der Einfluss des Islam weltweit sehr stark ist. Sie ist in vielen Teilen der Welt verbreitet – auch in unserem Land.« Buddhistische Mönche der Mabatha rufen dazu auf, nur Kandidaten zu wählen, »die den Buddhismus in Myanmar schützen wollen«. DM

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Sexarbeit

Sexarbeit: Eine globale Debatte

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»Als Hure biete ich mehr als einen schnellen Fick oder einen Blowjob. Ich biete Akzeptanz und Offenheit, Sexunterricht und Anatomiestunden. Ich stelle einen Raum, in dem sich Leute sexy fühlen können.« Und weiter: »Für mich ist die Schaffung eines solchen Raumes ein feministischer Akt.« Dass solche Aussagen einmal in der iz3w gedruckt werden, wäre noch vor zehn Jahren unvorstellbar gewesen. Wie in der gesamten linken, feministischen und antirassistischen Szene dominierte auch im iz3wUmfeld jahrzehntelang die Ansicht, dass Prostitution einer der schlimmsten Auswüchse patriarchaler Herrschaft ist und abgeschafft werden muss. Nur so könne der sexuellen Ausbeutung von (oftmals migrantischen) Frauen und dem dominierenden Zwangscharakter von Prostitution – und im weiteren auch von Sexualität – ein Ende bereitet werden. Diese Sichtweise ist auch heute weit verbreitet, und zwar nicht nur in Deutschland, wo sie von prominenten Feministinnen in den letzten drei Jahren vehementer denn je vorgebracht wird. Die abolitionistische Strömung, die Prostitution abschaffen will, ist weltweit vertreten. Doch ebenso global ist die in den letzten 15 Jahren entstandene Gegenströmung, die für die Ent-Stigmatisierung von Sexarbeit kämpft. Hervorgegangen ist diese Bewegung aus sozialen Kämpfen: SexarbeiterInnen ­gingen vielerorts auf die Straße, um für bessere Arbeitsbedingungen und für gesellschaftliche Akzeptanz zu kämpfen. Den abolitionistischen Feminismus empfanden SexarbeiterInnen und ihre feministischen Unterstützer­ Innen als bevormundend und kontraproduktiv. »Save us from our saviours«, grenzen sich beispielsweise indische SexarbeiterInnen davon ab und gründen ihre eigenen NGOs. Organisierte SexworkerInnen betonen die Autonomie der Individuen, die beinhalten könne, sexuelle Dienstleistungen gegen Geld anzubieten. Zum Ausdruck kommt diese Haltung bereits in der Begrifflichkeit »Sexarbeit«, die den Arbeits- und Dienstleistungscharakter hervorhebt. Diese Strömung leugnet die massiven Menschenrechtsverletzungen in der Branche nicht. Doch um diese zielgerichtet bekämpfen zu können, helfe die Kriminalisierung und Pathologisierung von Sexarbeit nicht – ganz

im Gegenteil trage die Illegalisierung nur zur Verschlechterung der Lage von SexarbeiterInnen bei. Da die Bekämpfung von Prostitution oft auf MigrantInnen aus­ gerichtet sei und häufig Ausweisungen nach sich ziehe, trage sie rassistische Züge. Die Position des sex-positiveFeminismus hebt zudem stark auf ein sexuelles Selbstbestimmungsrecht von Frauen und LGBTIQs ab, das jenseits konservativer und heteronormativer Moralvorstellungen liegt.

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n unserem Themenschwerpunkt befassen wir uns in globaler Perspektive mit dem Spannungsfeld Sexualität versus Herrschaft versus Autonomie. Wir ergreifen dabei entschieden Partei für die Menschenrechte von SexarbeiterInnen – was beinhaltet, die Verletzungen dieser Rechte ausführlich zu thematisieren. Dazu gehören nicht nur alle Formen der sexuellen Gewalt und des Missbrauchs, die in der Prostitution weit verbreitet sind, sondern auch die verbreitete ethnisierend-rassistische Diskriminierung. Und es soll auch nicht geschwiegen werden über kapitalistische Verhältnisse, die Menschen zur käuflichen Ware machen. Es geht uns also weder um die Idealisierung von Sexarbeit noch um ihre Dämonisierung, sondern um einen möglichst unvoreingenommenen Blick auf die Lage von SexworkerInnen und deren eigene Vorstellungen, wie sie sich verbessern ließe. Denn eines der Grundprobleme der extrem polarisierten Debatte ist, dass allzu oft viktimisierend über SexarbeiterInnen gesprochen wird statt auf Augenhöhe mit ihnen. Dies ist auch der Grund dafür, warum in diesem Themenschwerpunkt Original-Zitaten von Sexarbeiter­ Innen ein gebührender Platz eingeräumt wird. Sie stehen anstelle von Fotos, auf die wir diesmal konsequent ­verzichten. Denn bei kaum einem anderen Thema sind stereotype und klischeehafte Bilderwelten so tausendfach reproduziert worden wie bei Sexarbeit. »Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder«, lautet daher in diesem Fall unsere Maxime. Bilder hat bei diesem Thema ohnehin jede/r vor Augen. Das Kopfkino wird sich ganz von selbst einschalten. die redaktion

