iz3w Magazin # 352

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Here We Are – Refugees & Selbstermächtigung

iz3w t informationszentrum 3. welt

Außerdem t Krieg in Syrien t Kubas afrikanisches Erbe t Die Türkei nach Gezi

Jan./Feb. 2016 Ausgabe q 352 Einzelheft 6 5,30 Abo 6 31,80


In dies er Aus gabe

Foto: F. Büttner

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Schwerpunkt: Refugees 18 Editorial

3 Editorial

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Politik und Ökonomie 21 4

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Südsudan: »Kein herkömmliches autoritäres System«

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»Wir werden als radikal abgestempelt« Interview mit Rex Osa über die Selbstorganisierung von Refugees

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»Die Flüchtlingsbewegung ist keine One-Way-Story« Interview mit dem Radiomacher Larry M. Macaulay

Russland: Bye-bye, Völkerfreundschaft 30

Die Südost-Refugees Flüchtende Roma werden überall diskriminiert von der Recherchegruppe Mazedonien

Bangladesch: Rechte auf dem Papier In der Textilindustrie herrschen noch immer verheerende Zustände von Christa Wichterich

Mehr Politik, weniger Polizei! Kritische Überlegungen zur »Willkommenskultur« von David Niebauer und Till Schmidt

Burkina Faso: Ende eines Staatsstreichs

Afrikanische Studierende im postsowjetischen Russland von Svetlana Boltovskaja

Volle Teilhabe Was kann Flüchtlingssolidarität heute sein? von Johanna Wintermantel

Syrien: Zuschauen ist keine Option

Widerstand stoppt die Putschisten von Bettina Engels

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Warum Syrien zum Schlachtfeld eines Regionalkonfliktes wurde von Thomas Schmidinger Interview mit dem Friedensforscher Alex de Waal

»Das Wort den Geflüchteten« Interview mit dem Aktivisten Emmanuel Mbolela

Türkei: »Wir erleben ein Klima des Hasses« Interview mit Ezgi Kırıs¸ und Can Büyükbay über die polarisierte Türkei

Gegen das Primat der Kontrolle Über die Autonomie der Migration von Vassilis S. Tsianos

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Für gemeinsame öffentliche Räume Graswurzelbewegung in der Flüchtlingshilfe von Maddalena Tacchetti, Mirjam A. Twigt, Ambrose Musiyiwa und Sandra Kaulfuss

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»Zusammen haben wir Potenzial« In den Niederlanden organisieren sich Geflüchtete bei »We Are Here« von Tobias Müller

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Jugendliche ohne Grenzen »Wir wollten keine Opfer sein«

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von Lena Danner

Frauen auf der Flucht – und in deutschen Lagern von Katrin Dietrich

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Project Shelter »Wir brauchen eine langfristige Lösung« von Anna-Theresa Bachmann

Kultur und Debatte 39

LGTB: »Wir sind offen schwul« Interview mit dem ugandischen Aktivisten Frank Mugisha

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Fotografie: Der O-Platz und die Fotografie

46 Rezensionen

Refugees auf der Biennale von Felix Koltermann

50 Szene / Tagungen

Literatur: »Als wäre alles rückwärts gegangen« Die Romane »Der Cimarrón« und »Ich, Reyita« erinnern an die (afro-)kubanische Geschichte von Ute Evers

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Impressum

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Entgrenzte Vernichtungswut Im Mai 2015 sprengte sich der 23-jährige Yannick N. im irakischen Baidschi in einem mit Sprengstoff beladenen LKW in die Luft. Dutzende Menschen starben mit ihm. Yannick N. führte den Anschlag im Rahmen der dschihadistischen Kriegsstrategie des Islamischen Staates (IS) aus. Bis Mitte 2014 hatte er in Freiburg gelebt. Wegen seiner Entwicklungsstörung und weil er obdachlos war, benötigte er die Unterstützung der Freiburger Straßenschule. Im Frühsommer 2014 beobachteten SozialarbeiterInnen, dass Yannick N. sich in kürzester Zeit radikalisierte und einer islamistischen Gruppe zuwandte. Seine Bekannten gehen davon aus, dass er gezielt von Angehörigen des IS angewor­ ben wurde – in einer für ihn schwierigen Zeit, in der er verzweifelt nach Anerkennung und Gemeinschaft suchte. Yannick N. reiste in den Irak, wo er dem Journalisten Alfred Hackensperger als »ängstlich« und »unsicher« auffiel. Der IS steckte Yannick N. dann in ein syrisches Trainingslager, wo er als Selbstmordattentäter ausgebildet wurde. »Es sind oft eher die Schwächlichen, die dafür eingesetzt werden. Nicht die Starken, Agilen, die auf dem Schlachtfeld zu gebrauchen sind«, beschreibt Hackensperger das Kalkül des IS.

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ie tragische Geschichte des Yannick N. ist eines von hunderten Beispielen für die fortschreitende Entgrenzung des Dschihadismus, sowohl territorial als auch bei den Formen der Gewaltanwendung. Selbstmordattentate werden vom IS und von anderen Dschihadisten wie etwa Boko Haram in Nigeria nicht mehr nur punktuell begangen, sondern massenhaft. Nicht mal vor der Perfidie, zwangsrekrutierte Kinder zu missbrauchen, schrecken Dschihadisten zurück. Man möchte sich lieber nicht ausmalen, was geschieht, wenn es diesen Vernichtungswütigen gelingt, weiter militärisch aufzurüsten. Obwohl in jüngerer Zeit wöchentlich Massaker und Attentate begangen werden (und Paris war nur das am meisten Aufsehen erregende unter ihnen), herrscht in der europäischen Linken auffälliges Schweigen über die ­Gefahren des Dschihadismus. Bleiben wir bei Freiburg: Obwohl hier eine linke Szene vielerlei Aktivitäten entfaltet und beispielsweise wachsamer Antifaschismus Common Sense ist, gab es anlässlich des Selbstmordattentates von Yannick N. kein einziges Flugblatt, keine Veranstaltung und keine Demo gegen den IS. Auch nicht seitens des iz3w, wie wir selbstkritisch feststellen müssen.

Die Frage, welche Strategien zur Bekämpfung des Dschihadismus angemessen sind, wird kaum diskutiert. Für die meisten europäischen Linken ist der Hauptfeind aus alter Gewohnheit der Westen. Man lehnt Luftangriffe und Tornadoeinsätze ab, positioniert sich gegen Rechte wie Front National, PEGIDA oder CSU, die das Massaker von Paris für ihre rassistische Agenda instrumentalisieren, verweist auf die Schuld des Westens bei der neokolonialen Unterdrückung muslimischer Länder und verteidigt den Islam als eigentlich friedliebende Religion. Für all das gibt es gute Gründe (aber auch schlechte). Die Kritik kann sich aber nicht auf den Westen beschränken. Gerade wer militärische Scheinlösungen ablehnt, muss sich Gedanken über andere Strategien machen. Vorschläge dazu stehen im Raum. Als erstes zu nennen ist die vollständige Ächtung von Selbstmordattentaten und von allen Versuchen ihrer Rechtfertigung, wie sie vom Publizisten Matthias Küntzel vorgeschlagen wurde. Auch der in islamistischen Kreisen verbreitete Märtyrerkult und die Todesverherrlichung müssen auf allen Ebenen scharf kri­tisiert werden. Was selbstverständlich klingt, ist es bei näherem Hinsehen auf arabischsprachige Medien nicht. Eine zweite Strategie ist die klare Positionierung gegen den Islamismus selbst. Seine mörderische Ideologie erschließt sich nicht aus den Ideologien und Handlungen anderer, sie ist aus sich heraus zum Faszinosum für Millionen Menschen geworden. Auch aus diesem Grunde ist das verbreitete antiwestliche Ressentiment abzulehnen. Es ist ja richtig, dass westliche Nahostpolitik grobe Fehler begangen hat und ihre Freiheitsversprechen leere Floskeln sind. Doch zwischen Kritik am Westen und antiwestlichem Ressentiment (das sich verdächtig oft auch antisemitisch äußert) liegt ein Unterschied ums Ganze. Dschihadistischer Terror ist selbst durch die schlimmste westliche Kriegshandlung nicht zu rechtfertigen, und alle Versuche, hierbei zu relativieren, sind Wasser auf die Mühlen der Ideologen. Die dritte Strategie ist Druck auf westliche Regierungen, endlich den Sponsoren und Unterstützern des Dschihadis­ mus in die Hand zu fallen – und zwar Verbündeten wie Saudi Arabien, Katar und der Türkei ebenso wie dem Iran. Für die Aufkündigung der Kollaboration mit diesen Regimes zu demonstrieren stünde uns Linken gut an, findet

