journal film # 32

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Einzelpreis DM 16,– Winter 98 ISSN 0724-7508

32 Die Zeitschrift für

das andere Kino.

journal film.

Thema »Stummfilm und Musik« »Nosferatu« / »Les deux timides« Stummfilmmusik(er) von A bis Z


Farbbilder zum Artikel von Irmbert Schenk: ÂťAphoristisches zur Farbe im StummfilmÂŤ


Titelbild: NOSFERATU von Friedrich Wilhelm Murnau

Musik

Freiburg

Editorial

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LES DEUX TIMIDES – Neukomposition von BERND SCHULTHEIS

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Willy Sommerfeld im Gespräch aufgezeichnet von ILONA ZIOK

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In Vorbereitung: Willy – der Stummfilmpianist ein dokumentarischer Stummfilm

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Der Mann an der Orgel von WILFRIED KAETS

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NANIGA KONOJO WO SOSASETA KA Das Mädchen Sumiko – was trieb sie dazu, das zu tun? von GUNTER A. BUCHWALD

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Stummfilmmusik(er) von A-Z von WOLFGANG THIEL

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NOSFERATU – Ein Immigrant aus Rumänien von HERBERT M. HURKA

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THE LIFE STORY OF DAVID LLOYD GEORGE von DAVE BERRY

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»Stumme« Experimente von JOHANNES C. TRITSCHLER

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Standorte Sendeplätze von WILLI KAROW

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Giornate del Cinema Muto und Il Cinema Ritrovato Stummfilmveranstaltungen in Italien von BODO SCHÖNFELDER

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Aphoristisches zur Farbe im Stummfilm von IRMBERT SCHENK

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Eine Bücherschau von BODO SCHÖNFELDER

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Lynne Kirby: »Parallel Tracks – The Railroad and Silent Cinema« besprochen von STEFAN VOCKRODT

87

Film als subversive Kunst besprochen von JOHANNES C. TRITSCHLER

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Stummfilm im Internet von BODO SCHONFELDER

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Kinolandschaft bis 1919 von MARGA BURKHARDT

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Zur Freiburger Filmproduktionsgeschichte 1901-1918 von WOLFGANG DITTRICH

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AutorInnen im journal film Und auf der letzten Seite IMPRESSUM und BILDNACHWEIS

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Diverses

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Editorial

Äußerer Anlaß für diese neue Ausgabe von journal film mit Schwerpunkt Stummfilm ist das »freiburger film forum – stummfilm und musik«, das Ende November/Anfang Dezember 1998 stattfindet oder bereits stattgefunden hat. Wie schon die früheren Male (z.B. »Film in St. Petersburg«, »freiburger film forum ethnologie...«) nimmt jorunal film die Gelegenheit zum Anlaß, über das Programm hinaus Grundsätzlicheres und Ergänzendes zusammenzutragen. Damit ist die Zeitschrift dem Namen »journal« zum Trotz (der sich aus seiner langjährigen Geschichte erklärt) eben keine tagesaktuelle Broschüre mehr, sondern, auch vom Umfang her, schon fast ein Buch. Beleuchtet wird das Phänomen Stummfilm von unterschiedlichen Ansätzen aus, Spotlights werden auf einzelne Aspekte gerichtet. Der Standpunkt ist der des ausgehenden Jahrhunderts, das ja bekanntlich das erste Jahrhundert des neuen Mediums »bewegte Bilder« war. Man macht es sich oft nicht klar: ein Drittel Jahrhundert lang waren diese Bilder stumm. Doch was heißt schon stumm; sie waren auf ihre Weise sprechend, sie »lebten« – und wenn es auch nicht von der Leinwand herab tönte, Musik gab es trotzdem. Vieles aus der frühen Zeit ging leider unwiederbringlich verloren. Erstaunlich Vieles taucht aber gleichwohl aus der Versenkung (der Archive) immer mal wieder an die Oberfläche. So mancher Keller oder Speicher erwies sich schon als fündig. Es wird vorerst nicht an Gesprächsstoff über den Stummfilm mangeln.

Auch die Beiträge in diesem Heft sind Teil dieses andauernden Gesprächs über Stummfilm – Partikel, die sich anderen anderswo erschienenen hinzugesellen. Denn obwohl die Stummfilmgeschichte nur drei Jahrzehnte währte, waren diese 30 Jahre doch so reichhaltig an Neuem und Innovativem, daß es noch Jahrzehnte braucht, sich einen einigermaßen korrekten Überblick zu verschaffen. Vieles liegt noch im Dunkeln und so manche Neubewertung (eines Regisseurs, Genres, Films) steht an oder ist voll im Gange. Ein besonderer Gesichtspunkt ist zudem die Diskussion über eine adäquate Stummfilm-Begleitmusik. Das macht den Stummfilm ja so spannend, daß er, auch wenn er zuende rekonstruiert oder restauriert wurde, trotzdem keine Konserve ist, sondern jederzeit wieder zu einer neuen Stellungnahme animiert. Der Tradition kommunaler Filmarbeit verpflichtet, versucht auch diese Ausgabe von journal film praxisnah zu sein; überdies wagt sie den Spagat: Sie möchte denen, die sich noch nicht so auskennen in der Materie, einführende Gedanken liefern, sich aber auch die Experten nicht vergraulen, die sich die eine oder andere neue Erkenntnis versprechen. Inwieweit das gelungen ist, mag der Leser entscheiden. Der Inhalt ist in drei Kapitel geteilt. Das erste, »Stummfilm und Musik«, nimmt am direktesten Kontakt auf mit dem Freiburger Symposium »Stummfilmvertonung«. Musiker berichten über ihre Arbeit, sei es als improvisierender Begleiter (Willy Sommerfeld, Wilfried Kaets) oder als Komponist (Bernd Schultheis, Günter A. Buchwald). Außerdem gibt Wolfgang Thiel

einen Überblick über stummfilmbegleitende musikalische Strömungen und deren Protagonisten während der Stummfilmzeit. Das zweite Kapitel ist der diesmalige »Kolonialwarenladen«, er bietet Unterschiedlichstes. Es geht um Farbe im Stummfilm (Irmbert Schenk), um die Wiederentdeckung eines walisischen langen Stummfilms, der hoffentlich auch in Deutschland bald mit einer Vorführkopie zur Verfügung steht (Dave Berry), um den durchaus überraschenden Subtext von NOSFERATU (Herbert M. Hurka), um den stummen experimentellen Film (Johannes C. Trischler) oder Orte, an denen man regelmäßig Stummfilme zu sehen bekommt. In fast allen diesen Artikeln ist aber dennoch auch von Musik die Rede. Ohne sie geht es beim Stummfilm nicht. Wie immer schließen wir mit einer Bücherschau ab. Diesmal folgt jedoch noch ein drittes Kapitel: Beiträge zur Freiburger Filmproduktions- und Kinogeschichte. Darin stellen Marga Burkhardt und Wolfgang Dittrich erste Ergebnisse ihrer Recherchen für die Jahre 1896 bis 1919 vor. Die Untersuchung wird fortgesetzt, sowohl für den dargestellten Zeitraum wie auch für die nachfolgenden Jahrzehnte. Es ist geplant, die Freiburger Film- und Kinogeschichte im Herbst 1999, unterstützt von der Stadt Freiburg, als Buch herauszubringen. Der Leser wird schnell merken, daß es hier nicht ausschließlich um die Aufarbeitung von Lokalgeschichte geht, vielmehr spinnen sich die Fäden bis Paris und Berlin. Zumindest zu dieser Zeit hatten die Freiburger Firmen einen weltweiten Ruf. Willi Karow

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Brigitte Helm in ALRAUNE

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Neukomposition zu LES DEUX TIMIDES

LES DEUX von BERND SCHULTHEIS

»...Die jungen Leute sollen über die Hintergründe der Kinoleidenschaft in der Blüte des Stummfilms Bescheid wissen und begreifen, daß die Grundproblematik, trotz veränderter Technik, die gleiche geblieben ist.« (René Clair: Kino. Vom Stummfilm zum Tonfilm. Kritische Notizen zur Entwicklungsgeschichte des Films 1920-1950, Zürich 1995, S. 20) 1995, das Jahr des 100jährigen Filmjubiläums brachte eine in seiner Vielfalt und Wirkungsbreite nie zuvor erlebte Reflexion der Kinogeschichte. In diesem Zusammenhang erinnerte man sich insbesondere der Stummfilmepoche, die durch eine – seit einigen Jahren wiederbelebte – Tradition der »Live«-Musikbegleitung erneut für ein breites Publikum attraktiv geworden ist. Stummfilme waren in großer Vielfalt in den Jubiläumsprogrammen zu finden. Insbesondere in den Medien wurde der Stummfilm unter dem Aspekt seiner musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten neu gesehen und zur Disposition gestellt. Angefangen bei der Rekonstruktion von Originalmusiken über Neukompilationen aus Kinothekenmusiken, von Improvisationen und Neukompositionen in alten und neuen Stilistiken bis hin zu Tekknovertonungen reichte das Spektrum, das auf Festivals und Einzelveranstaltungen zu sehen und zu hören war. Deutlich ist hierbei immer noch eine Fokussierung auf »Publikumserfolge« bekannter Titel und Regisseure festzustellen, was einerseits zunächst zu einem schiefen Bild der Stummfilmära führt, andererseits aber sicherlich eine Grundlage schafft, in Zukunft auch weniger bekannte Programme anbieten zu können.

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er schon einmal einen Stummfilm mit unterschiedlichen Musikfassungen oder in verschiedenen Montagen gesehen hat, bekommt ein neues Verhältnis zur Wahrnehmung. Der Film verliert die Absolutheit, konservierte Realität zu sein. Bis Anfang der 70er Jahre, in anderen Ländern bis Ende der 80er, wurden in Deutschland Stummfilme in Filmklubs, kommunalen Kinos, Museen und im Fernsehen wirklich stumm – also ohne musikalische Begleitung – vorgeführt. Auf diese Weise blieben die Filme zu Unrecht bloß »historische Dokumente«, die für den Nicht-Enthusiasten unattraktiv waren. Und obwohl der Stummfilm seinerzeit in der Regel niemals ohne Ton aufgeführt wurde, hat sich der Begriff Stummfilm bis heute gehalten. Jenseits filmhistorischer Institutionen entstand im Laufe der Zeit eine Kultur äußerst subjektiver Auseinandersetzung mit einer Epoche, die lange als abgeschlossen galt. Durch die »Unvollkommenheit« des Stummfilms können wir in wechselseitige Kommunikation mit der filmischen Vergangenheit und ihren vielschichtigen Erscheinungsformen treten. Der Stummfilm bleibt auf diese Weise ein stets wandelbares, also lebendiges Medium. Er entsteht mit jeder Musikfassung vor unseren Augen und Ohren neu. Wir können nur spekulieren oder aus Erzählungen derjenigen, die die Stummfilmzeit persönlich erlebt haben, erfahren, wie ein Kinobesucher der Stummfilmzeit einen Film wahrgenommen haben könnte. Einen ebensolchen Erlebnischarakter heute wiederherstellen zu wollen, hieße zu romantisieren, würde im Kitsch enden.