Wir danken der Rosa Luxemburg Stiftung für die Förderung des Themenschwerpunktes

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Der Zwang der Verhältnisse Der europäische Kampf gegen Frauenhandel ist ein Krieg gegen MigrantInnen Die Lebensgeschichten von in Europa tätigen Sexarbeiterinnen aus Nigeria ähneln sich: Fast immer wurden sie durch MenschenhändlerInnen in eine Schuldknechtschaft gezwungen. Doch es sind nicht nur kriminelle Netzwerke, die ihnen das Leben schwer machen. Auch die restriktive EU-Einwanderungspolitik und die Illegalisierung führen viele Frauen direkt in die Prostitution.

von Mary Kreutzer

razzia im Bordell assistierte sie dem Staat als Opferzeugin, woraufhin eine ihrer »Madames« (Zuhälterinnen) für dreieinhalb Jahre hinter Gitter musste. Weil sie von einem deutschen Freier schwanger wurde, konnte Joy legal in Deutschland bleiben und erhielt aufgrund der deutschen Staatszugehörigkeit ihrer Tochter ein Visum. »Eines Tages«, sagt sie, »werde ich eine Therapie anfangen. Ich kann immer noch nicht über alles reden, aber so weit geht es mir ganz gut«.

Ein Albtraum in Europa

»When I start talking about my life, my temperature always gets tt Vor einigen Jahren berichtete mir die nigerianische Schriftstelso high – let me continue in German, that makes it easier for me...« lerin und Menschenrechtsaktivistin Joana Adesuwa Reiterer von Joy ist 23 Jahre alt, als wir uns in einer Stadt im Süden Deutschlands ihrer Migration nach Österreich im Jahr 2004. Joana ist kein »Optreffen. Ihre Geschichte ähnelt der von zehntausenden Mädchen fer von Menschenhandel« (auch wenn sie wiederholt als solche in und Frauen aus Nigeria, die nach Europa emigrieren möchten. Joy diversen Medien benannt wurde). Joana, Akademikerin mit bürstammt aus einer armen Großfamilie aus dem Bundesstaat Edo. gerlicher Herkunft, verliebte sich in einen Mann, der wie sie selbst Familienangehörige kümmerten sich abwechselnd um Joy, wobei aus Benin City stammte und sie nach Österreich einlud. Er besaß österreichische Papiere, so dass Joana – im Gegensatz zu tausenden sie in den Wohnungen Hausarbeit übernehmen musste. Die verNigerianerInnen, die in die EU migrieren wollen – sich ein Visum heerenden Effekte struktureller Anpassungsprogramme, die Nigeria von Weltbank und IWF aufgezwungen besorgen konnte, ohne darauf anwurden und die insbesondere die gewiesen zu sein, die Botschaft oder schwächsten Bevölkerungsteile trafen, einen Schmuggler zu bestechen, nahmen ihr die Möglichkeit, die Schule oder sich Schulden bei einer »Maerfolgreich abzuschließen. Mit 15 Jahren dame« oder MenschenhändlerIn entschloss sie sich, ihr Glück woanders aufbürden zu müssen. Bei der Ankunft in Wien stellte zu suchen: in Europa. sich die Hochzeit jedoch als AlbSchnell fand Joy damals einen so getraum heraus. Das ständige Komnannten »Sponsor«. Ihr Bruder machte men und Gehen junger nigerianisie mit einer älteren Frau aus Benin City scher Frauen in dem gemeinsamen bekannt, deren Sohn in Marokko lebte und der für sein »Business in Europa« Apartment, die dutzenden Pässe, Hilfe gebrauchen konnte. Nachdem der die teilweise ihr Bild oder ihren NaSponsor gefunden worden war, brachte men trugen oder gar von Frauen man Joy zu einem Juju-Schrein, wo sie waren, die sie noch nie gesehen Folgendes schwören musste: 40.000 hatte, ließen in Joana den Verdacht US-Dollar für die gefälschten Papiere und aufkommen, dass ihr Mann kein für die Reise zu zahlen (denn legale MiReisevermittler war. Es stellte sich gration bleibt ArbeiterInnen aus dem heraus, dass er Menschenhändler Globalen Süden verwehrt) sowie unter war, der den österreichischen SexLourdes, Sexarbeiterin markt mit Frauen und Mädchen aus keinen Umständen die Namen der BeBenin City bediente. teiligten an die Behörden zu verraten. aus Ecuador Joy begab sich voller Stärke und HoffDie für Joana vorgesehene Rolle nung auf den Weg nach Europa. Eine war die einer Madame; sie wäre mit Reise, die sich schnell als Albtraum entpuppte: In der Sahara entrann den Aufgaben betreut worden, die Mädchen zu kontrollieren, ob sie nur knapp dem Tod. In Casablanca sperrte man sie in ein Apartsie ihre Schulden bezahlten, sie mit dem Notwendigsten zu verment ein, wo sie von besagtem, sich als »Geschäftsmann« verdinsorgen, sie bei Bedarf einzuschüchtern und das Geld einzutreiben. Sie verweigerte sich all dem und suchte Hilfe in einem Frauenhaus, gendem Sohn und verschiedenen Freiern vergewaltigt wurde, nur um danach nach Deutschland gesandt zu werden, wo sie gezwunließ sich scheiden, verklagte ihren Ex-Mann und gründete schließgen wurde, zwei Jahre lang in Bordellen zu arbeiten. Selbst als sie lich mit EXIT eine NGO, die sich darauf spezialisiert hat, Frauen im Jahr 2007 ihre vermeintlichen Schulden restlos abbezahlt hatte, und Mädchen aus Nigeria zu helfen, die nach Österreich gehandelt zwang man sie dazu, die Arbeit fortzuführen. Nach einer Polizeiwurden. tt