P.S.: Wie entgrenzt die Gewalt von Boko Haram in Nigeria ist und warum sie besonders Frauen betrifft, schildert die Anwältin Maranatha Duru in einem Radiointerview. Zu hören ist es unter www.iz3w.org/projekte/suednordfunk/dezember-2015 P.P.S.: Wir bitten um freundliche Beachtung der beigelegten Spendenpostkarte. Und wer noch ein Geschenk sucht, kann mit dieser Postkarte ein Geschenkabo einrichten. Damit die guten Argumente nicht ausgehen.

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die redaktion

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Das interkulturelle Ensemble Kardes Türküler

Foto: M. Grabowska

»Wir erleben ein Klima des Hasses« Interview mit Ezgi Kırıs¸ und Can Büyükbay über die polarisierte Türkei Ezgi Kırış: Jeder hatte eine andere Erwartung an Gezi. Ich ­ ersönlich habe nie ein kurzfristiges Ergebnis wie den Sturz der p Regierung erwartet, das wäre nicht realistisch gewesen. Die teilnehmenden Personen waren separiert. Verbunden hat sie die Tatsache, dass alle dagegen waren: gegen die Unterdrückung durch die Regierung. Die Bedeutung der Bewegung lag in der Mobilisierung von Millionen Menschen, ihren Erfahrungen und ihrer gegenseitigen Politisierung. Nach Gezi blieben viele Menschen eine Weile aktiv. Aber die Menschen haben mit der stetig zunehmenden Polizeigewalt mehr und mehr Angst bekommen.

Im Sommer 2013 weitete sich der Protest zur Erhaltung des Gezi-Parks zu landesweiten Demonstrationen gegen die autoritäre Regierungsweise des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdog˘ an aus (siehe iz3w 342). Die Gezi-Bewegung wurde als Beginn eines »türkischen Frühlings« bezeichnet. Heute ist die Stimmung in der Türkei vom wachsenden Autoritarismus der wiedergewählten AKP-Regierung und von ­Terroranschlägen bestimmt. Was ist vom Geist der Protest­ bewegung geblieben?

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Claudia Carolin Münch: Was waren die Ziele und Hoffnungen der Gezi-Bewegung? tt Can Büyükbay: Die Gezi-Bewegung reflektierte den Widerstand gegen die extreme urbane Entwicklung der letzten zehn Jahre. Mit der Bewegung wurde das ökologische Bewusstsein mit der Kritik am Kapitalismus sowie dem autoritären Regierungssystem verflochten. Solche soziale Bewegungen können nicht ewig weiterlaufen, aber sie tragen zu langsamen Veränderungen in Gesellschaften bei. Die Gezi-Bewegung setzte auf jeden Fall eine neue soziale Dynamik in Gang, die die etablierte autoritäre politische Norm herausfordert. Aber gesellschaftliche Veränderungen sind langfristige Prozesse. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Folgen sofort eintreten.

Spielen die Proteste noch eine Rolle in der polarisierten Türkei von heute? tt Ezgi: Es finden weiterhin Proteste statt, aber die Dimensionen sind nicht vergleichbar mit damals. Das liegt zum einen an der erhöhten Polizeigewalt, da die Leute Angst um ihr Leben haben und sehen, dass Übergriffe ungestraft bleiben. Zum anderen liegt es daran, dass viele ihren Glauben an die Möglichkeit von Veränderungen verloren haben. Aber trotzdem glaube ich, dass die Jugend immer noch politisch ist und eine wichtige Rolle spielt. tt Can: Die Bewegung ist nicht in eine politische Macht übergegangen. Allerdings sollte die Bedeutung dieser transformativen Kraft junger, aktiver Menschen in einer Demokratie nicht unter-

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Tü r k e i

schätzt werden. Diese jungen Menschen verbindet nun ihre kollektive Erinnerung. Die Gezi-Bewegung offenbarte uns das Potenzial des öffentlichen Raumes – als Weg, um Demokratie im Alltag zu fördern und zu leben. Der öffentliche Raum zeigte sich als eine lebendige Sphäre der Demokratie, die offen für alle und weder der Staatsgewalt noch kapitalistischen Projekten untergeordnet sein sollte. Viele junge Leute erkannten, dass Demokratie weit über Wahlen hinausgeht und dass der Wunsch nach Bürgerbeteiligung enorm groß ist.

­ ruppe demonstriert und die Bewegung konnte somit eine­ G Menge Unterstützung gewinnen. Die Gruppe war nicht so einfach als rechtswidrig, wütend oder gefährlich einzuordnen. Doch letzten Endes ist eine politische Bewegung unerlässlich, um die Stimmen der Straße ins Parlament zu holen. Hierfür waren jedoch mitunter die politischen Ideologien und Zugehörigkeiten der Demonstrant­Innen zu unterschiedlich. tt Can: Durch soziale Bewegungen entsteht ein wichtiges Gemeinschaftsgefühl, welches existenzielle Sorgen mindert. Darüber hinaus hat die Kreativität des Widerstandes internationale Aufmerksamkeit und Sympathie auf sich gezogen. Dadurch hat die türkische Regierung in den Augen der mächtigen Länder an Legitimität verloren. Das wird bald Auswirkungen auf die türkische Politik haben.