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in Stummfilm ist und war niemals einzig. Entsprechend der damaligen Aufführungspraxis, muß ein Filmwerk von Vorstellung zu Vorstellung mit dem Wechsel der Begleitmusiken eine andere Wirkung gehabt haben. Nur wenige Großproduktionen wurden mit einer Originalmusik versehen, die von einem Komponisten speziell für einen Film kompiliert (d.h.: aus verschiedenen bestehenden Musiken zusammengestellt) oder komponiert wurde. In den Provinzkinos hatte man allenfalls das Geld, kleine Salonorchester, oft nur ein Quartett oder je einen Pianisten/Organisten und Geiger, zur ständigen Verfügung zu haben. War eine »Originalmusik« vorhanden, so paßte der Kapellmeister oder ausführende Musiker die Musikvorlage den örtlichen Besetzungsmöglichkeiten an. Existierte zu einem Film keine Musik, so wurde in der Mehrzahl der Fälle von einem Pianisten, Violinisten oder Organisten improvisiert, oder es mußte eine Begleitung zusammengestellt werden. Zu diesem Zweck wurden Motive und Themen mit besonders bildhaftem Charakter aus der Konzert- und Opernliteratur in Katalogen (den sogenannten Kinotheken), nach Tonarten und emotionalen Stimmungen sortiert, gesammelt. Anhand solcher Sammlungen, es gab Standardwerke von Musikern wie Giuseppe Becce, konnte der Musiker kurzfristig ganze Filmmusikpartituren herstellen. Richtige Übergänge wurden dadurch gewährleistet, daß ein Thema oder Motiv durch alle Tonarten notiert vorhanden war. Auch ein Anhang mit den jeweiligen Transpositionen für die Orchesterinstrumente gehörte zur Ausstattung einer solchen Kinothek.

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ie Aufführung eines Filmes war also im wesentlichen von äußeren Umständen geprägt. Mit unserem heutigen Wissen um die Veränderung der Wahrnehmung von Filmbildern durch unterschiedliche (oder gar ohne) Musiken, scheint uns deutlich, daß es niemals die eine authentische Filmfassung gegeben haben kann, es sei denn man betrachtet den Filmstreifen unabhängig von der Musik, was Filmhistoriker lange Zeit versuchten. Erst die Renaissance des live-begleiteten Stummfilms brachte dieses Genre einem breiteren Publikum näher. Ausgehend von der Rekonstruktion einiger Filmwerke und der dazugehörigen Original-Partituren durch filmwissenschaftliche Institute und Fernsehanstalten, wurden in den sechziger Jahren einige Werke wieder aufgeführt. Hier ergaben sich die ersten Probleme aufgrund der Unmöglichkeit des Musizierens in den modernen Kinosälen. Von einigen Ausnahmen, mit Klavier oder Kino-Orgel, abgesehen, gibt es keine Orchestergräben mehr und die heutigen Projektionsanlagen lassen nicht immer eine stummfilmgerechte Vorführung zu. Die Projektionsgeschwindigkeit müßte zwischen 16 und 24 Bildern pro Sekunde variabel sein, um das falsche Klischee, von durch das Bild rasenden und zappelnden Figuren zu widerlegen. Aufgrund dieser äußeren Umstände können Stummfilme heute zumeist nur in Theater- und Konzerträumen, mit speziell für die Projektion angemieteten Geräten vorgeführt werden. Dieser Aufwand bringt den Film aus seinem natürlichen Umfeld Kino heraus, in einen künstlichen Zusammenhang, der das

Aufführungsereignis auf eine Ebene mit dem Filmerlebnis stellt. Die unmittelbare Beziehung zwischen dem Kinozuschauer und »seinem Film« wird somit unterbrochen.

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n Bezug auf die Aufführungspraxis von Stummfilmen heute halte ich die Berücksichtigung dieser Tatsache für wesentlich. Mit der Erkenntnis, daß es kaum eine authentische Filmfassung und eine damit verbundene Aufführungspraxis gibt, können und dürfen wir nicht versuchen, eine solche vorzuspiegeln. Die Widersprüche, wie sie sich bei der aktuellen Auseinandersetzung mit einem konservierten, scheinbar absoluten Zeitausschnitt, in unsere Gegenwart transplantiert, ergeben, müssen thematisiert und zur Disposition gestellt werden. Unsere Aufgabe als Komponisten besteht darin, ein Genre vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit, jedoch aus heutiger Sicht, erlebbar zu machen. Damit das geschehen kann, ist ein Film auf seine Entstehungsgeschichte, seinen Vollständigkeitsgrad oder Rekonstruktionsstand sowie seine Musikfassungen hin zu untersuchen. Die so erhaltenen Informationen sind Grundlage, nicht aber das Ziel der Arbeit. Ein Beispiel: Der Zuschauer ist heutzutage durch seine Erfahrung mit modernem Film und Musikvideoschnitt eine so hohe Präzision gewohnt, daß wir diese Tatsache nicht ignorieren können und ihm eine Musik vorsetzen, die diesen äußerlichen Bedingungen nicht entspricht. Viele Stummfilme können aufgrund ihrer Brillanz durchaus mit heutigen Maßstäben gemessen oder ihnen ausgesetzt werden, wenngleich das Filmmaterial über die Jahrzehnte gelitten hat. Der Zuschauer weiß dies, es wird ihn aber dennoch, wenn nicht stören, so doch in seinem unmittelbaren Erleben beeinträchtigen, muß er sich doch schon an die ihm wohl unbekannten Methoden von Kameraführung, Montage und Erzähltechnik gewöhnen. Die Musik sollte somit von der Synchronisation her keine zusätzlichen Widerstände bilden, inhaltlich aber den Zeitsprung »gestern und heute« berücksichtigen. Des weiteren muß sich der Komponist im Klaren sein, daß er nur eine von vielen Möglichkeiten anbietet. Diese Tatsache hat zur Konsequenz, daß sich Produzenten bei etwaigen Musikaufzeichnungen Gedanken machen müssen, ob eine Studioproduktion oder ein »Live-Mitschnitt« einer Aufführung zu bevorzugen sei. Mir erscheint der »Live-Mitschnitt« sinnvoll, da er trotz seiner sicherlich unvermeidbaren musikalischen Unzulänglichkeiten die neue Form der Auseinandersetzung als eine Möglichkeit ohne Absolutheitsanspruch dokumentiert. Studioproduktionen vermitteln in ihrer Perfektion immer auch einen Ewigkeitsgedanken. Ein weiteres Argument ist sicherlich auch, daß die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten nicht die Aufgabe darin sehen, den Weg ins Kino bzw. ins Theater zu ersparen, sondern einen großen Beitrag leisten, die Beschäftigung mit dem Stummfilm in ihrer Vielfalt zu dokumentieren und diese Vielfalt voranzutreiben, beispielsweise als Koproduzenten von Stummfilmfestivals oder Einzelveranstaltungen. Auf diese Weise können sicherlich bald auch die unbekannteren Werke der Stummfilmära einem größeren Publikum erschlossen werden, oder, wie weiter oben schon erwähnt, dem Publikum ist es möglich, einen Film in verschiedenen Musikfassungen zu erleben.

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TIMIDES


X U E D S LE Beim Musizieren zum Film mußte ich mir zunächst

über meine Grundhaltung und einige genrespezifische Regeln klar werden. Die Fragen, die ich mir zu Beginn meiner Filmarbeit stellte waren folgende: – Welche Freiheiten bietet mir das Genre, welche Beschränkungen? – Will ich den Film illustrieren, oder den Film um eine erzählerische Dimension erweitern? – Will ich mit dem Film oder gegen den Film arbeiten?

Manche dieser Fragen sind nur anhand eines jeweiligen Filmes zu beurteilen, wonach der Musiker mit jedem Projekt neu Stellung zu beziehen hat. Wichtig ist meines Erachtens, nicht in Dogmen über eine etwaige Authentizität zu verfallen.

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n diesem Zusammenhang möchte ich über meine Überlegungen und Erfahrungen bei der Neuvertonung des Filmes LES DEUX TIMIDES – DIE BEIDEN SCHÜCHTERNEN von René Clair berichten. Der Filmtitel wird in der Literatur gewöhnlich mit DIE BEIDEN FURCHTSAMEN übersetzt. Die Übersetzung »Schüchternen« für »timides« kommt meines Erachtens dem Filmhintergrund und der französischen Wortbedeutung näher. Aus diesem Grund wurde der Film in arte und 3sat unter obigem Titel ausgestrahlt. *

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ené Clairs letzter Stummfilm LES DEUX TIMIDES von 1928, nach dem gleichnamigen Vaudeville von Eugène Labiche und Marc Michel (1860), erzählt die Geschichte eines jungen schüchternen Anwalts namens Frémissin – von frémir, zittern -, der in seinem ersten Prozess einen Gewalttäter, Garadoux, verteidigen soll, der seine Frau erschlagen hat. In seiner Nervosität verheddert sich Frémissin während eines ausschweifenden Plädoyers, in dem er die idyllische Ehe des vorbildlichen Paares schildert, was einige Unruhe im Gerichtssaal zur Folge hat (Clair arbeitet hier mit dem Mittel der dreigeteilten Leinwand). Als eine kleine Maus das Tribunal in Aufruhr bringt, fordert der vollkommen irritierte Advokat versehentlich Haft statt Freispruch für seinen Mandanten. Garadoux tobt, wird aber zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Jahre später konkurrieren beide als Werbende um die Hand der schönen Cécile. Ihr Vater, Thibaudier – der andere Schüchterne –, hat sie Garadoux, der es in der Zwischenzeit zu einem wohlhabenden Weinhändler gebracht hat, versprochen. Cécile will Garadoux um keinen Preis heiraten und verweigert sich störrisch den Plänen ihres Vaters. Sie lernt auf einer musikalischen Soirée Frémissin kennen. Beide verlieben sich ineinander. Frémissin ist aber zu schüchtern, ihr seine Liebe zu gestehen. Die Zeit wird knapp, als Garadoux auf einen Hochzeitstermin drängt. Thibaudier traut sich nicht, Garadoux zu enttäuschen, Frémissin scheut sich, bei Thibaudier um Céciles Hand anzuhalten. Es entsteht eine turbulente Komödie um die Unfähigkeit zweier Menschen ihre Leidenschaften und Ängste mitzuteilen. Frémissin und Garadoux begegnen sich zunächst nicht und die Familie Thibaudier weiß