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»Wir sollten nicht wie Vaginas, sondern wie ganze Menschen behandelt werden.«

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Sexarbeit Man muss die verschiedenen Strukturen genau unter die Lupe nehmen, sonst sind Strafverfolgungs-, Präventions- und Schutzbemühungen wenig effektiv und führen zu falschen und oft kontraproduktiven Maßnahmen. Obwohl dies auf alle Ursprungs-, Transit- und Ankunftsregionen zutrifft, ist es dennoch wichtig, jede Region einzeln und genau zu untersuchen und die spezifischen historischen, soziopolitischen und ökonomischen Entwicklungen anzuerkennen. Das Problem des Menschenhandels lässt sich nicht durch ein Verbot der Prostitution oder ähnlich simpel gestrickte, ideologisch aufgeladenen Lösungsmodelle lösen – Modelle, die negieren, dass Menschenhandel nicht nur in der Sexindustrie existiert und es eine große Bandbreite an Opfern gibt.

Evangelikale Pastoren und Juju-Schwüre

werden. Für Mädchen und Frauen, die mit diesem Kult aufgewachsen sind und fest an seine Wirkung glauben, sind die Drohungen der Priester Realität. Und zwar in solchem Maße, dass Frauen, die den Schwur nicht erfüllen, tatsächlich glauben, verfolgt zu werden: Sie sehen Geister und hören Stimmen, die sie drangsalieren. Zudem sorgen Juju-Männer und Kriminelle aus den Reihen evangelikaler Kirchen mit brachialen Methoden dafür, dass ihre Drohungen auch ernst genommen werden. Wird ein Schwur nicht eingehalten, kommt der Fall vor den Obersten JujuGerichtshof: das Ayelala. Auch Joys Eltern wurden, als sie sich zunächst weigerte, mehr als die vereinbarten 40.000 Dollar zu zahlen, vor das Ayelala zitiert. Es hat schon viele »Todesfälle« nach solchen Besuchen gegeben. Die Familienan­ gehörigen in Nigeria sind also oft in Lebensgefahr und üben daher Druck auf die Mädchen und Frauen in Europa aus, durchzuhalten und die »Schulden« zu bezahlen. In Nigeria haben ein korrupter ­Polizeiapparat und eine unglaubwürdige Justiz zu einem verstärkten Glauben an den »sauberen« Obersten Ayelala-Gerichtshof geführt, ungeachtet der mafiösen Verbindungen zu MenschenhändlerInnen. Juju-Priester sind heutzutage nahezu unantastbar.