Neben dem Terroranschlag in Ankara am 10. Oktober häufen sich Inhaftierungen und gewaltsame Übergriffe auf Oppositionelle und regierungskritische JournalistInnen. Ein Klima der Angst wird geschürt. Was passiert derzeit »Viele tragen die Empathie, in der Türkei? tt Ezgi: Die Wahlen am 7. Juni 2015 sind Inwiefern macht sich die Haltung der Regierung im die durch Gezi entstand, Alltag bemerkbar? ein Meilenstein für die Türkei gewesen. weiter mit sich« Viele Menschen waren der Meinung, dass tt Can: Die Entscheidungen der Regierung haben dies eine Auswirkung des Gezi-Prozesses tiefe Auswirkungen auf unser alltägliches Leben. war. Die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) verlor zum Zunächst einmal ist die Gesellschaft stark gespalten und wir erleben ersten Mal in 13 Jahren eine Wahl. Die linke prokurdische HDP ein Klima des Hasses. Ein jüngstes Beispiel zur derzeitigen Lage in (Demokratische Partei der Völker) überwand die Zehn-Prozentder Türkei ereignete sich bei einem Freundschaftsspiel der FußballHürde und schaffte den Einzug ins Parlament. Nach den Wahlen nationalmannschaft mit Griechenland. Während einer Schweigeminute für die Opfer der Pariser Anschläge skandierten einige Fans gab es eine chaotische Phase. Die Spannung stieg bis zu den Anschlägen in Ankara immer weiter an. Die AKP suggerierte: »Ihr habt »Allahu Akbar« (Gott ist groß), pfiffen und riefen Parolen zugunsten uns nicht gewählt, deswegen ist das Land jetzt im Chaos«. Daher von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und brachen so die Schweigeminute im Istanbuler Başakşehir Stadion. Dasselbe ereignete und durch das Versprechen von Stabilität entschied sich eine große Zahl von Menschen bei den Neuwahlen am 1. November sich zuvor bei einem EM-Qualifikationsspiel in der türkischen Stadt wieder dafür, das alte Regierungssystem zu wählen. Die ZusamKonya. Was ein ergreifender Moment der nationalen Einheit sein sollte, verwandelte sich in eine Momentaufnahme der schmerzlichen mensetzung des Parlaments ist zwar weiterhin gemischt, doch die Spaltungen der Türkei. AKP kam gestärkt an die Macht. In der Gesellschaft ohne Medienund Meinungsfreiheit, in der wir leben, ist es nicht einfach, alte Was erhoffen Sie sich für die weitere Entwicklung der Türkei? Ansichten zu ändern und etwas Neues aufzubauen. Aber es gibt tt Ezgi: Viele Menschen, mich eingeschlossen, waren enttäuscht nach wie vor viele Menschen, die dies versuchen. von den Wahlergebnissen. Wenn in einem Land Chaos herrscht, Menschen unterschiedlichster Herkunft oder Konfession wurden durch verschiebt sich die öffentliche Wahrnehmung von Problemen. Dies die Gezi-Proteste zusammengeführt. Besteht die Verbundenheit und war in der Türkei der Fall und die vergangenen Monate waren für Toleranz weiterhin und lebt der »Spirit von Gezi« noch? uns alle sehr beängstigend. Uns wurde gezeigt, dass es noch ein tt Can: Die AKP fördert die Polarisierung und zerstört die Toleranz langer Weg ist, bis Frieden herrscht und ein Dialog zwischen den zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Gegen diese verschiedenen AkteurInnen stattfindet. Einen Weg nach vorne sehe Tendenz braucht es eine starke politische Bewegung. Der Spirit von ich in Graswurzelorganisationen, die mehr auf kleine und lokale Gezi stellt eine potenzielle Energie dar, die sich wieder in eine akProjekte statt auf die große Politik fokussieren. tivere gesellschaftliche Energie umwandeln kann. tt Can: Die aktuelle Situation bedrückt die meisten BürgerInnen. tt Ezgi: Es ist nicht mehr dasselbe. Aber wir sehen, dass viele Ich wünsche mir eine friedliche Atmosphäre, in der sich die Menjunge Menschen politisiert wurden. Verschiedene Gruppen versuschen frei entfalten können und ihre kreative Seite anstatt ihrer destruktiven Seite nutzen. Die türkische Gesellschaft wird eine chen, integrative Projekte aufzuziehen. Viele tragen die Empathie, positive Veränderung erleben, sobald sie erkennt, dass Gewalt und die durch Gezi entstand, weiter mit sich. Dies ist aber leider nicht Hass schaden und dass Dialog unvermeidlich ist für die Lösung der für die gesamte Gesellschaft der Fall. Wir sind mit einer enormen Stimmungsmache aufgewachsen, vor allem unseren kurdischen Probleme und für ein glücklicheres und sinnvolleres Leben. Somit MitbürgerInnen gegenüber. Dies, gepaart mit dem extremen gibt es keinen Grund, hoffnungslos zu sein. Mangel an Objektivität der Medien, beeinflusst die Meinung der Leute erheblich. tt Ezgi Kırı ş ist Umweltberaterin und Can Büyükbay ist PolitikDie Gezi-Proteste zeichneten sich durch ihre enorme Kreativität aus. wissenschaftler in Istanbul. Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen des »kreativen Widerstandes«? Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Claudia Carolin Münch. tt Ezgi: Eine der stärksten Seiten von Gezi war der Humor in den Sie ist Filmemacherin und drehte eine Doku über die Gezi-Proteste: Aktionen und Slogans. Dadurch wurde die Friedfertigkeit der »Tanzende Revolte am Bosporus«. iz3w • Januar / Februar 2016 q 352

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iz3w-Backlist 351: Sexarbeit 350: Anti-Rassismus im Süden 349: Leidbranche Logistik 348: Gesellschaftskritik im Spielfilm 347: Folter im 21. Jahrhundert 346: Ausbeutung der Meere 345: Barrieren & Behinderungen 344: Geschäfte mit Uran 343: Fotografie & Macht 342: Protest in der Türkei 341: Asyl & Politik 340: Eigentor Brasilien 339: Faschimus international 338: Fairer Handel 337: Arabische Frauenbewegungen 336: Armut 335: Wissenschaft global 334: Antiziganismus 333: Krise & Kapitalismus 332: Stadt für alle 331: Restitution geraubter Gebeine 330: Arabischer Frühling 2.0 329: Globales Lernen

328: Drogen

327: Grüner Kapitalismus 326: LGBTI gegen Homophobie 325: Chinas roter Kapitalismus 324: Revolte in der arabischen Welt 323: Islamdebatte 322: Verteilungskämpfe 321: FrauenKörper 320: Was bewegt Zentralamerika? 319: Afrika postkolonial 318: Alte und neue Grenzregimes 317: US-Außenpolitik 316: Südafrika abseits der WM 315: Digitale Welten 314: Zentralasien post-sowjetisch 313: Gender & Krieg 312: Nazi-Kollaboration 311: Iran 310: Politik des Hungers 309: Arbeit macht das Leben schwer 308: Literatur in der Türkei 307: 60 Jahre Menschenrechte 306: Panafrikanismus oder Nationalstaat Einzelheft: € 5,30 Heft 322 bis 333: € 4,– / ältere Hefte: € 3,–

Direkt bestellen beim informationszentrum 3. welt: Telefon 0761 - 74003 · info@iz3w.org · www.iz3w.org


Here We Are! Refugees welcome! Mit diesen Worten setzte die flüchtlingssolidarische Bewegung ein Zeichen gegen das Ausgrenzungssystem, mit dem Geflüchtete auf dem Weg nach Europa konfrontiert sind. Selbst wenn sie das feinmaschige Kontrollsystem überwunden haben, bekommen sie in Erstaufnahmelagern, in Asylheimen oder in der Klandestinität vermittelt, nicht erwünscht zu sein. Refugees welcome: Die UrheberInnen dieser Geste der Solidarität wollten der Schaffung einer gespaltenen Gesellschaft etwas Grenzüberschreitendes entgegenhalten. Inzwischen ist das Refugees-welcome-Emblem überall auf Stickern, Rucksäcken und T-Shirts zu sehen; selbst die BILD-Zeitung kaperte es. Der politische Impuls der Bewegung geriet im Sommer 2015 gegenüber der »Willkommenskultur« ins Hintertreffen. Familien, die ihre Spiele- und Altkleidersammlung am Tor der Erstaufnahmestellen für Flüchtlinge abgeben, die vielen Freiwilligen, die mit bemerkenswertem Engagement Kinderfreizeiten, Sprachunterricht und Stillräume für Frauen eröffnen, die ÖkonomIn­ nen, die Prognosen über die wirtschaftlichen Vorteile der Integration von Flüchtlingen in die deutsche Wirtschaft errechnen: Sie alle können mit der Geste des »Refugees welcome« ihre jeweils eigenen Vorstellungen über die Zukunft der Geflüchteten verbinden. Angemessenes Essen, ein warmer Schlafplatz, Hygiene­ artikel und medizinische Notversorgung, kindgerechte Angebote sowie eine möglichst schnelle Klärung des Asylstatus: Dies sind die Dienstleistungen, die der gastfreundliche Teil der Gesellschaft für die Geflüchteten realisiert haben will. Auf dieser Liste, die sich wie das Einmaleins der karitativen Flüchtlingshilfe liest, ist das Recht der Geflüchteten auf freie Meinungsäußerung und Bewegungsfreiheit nicht zu finden. In der Unvollständigkeit der Forderungen zeigt sich die Illusion eines menschenwürdigen Daseins im Ausnahmezustand.