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nichts von dessen Vergangenheit. Während Frémissin zaudert, nachdem er sich endlich überwunden hat, Cécile seine Liebe zu gestehen und diese ihm das Versprechen abgenommen hat, noch am selben Tage bei Thibaudier um ihre Hand anzuhalten, ist der Notar für die Hochzeit schon bestellt. Einige Tage vergehen. Frémissin besucht Thibaudier täglich, bringt aber sein Anliegen nicht heraus. Garadoux erscheint ebensohäufig, um Thibaudier von seinen Gewissensbissen bezüglich Cécile und der Heirat zu befreien. Zwischentitel: »Sie wird mich schon lieben wenn wir erst verheiratet sind.« Als Garadoux seinem früheren Verteidiger fast in die Arme läuft und er diesen als seinen Konkurrenten erkennt, greift er zum Äußersten. Der maskierte Garadoux überfällt Frémissin, der noch immer nichts ahnt, auf dessen abendlichen Rückweg vom Hause Thibaudier. Er solle sich nie wieder im Dorf blicken lassen. Frémissin ergreift die Flucht, Tage des Zauderns folgen. Am Tag der Hochzeit macht sich Frémissin ängstlich auf den Weg in Céciles Dorf, das drohende Unheil eventuell doch noch abzuwenden. Unterwegs widerfährt ihm abenteuerliches. Er fühlt sich von Mördern gejagt, als einem Auto im Vorbeifahren ein Reifen platzt und Kinder mit Feuerwerkskörpern spielen. Frémissin springt geduckt durch Böschungen. Heil am Haus angekommen, wird er durch einige maskierte Kabinettstückchen der Garadoux’ verschreckt, sodaß er schließlich glaubt, die Familie sei in Händen von Verbrechern. Auch den Notar, der in diesem Augenblick erscheint, kann Frémissin vom Betreten des Hauses abhalten. Beide fliehen und holen einen bewaffneten Polizisten zu Hilfe. Im Eifer seiner Aufregung bringt Frémissin den Polizisten dazu, auf das Haus zu schießen. Nur ein Zufall verhindert Schlimmeres. Eine Magd, die beim Abwasch von den Böllern der Kinder erschreckt einige Teller zerbrochen und sich daraufhin Watte in die Ohren gestopft hatte, nahm von der Zuspitzung der Situation nichts wahr. Als sie nichtsahnend ihr weißes Küchentuch am Fenster ausschlug, wurde das von Frémissin als Zeichen der Ergebung der Verbrecher gedeutet. Die Eroberer stürmen das Haus. Frémissin ist stolz, die Familie Thibaudier aus den Händen der Verbrecher befreit zu haben. Thibaudier begreift nicht, eine wilde Prügelei bricht los, als Frémissin jetzt Garadoux als Übeltäter erkennt und von dessen Vergangenheit erzählt. Vor einer erneuten Gerichtsverhandlung, die mit einer virtuosen Bildkaskade gegenseitiger Vorwürfe der Familien endet und in der Frémissin seinen zukünftigen Schwiegervater verteidigt, zeigt Clair in einer tiefgreifenden Studie die beiden Schüchternen erst zur Offenbarung fähig, nachdem sie sich Mut angetrunken haben. Der aber schlägt sofort in überschwengliche Wut und Racheeifer um. Cécile und Frémissin werden schließlich ein Paar. Am Schluß sehen wir auf einer dreigeteilten Leinwand Garadoux, Frémissin und Cécile sowie Thibaudier im Bett. Die letzteren schalten nacheinander das Licht aus, Thibaudier um sich zur Ruhe zu legen, das junge Paar um unbeobachtet zum Kuss anzusetzen. Nur Garadoux ist noch zu sehen. Voller Wut wirft der seine Lampe zu Boden. Cécile und Frémissin fahren vor Schreck im Bett hoch. Ein Licht scheint auf die


beiden. Vorwurfsvoll blickt Frémissin in die Kamera und zieht ein Rouleau zwischen dem Voyeur und dem Paar herunter.

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ené Clair schöpft mit diesem Film, am Ende der Stummfilmära, noch einmal alle Möglichkeiten rein bildnerischen Erzählens aus. Der Film besticht durch seine erzählerische Souveränität, die einzelnen Episoden einander so durchdringend zu verweben, daß dramaturgische Notwendigkeiten zur Konstruktion der aberwitzigen Komödienabgründe nicht erst eingeführt werden, wenn sie gebraucht werden, sondern jedes Konstruktionselement seine eigene Geschichte erhält, oder aber spontan als plumpes Slapstickelement in den Film einfällt, wie etwa die Maus in den Gerichtssaal. Die spielenden Kinder werden schon lange bevor sie zur Konstruktion des Witzes um die Jagd auf Frémissin gebraucht werden, in einer Dorfplatzsituation, Schabernack treibend, eingeführt. Der Zuschauer nimmt den späteren Witz mit der Knallerei als selbstverständlich hin, ohne sich an der außergewöhnlichen Koinzidenz zu reiben. Dies sei nur ein Beispiel für die virtuose Erzählweise René Clairs, der beklagte: »Der Tonfilm kam noch bevor der Stummfilm sein letztes Wort gesprochen hatte.« LES DEUX TIMIDES war für René Clair ein ungeliebtes Kind, da er gezwungen war, den Film zu beenden, bevor er in die plötzlich aufschreiende Tonfilmeuphorie künstlerisch eingreifen konnte. Er erkannte die Unabwendbarkeit des Tonfilms und fand nicht die nötige Ruhe LES DEUX TIMIDES seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. LES DEUX TIMIDES ging im Tonfilmfieber unter und verschwand nach seiner Uraufführung, mit eilig unterlegten Begleitmusiken für lange Zeit von der Leinwand. Erst 1958 komponierte Georges Dellerue, der Komponist vieler Musiken für François Truffaut, Jean-Luc Godard und Ken Russel, eine neue Musik für ein Doppelprogramm von LES DEUX TIMIDES und UN CHAPEAU DE PAILLE D’ITALIE (Frankreich 1927, Regie: René Clair). Auch nach dieser Wiederaufführung blieben beide Filme einem größeren Publikum weitgehend unbekannt. Zu Unrecht. Beide Filme, von Clair nach Labiche-Komödien gedreht, sind Meisterwerke ihres Genres und Zeugen einer auch heute noch ungetrübten Wirkungskraft bildnerischen Erzählens. Der englische Komponist Benedict Mason komponierte 1989 eine virtuos komische Musik zu UN CHAPEAU DE PAILLE D’ITALIE, die großes Aufsehen erregte und dem Film zu vielen Aufführungen verhalf und darüberhinaus durch das ZDF live aufgezeichnet und mehrfach, auch auf arte und 3sat, ausgestrahlt wurde. Dies sei ein Beispiel für die Wichtigkeit der musikalisch kompositorischen Auseinandersetzung in Hinblick auf die Rezeption(sgeschichte) eines Films.

und über René Clair kaum ein Hinweis auf den Film finden ließ. Hier und da eine kurze Bemerkung über die außergewöhnliche Technik der Leinwandteilungen und die damit verbundene Parallelerzählung, bzw. dessen extreme Rhythmisierung. Ich vermutete sofort eine große Herausforderung an mich als Musiker, befürchtete aber dennoch einen sich in technische Experimente verlierenden Film. Ich las zunächst den kurzen Text von Labiches Bühnenstück und hoffte aufgrund meiner Erfahrung mit dem Vergleich von Textvorlage und Film bei UN CHAPEAU DE PAILLE D’ITALIE auf eine ebenso virtuose Bilderzählung. Meine Hoffnung erfüllte sich, als ich den Film zum erstenmal zu sehen bekam. Mich beeindruckte seine stille, zurückhaltende, doch bitterböse, tiefschwarze Komik. Als Anlaß der Geschichte dient ein Mord, den René Clair entgegen der Textvorlage, die das Ereignis nur indirekt erwähnt, an den Anfang seines Films stellt. Gezeigt wird, wie Garadoux in die Wohnung zurückkehrt, wo seine Frau an der Nähmaschine arbeitet. Grundlos beginnt er sie zu verprügeln. Als sie hilflos am Boden liegt, betrinkt er sich und läßt sie verkümmern. Eine Überblendung zum heftig gestikulierenden Ankläger führt uns unmittelbar in die Turbulenz der Gerichtsverhandlung ein. Die Familien Garadoux und Frémissin sind dort anwesend. Clair zeigt groteske Gestalten, von denen nur einige mit archetypischen Charaktermerkmalen ausgestattet sind, andere, insbesondere die Hauptfiguren, sind in ihrem Handeln und den Beziehungen untereinander vielschichtig gekennzeichnet. Clair zeigt Menschen, die in Konventionen des Bürgertums gefangen sind und treibt deren Handlungsunfähigkeit filmisch auf die Spitze. Wie wir es etwa aus den Theaterstücken Anton Cechovs kennen, entsteht die Komödie aus der Tragödie. Clair legt uns den Abgrund allerdings schon mit Beginn des Films offen zu Füßen. Für mich bestand die Herausforderung darin, eine Musik zu komponieren, die die Tragödie nicht der Komik opfert, sondern jene stets im Hintergrund mitträgt, dem Film wiederum aber keine Schwermut verleiht oder etwa moralisiert. Ich entwickelte ein Netz von Leitmotiven im filmmusikalischen Sinne, die Personen(konstellationen) oder Situationen kennzeichnen und die in hohem Maße verwandelbar und leicht wiederzuerkennen sind.

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ieses zumeist zwölftönige Material soll in der ausgearbeiteten Partitur in abwechselnd strenger und freier Verarbeitung dazu dienen, die aus der Schüchternheit der Titelhelden resultierende Handlungsunfähigkeit ad absurdum zu führen. Das Schüchternheit-Motiv erscheint in seiner ängstlich zarten und zögerlichen Grundgestalt und Umkehrung in Verbindung mit Frémissin, die deutlich sprunghaftere Variante der Quartableitung und deren Umkehrung charakterisiert das Umfeld Thibaudiers. Dieses Material wird in der Musik des Vorspanns exponiert und leitet zur ersten Szenen über.

ls ich mich mit den Stummfilmen René Clairs beschäftigte, stieß ich in einem französischen Werkverzeichnis auf LES DEUX TIMIDES. Schon der Titel ließ Großes ahnen. Umso verwunderlicher allerdings, daß sich in der zahlreichen Literatur von

as Grobschlächtigen-Motiv mit seiner Sechstonfolge im Quintabstand und der im Halbtonintervall folgenden sechstönigen absteigenden Ganztonfolge ist in seiner Unverwandelbarkeit dem Umfeld Garadoux’ zugeordnet.

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S E D I M I T X


Das lyrische Liebe-Motiv mit seiner sich elegisch aufschwingenden kleinen Sexte zu Beginn ist natürlich Cécile und Frémissin vorbehalten, muß aber im Laufe der Verstrickungen häufig in eine Warteschleife geschickt werden und bekommt auch mit dem Happy-End keinen erfüllenden Pathos. Das Schelmen-Motiv kennzeichnet Kinder und Mäuse. Das Entschlossenheit-Motiv ist nur eine klischeehafte Vorspiegelung von Burschikosität und ist vielseitig zu verwenden.