»Jede Frau denkt nur an das Geld. Keine einzige Frau würde das nur aus eigenem Spaß machen. Natürlich versucht sich jede vorzustellen, das ist nicht so schlimm, um das psychisch leichter durchzustehen.«

Eng mit Frauenhandel verstrickt sind nigerianische Juju-Priester (in Europa firmiert Juju unter ‚Voodoo‘) und Pastoren evangelikaler Kirchen. Ein Teil der Priester und Pastoren arbeitet eng mit den FrauenhändlerInnen zusammen und verdient damit Tausende von Euros für die Rituale. Fast alle Betroffenen aus Nigeria werden von den Handlangern der Madame, also der Zuhälterin, vor der Abreise zu einem der Das Netzwerk der Priester gebracht. Dort leisten sie Madames einen Schwur: Immer beinhaltet dieser, die HändlerInnen nicht zu t Im Menschenhandel gibt es Ehemalige Sexarbeiterin verraten. Die Frauen schwören bei keine klaren Befehlsstrukturen – es und Hausdame eines Bordells dem Ritual einen Eid darauf, die ist ein Netzwerk, das mit flachen in Saarbrücken Schulden, die für ihre Reise sowie Hierarchien arbeitet. Die meisten Madames waren zuvor Zwangsfür die gefälschten oder bei einer europäischen Botschaft illegal erprostituierte und steigen während worbenen Papiere angefallen sind, nach Ankunft im »goldenen oder nach ihrer Ausbeutung auf dem Strich selbst in den Job als Westen« abzuzahlen. Meist wird auch explizit die Summe genannt, Zuhälterin ein. Die Madames tauschen auch häufig Mädchen und die die Frauen abbezahlen müssen, und es wird ihnen das VerspreFrauen untereinander aus, verkaufen sie weiter oder übernehmen chen abgenommen, zwecks Schuldenbegleichung »jeder Art von – auf »Kommission« – Frauen von anderen Madames. Jede Madame unterhält ein eigenes Netzwerk an HelferInnen, die in Nigeria Arbeit« nachzugehen. Frauen und Mädchen rekrutieren. Die Madames spielen für die Das Ableisten des Schwures, der meist dadurch besiegelt wird, dass die Frauen intime körperliche Dinge wie etwa Schamhaare ausgebeuteten Mädchen und Frauen eine seltsame Doppelrolle: und Regelblut oder auch Fotos von sich dem Priester aushändigen, Sie sind Unterdrückerinnen und zugleich die einzigen Ansprechzwingt die Betroffene in ein psychisches Abhängigkeitsverhältnis partnerinnen. Sie drohen den Frauen und schlagen sie, bilden jedoch zum Priester, eine Abhängigkeit, die noch stärker wirkt als rohe auch die Kontaktstellen zu den Familien. Sie schreien sie an, sind Gewalt. Dieser Schwur ist das machtvollste Mittel, um die Mädchen aber auch die Einzigen, die sie trösten. und Frauen zu jeder Art von Arbeit zu zwingen: Sie sind überzeugt Joy hat es geschafft, nach Jahren der Zwangsarbeit in Deutschdavon, dass er bis nach Europa wirkt und dass die Juju-Männer land weder abgeschoben noch von ihren Peinigern umgebracht sofort davon erfahren, wenn eine Frau ihre »Reiseschulden« oder zu werden. Auch schlug sie eine potentielle Karriere als Zuhälterin das Geld für das gefälschte Visum nicht zahlt oder gar mit der aus. Mit viel Kraft, Glück und der Unterstützung durch eine HilfsPolizei spricht. Den Schwur zu brechen, bedeutet für die Betroffeorganisation gelang es ihr, in Deutschland bleiben zu können – trotz nen, den Tod oder eine schwere Krankheit für sich selbst oder der prekären Gesetzeslage für Opfer von Menschenhandel. Den Angehörige in Kauf zu nehmen. meisten Frauen, die von MenschenhändlerInnen durch ZwangsarBei den Ritualen kann es zu Vergewaltigungen der unter Drogen beit ausgebeutet werden, gelingt der Weg aus der Abhängigkeit gesetzten Frauen kommen, wofür Geister verantwortlich gemacht erst dann, wenn die »Schulden« getilgt sind. Dieser Moment wird tt

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Sexarbeit

»Wir haben mehr Macht als Hausfrauen. Der Unterschied ist, dass eine Hausfrau unterdrückt wird. Und wir werden nicht so unterdrückt. Was immer wir tun, wir fühlen uns sicher. Und wir verdienen Geld.« Kamlabai, Sexworkerin und Bordellbesitzerin aus Maharashtra, Indien