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er spürbare Impuls der Unterstützung für die Geflüchteten lässt aber auch hoffen. Viele Angebote wenden sich nicht nur empathisch an Flüchtlinge. Sie wollen zugleich gegen den gewaltbereiten Mob ein Zeichen setzen, gegen den von Feindbildern bestimmten Rassismus, gegen nationalistische Tendenzen, die mit Übergriffen auf MigrantInnen und mit dem Anzünden von Wohnheimen einher gehen. Doch die aus einer GastgeberInnen-Posi­tion gewährte Hilfe für Flüchtlinge beängstigt auch. Viele, die gut gemeint ihre Privilegien einsetzen, um zu helfen, wirken mit beim Einhegen und Verwalten von Menschen. Wenn staatliche Versäumnisse durch ehrenamtliche Tätigkeit aufgefangen werden und wenn an die Stelle einer

gesamtgesellschaftlich vereinbarten Verantwortung ­pater­nalistisches Helfen auf eigene Kosten tritt, läuft etwas schief. Die strukturellen Dominanzen tragen dazu bei, dass Geflüchtete und MigrantInnen als eigenständig handelnde politische Subjekte aus dem Blick geraten. Die Willkommenskultur sieht sie nicht als Personen, die sich selbst für ihre Rechte stark machen und gegenseitig unterstützen. lhre Handlungskraft wurde erst dann wahrgenommen, als zuletzt Hungerstreiks über Wochen durchgehalten, eine Schule besetzt und ein hochgerüstetes Grenzregime niedergetrampelt wurden. »Refugees welcome« steht nicht mehr in erster Linie für den Kampf gegen die Ausgrenzung jener, die für sich das Recht realisiert haben, von einem unerträglich gewordenen Ort wegzugehen und hier zu bleiben. Umso wichtiger ist es, ihn zu re-politisieren, etwa durch den Hinweis, dass mit den Geflüchteten das Scheitern der globalen Wirtschafts- und Ressourcenpolitik, des Postkolonialismus, der Nahostpolitik, der Migrationsregime und der Klimapolitik nach Europa zurückkommt. Eine weitere solidarische Antwort auf das We Are Here der Geflüchteten wäre es, die Erfahrungen der Flucht anzuerkennen: Zuzuhören und Empathie zu zeigen für die Erlebnisse der MigrantInnen vor ihrer Entscheidung, zu gehen, und für ihre Entscheidung, hier zu bleiben. Es geht darum, die Ankommenden als Menschen mit gleichen Rechten willkommen zu heißen, bis hin zum Recht auf Freizügigkeit und politische Teilhabe. Eine gerechte Gesellschaft sieht davon ab, willkürlich singuläre Rechte zu verteilen. Sie spaltet nicht in MigrantInnen und Flüchtlinge, in religiöse und ethnische Minderheitsangehörige, in Starke und Schwache oder in Ausreisefähige und Schutzbefohlene. Das per Staatsbürgerschaft verbriefte Privileg, dieser Spaltung nicht ausgesetzt zu sein, eröffnet Handlungsspielräume zugunsten der Ausgegrenzten. Deshalb haben wir uns entschieden, kurzfristig einen Themenschwerpunkt über verschiedene Ansätze der Selbstermächtigung von Refugees zu erstellen. Der geplante Themenschwerpunkt über globale Müllverhältnisse erscheint im Frühjahr 2016.

Bebildert wird der Schwerpunkt mit Fotografien von der Besetzung der Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg. Seit Ende 2012 organisieren dort Geflüchtete trotz widriger Umstände einen selbstbestimmten Raum. Wir danken Florian Büttner für seine Fotos, die ausdrucks­volle Geschichten von Würde und Wut, aber auch Verzweiflung erzählen. die redaktion

Wir danken der Stiftung :do und der Stiftung umverteilen! für die Unterstützung dieses Themenschwerpunktes.

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In der Aula der Schule wird heftig diskutiert – während die Polizei die Schule seit drei Tagen umstellt hat

Foto: F. Büttner

»Wir werden als radikal abgestempelt« Interview mit Rex Osa über die Selbstorganisierung von Refugees iz3w: Was bedeutet Selbstorganisation für Dich? Rex Osa: Praktischer Ausdruck von Selbstorganisation war die Dynamik der Flüchtlingsbewegung 2012. Iranische Flüchtlinge stellten sich entschlossen gegen die Isolation, die zum Tod einer ihrer Freunde geführt hatte und prangerten sie durch ihre Protestzeltaktion an, die sich dann zu einem Marsch nach Berlin entwickelte. Dabei mussten sie einsehen, dass die Selbstbestimmung der Betroffenen mit der antirassistischen Bewegung in Deutschland kollidierte. The VOICE Refugee Forum fordert die antirassistische Solidarität seit zwei Jahrzehnten dazu heraus, paternalistische Soli­ daritätskultur kritisch zu reflektieren, anstatt irreführenderweise zu unterstellen, man werde unterminiert.

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Wie erfolgreich sind die Refugee-Proteste der letzten Jahre? tt Bezüglich der Unterkünfte fordern wir seit vielen Jahren wür­dige Bedingungen, setzen uns ein für die Abschaffung von Lagern und gegen die Isolation, die mit Residenzpflicht und Sachleistungen einhergeht. Es mag vielleicht so aussehen, als hätte sich bei den Bedingungen von Refugees einiges getan, tatsächlich besteht der einzige praktische Erfolg darin, unsere Situation sichtbar gemacht zu haben. Die Situation wird von Tag zu Tag schlechter. Zurzeit leben wir unter unmenschlichen Wohnbedingungen, in Zelten und Containern. Residenzpflicht und Sachleistungen wurden nie ganz abgeschafft. Struktureller Rassismus und Hass nehmen in der Gesellschaft weiterhin zu. Wie gut läuft die Mobilisierung durch die Selbstorganisationen? tt Mit dem Räumung des Camps am Oranienplatz ging eine g ­ roße Demotivation einher. Viele Refugee-AktivistInnen sind zu Einzel-

kämpferInnen geworden, was verschiedenen Gruppen entgegen kam, die sich »ihre« eigenen Flüchtlinge ausgesucht haben, um ihre regierungskonformen Projekte zu schmücken. Wir werden instrumentalisiert. Deswegen konzentrieren wir uns jetzt darauf, die Flüchtlingscommunity weiter aufzubauen. Für was genau werden Flüchtlinge ‚gekauft’? tt Die Situation von Flüchtlingen wird als Geschäft benutzt. Derzeit entstehen überall Projekte, zum Beispiel im Kunstbereich als Teil des so genannten Integrationspakets, für die unter dem Vorwand der Solidarität einfach nur eine kurze Erfahrung mit Flüchtlingen gebraucht wird, um sich anschließend damit rühmen zu können, etwas im Asylbereich zu tun. Dort arbeiten nun die Leute, die zuvor mit uns gegen das Grenzregime gekämpft hatten, nach den Gesetzen, die sie vorher selbst kritisiert hatten. Wir dürfen nicht nur über die staatliche Unterdrückung sprechen, wir müssen auch über die Spannungen in unseren eigenen Reihen als antirassistische AktivistInnen reden. So lange wir uns nicht selbst kritisieren können und die antirassistischen AktivistInnen nicht bereit sind, ihr Engagement und ihre Privilegien zu reflektieren, haben wir keine Legiti­ mation, den Staat und die Gesetze in Frage zu stellen. Wie steht es um die ehrenamtliche Hilfe, die im Gegensatz zur staatlichen Sozialarbeit unabhängig ist? tt Ehrenamtliche Hilfe ist notwendig! Wenn damit aber keine politische Veränderung angestrebt wird, ist sie einfach nur staatskonform, denn ohne sie könnte der Status Quo gar nicht aufrechterhalten werden. Sie dient als Instrument, um Geflüchtete zu isolieren, damit diese die vorherrschende Situation akzeptieren.

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Refugees Geflüchtete werden in die Position von Opfern gedrängt und ehrenamtliche Hilfe beschäftigt sich mehr damit, Einzellösungen zu suchen, statt eine kollektive Konfrontation mit der staatlichen Unterdrückung als notwendig anzusehen.