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ei der Besetzungsfrage spielte folgende Klangvorstellung eine große Rolle. Ich wollte zunächst einen sehr kompakten, weichen Grundklang, der jedoch in eine gepreßte Hysterie transformierbar wäre, wie durch die zurückhaltende Vornehmheit der Gesellschaft und der daraus entstehenden Zwänge evoziert wird. Ich wählte eine Instrumentierung, vorwiegend aus den jeweils mittleren und tiefen Vertretern der Instrumentengruppen bestehend: Alt- und Baßflöte, Englischhorn, Baßklarinette, Horn, Tenorbaßposaune, Viola, Cello, Kontrabaß und schließlich Schlagzeug. Nur an exponierten Stellen finden Flöte, Bb- und Eb- Klarinetten, Oboe und eine Alt-Posaune Verwendung. Mit häufigem Spiel in extremen Lagen wollte ich die oben beschriebene unterschwellige Hysterie erzeugen.

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Die Musik sollte von ihrer Grundhaltung her in der Klangästhetik der Moderne angesiedelt, nicht aber darin verwurzelt sein und sollte jederzeit ihren Gestus der Filmdramaturgie gemäß verändern können. Diese spielt mit überlieferten Klischees und entwickelt filmische Mittel, die heute noch als fortschrittlich gelten dürfen, was entsprechend zeitgemäße musikalische Mittel empfiehlt. Die Musik sollte synchrontechnisch sehr eng am Film anliegen, um sich seinem Puls anzuschmiegen, damit die Eigenständigkeit der Partitur sowie einige von mir verwendete stilistische Freiheiten, wie sie nur aus fast siebzigjähriger Distanz denkbar sind, vom Zuschauer/Zuhörer leichter aufzunehmen wären. So habe ich bei der Synchronisationsarbeit jeweils Tempi und Rhythmen aus verschiedenen Bildebenen abgenommen, um die Musik ganz mit der Handlung zu verflechten. *

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unächst möchte ich kurz über meine Vorgehensweise bei der Filmanalyse, der Takeeinteilung, der Findung des Synchronrasters berichten: Nach einer ersten Fühlungnahme mit dem stummen Film erstelle ich ein grobes Raster, das den Film in seine Episoden unterteilt.


Timecode

Handlung

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Aufblende Türschloß, Hand ins Bild öffnet Tür Zimmer mit Frau an Nähmaschine, Kamerafahrt auf Frau zu Frau schaut von Arbeit auf, ängstlich Frau kümmert sich wieder um Arbeit Frau schaut nochmals auf, nervös Frau kümmert sich wieder um Arbeit Frau schaut wieder ängstlich, grosse Augen Ende Kamerafahrt, Großaufnahme, Frau verkrampft Frau kauert sich angstvoll zusammen Schnitt, nah, G im Türrahmen, raucht, tritt grimmig ein, schließt Tür nimmt Kippe aus dem Mund, das Gesicht verkniffen wirft Kippe zu Boden, geht vor Schnitt, halbtotal, Zimmer, Frau schreckt zurück Mann ins Bild Frau steht angstvoll auf geht auf Mann zu, der weiter auf sie zu baut sich groß vor ihr auf, sie fleht Schnitt, beide von der Seite, nah, er brüllt sie an sie wendet sich ab und ihm wieder zu, der brüllt er holt zum Schlag aus, sie schützt sich er trifft sie am Kopf, sie sinkt zu Boden Schnitt, Boden, sie sinkt weiter, er hebt sie hoch, zerrt sie herum, um sie erneut zu Boden zu werfen Schnitt, sie liegt am Boden, er dreht sich weg, sie windet sich Schnitt, groß, Nähmaschine, er kommt, reißt die Kleidung vom Tisch sticht die Schere in den Tisch, so daß sie stecken bleibt, er weg Schnitt, Regal mit Porzellanfigur

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Diesen Episoden werden später die Takes zugeordnet, einzelne filmmusikalische Formabschnitte, die im Falle von Studioaufnahmen beispielsweise einzeln aufgenommen und später zusammengeschnitten werden. Ein Take beinhaltet in der Regel mehrere Szenen, die den Take kleinformal unterteilen. Einzelne Szenen sind aus einer Anzahl von (Kamera-)Einstellungen zusammengesetzt. Innerhalb solcher Einstellungen werden die Synchronpunkte gewählt und als Bezugspunkte für den Beginn und das Ende eines Musikabschnittes oder als Anhaltspunkte zur Tempokontrolle gesetzt. Die einzelnen Filmbilder werden durchnumeriert und mit einem TimeCode versehen. Anhand des Time-Codes kann ich genau ablesen, wieviel Zeit mir von einem wichtigen Ereignis zum nächsten zur Verfügung steht. Auf diese Weise kann ich das Verhältnis von Tempo und die mir bei jenem Tempo zur Verfügung stehende Anzahl von Takten eines gewünschten Metrums ausprobieren. Die Musik wird auf diese Weise genau auf den Film zugeschnitten. Ich markiere Einstellung für Einstellung die mir wichtigen Synchronpunkte und kann später daraufhin die Formverhältnisse und Gestalt der Musik entwickeln. Die Schwierigkeit besteht darin, in einem Meer von Berechnungen nicht den Überblick und den Gedanken ans Musizieren zu verlieren, sonst entsteht Flickwerk. Jede kleinste musikalische Zelle muß auf ihren Zusammenhang, auf ihr Zusammen-

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m Zuge der Synchronisationsfragen muß das Problem der Zwischentitel als formgestaltendes Element diskutiert werden. Im frühen Stummfilm faßten die Titel die darauffolgende Handlung zusammen und gliederten somit die Episoden. Mit zunehmendem Transport komplexer Handlungen schien es notwendig zu sein, den fehlenden Dialog durch Schrift zu ersetzen. Titel wurden immer zahlreicher, sie waren ein bequemes Mittel, ohne großen filmi-

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spiel mit der Großform hin gedacht, erprobt werden, damit schließlich eine überzeugende Musik entsteht. Nichts geschieht zufällig. Das folgende Beispiel enthält die Ereignisse zu den von mir gewählten Synchronpunkten meiner Arbeitskopie. Filmgeschwindigkeit: 25 Bilder/sec:


schen Aufwand, beispielsweise Theaterstücke zu verfilmen. Oftmals wurden die erklärenden Titel von den Produzenten eingefügt, die ihrem Publikum wenig zutrauten. Für den heutigen Stummfilmmusiker sei dies eine Empfehlung, die einzelnen Titel auf ihre jeweilige Notwendigkeit hin zu prüfen und sie gegebenfalls im musikalischen Duktus zu ignorieren. Gelegentlich können, trotz der beschriebenen Probleme, Synchronpunkte auf Titeln notwendig sein. Die Erfahrung zeigt, daß dieses Mittel jedoch vorsichtig zu verwenden und gut zu dosieren ist. In LES DEUX TIMIDES gibt es 50 knapp gehaltene Titel – viele Filme haben weit über 100 Titel –, von denen alleine neun auf Vorspann- und Endtitel entfallen. Die meisten geben nur kurze, unbedingt notwendige Hintergrundinformation, einige wenige jedoch scheinen mir auch hier überflüssig, bestätigen sie doch nur, was das Bild ohnehin zeigt. Ob diese Titel von Clair stammen oder von seinem Produzenten ist mir nicht bekannt. Weiterhin ist die Stummfilmmusik auf das Einsetzen der Musik mit ihrer jeweiligen Szene, ob auf Titel oder Bild, angewiesen. Das Vorwegnehmen oder Überhängen von Musik über den Szenenrahmen hinaus, wie es im Tonfilm oft benutzt wird und, zumeist aus dem off kommend, ein verbindenden Charakter hat, funktioniert im Stummfilm nach meinen bisherigen Erfahrungen nicht.

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ie Musik zu LES DEUX TIMIDES behauptet einen eigenständigen Erzählcharakter, kommentiert und illustriert zuweilen auch plakativ, wo der Film Klischees ausspielt und soll gleichzeitig die Innenwelten der Protagonisten offenlegen. Darüberhinaus soll die Tragödie, der Abgrund, auch in den heitersten Situationen nie fern sein. Der Puls des Films soll erhalten, ja sogar unterstrichen werden, da ich die Erfahrung gemacht habe, wie wichtig das Timing für das Gelingen einer Komödie ist. Die Skurrilität der Gesellschaft im Film sollte ihre Entsprechung in der Orchestermusik finden. Wie der Film mit Formen spielt, so soll meine Musik mit Formen spielen. Bespielsweise im Fall der Leinwandteilungen. Dieses Mittel benutzt Clair zum ersten Mal während Frémissins Plädoyer für das vorbildliche Eheleben der Garadoux’. Die verschiedenen »Wohltaten«, die Garadoux seiner Frau angedeihen läßt, werden bis zu einer Fünffachteilung des Bildes getrieben, um die Unwahrscheinlichkeit der Behauptungen zu betonen. Aus einem süßlichen Walzer von Flöte, Horn und Baß, geht zusammen mit dem Bild (Garadoux spielt für seine Frau Geige) ein pathetisch kitschiges Solo der Viola hervor, samt eingestreuter Pizzicati synchron zum Film komponiert und in einer Aufführung möglichst auch synchron gespielt. In solchen Herausforderungen besteht für Musiker ein besonderer Reiz, dessen Ausleben dennoch nicht zum Selbstzweck werden sollte. Es ist für Zuschauer und Musiker gleichermaßen ein schönes Erlebnis, wenn solche Wagnisse funktionieren, was bei filmerfahrenen Musikern recht häufig der Fall ist. Die Synchronisationsprobleme beim Musizieren mit Film werden von filmunerfahrenen Musikern oft unterschätzt. Musiker verfallen oftmals dem Irrtum, sich nur auf die richtigen Tempi konzentrieren zu müssen,

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da der Film konstant läuft. Die Schwierigkeiten liegen im Ausdruck. Die Musik wirkt allzuoft maschinell, wenn die Musiker zu sehr an den vorgegebenen Tempi »kleben«. Erst äußerst erfahrenen Musikern gelingt es, der Filmmusik einen Bogen zu verleihen, der sie wie selbstverständlich und nicht kalkuliert wirken läßt. Ein Erlebnis der besonderen Art ist es, wenn Musiker die Souveränität erlangt haben, mit Ausdruck, Tempo und Synchronpunkten während einer Aufführung zu spielen. Die Lebendigkeit, die eine solche Filmvorführung erhält, ist beeindruckend. Wie aus diesem Bild parallel ein zweites hervorgeht, in dem Garadoux seiner Frau die Schuhe putzt, so entwickelt sich in der Musik eine zweite selbständige Melodie mit Begleitung, während die Viola in höchsten Tönen zwitschernd den vorigen Duktus fortführt.