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jedoch von den ProfiteurInnen ihrer Abhängigkeit so lange wie nur möglich hinausgezögert – so auch in Joys Fall. Oft steigt der Betrag, der zurückgezahlt werden muss, ins Unermessliche, oder es wird immer mehr Geld für Miete und andere Ausgaben einbehalten. Doch irgendwann ist es so weit, die Mädchen sind frei. Viele Mädchen und Frauen steigen an diesem Punkt aber nicht aus dem Business aus, sondern arbeiten weiter. Ihre Familien zu Hause verlangen nach Geld, und sie selbst haben in Europa kaum andere Möglichkeiten: Die allermeisten sind Asylwerberinnen oder haben keine Papiere, verfügen nicht über die richtige Ausbildung und genügend Sprachkenntnisse, um an »normale« Jobs zu kommen. Nicht wenige wechseln in dieser Phase graduell von der Seite der Ausgebeuteten auf die Seite der Ausbeuterinnen: Sie werden selbst Madames, kaufen sich Mädchen und beuten sie aus. Die Mädchen und Frauen haben meist keine Sozialkontakte außerhalb einer Community, deren Alltag von Frauenhandel bestimmt ist. Sie kennen in Europa keine andere Welt, die Gesellschaft der Weißen erscheint ihnen nach den Jahren auf dem Strich wie feindliches Territorium. Am ehesten sind Jobs außerhalb der Prostitution noch von Landsleuten zu bekommen: Arbeit in Callshops, Restaurants oder afrikanischen Friseurläden.

Die Betroffenen müssen zunächst nur einfache Angaben bei der Polizei machen, mit denen nachgeprüft werden kann, ob sie von Menschenhandel betroffen sind. Das genügt, um sechs Monate Aufenthaltsrecht zu bekommen – und damit Zeit, sich zu erholen und über weitere Schritte nachzudenken. Leicht haben es ausstiegswillige Frauen trotzdem nicht, erzählt Simona Meriano von der Beratungsstelle TAMPEP Onplus in Turin: »Eines der großen Probleme ist der Druck der Familie, die ständig Geld verlangt. Dazu kommen die Drohungen der Frauenhändler gegen die Familien zu Hause – das gilt besonders für nigerianische Frauen. Wir haben zur Zeit nigerianische Frauen, die den Eingliederungsprozess durchlaufen, die ständig Krisen durchleben. Es ist auch nicht leicht, Arbeit zu finden: Nigerianerinnen leben mit dem Stigma, dass sie sicher Prostituierte waren. Viele kämpfen auch mit schweren psychologischen Problemen.« Italien stellt eine Ausnahme dar: In allen anderen europäischen Ländern sind Aufenthaltsgenehmigungen für Opfer von Menschenhandel an die Bedingung geknüpft, dass diese entscheidend zum Verfahren gegen MenschenhändlerInnen beitragen. Der Aufenthalt ist meist auf die Dauer des Verfahrens befristet, die Betroffenen erhalten keinerlei Zugang zum Arbeitsmarkt. Ein direkter Ausstieg aus der Abhängigkeit der Zwangsprostitution ist so kaum möglich: Viele der Mädchen und Frauen werden durch diese Umstände gezwungen, in der Illegalität weiter als Prostituierte zu arbeiten – nun eben auf eigene Rechnung. So nimmt Europa seine Verantwortung für die Opfer des Frauenhandels, der durch die europäische Gesetzeslage begünstigt wird, kaum wahr. Maßnahmen, die zumindest einigen Frauen dabei helfen könnten, sich aus dieser fatalen Situation zu befreien und damit weiteren Menschenhandel verhinderten, müssen einen umfassenden Opferschutz beinhalten, ohne dass die Opfer zur Aussage vor Gericht gezwungen sind. Des Weiteren braucht es Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen für Opfer von Menschenhandel, ohne Bedingungen und Befristung; es braucht eine Art der Bekämpfung von Frauenhandel, bei der die Opfer und nicht der Kampf gegen organisierte Kriminalität im Vordergrund stehen. Die Maßnahmen gegen Menschenhandel operieren oft im Rahmen von Nationalstaaten und zielen auf eine Kontrolle der Immigration. Sie beschränken sich primär auf Grenzkontrollen und die Abschiebung »illegaler« MigrantInnen. Dies ist de facto ein Krieg gegen Migration, der darauf abzielt, die ungerechten ökonomischen und sozialen Beziehungen zwischen dem globalen Norden und Süden zu erhalten. Restriktive Visa-Politik und FRONTEX-Aktivitäten haben nur noch mehr Frauen, Männer und Kinder in die Netze der MenschenhändlerInnen geführt. Die gegenwärtige Form des Krieges gegen Menschenhandel führt nicht zu einer Verbesserung der Menschen- und Frauenrechte, sondern schwächt deren Position im internationalen Grenzregime.