Macht es die zunehmende Feindseligkeit für Flüchtlinge schwieriger, sich zu organisieren? Als Flüchtling wird man per se kriminalisiert, das erleben wir jeden Tag. Als AktivistIn ist es noch schlimmer, wenn wir sogar von Unterstützergruppen und NGOs als »radikal« abgestempelt werden. Aber was heißt »radikal«? Dass wir die Ursachen angehen. Daran halten wir fest, denn da gibt es nichts zu beschönigen. Wenn wir Rassismus begegnen, benennen wir ihn. Wenn wir mit Apartheid zu tun haben, nennen wir es Apartheid. Wir versuchen nicht, Bezeichnungen zu finden, die sich für die Leute gut anhören. Wir nennen die Repressionen beim Namen.

Wie sollte ehrenamtliche Unterstützung verstanden werden? tt Es muss um Empowerment mit dem Ziel eines gemeinsamen Kampfes gehen. Die Flüchtlinge sind keine Kleinkinder. Wir haben unsere Leben auch schon mal selbst gestemmt. Wer Unterstützung leistet, muss politisch denken. Wie können wir die weltweiten Verhältnisse verändern? Wie können wir mit unseren Privilegien eine bessere Zukunft aufbauen? Diese Solidarität sollte Wie wichtig ist es, die Mehrheitsgesellschaft zu politisieren? sich auch auf die globalen Zusammenhänge beziehen. Schließlich sind die Geflüchteten hier, weil sie keine Möglichkeiten mehr sehen, tt Viele Menschen würden sagen, ich helfe Flüchtlingen gerne, als in ihren Herkunftsländern zu leben. Die Konflikte gehen auch von NachbarInnen will ich sie aber lieber nicht. Die gleichen Leute demonstrieren dann gegen Pegida. Spenden für Flüchtlinge kommen unserem Boden aus! Durch Waffenexporte, durch die Agrarpolitik und durch bilaterale Vereinbarungen, auch von Menschen mit rassistischen Einsteldie auf den Profit westlicher Länder auslungen, Angestellten der Waffenindustrie oder »Wenn wir mit Apartheid zu tun gerichtet sind und die Herkunftsländer korrupten multinationalen Konzernen. Die Politisierung der Gesellschaft hört nicht bei der Flüchtlinge kaputt machen. Angehaben, nennen wir es Apartheid« sichts des Status Quo in Deutschland ist Großdemonstrationen auf. Es müssen drines offensichtlich, dass die Forderung gend Strategien und Kampagnen für eine »gleiches Recht für alle« hier nicht möglich ist. Solidarität bedeutet praktische Reflexion über Verantwortlichkeiten entwickelt werden. für uns, uns mit den Gründen auseinanderzusetzen, die uns geNur wenn wir den Leuten klar machen, worin ihre Mitverantwortung für die Fluchtgründe liegt, kommen wir voran. Und nur so können zwungen haben, zu fliehen und sie zu bekämpfen. Ich sehe es als unsere Herausforderung, die Bevölkerung für ihre wir in dieser Gesellschaft mehr Toleranz und eine Mobilisierung für Verantwortung für die Fluchtursachen zu sensibilisieren. Dafür kollektive Kämpfe gegen globale, imperialistische Politik erreichen. brauchen wir autonom verwaltete Freiräume, wo wir uns als Flüchtlinge treffen können. Die Ehrenamtlichen könnten den Flüchtlingen Räume zur Vernetzung stellen, wo wir uns austauschen und gett Rex Osa ist Aktivist von The Voice Refugee Forum und dem genseitig unterstützen können – und zwar ohne Einfluss von außen. Netzwerk Refugees for Refugees aus Stuttgart. Interessierte an der Solidaritätsarbeit für autonome Zentren können sich über refugeesBundesinnenminister De Maizière urteilte, im Sommer seien die Flücht4refugees@gmx.de melden. linge noch dankbar gewesen, inzwischen fingen sie an zu protestieren. Interview: Johanna Wintermantel und Lena Danner

Watch The Med Alarm Phone Das Watch The Med Alarm Phone ist eine selbstorganisierte 24-Stunden-Hotline für MigrantInnen, die auf ihrem Weg über das Mittelmeer in Seenot geraten. Es wurde im Oktober 2014 von transnationalen und migrantischen AktivistInnen gegründet. Die Seenot-Hotline funktioniert über eine zentrale Telefonnummer (+33486517161), von der aus die eingehenden Anrufe zu den jeweils schichthabenden AktivistInnen umgeleitet werden. Wenn Notrufe eingehen, erfragen wir die Position des Bootes und möglichst genaue Informationen über die Situation: Ist das Boot leck, der Motor kaputt? Wie viele Menschen befinden sich darauf? Wann und wo ist das Boot los gefahren? Wir versuchen, die Menschen an Bord zu beruhigen und Zuversicht zu vermitteln. Dann rufen wir die zuständige Küstenwache an und geben die für eine Seenotrettung notwendigen Informationen an sie weiter. Wir »begleiten« die Situation der Menschen auf dem Boot, bis wir die Sicherheit haben, dass die Rettung stattgefunden hat. Wenn die Küstenwachen untätig bleiben, informieren wir die Öffentlichkeit, um Druck aufzubauen. Über die Mapping-Plattform Watch The Med werden wöchentlich die Fälle der verschiedenen Schicht-Teams dokumentiert. Damit kann das Agieren der zuständigen Institutionen öffentlich kontrolliert tt

werden und die Rettung von MigrantInnen in Seenot findet nicht mehr in einem faktisch rechtsfreien Raum statt. Rechtswidrige PushBack-Aktionen, die immer wieder von griechischen und spanischen Küstenwachen verübt werden, können so skandalisiert werden. Auch direkte Angriffe auf Flüchtlingsboote seitens griechischer Küstenwachen und extrem verzögerte Einsätze der spanischen Salvamento Maritima mit ihren tödlichen Konsequenzen haben wir dokumentiert. Unsere Arbeit besteht also aus einer oft schwierigen Mischung aus Kooperation mit den zuständigen Rettungsinstitutionen durch die Weitergabe zentraler Informationen einerseits und politischem Druck und öffentlicher Kontrolle von unten andererseits. Unser Netzwerk arbeitet transnational, es gibt Schicht-Teams in sieben europäischen Ländern sowie in Tunesien und Marokko. Viele der über hundert beteiligten AktivistInnen sind MigrantInnen, die selbst den Weg über das Mittelmeer nehmen mussten. Sie kennen die Situation, sich gezwungenermaßen in Lebensgefahr zu begeben, um Europa zu erreichen. Ihr Hintergrundwissen und ihre Erfahrung haben entscheidend zur Entwicklung des Alarm Phones beigetragen. Miriam Edding tt