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ie schwelgende Rede Frémissins löst im Gerichtssaal eine Unruhe aus, die durch das Auftauchen einer Maus zu Füßen des obersten Richters noch übersteigert wird. Hier taucht das Schelmen-Motiv, gespielt auf der Eb-Klarinette, zum erstenmal auf. Der Richter springt vor Schreck auf, was den beflissenen Gerichtsdiener veranlaßt, das Publikum aufzufordern, sich zu erheben. Hier werden Fetzen der Marsaillaise in den Melodieverlauf eingestreut, die


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rémissin taumelt und stellt die Forderung nach Verurteilung Garadoux’. Die folgende Schlägerei wird von einer dreiteiligen Musik begleitet, deren Rahmen zwei gelenkte Improvisationen bilden. Der Mittelteil kommentiert die Einstellung von Frémissins vorsichtigem Auftauchen aus seinem Versteck, seine Lage einzuschätzen. Jeder Improvisierende hat klar gegliedertes Material, das in Ergänzung die zwölf Töne abdeckt und kann es in einer Patternstruktur mit eigenem Tempo und Artikulationsformen anhand eines selbstgewählten Anhaltspunktes im Bild gestalten. Auf diese Weise entsteht eine rasende Turbulenz, die dennoch ihren Kontakt mit dem musikalisch-szenischen Umfeld nicht verliert. Der Dirigent kontrolliert den zeitlichen Ablauf und gibt die Synchronpunkte für gemeinsame Akzente oder Wechsel zur ausnotierten Musik.

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in Peitschenschlag beendet den Tumult und löst die drei Zeitsprünge der nächsten Szene, Garadoux zwei Jahre in Haft, Entlassung, Resozialisierung aus. Die Filmzeit beträgt 1 1/2 Minuten. * aber mit zunehmender Unruhe mehr und mehr entstellt werden und sich zu stampfender Dramatik verdichten, als im Tribunal eine Panik ausbricht. Das Publikum staunt, bis eine Dickmadame von der Maus aufgescheucht wird. In diesem Moment schlägt die Musik auf dem Kopfmotiv der Marsaillaise basierend in eine Art Swing um, der ebenso überraschend wirkt wie die Maus im Gerichtssaal und der hier dazu dient, das anarchische Moment, die unterwanderte Staatsraison, zu überhöhen. René Clair zeigt hier Bilder, die rhythmisch wie ein revuehafter Reigen montiert sind. So gibt es beispielsweise zweimal eine Großaufnahme von den Füßen eines in Panik springenden Mannes. Mir kam sofort die Assoziation an einen Steptänzer und ich habe aus diesem Grund einen Schlagzeug-Break im Stile der Bigband-Drummer unterlegt. Die ganze Szene ist eine choreografierte Hommage an den Slapstick. Die Musik bricht ebenso mit der vorherigen, wie der Film mit seinem Konzept der logisch eingeführten, vorbereiteten Konstruktionsmechanismen (s.o.). Ich bediene das Klischee indem ich Hymne gegen Tanzmusik ausspiele. Film und Musik steigern sich zum Exzess, die Posaune »trotzt« ein »fetziges« improvisiertes Solo auf der Basis des Marsaillaise-Materials, bis die Maus in ihrem Loch verschwindet und nach und nach wieder Ruhe einkehrt. (Das Schelmen-Motiv und der Swing werden

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it dem Titel »Die zwei verstrichenen Jahre haben die Schüchternheit Frémissins nicht kuriert...« beginnt ein neuer Formteil. Auf einer musikalischen Soirée lernt Frémissin Cécile kennen. Clair überzeichnet hier das Bild einer großbürgerlichen Gesellschaft und deren normierte Verhaltensweisen. Die strenge kantable Monotonie weckte in mir Assoziationen an Luciano Berios’ »Chemins IV« für Oboe und Streicher und »Sequenza III« für Oboe (beide Universal Edition, Wien). Ich stellte mir die konzertierende Oboe als die Sängerin und die begleitenden Instrumente als die Gesellschaft dieses Hausmusikabends vor. Ich verwendete schließlich ein Englisch-Horn statt der Oboe und das gesamte mir zur Verfügung stehende Kammerorchester als gesellschaftliche Begleiter. Es erklingt das Material des Schüchternen-Motives und, exponiert, der Grundton F der Reihe gemäß Berios’ H in »Sequenza III« und »Chemins IV«. So wählte ich formal den größtmöglichen Tonabstand zur Vorlage, um nicht zuletzt auf diese Weise meine Paraphrase als konterkarierend von ihr zu entfernen. Ich ließ mich vom exaltierten Gestus von Berios’ Musik, insbesondere des Soloinstrumentes, der Diva, inspirieren. Das Englisch-Horn allerdings erzeugt einen sehr viel weicheren Klang als die Oboe. Die Solostimme wirkt deshalb sehr viel stärker in den Gesamtklang integriert. Sie wird nur an we-

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später nochmals im Zusammenhang mit den Schabernack treibenden Kindern benutzt, die ebenso wie die Maus Unruhe stiften und gejagt werden.) Die Marsaillaise anverwandelt sich in zarten Tönen von Bb-Klarinette und Horn dem Schüchternen-Motiv, das die Aufmerksamkeit nun wieder auf Frémissin lenkt. Der macht nun mehrfach den Versuch, seinen Faden im Plädoyer wiederzufinden, er beginnt von Neuem, verhaspelt sich häufig, zögert, wiederholt. Die Musik macht im Walzertakt all diese Dehnungen und Streckungen mit, bis sich plötzlich mehrere der zunächst sukzessiv eingeführten Linien verselbständigen und gleichzeitig erklingen.


nigen Stellen mit der Sängerin im Bild fokussiert. Die Musik vermittelt eine unterschwellige Unruhe. Ein ständig wechselndes Metrum sorgt für eine unregelmäßig vibrierende Grundstimmung. Das Schüchternen-Motiv wird in Fetzen gerissen und vollkommen durch die Mangel gedreht, während Frémissin nervös neben Cécile s(chw)itzt und die Umsitzenden schon deren Zukunft planen. Hier erscheint das Grobschlächtigen-Motiv mit seinen Quintschichtungen und übernimmt für kurze Zeit das Feld. Als Frémissin an der Troddel einer Häkeldecke spielend, diese plötzlich abreißt, ist die Pein groß. Stille, das Soloinstrument flicht das Liebe-Motiv, wie in der gesamten Szene von Mal zu Mal, gehetzt in sein Spiel ein. Die Situation gerät grotesk.

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ie folgende Szene zeigt Thibaudier und Garadoux in einem Verhandlungsgespräch über Cécile. Hier ist die Musik seltsam zurückhaltend. Das Solo-Cello spielt eine Variante der Schüchternenreihe. Jeder Ton wird durch eine Bewegung Thibaudiers ausgelöst. Die Musik wird gleichsam durch den Film moduliert. Die drei Holzbläser und das Horn unterlegen der Handlung ein starres System von Akkorden, das die bedrückende Stimmung schafft. Jedes der Instrumente übernimmt der Reihe nach einen vom Cello ausgelösten Ton und hält ihn. So entstehen Vierklänge aus benachbarten Tönen der Reihe. Spielt das Cello den 5. Ton, so wird ein Akkordton durch den neuen ersetzt usw. Schließlich übernimmt Garadoux mit einer »Schmeichel-Variante« des GrobschlächtigenMotivs souverän das Zepter.

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ls Frémissin und Cécile sich schließlich näher kommen verwandelt sich die Musik in einen überspitzt romantisch kitschigen Ausdruck. Verminderte Dreiklänge kommentieren und überzeichnen die Unfähigkeit beider, sich aus den Konventionen zu befreien. Liebeslust und Schüchternheit wechseln sich in zartem Reigen miteinander ab und geraten in eine scheinbar nie enden wollende Schleife. Man erinnert sich der vergangenen Wochen, des ersten Kennenlernens, freut sich miteinander und versäumt das Wesentliche. Die Musik führt das bis zu diesem Zeitpunkt exponierte Material ausufernd und mit Hang zur Übersteigerung durch, bis es schließlich zum langersehnten ersten Kuß kommt. Hier hält sich die Musik stillschweigend zurück, um das schöne, mit Weichzeichner fotografierte Portrait des küssenden Paares in Ruhe wirken zu lassen. Als Frémissin nun Thibaudier aufsucht, um um Céciles Hand anzuhalten, kommentiert die Musik die lange Peinlichkeit der Szene mit äußerster Zurückhaltung. Die schüchternen Versuche beider, sich einander anzuvertrauen werden mit einer fremden Zartheit durch die drei Streichinstrumente »aus weiter Ferne« sozusagen seltsam unterstrichen. Als Vorbild dienten mir die Klanginseln »Töne einer geheimeren Welt« in Luigi Nonos Streichquartett »Fragmente – Stille, An Diotima« (Universal Edition, Wien). Nonos Musik soll mit einer von Beethoven stammenden Vortragsbezeichnung »mit innigster Empfindung« gespielt werden. Die von mir verwendete Musik nimmt wiederum die Vorlage nur als Assoziation, als

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äußeren Anlaß, soll sich aber nicht dem Geist des jeweiligen Werkes verpflichtet fühlen.

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ch lege diese, für das Ziel meiner Filmmusik irrelevanten Beziehungen offen, um den Inspirationsvorgang transparenter zu gestalten. Meine Musik zu dieser Szene konstruiert Klanginseln aus der Schüchternen-Reihe und ihren Ableitungen. Die klanglichen Ereignisse sind vereinzelt, »ohne Tempo und ohne Metrum«, mit »innigster Mitleidsempfindung« vorzutragen. Auslöser für ein Klangereignis sind Bewegungen der beiden Schüchternen und der daraus resultierenden Spannungen im Raum.

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m weiteren Verlauf der Handlung werden aus dem Material martialische Schlachtenmusiken entwickelt, die filmmusikalische Klischees benennen und auf ironische Weise reflektieren. Die zunehmende Grobschlächtigkeit der Motivationen der Filmfiguren durchdringt schließlich die gesamte Musik und wird in einem furiosen Finale zu einem Höhepunkt getrieben, nach dessen Erreichen sich allerdings, trotz Happy-End, ähnliche Konstellationen (auch musikalisch) wie zu Beginn des Filmes etablieren. Dem Happy-End der weiter oben beschriebenen Schlafzimmer-Parallelszene


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bschließend möchte ich noch auf die Notwendigkeit hinweisen, Denkanstöße und Produktionsmöglichkeiten weiterhin zu intensivieren. So könnten beispielsweise durch bessere Koordination von Auftrittsmöglichkeiten eines Film-und-Musik-Projektes, im Rahmen von Tourneen, Kosten gesenkt werden, da eine Filmmusik, einmal geprobt, öfter in Folge aufgeführt werden könnte. Häufige Wiederaufnahmeproben für Einzelveranstaltungen entfallen, was die ohnehin schon recht teuren Projekte für Veranstalter attraktiver, weil preiswerter macht. Im Zuge solcher Maßnahmen könnte es vielleicht auch gelingen, die Stummfilmepoche einem großen Publikum noch näher zu bringen, indem in Zukunft auch weniger bekannte Titel gezeigt werden könnten. Die Berührungsängste mit einer zunächst zu Unrecht »altmodisch« anmutenden Kunstform konnten auf vielen Ebenen abgebaut werden. Jetzt gilt es, die so geschaffene Basis zu erweitern und dem Publikum eine größere Vielfalt anzubieten, so auch Experimente, die uns herausfordern sollen, unsere Wahrnehmung stets aufs Neue zu überprüfen. Der Beitrag erschien zuerst im screenlink-VRL: www.screenlink.de; Redaktion: Bernd Eichhorn

habe ich eine »Serenade«, inspiriert durch die Serenade in Strawinskys »Pulcinella Suite« (Boosey and Hawks, London), unterlegt. Das musikalische Material basiert auf Céciles und Frémissins LiebeMotiv. Diese Serenade bahnte sich zuvor schon einmal an, als das Liebespaar sich zu einem ersten gemeinsamen Ausflug begegnete. Die Serenade reißt mit einem Pizzicato-Schlag der Streicher ab, als eigentlich ein neuer Formteil beginnen müßte. Hier zerschlägt Garadoux seine Nachttischlampe. Übrig bleibt die Oboe mit einem Quintaufschwung f#’’ – c#’’’, einem in dieser Musik »bedeutungsschwangeren« Intervall, der mit der versteckt inspirierenden Liebesmotivik der musikalischen Soiree verwandt ist und kennzeichnendes Intervall von Garadoux’ Grobschlächtigkeit. Als Frémissin dann das Rouleau herunterzieht, wird die Musik von dem absinkenden und ersterbenden Glissando einer nach dem Anschlagen in Wasser getauchten antiken Zymbel (auf c#) abgeschnitten. *