Die Gesetze müssen stimmen Die Begleitung der Aussteigerinnen durch soziale Organisationen ist unerlässlich, der Ausstieg sonst fast unmöglich. Doch auch dazu müssen die Gesetze stimmen: In Italien bekommen Opfer von Menschenhandel, zumindest theoretisch und laut Gesetz, Betreuung und später eine Arbeitsgenehmigung, wenn sie ihre Integrationsbereitschaft nachweisen – und zwar selbst dann, wenn sie gegen ihre HändlerInnen nicht aussagen wollen oder können. Dort ermöglicht Artikel 18 des Einwanderungsgesetzes, der leider zu selten Anwendung findet, echten Schutz für die Opfer: tt

tt Mary Kreutzer lebt in Wien und leitet die Abteilung Missing Link der Caritas. Sie ist Co-Autorin des Buches »Ware Frau – auf den Spuren moderner Sklaverei von Afrika nach Europa« (mit Corinna Milborn, Salzburg 2008). Der Artikel beruht auf einem Beitrag für den Sammelband »Looming Shadows – Migration and Integration in a Time of Upheaval« (hg. von Vedran Dzihic /Thomas Schmidinger, Washington D.C. 2011). Übersetzung aus dem ­Englischen: Lars Dietrich und Timo Schmitt. Eine längere Fassung dieses Artikels steht auf www.iz3w.org

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Rezensionen ... Kolonialschuld und Intrigen Mit seinem dritten Namibia-Krimi greift Bernhard Jaumann erneut ein Thema auf, das historische mit aktuellen Ereignissen verbindet. Als erster Autor verarbeitet er literarisch die Ereignisse rund um die Rückgabe von menschlichen Schädeln, die während der Kolonialzeit geraubt und Ende 2011 von der Berliner CharitéUniversitätsmedizin nach Namibia zurück gegeben wurden. Seine Story beginnt originell: Ein Herero plündert aus Rache das Grab des ‘Rasseforschers’ Eugen Fischer auf dem Freiburger Hauptfriedhof, um dessen Schädel nach Namibia zu bringen. Derweil wartet die offizielle namibische Delegation in Berlin auf die Rückgabezeremonie. In Windhoek werden die Frau des deutschen Botschafters und ein Herero-Kind entführt, das sie adoptieren will. Der Botschafter wird erpresst, beim bevorstehenden Empfang der Schädel in Namibia offiziell um Entschuldigung für den von Deutschen begangenen Genozid an den Herero 1904-07 zu bitten und Reparationen zu versprechen. Nicht nur ProtagonistInnen der ersten Jaumann-Krimis – die Ermittlerin Clemencia Garises und der namibisch-deutsche Journalist Claus Tiedtke – tauchen auf, die Geschichte wird auch aus einer Reihe weiterer Perspektiven erzählt. Den unseligen Umgang mit Kolonialverbrechen seitens der deutschen Diplomatie, aber auch komplexe innernamibische Konstellationen und politische Intrigen verdichtet Jaumann durchaus spannend. Das kulminiert in einem atemberaubenden Grande Finale, das einige scheinbare Gewissheiten der Story wieder umkrempelt. Allerdings verbleibt ein widersprüchlicher Eindruck. Zum einen leben Jaumanns Krimis von seiner Lokalkenntnis, da er sechs Jahre in Namibia gelebt hat. Dennoch wird beispielsweise ein zentraler realer Schauplatz plötzlich von Robert-Mugabe-Avenue in die tt

Alles für alle Es ist der wohl am weitesten verbreitete Slogan der Entwicklungshilfe: »Wer einem Mann einen Fisch schenkt, gibt ihm für einen Tag zu essen. Wer ihn das Fischen lehrt, gibt ihm ein Leben lang zu essen.« Dahinter steht eine bestimmte Auffassung von Entwicklung als Transformationsprozess, der statt Almosen und Abhängigkeit produktive Fertigkeiten und ein bestimmtes Arbeitsethos betont. Ungezählte Programme der internationalen Entwicklungsindustrie zeugen von dem Bestreben, Menschen in den Empfängerländern in Arbeit zu bringen und zu produktiven, unabhängigen Individuen zu machen. Das gilt umso mehr im Zeitalter des Neoliberalismus, das durch den Rückzug des Staates und die Privatisierung ehemals staatlicher Aufgaben charakterisiert sei – so die allgemeine Überzeugung sowohl von VerfechterInnen als auch den meisten KritikerInnen der Entwicklungshilfe. tt