www.watchthemed.net

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Rezensionen ... Konzentrationslager im südlichen Afrika Die geschichtspolitischen Kategorien, die für Jonas Kreienbaums Buch Ein trauriges Fiasko eine Rolle spielen, existieren seit einigen Jahren: KolonialhistorikerInnen wie der Hamburger Professor Jürgen Zimmerer formulierten die These, dass von den Konzentrationslagern der kaiserlichen »Schutztruppen« in Deutsch-Südwestafrika ein direkter Weg nach Auschwitz führte (siehe dazu iz3w 309 und 310). Diese Kontinuitätsthese unterzieht der Historiker Kreienbaum einer Revision, indem er die britischen Konzentrationslager in Südafrika sowie die deutschen in Deutsch-Südwest vergleichend untersucht. Er fragt nach ihrer Funktion für die Strategien der Kolonialmächte und ihren Funktionsweisen. Und er setzt sie in Relation zu den historisch älteren Konzentrationslagern Spaniens auf Kuba beziehungsweise denjenigen der USA auf den Philippinen, sowie zu den jüngeren der Nationalsozialisten. Die anvisierten Ziele der Kolonialmächte entnimmt Kreienbaum den Akten der deutschen und britischen Verantwortlichen. Demnach waren die im Rahmen des Zweiten ­Burenkrieges (1899-1902) geschaffenen britischen Lager ursprünglich als Flüchtlingslager geplant, die sich indes eklatant unterschieden, je nachdem ob sie für die weiße burische Bevölkerung Südafrikas oder die schwarzen AfrikanerInnen gedacht waren. Da aber die britische Politik die burischen wie auch die schwarzen ‚Flüchtlinge‘ überhaupt erst erschuf, wurden die Lager sehr schnell zu Internierungslagern, welche die Unterstützung von Aufständischen durch die Bevölkerung verhindern sollten. Im Rahmen der Internierung setzten die BritInnen auf Strategien des Social Engineering: Die BurInnen in den Camps sollten zu echten Weißen (und BritInnen) erzogen werden. In den Lagern für die Schwarzen, die ebenfalls als Arbeitskräftereservoir dienten, sollte hingegen der Status quo erhalten bleiben, also die AfrikanerInnen in weißer Abhängigkeit belassen werden. Ein Vernichtungswille habe aber für keine der beiden Bevölkerungsgruppen bestanden, schreibt Kreienbaum, da die militärischen und zivilen Verantwortlichen durchaus bemüht gewesen wären, die hohen Sterbequoten (drei bis zehn Prozent in den Burenlagern, bis zu 40 Prozent in den black camps) in den Lagern zu senken und die Internierten nach Kriegsende zu repatriieren. Die deutschen Lager hingegen seien eingerichtet worden, nachdem Berlin der Vernichtungspolitik des Generals Lothar von Trotha gegen Herero und Nama in Deutsch-Südwest Einhalt geboten und ihre Internierung anstelle ihrer physischen Auslöschung gefordert hatte. Die Gefangenzahlen seien dabei weitaus höher gewesen als bisher angenommen: 25.000 statt 17.000. Insgesamt seien wohl 30 bis 64 Prozent der Inhaftierten in den Lagern umgekommen, insbesondere auf der Haifischinsel, die ab 1907 jedoch wegen humanitärer Bedenken geräumt wurde. Auch hier konnten sich, wie schon im Konflikt mit Trotha, diejenigen Militärs durchsetzen, die eben nicht die Vernichtung favorisierten. Neben der tt

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Internierung benennt Kreienbaum als Ziele der deutschen Verantwortlichen die Bestrafung der Aufständischen sowie ihre »Erziehung« durch Zwangsarbeit. Anders als Zimmerer sieht Kreienbaum kaum Kontinuitäten zu den Konzentrationslagern des NS, dienten diese doch vor allem der Vernichtung der Jüdinnen und Juden. Die unterschiedlichen und sich wandelnden Internierungsziele kann Kreienbaum auch anhand der Lebensumstände in den Lagern aufzeigen: Die Burenlager sollten sich im Laufe der Jahre zu provisorischen Kleinstädten mit Schulen und anderen infrastrukturellen Einrichtungen entwickeln, auch wenn die baulichen Arrangements und die Versorgung weiterhin mangelhaft waren. Die black camps blieben wohl weit dahinter zurück. Die deutschen Lager zeichneten sich insbesondere durch schlechte Versorgung aus, da angesichts der allgemeinen Mangelsituation die Versorgung der Militärs Vorrang hatte und die Lager lange provisorisch blieben. Die InsassInnen, insbesondere die weiblichen, waren zudem der oftmals gewalttätigen Willkür der Deutschen ausgesetzt. Das Buch ist eine solide Ausgangsbasis für die Beschäftigung mit dem Genozid an den Herero und Nama sowie mit der Geschichte von Konzentrationslagern, die, wie Kreienbaum im letzten Kapitel argumentiert, eher aus kolonialer Eigenlogik entstanden als durch Wissenstransfer. Er zeigt zudem, dass Vernichtung niemals ‚nur‘ eine strukturelle Ursache hat, wie gelegentlich für den Holocaust und den millionenfachen Tod sowjetischer Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft behauptet wird. Vielmehr macht er deutlich, dass es immer entscheidende Stellen im Hintergrund gibt, die die Vernichtung anordnen, in Kauf nehmen und sich dann politisch durchsetzen – oder eben nicht. Es ist Kreienbaum zudem hoch anzurechnen, dass er die Lücken beim Quellenmaterial – insbesondere hinsichtlich der britischen Lager für schwarze AfrikanerInnen und der Erfahrungen der Internierten – explizit benennt. Trotz oder gerade wegen seiner Sachlichkeit beschleicht einen bei der Lektüre des Buches gelegentlich ein Unbehagen: Das Buch erweckt stellenweise den Eindruck, als seien zehntausende Menschen gestorben, obwohl sie ‚nur‘ interniert, erzogen und als Arbeitskräfte eingesetzt werden sollten. Was aber stand dahinter, dass die deutschen und britischen Verantwortlichen insbesondere die schwarzen InsassInnen der eingerichteten Lager so sträflich vernachlässigten? Koloniale Selbstüberschätzung gepaart mit Rassismus? Eine differenzierte(re) Antwort liegt zwar jenseits der von Kreienbaum gewählten Fragestellung, ihr Fehlen zeigt aber auch, dass die Geschichte der mörderischen Seiten des Kolonialismus noch nicht zu Ende erzählt ist. Kerstin Bischl Jonas Kreienbaum: »Ein trauriges Fiasko«. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900-1908. Hamburger Edition (Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts), Hamburg 2015. 300 Seiten, 28 Euro. tt

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Türkisch-deutsche Beziehungen – und erlebt überrascht eine neue Form politischen Engagements mit der Suche nach Freiheit ohne links-rechts-Schemata. Mit der Generation Y teilt die Gezi-Bewegung die städtische Sozialisierung und hohe Bildungsstandards, hingegen bettet ihr Wertekonservativismus sie in die türkische Ge­sellschaft ein, was auch als »Leben in einer emotionalen Großfamilie« bezeichnet wird. Der ­Wertekanon, so die Feststellung der türkischen Jugendforschung, habe sich in den letzten 30 Jahren nicht geändert und werde von Jugend­ lichen und Erwachsenen geteilt. Es bestehe eine Diskrepanz zwischen modernem Lebensstil und traditioneller Wertgebundenheit. Eine Untersuchung zu Peer-Groups in unterprivilegierten Stadtbezirken Berlins und Istanbuls bereichert das Bild, das weiter differenziert wird durch die Vorstellung emanzipatorischer Migrantengruppen in Deutschland: Jugendliche, die sich offensiv gegen rassistische Zuschreibungen wehren und mit einer ‚Opferrolle’ der Gastarbeitergeneration nichts mehr gemein haben. Eine neue Generation ist so entstanden, die sich international an HipHop orientiert, um der Festlegung auf Herkunft zu entgehen. Medienanalysen, insbesondere zu Presse und Film, sowie literarische Studien runden das Jahrbuch zu »Jugend« ab. Es bietet eine Fundgrube an überraschenden Beobachtungen, neuen Erkenntnissen und offenen Fragen. Das gilt auch für das zuletzt erschienene Jahrbuch 2014 über Protestbewegungen in der Türkei und in Deutschland. Sabine Hagemann-Ünlüsoy Türkisch-deutsche Studien. Jahrbuch 2010, 2011, 2012, 2013, 2014. Hg. von Seyda Ozil, Michael Hofmann, Yasemin Dayioglu-Yüce. V&R unipress, Göttingen. 30,99 bis 44,99 Euro. tt

fernsicht – Werkstatt für nord-südpolitische Bildung im iz3w Projekttage, Workshops, Veranstaltungen und Medien Foto: photocase/ pylonautin