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as mich an Stummfilmmusik (oder Filmmusik generell) interessiert, ist die Auseinandersetzung mit einem zweiten Medium, die von mir eine große Flexibilität im Umgang mit ver-

Les deux timides / Die beiden Schüchternen Frankreich 1928 Regie: René Clair; Produktion: Films Albatros / Sequana; Buch: René Clair, nach einem Schauspiel von Eugène Labiche und Marc Michel; Kamera: Robert Batton, Nikolai Roudakov; Länge: 95 Minuten; Musik: verschiedene Begleit musiken, Georges Dellerue (1954); Musik (1995): Bernd Schultheis; Verlag, Notenmaterial: Bernd Schultheis; Produktion: Bernd Schultheis / ConGioco-Ensemble, in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Stummfilm festival Esslingen; Besetzung: Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Posaune, Schlagzeug, Viola, Violoncello, Kontrabaß; Erstaufführung: 12.05. 1995 Stadtgarten Köln, ConGioco-Ensemble, musikalische Leitung: Frank Strobel. ConGiocoEnsemble: Ebba Rohweder (Flöten), Georg Bongartz (Oboe, Englisch-Horn), Winfried Kaßenberg (Klarinetten), Urla Kahl (Horn), Andreas Roth (Posaunen), Michael Pattmann (Schlagzeug), Mickey Zirnbauer (Viola), Susanne Ehlers (Violoncello), Astrid Stutzke (Kontrabaß); TV-Erstausstrahlung: 18.06. 1995, 3sat.

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schiedenen musikalischen Stilistiken verlangt. Dieses An-den-FilmGebundensein schränkt meine Freiheit nicht ausschließlich ein, sondern eröffnet mir Möglichkeiten, Kombinationen von Musikstilen zu verwenden, die eigenständige musikalische Qualität entwickeln und die im Konzertsaal undenkbar wären. Das Medium Film verlangt eine eigene musikalische Logik, die zu entdecken mir neue, wichtige Erfahrungen eröffnet hat.


Willy Sommerfeld im Gespräch aufgezeichnet von Ilona Ziok

y l l i W m m So

Ilona Ziok: Was fragen Sie denn die Leute gewöhnlich, wenn sie mit Ihnen sprechen? Willy Sommerfeld: Ach, die berühmten Fragen, halt. Danach, wie alt Sie sind ? Schon wieder? Sie wissen es doch inzwischen! Ich meine, die anderen Leute, sie fragen nach dem Alter... Ja. Sie sind schlecht erzogen.

Und was fragen sie danach? Wie alt meine Frau ist. – Privatsachen möchte ich aber nicht mit hineinbringen.

Sie sind sehr jung nach Berlin gekommen und wollten... ... studieren, ja. Am Sternschen Konservatorium, nicht an der Hochschule. Die Hochschule hatte nie einen guten Ruf. Und jetzt auch nicht. Am Sternschen Konservatorium in der Bernburger Straße war das, und da waren große Leute, Alexander von Fiedes war ein bedeutender Mann, er war mein Lehrer in der Kapellmeisterklasse... Da waren alles Berufspianisten, ich ja nicht. Ich kam von der Geige. Klavier habe ich nebenbei gemacht. Da wurde ich aber schon, wie soll ich jetzt mal sagen, als Beispiel hingestellt, auch in der Kappellmeisterklasse. Alexander Fiedes, der hat mal gesagt: »Guckt euch den kleinen Sommerfeld an, wie der Klavier spielt!« – Na ja, aber stellen Sie sich vor: Ich hatte erstmal das Musiklehrerexamen gemacht, 1920, überlegen Sie mal, da war ich 16 Jahre alt, als ich ein Diplom bekommen habe, also durfte ich schon den Beruf ausüben, aber... ich wollte was anderes, Kappellmeister und Komponist. Um das zu verfolgen, hab ich mich von meinen Eltern getrennt und hab in Berlin angefangen zu studieren. Es hat aber noch lange gedauert, ehe ich dann meine Laufbahn als Kappellmeister beginnen konnte, denn es waren schlechte Zeiten... Ich habe gehungert und dann kam der Job mit dem Professor. Im Kino Stummfilme zu begleiten? Genau.

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Mich würde interessieren, wie das so war. Zuerst war ich mit meinem Professor unterwegs, der spielte Klavier und ich Geige. Da mußten wir natürlich nach Noten spielen. Er überließ mir, die auszusuchen, also die entsprechende Musik. Zu jedem Film erschienen damals Titel mit passenden Musiken dazu. Ich bin nicht eingebildet, aber das paßte mir nicht. Ich wollte meine eigenen Musiken machen. Und dann habe ich mir einen Film angeguckt, einen Abend vorher, Musiken ausgesucht und am nächsten Morgen ging es los. Als ich die ersten Begleitungen gemacht habe, war das noch nicht in dem Sinne wie ich es jetzt mach. Ist doch ganz klar, nicht? Denn das war ja nicht mein Beruf. Das habe ich nur gemacht, um leben zu können. Wollen wir es so sagen, damals war die Musik noch nicht so getreu, wissen Sie was ich meine? Die Musik war noch nicht so bildgetreu. Da gibt es einen berühmten Ausspruch von mir: »Das Bild diktiert die Musik.« Das heißt, die Musik soll spontan und gleichmäßig mit dem Bild verschmelzen, als ob beide immer zusammen wären. Ich sehe das Bild und will da spontan die Musik finden, synchron mit dem Bild. Das Bild läuft mir in die Hände. Ich kann jeden Film sehen, ich spiele sofort die Stimmung. Und damals mußte ich eben Noten nehmen, die ich hatte, oder die das Kino hatte. Es gab ja noch keine Noten für dramatische Sachen wie Rennen oder so was. Es gab ja die klassische Musik, such aber erstmal in der Klassischen nach so was Ausgefallenem wie Rennen! Manchmal nur paar Takte, die dahin paßten, aber woher? Sie müssen ja ein erstaunliches Gedächtnis haben! Jawohl. Das müssen Sie. Und dann gab es Situationen, da erschien auf einmal ein Musiktitel als Schrift, den müssen Sie gleich draufhaben. Was würden Sie machen, wenn da etwas stünde, das Sie nicht kennen würden? Da würde ich in dem Sinne etwas erfinden.

Haben Sie das auch schon mal gemacht? Eigentlich nicht, ne, es kommt ja kaum vor.

Ich hab kürzlich einen Film von Ihnen begleitet gesehen, da hatten Sie bei einem Liebespaar ...den Hochzeitsmarsch gespielt! Ja, natürlich, wo es angebracht ist und wo ich es nicht lassen kann, da spiele ich auch den Hochzeitsmarsch. Warum nicht? Aber wenn im Film getanzt wird, dann ist es manchmal schwer zu erkennen, was da eigentlich getanzt wird.

Das hat mir sehr gefallen. Das war so lebendig. Aber war es auch üblich, daß man im Kino klassische Musik mit Gassenhauer, mit Schlagern oder populärer Musik mischte? Ja natürlich, wenn es angebracht war. Das war üblich, selbstverständlich. Man mußte doch spielen, was das Publikum kennt. Fürs Ohr, ne? »Heinzelmännchens Wachparade«. Das war eine sogenannte Schmonzette oder »Wenn die Liebe stirbt«. Das waren so die gängigen Sachen. Man konnte nicht nur Klassik bringen, das Publikum war ja bunt gemischt, und wollte Abwechslung. Geben Sie mal Acht, da wird z.B. im Film gesoffen und da fängt einer an zu grölen und ich spiele »Wir versaufen unserer Oma ihr kleines Häuschen«...

Wie sind Sie denn mit der Masse der Werke bei der Auswahl und vor allem beim spontanen Spielen zurechtgekommen? Irgendwie gefummelt, Zeugs gefummelt. Wird ja nicht ideal gewesen sein. Aber, irgendwie muß ich auch nicht ganz schlecht gewesen sein. Jetzt erzähle ich eine alte Geschichte, aber immerhin, sie paßt zu dem Rahmen. Es gab viele Schauspieler, die zu ihren Filmen in Begleitung erschienen, um zu sagen: »Seht mal, das bin ich da oben«. Und einmal war die Rosa Valetti da. Als der Film zu Ende war, ist sie aufgestanden, kam vorbei, und sagte zu mir: »Kleiner, du hast mir aber ein schönes Kleid angezogen«... sie meinte natürlich, musikalisch. Gibt es weitere Episoden mit Schauspielern? Eigentlich nicht. Ich bin ja mit den Leuten kaum in Berührung gekommen. Ich machte Musik und dann weg.


beiden »Liebenden« beim ersten Mal entdecken, da lachen sie ja immer, und diese Musik ist Beethoven. Daraus wurde ein Leitmotiv von der Maria, wenn sie ihm erscheint, das liebe Geschöpf, und er sie sieht. Und wenn sie sich dann wiedersehen und in den Armen liegen... Und gibt es auch Ihre eigenen Sachen, die immer wieder vorkommen? Eigentlich nicht. Denn ich spiele jetzt nur ein paar Motive, die ich immer aus der Klassik wiederhole. Sonst spiele ich Musiken, die ich in dem Augenblick erfinde! Also, ich komponiere. Ganz spontan. Und hinterher habe ich ja vergessen, was ich gespielt habe, was ich improvisierte. Weg! Keine Ahnung. Ich belaste mich nicht vorher mit Vorbereitungen. Es gibt andere Dinge, mit denen ich mich belasten kann. – Das ist aber eine süße Last, ne?