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(ungleich sympathischere) Nelson-Mandela-Avenue umbenannt, die in Wirklichkeit andernorts verläuft. Das ist, als würde in Berlin auf einmal »Unter den Linden« auf dem Ku’damm platziert. Gravierender ist die Frage, wie die LeserInnen die massive dichterische Zuspitzung nicht nur der Krimi-, sondern auch der realen Rahmenhandlung verarbeiten sollen. Die Rückgabezeremonie an der Charité, die real vor allem wegen der Haltung der Bundesregierung und der Rede der Staatssekretärin Pieper ein Skandal war, endet hier aufgrund der namibischen Seite in einem totalen Fiasko mit Massenpanik. Nun verlässt nicht mehr Pieper grußlos den Saal, weil sie sich nicht der Kritik von NGOs stellen wollte, sondern sie muss polizeilich in Sicherheit gebracht werden. Dies könnte man als künstlerische Dramatisierung abtun, wenn der Roman nicht sonst an vielen Stellen um historisch-politische Klarstellungen bemüht wäre. Jaumann laviert also zwischen Aufklärungsroman und Thriller, eine klarere Trennung zwischen Facts und Fiction wäre deshalb wünschenswert gewesen. Auch bleibt die Frage, was für ein Bild die Figur des militanten Herero transportiert, der eine Blutspur durch Berlin zieht. Alles in allem handelt es sich um ein originelles und spannendes Buch, das unbeabsichtigt aber auch nicht ganz unproblematisch ist. Heiko Wegmann Bernhard Jaumann: Der lange Schatten. Verlag Kindler / Rowohlt, Reinbek 2015. 320 Seiten, 19,95 Euro.

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Der US-amerikanische Anthropologe James Ferguson hingegen macht in seiner jüngsten Publikation Give a Man a Fish im südlichen Afrika und in einigen lateinamerikanischen Ländern wie Brasilien oder Mexiko einen Gegentrend aus: Die Schaffung und Verbreitung von weit reichenden Programmen zur öffentlichen Wohlfahrt, in deren Rahmen kleine Geldbeträge direkt und meist ohne Gegenleistung an eine große Zahl von einkommensschwachen BürgerInnen transferiert werden. Ferguson beschreibt zunächst vor allem die Sozialprogramme in Südafrika und Namibia. In Südafrika zum Beispiel beziehen 44 Prozent der Haushalte finanzielle Beihilfen für die Kinderbetreuung, als Pension oder als Ausgleich für Erwerbsunfähigkeit. Diese direkten Transfers seien extrem erfolgreich bei der Armutsreduzierung gewesen. Einer Studie von Statistics South Africa zufolge fiel der Anteil der Hungernden zwischen 2002 und 2012 von 29,3 Prozent auf 12,6 Prozent. Auch in Namibia, wo eine Pilotstudie zum bedingungslosen Grundeinkommen durchgeführt wurde, sind die Ergebnisse meist positiv.

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Zu Hause ist da, wo der Schmerz sitzt Mitten im Herzen Kairos liegt die Mohammed-Mahmoud-­Straße, die direkt zum Tahrir-Platz führt. Sie ist bis heute ein Symbol der Revolution von 2011, deren Verlauf anhand der zahlreichen Graffiti abzulesen ist. So auch die Geschehnisse vom November 2011, den bis dahin blutigsten Tagen nach dem Sturz Husni Mubaraks. Als sich die Polizeigewalt gegen die Protestierenden richtete, die den Militärrat kritisierten, befand sich unter den zahlreichen Verletzten auch die ägyptisch-amerikanische Journalistin Mona Eltahawy. Sie wurde sexuell belästigt und erlitt mehrere Knochenbrüche. In ihrem viel diskutierten Artikel »Why do they hate us«, der in der Zeitschrift Foreign Policy erschien, nahm sie auf jene Tage der körperlichen und seelischen Verletzung Bezug. Eltahawy klagte darin nicht nur die politischen Zustände in Ägypten, sondern die patriarchalen Strukturen der ganzen Region an. Indem sie forderte, dass die arabischen Revolutionen nicht vor den Haustüren haltmachen dürften, hauchte sie der Floskel vom Privaten und dem Politischen neues Leben ein. Jene Zeilen stellen zugleich den Beginn ihres nun erschienenen Buches dar, in dem sie ihre Überlegungen weiterführt. Eine tief greifende Gesellschaftsanalyse beabsichtigt Eltahawy nicht. Jedoch hat sie eine brandaktuelle Bestandsaufnahme der Lebensrealitäten von Frauen Nordafrikas und des Nahen Ostens verfasst, die noch viel schlimmer seien als angenommen. Dies belegt sie mit Zahlen und Fakten aus Studien internationaler sowie zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sie hierfür zusammengetragen hat. Den LeserInnen bleibt dabei nichts erspart: Von Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung Minderjähriger bis hin zu häuslicher Gewalt werden hier alle unbequemen Themen angesprochen, die in der Reduktion der Frauen auf Kopftücher und Jungfernhäutchen verschwiegen würden. Aus der Beschreibung ökonomischer, politischer, religiöser und kultureller Unterdrückungsmechanismen leitet sie konkrete Maß-