Ein neues Jahrbuch zu den türkisch-deutschen Beziehungen erscheint seit 2010 unter Federführung eines türkisch-deutschen Herausgeberteams. Es füllt durch seine Fokussierung auf geisteswissenschaftliche Themen eine Lücke, bietet einen aktuellen Überblick zum Stand der Forschung und dient auch als Forum für NachwuchswissenschaftlerInnen. Das Ziel ist Multiperspektivität durch interdisziplinäre Vernetzung und Einbeziehung von Forschungsarbeiten, die außerhalb Deutschlands bzw. der Türkei entstanden sind. Insbesondere sollen aber auch türkische Positionen in Deutschland bekannt gemacht werden. Themen wie Sprachkompetenz und Integration, Jugend und Gewalt, der so genannte »Beitrag« der »Gastarbeiter« oder Fragen der sog. »Rückkehr« werden in diesen Studienbänden einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen. Das macht sie über den akademischen Bereich hinaus interessant für die in der interkulturellen Praxis tätigen PädagogInnen, SozialarbeiterInnen oder BehördenmitarbeiterInnen. Sie geben ihnen Informationen an die Hand, die einen sehr oft veralteten Wissensstand ablösen und ethnozentrisches Denken aufdecken. Die Unterschiedlichkeit deutscher und türkischer Perspektiven wird in zahlreichen Beiträgen der Jahrbücher deutlich, oft sogar direkt thematisiert. So wird Migration in der deutschen Diskussion meist in den Kontext von Integration gestellt und unter dem Aspekt »erfolgreich« bzw. »nicht erfolgreich« verhandelt. Türkische Zeitungen hingegen schrieben anlässlich des 50. Jahrestages des Anwerbeabkommens eher nostalgisch über das Fremdsein. Die türkische Forderung nach türkischen Gymnasien in Deutschland löste nicht in der Türkei, aber in Deutschland eine Flut von negativen Reaktionen aus. Letzteres gilt auch für »unpassende« Ergebnisse aus der Sprachwissenschaft: Zahlreiche Beiträge in den Jahrbüchern widerlegen den »Mythos der doppelten Halbsprachigkeit« und konstatieren eine funktionierende kreative Alltagskommuni­ kation. In den Studien wird aufgezeigt, wie der von Heike Wiese geprägte neutrale Begriff »Kiezdeutsch« zu scharfen Angriffen bis hin zu persönlichen Diffamierungen geführt hat und wie in einer verzerrten Diskussion aus einem multiethnischen Jugenddialekt, der auch von deutschen Jugendlichen gesprochen wird, »Türkendeutsch« mit Sätzen wie »ich-mach-dich-Messer« gemacht wird. Dabei unterschlagen die gegen den angeblichen Sprachverfall ankämpfenden deutschen SprachschützerInnen die Ergebnisse der Pisastudie, die offenlegen, dass der Erwerb der offiziellen Schul- bzw. Standardsprache für alle Unterschichtkinder, gleich welcher Herkunft, ein Lernproblem ist. Das Jahrbuch 2013 ist dem Thema »Jugend« gewidmet, mit dem Ziel, die Geschichten hinter den demographischen Statistiken zu suchen. In dieses Vorhaben brach »Gezi« ein. »Eine Generation Y offensichtlich«, schreibt die Autorin Oya Baydar aus der 68erPerspektive, »in der einen Hand das Handy, in der anderen die Wasserflasche, nur an oberflächlichen Beziehungen interessiert« tt

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fernsicht-bildung.org


Rezensionen ... Reportagen aus dem Reggaeversum Die jamaikanische Literaturwissenschaftlerin Carolyn Cooper beschrieb Jamaika in der New York Times anlässlich des 50. Jahrestages der Unabhängigkeit von Großbritannien 2012 als »eine Insel mit einem kontinentalen Bewusstsein«. Damit wollte sie verdeutlichen, dass die Insel ein Stück Afrika in der Karibik repräsentiere. Die Gesellschaft und Kultur der 2,9 Millionen JamaikanerInnen sei primär durch ihre aufgrund von Sklaverei und Kolonialismus in die Karibik verschleppten VorfahrInnen geprägt. In seinem Buch Hail di Riddim widmet sich Werner Zips, Dokumentarfilmer und Professor für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien, in dreizehn Aufsätzen den verschiedenen Ausprägungen dieses »kontinentalen Bewusstseins«. Er spürt den globalen Ausprägungen von Reggae, jamaikanischen Widerstandskulturen und ihren afrikanischen Pendants auf beiden Seiten des Black Atlantic nach. Im Zentrum stehen dabei Reggae als globales, von den Lehren der Rastafari beeinflusstes, transnationales Kommunikationsmedium und dessen antikoloniales Artikulationspotential. Die Mehrzahl der im Stil von Reportagen verfassten Beiträge sind bereits im deutschen Reggae-Magazin Riddim erschienen und wurden von Zips, der schon seit 1984 zu Jamaika forscht, um einen wissenschaftlichen Fußnotenapparat ergänzt. Wer eine rein akademische Analyse erwartet, wird vom Subjektivismus und der Szenesprache des Buches etwas irritiert sein. Schon Zips‘ Neologismus »Reggaeversum« im Buchtitel macht das deutlich. Das Buch richtet sich an ein breites Publikum und soll sowohl ausgewiesene Reggae-Fans und Jamaika-Interessierte als auch Neulinge ansprechen. Leider neigen das Cover, das einen Schwarzen Musiker mit Dreadlocks vor einem rot-gelb-grünen Löwen zeigt, und die Fotoauswahl im Inneren dazu, bei weißen LeserInnen stereotype und exotische Bilder von den ‚Anderen‘ zu festigen. Das steht im Gegensatz zu Zips‘ Texten, in denen er stets reflektiert und differenziert von seinen Reisen nach Jamaika, Botswana und in den Senegal berichtet. Das Buch beginnt mit der Kolonialgeschichte Jamaikas und den Maroons – Guerillagruppen geflohener SklavInnen, die gegen die tt

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britischen KolonialistInnen Kriege führten. Zips schreibt über den ersten jamaikanischen Nationalhelden Marcus Mosiah Garvey (1987-1940) und dessen politisches Engagement gegen die rassistische Diskriminierung der Schwarzen in den Amerikas und für ein ermächtigendes Afrika-Bild. Daran anschließend widmet sich Zips seinen Erfahrungen mit Rastafari und geht auf unterschiedliche Ausprägungen der Rastafari-Philosophie sowie den Dub-Poeten Mutabaruka ein. Letzteren porträtiert er wegen seiner Performances und kritischen Kommentaren als eine Art soziales Gewissen Jamaikas. Auch der alltäglichen Gewalt, dem seit 2010 wieder gestiegenen Interesse an Roots-Reggae und den Diskussionen um Homophobie und Sexismus in der Musik widmet Zips jeweils ein Kapitel. Er erläutert, dass der »exhibitionistische heterosexuelle Akt und Homophobie zwei Seiten ein und derselben Medaille« seien, die die jamaikanische Dancehall-Musik kennzeichne. Als Lösungsansatz für den Konflikt zwischen LGBTTIQ-AktivistInnen und Dancehall-KünstlerInnen schlägt er das Rastafari-Prinzip der »gleichen Rechte und Gerechtigkeit« vor. Dieses könne nur funktionieren, wenn damit auch Minderheiten und nicht nur »angepasste Lebensentwürfe« gemeint seien. Die Kapitel zu Afrika gehen auf ein Kuru-Tanzfestival in Botswana, die Rolle des Löwen für die Rastas und die senegalesischen Sufis der Bayne Fall ein. Letztere begleitet Zips bei ihrer Pilgerfahrt nach Touba, einer Stadt im Senegal, in der sie Amadu Bamba (1853-1927) und dessen Widerstand gegen die französische Kolonialmacht gedenken. Der Kreis zurück zur afrikanischen Diaspora in der Karibik schließt sich, wenn Zips diese Sufi-Gemeinschaft wegen ihrer Lebensweise und ihrer Dreadlocks als muslimisches Pendant zu den jamaikanischen Rastas beschreibt. Patrick Helber Werner Zips: Hail di riddim. Reportagen aus dem Reggaeversum. Promedia, Wien 2015. 240 Seiten, 19,90 Euro.