Laune haben, beeinflußt es den Film, daß er insgesamt trauriger wird, oder wenn Sie besonders lustig sind... ...ich habe mir da schon komische Sachen erlaubt, als ich z.B. einen Berlin Film begleitet hatte. Da geht es um ein Mädchen, das die Friedrichstraße entlang läuft, Sie verstehen, ja? Und dann fiel mir ein »Von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt« zu spielen. (er lacht)

d l e er f Gibt es Beispiele von Musiken, die sich bei Ihnen eingeschlichen haben und jetzt immer wieder vorkommen, einem Leitmotiv gleich? Ja, natürlich, weil ich die Erfahrung gemacht habe, das paßt gut hin und dann kann man dabei bleiben, bei der Musik. Z.B. im DER LETZTE MANN, wenn er seinen Entlassungsschein kriegt, da zitiere ich Tschaikowski. Oder in METROPOLIS, wenn Babylon erscheint, da habe ich von Rachmaninov ein Präludium genommen. Das paßt, weil es so gigantisch ist. Das ist auch eine bekannte Musik, die mir dafür als Zitat eingefallen ist und die blieb. Oder die Szene, wenn sich die

Willy Sommerfeld, Foto Michael Weidt

Mögen Sie Liebesszenen? Oh, kommt darauf an.... Oder meinen Sie im Film? Ja. Da gibt es ja wunderbare Musiken für Liebesszenen, nicht? Sie haben doch, dadurch, daß Sie den Filmen die Stimmung geben, einen bestimmten Einfluß auf das Publikum... Ja, ja, es gibt auch Leute, die schon ergriffen waren durch meine Musik, nicht wahr? Und da haben wir schon natürlich sehr gute Worte gehört, ne? Die ich nicht wiederholen will, hier.

Das heißt, Sie kommunizieren eigentlich schon mit dem Film... Ja, könnte man so sehen. Was bedeutet das Publikum für Sie? Denken Sie an das Publikum? Nene... Es freut mich, wenn es Gefallen findet... Das ist selbstverständlich. Und sonst? Die sind doch da, um die Filme anzusehen. Aber inzwischen vielleicht noch mehr, um Sie zu sehen. Ich glaube beinah, daß Sie die Hauptanziehungskraft ausüben. (lacht) Ja? Weiß ich nicht... Wissen Sie, ich gebe sehr gerne an, aber ohne anzugeben. Ein Kritiker schrieb mal über mich, damals war ich noch etwas jünger: »Willy Sommerfeld hat eine falsche bescheidene Natur.« Meine Frau wird das bestätigen (er lacht).

Wenn Sie aber an einem Tag nicht die beste

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Was spielten Sie oder spielen heute am allerliebsten? Damals habe ich mir den Film ansehen müssen, habe mir Notizen über den Film gemacht und mir dann entsprechende Musiken ausgesucht. Ob dramatisch oder traurig. Heute gucke ich mir den Film nicht an. Ich lasse mich nur noch vom Bild inspirieren. Was dabei herauskommt, was ich heute an Musik hereinbringe, ist ein Resümee aus dem Ganzen, was ich in meinem Leben an Musik erlebt und gemacht habe. Deswegen wirken die Film, wenn ich sie heute begleite, so lebendig. Sehen Sie, im Laufe der Jahre hat sich das ja auch immer wieder geändert, ich spiele was mir gerade einfällt, also eigentlich komponiere ich in jedem Augenblick eine Musik zu dem Film. Spontan passend. Das fällt mir ja nicht schwer. Die Musik aus den 20er Jahren, ja die mag ich gern, da pack ich auch gern so eine Schmonzette der damaligen Zeit mit rein.


W illy d l e f r e m m o S In Vorbereitung:

Willy – der Stummfilmpianist ein dokumentarischer Stummfilm mit Prof. W. Sommerfeld Matthias Wrage: A propos Willy Lüneburg, 26.02.1998. Doris Sommerfeld rief soeben an und bat, unseren morgigen Dia-Nachmittag auf übermorgen zu verschieben. Der RTL-Moderator Günther Jauch habe ihren Mann spontan in seine TV-Sendung eingeladen, die dem neuesten Remake des Stummfilmklassikers TITANIC gewidmet sei, der teuersten und erfolgreichsten Produktion der Filmgeschichte. Willy, der erst gestern den gleichnamigen Stummfilmklassiker von 1912 für einen ARD-Sender auf dem Piano begleitet habe, solle nun experimenthalber in Jauchs Sendung der neuesten TITANIC-Verfilmung »die Seele geben«. Als sein »junger Freund«, wie mich Willys »bessere Hälfte« zu nennen pflegt, möge ich verstehen, wenn sie Willy nur noch einen Termin pro Tag erlaube. Jemand müsse schließlich darauf achten, daß er sich nicht zuviel zumute; denn am liebsten würde er ja alles mitmachen. – Und ob ich verstehe! Denn seitdem er 1994 das erste Mal in der Kino-Werkstatt Lüneburg auftrat, deren Gründungsmitglied und Verantwortlicher für das Programm ich bin, verbindet uns eine tiefe Freundschaft. Ich besuche Willy regelmäßig in Berlin, er schickt mir Postkarten, wenn er »mal wieder« unterwegs ist und zwischen seinen zahlreichen Aktivitäten ein wenig Zeit dafür findet: Familienwochenende im Harz, Montag Studioaufnahmen in Berlin, am Dienstag ein Fernsehauftritt in Köln... – Welch ein Termin kalender mit 94 Jahren! Wie schafft der Willy das nur? – Die Musik und seine 30 Jahre jüngere Frau gäben ihm keine Chance, alt zu werden, hat er mir anvertraut. Wenn er Doris beim Spaziergang einmal nicht hinterherkäme, nörgele sie sogleich, ob sie denn jetzt mit einem Altersheim unterwegs sei...

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Doris und Willy, das war Liebe auf den ersten Blick, 1958 in einer Straßenbahn auf der Strecke Potsdam-Berlin. Er war damals musikalischer Leiter am Potsdamer Landestheater, die Potsdamerin fuhr täglich zu ihrer Arbeitsstelle nach Berlin Friedrichstraße. »Mit Hintergedanken« lud er sie ins Theater ein: »Ich wußte, wenn die dich dirigieren sieht, dann haste sie«. Zwei Monate später wurde Hochzeit gefeiert. Und nach vierzig Jahren sieht man das Ehepaar immer noch händchenhaltend durch die Straßen Berlins schlendern. Ja, Willy wußte immer genau, was er wollte. Aber eine Portion Glück war stets dabei. Auch damals, als er 1934 – schon acht Jahre Wahl-Braunschweiger und Kapellmeister am Stadttheater – dem neuen »braunen« Intendanten den Hitlergruß verweigerte. Unter Berufsverbot stand er da, als Helmut Käutner den in Ungnade gefallenen arbeitslosen Pianisten kurz darauf in sein Kabarett holte, denn vielseitig musikalisch und parteilos mußte dessen Kandidat sein. Wie Willy eben. Liebevoll streicheln Willys flinke Finger über den Flügel, der den größten Teil des Sommerfeldschen Wohnzimmers einnimmt, bevor er mir dann von dem Auftritt bei Günther Jauch erzählt und aus der Erinnerung einige Takte der Musik spielt, wie er sie in der Jauch-Sendung zu dem TITATNICFilm mit Leonardo di Caprio improvisierte. – Nicht ein einziges Mal in seinem langen Leben hat Willy die Noten seiner Pianobegleitungen aufgeschrieben... Dann kommt schon Ilona Ziok, deren Filmprojekte ich seit einiger Zeit mit großem Interesse verfolge, und die mir jetzt als Partnerin zur Seite steht. Nachdem ich kurz mit Willy die Termine für seinen diesjährigen Sommerauftritt in der KinoWerkstatt Lüneburg festlege, beginnen wir mit der Arbeit. 2-3 Stunden hat uns Doris gegeben, um Willy zu befragen. Mehr sei in dem Alter nicht drin. Willy ist da zwar anderer Meinung; er freut sich doch so sehr, daß er über ein Jahrhundert Filmgeschichte und seinen »kleinen« Anteil darin sprechen

kann, kokettiert aber gern mit der Frage, wie sich denn jemand für das Leben eines so alten Herrn interessieren könne, zumal dieses Leben zwar voller Musik, doch nicht immer nur »allegro« war... Willy Sommerfeld wurde am 7. 5. 1904 in Danzig geboren... Ilona Ziok: Was mich zu einem Film über Willy Sommerfeld bewegt Es war im Mai 1997, als ich Willy kennenlernte. Wir drehten im BKA die Kabarettszenen für meinen Musikfilm über Kurt Gerron mit Ute Lemper, Ben Becker, Max Raabe. Die Jazzlegende Coco Schumann, einer der Zeitzeugen, brachte Willy als »Überraschungsgeschenk« mit: »Achtgegeben, Berlins Herzensbrecher No 1«, kündigte er Willy zwinkernd an. »Und Klavier spielt der wie ein junger Gott!. Der sorgt für jute Stimmung. Det hat er schon vor 80 Jahren in den Babelsberg-Studios jeübt«. Er und Willy, diese Berliner Urpflanzen, übernahmen sofort das Kommando am Set. Ute Lemper erlag jedenfalls sofort Willys Charme und Ben Becker kommentierte scheelblickend »Ej, wie der det nur macht!« – Ja, ohne unseren Willy wären die »Stars« sicherlich nicht ganz so einfach beim Dreh gewesen... Damals im BKA habe ich an einen Film über Willy nicht gedacht; für mich war klar, daß es davon zahlreiche geben müsse, da Willy am Piano überall präsent ist, ob bei Talkshows oder die Buchvorstellung eines neuen Filmbandes beim Nicolai oder Fischerverlag begleitend. Monate vergingen, als ich bei der Drehbuchwerkstatt Niedersachsen Matthias Wrage traf. Er »pitchte« dort sein Willy Sommerfeld-Projekt und suchte Partner. Da erfuhr ich das Unfaßbare: Über Willy, den weltweit einzigen noch aktiven Filmpianisten aus der Stummfilmzeit, gibt es keinen Film! – Meine Nase sagte mir: sofort zugreifen!... Und dank der schleswig-holsteinischen Projektförderung sind wir nun mitten in den Vorbereitungen zu unserem Film »Willy – der Stummfilmpianist«, wir haben auch Niedersächsische Filmförderung aus Mitteln des NDR.


Der Mann an der Orgel von WILFRIED KAETS

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Seit Filme öffentlich vorgeführt werden, erklingt dazu auch Musik. Ziemlich sicher ist, daß der Einsatz von Musik nicht nur die Beseitigung von Störfaktoren zur Aufgabe hatte. Dazu zählten Projektionsgeräusche, Überdeckung des Lärms von draußen, in den nicht isolierten Räumen, die Unruhe im Publikum sowie die »Besänftigung« von ängstlichen Zuschauern, die ja wegen der noch sehr lichtschwachen Projektion in möglichst völlig abgedunkelten Räumen sitzen mußten. Auch dürfte der Widerspruch zwischen der Wirklichkeitsnähe der Bilder und der »unwirklichen Stille« nur schwer erträglich gewesen sein. Davon abgesehen hatte die Musik von Anfang an die Aufgabe, Stimmung aufzubauen, Eindrücke zu verstärken und Gefühle zu lancieren.