nahmen ab, um das Bestehende radikal zu verändern. Dabei verweist sie auf viele Einzelstimmen und nicht zuletzt auf ihre eigene Geschichte: Warum hasst ihr uns so?, dient somit zugleich als Eltahawys Manifest und Offenbarung einer langen Reise zu sich selbst, deren Stationen von Scham und Zweifel geprägt sind. Dass sie ausgerechnet in Saudi Arabien – dem Land also, dessen Geschlechterverhältnisse sie als »Gender Apartheid« beschreibt – durch die Werke Fatima Mernissis, Laila Ahmeds und bell hooks zum Feminismus fand, wirkt dabei wie eine Ironie der Geschichte. Eltahawy ist bewusst, dass sie durch die von ihr aufgezeigten Zustände jenen westlichen RassistInnen in die Hände spielen könnte, die nur auf eine anklagende regionale Stimme warten, um vor allem den Islam in ein schlechtes Licht zu rücken. Jedoch würde politische Korrektheit und der Verweis auf »kulturelle Unterschiede« oft die tatsächliche Situation verklären und zum Messen mit zweierlei Maß führen, wie es sich in der internationalen Politik widerspiegele. Internationaler Druck sei hilfreich, aber vor allem seien die ganz alltäglichen Geschlechterkämpfe von Frauen (und nicht zuletzt Männern) aus der Region notwendig, um nun auch die private Revolution voran zu treiben. Eltahawy richtet sich aber auch an jene LeserInnen, die wie sie selbst als Wanderin zwischen den scheinbar getrennten Welten von Ost und West eben jene Dichotomie aufzubrechen versuchen. Dabei lässt sie auf mitreißende Weise ihre private zur globalen Revolution gegen Misogynie werden. Anna-Theresa Bachmann

Doch Ferguson belässt es nicht bei diesen Befunden, die den gängigen Klischees über den Siegeszug des Neoliberalismus und das Ende des Wohlfahrtsstaates zuwider laufen. Er will auch erkunden, welche Folgen diese neue distributive Praxis für progressive Wissenschaften und Politiken haben könnte. Dabei stellt der Autor auch einige Dogmen des Marxismus auf den Prüfstand. Welchen Wert hat zum Beispiel der Begriff »Lumpenproletariat« heute, da immer weniger Menschen für den Produktionsprozess gebraucht werden und an Vollbeschäftigung nicht mehr zu denken ist? Auch der linken Rede von der Multitude und dem Prekariat steht Ferguson skeptisch gegenüber. Statt – wie Marx – vor allem auf die Ebene der Produktionsverhältnisse zu fokussieren, hält es Ferguson mit dem Anarchokommunisten Peter Kropotkin und den VertreterInnen des afrikanischen Sozialismus, für die der Kampf für Verteilungsgerechtigkeit im Mittelpunkt der sozialen Auseinandersetzungen steht. Die Wiederkehr des Sozialstaates in Brasilien, Südafrika und Namibia, so Ferguson, eröffne die Möglichkeit für eine neue politische Praxis, in der die Lohnarbeit nicht länger als Regelfall angesehen wird, son-

dern allen BürgerInnen ein Teil des nationalen Reichtums zusteht: »The people shall share in the country’s wealth!« heißt es doch in der Freedom Charta Südafrikas. Fergusons Buch ist eine breite Rezeption und Diskussion in der entwicklungspolitischen Szene und darüber hinaus zu wünschen. Es provoziert mehr Fragen, als es Antworten geben kann. Leicht kann man sich ausmalen, dass die Zahlung eines Grundeinkommens an StaatsbürgerInnen rassistisch und nationalistisch gefärbte Verteilungskämpfe nach sich ziehen könnte. Unklar bleibt auch, wie es in Ländern organisiert werden könnte, die nicht über eine relativ intakte Bürokratie wie Südafrika oder Brasilien verfügen. »Give a Man a Fish« bietet keine fertigen Lösungen, inspiriert aber Debatten über eine moderne progressive Politik in Zeiten, da die Lohnarbeit in vielen Ländern eher die Ausnahme als die Regel ist.

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Mona Eltahawy: Warum hasst ihr uns so? Für die sexuelle Revo­lution der Frauen in der islamischen Welt. Piper, München 2015. 208 Seiten, 16,99 Euro. tt

Ruben Eberlein James Ferguson: Give a Man a Fish. Reflections on the New Politics of Distribution. Duke University Press, Durham & London 2015. 264 Seiten, ca. 25 Euro.

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ISSN 1614-0095

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