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Neu erzählte afrikanische Geschichte Eine Schlüsselfrage bei der Auseinandersetzung mit postkolonialen Themen ist die Vermittlung von Kenntnissen und Reflexionsansätzen an Jugendliche. Für viele ist Afrika ein einziges Land, was dem bruchstückhaften Schulunterricht insbesondere in den Fächern Geographie und Geschichte geschuldet ist. Oft kennen SchülerInnen Afrika nur als Hunger- und Kriegsgebiet – trotz aller anders lautenden entwicklungspolitischen Materialien. Dem kann Lutz van Dijks anschauliches Buch Afrika – Geschichte eines bunten Kontinents entgegensteuern. Seine mit vielen historischen Karten versehene Darstellung beginnt vor 550 Millionen Jahren und endet im Frühling 2015. Ein ganzes Kapitel widmet der Autor den Jugendprotesten in Nordafrika. Das unterscheidet seinen Band von anderen Afrikabüchern, die sich auf das sub-saharische tt

Afrika beschränken, aber dennoch im Titel suggerieren, über ganz Afrika zu informieren. Van Dijk ist Historiker und lebt seit 2001 in Kapstadt, wo er gemeinsam mit südafrikanischen PädagogInnen Kinderprojekte aufgebaut und Schreibwerkstätten für Jugendliche aus Townships initiiert hat. Diese Erfahrungen prägen sein Buch. Van Dijks verständlich geschriebene Zeitreise durch die Geschichte Afrikas lässt systematisch Stimmen von AfrikanerInnen unterschiedlichen Alters und Status’ zu Wort kommen. Neben namhaften PolitikerInnen und SchriftstellerInnen schreiben auch junge Menschen über Transformationsprozesse und Umbrüche in ihrem Alltag. Ausgewählte Lebenserinnerungen lassen historische Ereignisse wie etwa politische Unabhängigkeitskämpfe lebendig werden. Beispielsweise berichtet eine Townshipbewohnerin, wie sie und

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Soziale Opposition in Mittelamerika Was sind aktuelle Konfliktlinien in den Ländern Mittelamerikas? Vor welchen Herausforderungen stehen dortige soziale Bewegungen? Wie sind gesellschaftliche Konstellationen historisch zu erklären? Solchen Fragen gehen die Herausgeberinnen Ina Hilse und Kirstin Büttner in ihrem Sammelband Engagiert – resistent – bedroht nach. Er beinhaltet jeweils ein Kapitel zu jedem der sieben Länder dieser Region. Außerdem enthält er Beiträge zu den Themen Gewalt gegen Frauen und Feminizide, die Politik der USA gegenüber Mittelamerika, Kirche und Religion, das Freihandelsabkommen mit der EU und Tourismus in Mittelamerika. Erklärtes Ziel der Herausgeberinnen ist, einen aktuellen Überblick zu Mittelamerika zu geben, nachdem die Region aus dem Fokus der linken Öffentlichkeit gerückt ist. Da wären zum Beispiel die Auseinandersetzungen rund um die Freihandelsabkommen mit den USA und der EU: In Costa Rica weitete sich der Protest gegen das CAFTAAbkommen, ein Freihandelsabkommen zwischen den USA, Zentralamerika und der Dominikanischen Republik, zu einer vielfältigen sozialen Bewegung aus, die zwischen 2005 und 2007 das öffentliche Leben beherrschte. Eine breite Allianz von UmweltaktivistInnen, Feministinnen, GewerkschafterInnen, KleinbäuerInnen, indigenen Organisationen, Parteien, Studierenden und anderen Gruppen versuchte, das Abkommen zu stoppen. Aufgrund des öffentlichen Drucks setzte Präsident Oscar Arias schließlich ein Referendum an. Dieses gewannen er und die CAFTA-BefürworterInnen knapp mithilfe einer intensiven Pro-CAFTA-Kampagne, eines unfairen Wettstreits mit aller Medien- und Finanzmacht und dem gezielten Einsatz der Angst vor Arbeitsplatzverlust. Die neoliberale Umgestaltung Costa Ricas seit 2009 konnte nicht gestoppt werden.

Mittelamerika gehört zu den Regionen, in denen es am häufigsten und mit steigender Tendenz zu Feminiziden und Gewalt gegen Frauen kommt. Diese Geschlechtergewalt spiegelt sich in den staatlichen Institutionen wider: Selten werden Frauenmorde von den Behörden verfolgt. In den letzten Jahren wurden jedoch in einigen Ländern Mittelamerikas Feminizide explizit als Straftat in die Gesetzestexte aufgenommen. Frauenrechtsorganisationen und Feministinnen spielten dabei aufgrund politischer Lobbyarbeit und der Organisation von Großdemonstrationen eine wichtige Rolle. Sie bieten auch Unterstützung für Betroffene, beobachten die Einhaltung der neuen Gesetze und leisten Sensibilisierungsarbeit. Oftmals sind Frauenorganisationen und Feministinnen jedoch selbst Diskriminierung und sozialer Stigmatisierung ausgesetzt. Das gilt besonders für Honduras, wo seit 2009 vonseiten der Putschregierung und den konservativen Nachfolgeregierungen verstärkte Repression herrscht. Dies sind nur zwei Beispiele für die vielfältigen Einblicke des Buches zu Mittelamerika. Trotz oftmals erschwerter und teilweise gefährlicher Bedingungen, so die Botschaft des Buches, gibt es vielseitigen Widerstand. Die Beiträge sind detailreich und beschränken sich nicht auf oberflächliche Analyse. Umfangreiche länderspezifische Unterkapitel zur Geschichte, Wirtschaft und Gesellschaft tragen zum besseren Verständnis der aktuellen Situationen bei. Anders als diese Rahmenanalysen der Handlungsspielräume fallen die Beschreibungen der sozialen Bewegungen aber eher knapp aus. Maria Irrgang

andere SchülerInnen gegen die rassistische Bildungspolitik protestierten. Zum Kampf gegen die Diktaturen in Tunesien und Ägypten kommen junge AktivistInnen zu Wort, auch an getötete Jugendliche wird erinnert. Vorkoloniale Strukturen und nachkoloniale Entwicklungen werden ebenfalls von unterschiedlichen AkteurInnen erklärt. Sie illustrieren und kritisieren politische Machtverhältnisse, ausbeuterische Wirtschaftsbeziehungen und komplexe gesellschaftliche Dynamiken auf unserem südlichen Nachbarkontinent. Sie prangern die teilweise politisch motivierte Gewalt brutaler Herrscher an und nehmen gegenüber der Verantwortung europäischer Mächte kein Blatt vor den Mund. Ein ganzes Kapitel widmet Van Dijk der Flucht von AfrikanerInnen nach Europa. Darin veranschaulichen er und afrikanische Mi-

grantInnen die Fluchtgründe. Vor allem Menschen aus Westafrika und den Mittelmeerländern prangern das fahrlässige Ertrinkenlassen zahlloser junger AfrikanerInnen auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben an. Sie weisen auf aktuelle politische Machtverhältnisse und historische Zusammenhänge hin. Hier werden die heutigen wie die auch historischen direkten Verbindungen zwischen Europa und Afrika besonders deutlich. Rita Schäfer

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Ina Hilse/ Kirstin Büttner (Hg.): Engagiert – resistent – bedroht. Handlungsspielräume und Perspektiven sozialer Bewegungen in Mittelamerika. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2015. 212 Seiten, 14,80 Euro. tt

Lutz van Dijk: Afrika – Geschichte eines bunten Kontinents. Neu erzählt mit afrikanischen Stimmen. Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 2015. 319 Seiten, 22 Euro. tt

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ISSN 1614-0095

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t iz3w – informationszentrum 3. welt Postfach 5328 • D-79020 Freiburg www.iz3w.org

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