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abei scheint für die erste Zeit vor 1900 eher zu gelten, daß auf adäquate, die Illusion, das Wirklichkeitserlebnis fördernde Musikauswahl Wert gelegt wurde, während für die spätere Zeit der zunehmenden Popularisierung des jungen Mediums nach 1900 laut verschiedener Mitteilungen jede Musik, vorzugsweise populäre, recht war. Außerdem griffen die Pianisten und Organisten (bereits 1896 soll ein Organist die Londoner Erstaufführung

Gerhard Gregor an der Welte-Funkorgel

Lumiérscher Filme auf einem Harmonium – dem mehrere Töne gefehlt haben sollen – begleitet haben) auf Vorhandenes zurück – vorzugsweise auf Klaviermusik des 19. Jahrhunderts (Typus: »Lieder ohne Worte«, Salonmusik von Mendelssohn, Schumann, Grieg u.a.), deren kurze Charakterstücke ja den Bildern der frühen Filme recht nahe kamen. Was sollten sie bei den langen Präsenzzeiten im Kino (meist vom späten Vormittag bis in die Nacht), den häufig wechselnden Programmen, der kaum gewährten Vorbereitungszeit und natürlich in Ermangelung einer speziellen Filmmusik auch anderes tun? Je länger die Filme werden, desto unüberhörbarer entwickelt sich die Filmmusik zu einer eigenständigen Kunst. Der komplexe Spielfilm mit seiner dynamischen Diskontinuität der in einzelne Szenen aufgelösten Geschichte erforderte nachgerade ein die kontrastierenden Sequenzen und Einstellungen aneinander bindendes musikalisches Kontinuum.

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ereits 1910 werden in amerikanischen Fachblättern regelmäßig Tips zur Untermalung aktueller Filme gegeben, wobei anzumerken wäre, daß die französische Produktionsgruppe »Film d’Art« schon 1908 Camille Saint Saens für eine Original-Orchester-

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musik zu ihrem Einakter L’ASSASSINAT DU DUC DE GUISE gewinnen konnte. Ab 1912 entstehen sogenannte Cue Sheets: Musiklisten, die exakt auf den Ablauf des jeweiligen Films ausgerichtet sind. Der Weg von der Perfektionierung der Cue Sheets mit Auflistung der musikalischen Charaktere, Verzeichnis der den Charakteren adäquaten Musiktitel (Kompilation), Ausformulierung von Überleitungen und Verknüpfungen (Komposition) bis zur Klavierpartitur, die auf vorgefertigte Elemente verzichtet (werkbezogene Originalkomposition), ist leicht nachvollziehbar. Auch in einer Zeit der wachsenden Originalmusik für große Orchester behält der Pianist/Organist seine wichtige Position: in der Provinz sowieso, wo er, aus dem Klavierauszug spielend, das aus wirtschaftlichen Gründe nicht oder nicht komplett vorhandene Orchester nachahmt. In den großen Kinopalästen übernimmt das Klavier die im Orchester fehlenden Instrumente, sorgt die Orgel für den instrumentalklanglichen Ausgleich der oft ungleichgewichtig disponierten Ensembles sowie für Veränderungen der Lautstärke, kann ein einzelner Musiker an Klavier oder Orgel im Stil der gewählten Komposition improvisierend die Tonartenmodulation zum nächsten Orchestereinsatz durchführen, spielt er während Werbe- oder Umspulpausen oder begleitet die vor der Filmaufführung auftretenden Varietékünstler. Zudem übernimmt der Organist mit der reichhaltig auch mit Effekten wie Schiffshorn, Sirene, Autohupe, Regen, Donner und Blitz, Vogelgezwitscher ausgestatteten Kinoorgel die Begleitung ganzer Filmvorführungen, da das Orchester nicht fünf oder sechs Zweistunden-Sitzungen täglich bewältigen kann. Der »einsame Mann am Klavier« überlebt diesen Trend zumindest in den großen »Lichtspieltempeln«, die ab etwa 1920 gebaut werden, allerdings kaum irgendwo: 1927 gehören beispielsweise zum New Yorker »Roxy« ein Orchester von 110 Personen, vier Dirigenten, drei Orgeln, ein gemischter Chor sowie eine Gruppe hochkarätiger Vokalsolisten. Kleine Geschichte der Kinoorgel Waren früher Bänkelsänger singend oder mit Instrumentalbegleitung mit ihren Bildtafeln über Land gezogen, so entwickelten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr die mechanischen Musikinstrumente (»Selbstspielende Musikinstrumente«), welche dann – mit erheblich vergrößerter Lautstärke und der Möglichkeit kontinuierlichen Spiels- zum Anlocken der Kundschaft und zur Begleitung der Vorführung von Nebelbildern, Panoramen, Guckkästen etc. eingesetzt wurden (vor allem trifft dies auf die Drehorgel, die Karussellorgel und die vielfältigen Formen von Orchestrien zu). Um die Jahrhundertwende verdrängten selbstspielende Musikinstrumente die live spielenden Musiker aus den Tanzetablissements und Schaubuden und hielten auch Einzug in die Kinematographentheater, die begannen, von ambulanten Schaubuden auf Rummelplätzen in feste Räumlichkeiten umzuziehen. Schon bald bemerkten selbst dem Kino ansonsten wohlgesonnene Kritiker, daß es der Empfindung etwa bei einer lyrischen Filmszene doch

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sicher nicht angemessen sei, wenn gleichzeitig drei Orchestrien (natürlich völlig unterschiedliche) Musik erklingen ließen. Die mechanischen Musikinstrumente verschwanden nach kurzer Zeit aus den Kinos und es entwickelte sich eine möglichst aufwendig und passgenau gestaltete Musik, die im Sinne der Varietétradition von Musikern live dargeboten wurde. Bereits in der Frühzeit der Filmmusik kam dem Harmonium eine wichtige Bedeutung zu: nämlich den instrumentalen Ausgleich im ungleich besetzten Orchester zu schaffen, fehlende Stimmen des Kinoorchesters aus dem Klavierauszug spielend aufzufüllen, bestimmte Topoi, wie etwa »Chor«, »Kirche«, »Hochzeit«, »Tod« etc. zu belegen oder durch den orchestralen Klang ein größeres Orchester als eigentlich vorhanden vorzutäuschen. Ab etwa 1910 entwickelte sich langsam der Typus der Kinoorgel aus der Kombination von Klavier und Orgel, z.B. Poppers »Piano-Orgel« von 1910, wo auf dem zweimanualigen Instrument das obere Manual als Orgel, das untere als Klavier gespielt werden konnte. Ein Schlagwerk kam ebenfalls noch hinzu, wie beim »Kinophon« der Firma Hofmann & Czerny von 1913, welches neben Klavier und Harmonium bereits Effekte wie Glocken, Donner, Sturm, Pfeife und mehr besaß. Wegen dieser vielfältigen Möglichkeiten wurden die Orgel in Amerika auch als »Unit-Orchestra«, etwa mit »1-Mann-Orchester« zu übersetzen, bezeichnet.

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er Kinoorganist mußte, um es noch einmal zu betonen, nicht nur Füllstimmen des Orchesters übernehmen, blitzschnell Modulationen zwischen die einzelnen Versatzstücke einer Filmmusikzusammenstellung improvisieren, während des Rollenwechsels, der Werbung, der Auftritte einzelner Varietékünstler musizieren, sondern er sollte auch ein ganzes Orchester ersetzen können, das ja nicht pausenlos spielen konnte, zudem vom Personal her teuer und von der Reaktionsfähigkeit her unflexibler war als ein einzelner Musiker, der schneller improvisierend auf den Film reagieren konnte, was bei der stets knappen Probezeit nicht unwesentlich war. Dazu braucht die Kinoorgel einen gegenüber der Kirchenorgel wesentlich erhöhten Winddruck von im allgemeinen 100 – 300 mm Windsäule aufwärts. Die Verhältnisse amerikanischer Riesenorgeln erforderten auch vereinzelt Winddrücke über 1000 mm – etwa der von Midmer-Losh in der Convention Hall, Atlantic City, mit ihren zwei Spieltischen von fünf und sieben Manualen (Zentralspielanlage mit 452 Registern und insgesamt 1240 Einzelschaltern) und über 33.000 Pfeifen (ausgebaut bis 64’ «Diaphone profundo», mit Spezialitäten wie «Grosse Tierce 12 4/5’», «Septime 9 2/7’» oder einem 11-fachen Cornett). Weitere wesentliche Unterschiede zur Kirchenorgel sind eine grundlegend verschiedene Disposition und Intonation: das »Orgelregister« ist hierbei nicht der Prinzipal, sondern Prinzipal sind Diapason bzw. Tibia. Das gesamte Pfeifenwerk steht in Schwellkästen; ein bedeutender klanglicher Effekt ist das Tremolo, welches meist für Pfeifengruppen (Zungen, Streicher, Flöten) getrennt geschaltet werden kann, aber auf die gesamte Orgel wirkt


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erühmte Organisten wie Dupré oder Reger haben auf der Kinoorgel gespielt – von den unzähligen Kirchenorganisten, die abends mit falschem Bart Unterhaltungsmusik gemacht und Stummfilme begleitet haben, ganz zu schweigen. In den dreißiger Jahren bis in die Kriegszeit hinein gab es regelmäßig Konzerte und wöchentliche »Wunschkonzert-Sendungen« im Rundfunk – dann war plötzlich (mit kleinen Ausnahmen) Schluß: Der Tonfilm hatte zu Beginn der dreißiger Jahre den Orgelbauern bereits hart zugesetzt, neue Nachfrage war nicht mehr vorhanden. So wurde eine der für den deutschen Raum bedeutendsten Firmen: Oskalyd – ein Zusammenschluß der Firmen Walcker, Sauer und Hammer- am 24.12.1930 aufgelöst. Der zweite Weltkrieg besorgte das Seine, indem etwa die Fabrik der in diesem Bereich bedeutenden Firma Welte in Freiburg bei einem Bombenangriff völlig zerstört wurde. Dabei wurden auch unschätzbar wichtige Dokumente, wie der gesamte

Bestand von rund fünfzigtausend Notenrollen für die verschiedenen Welte-Systeme vernichtet. Die technische Entwicklung der Nachkriegszeit tat ein übriges, als der Bühnenraum in den Kinos auf Cinemascope-Breite ausgeweitet und der Platz der Orgelkammern dafür benötigt wurde. So sind von den vermutlich rund 130 Orgeln der Vorkriegszeit kaum Instrumente übrig geblieben, da sich die auch für damalige Verhältnisse recht teuren Orgeln ja fast ausschließlich in großen Kinos bedeutenderer Städte befanden, die der Zerstörung im Krieg als erste zum Opfer fielen.

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ie wenigen in Deutschland noch vorhandenen Kinoorgeln finden sich heutzutage überwiegend in Filmmuseen (u.a. Düsseldorf, Frankfurt), einige wenige sind in öffentlichem Besitz (Oskalyd-Kinoorgel im Heidelberger Schloß, Wurlitzer-Orgel im Instrumentenmuseum Berlin) oder werden in privaten Instrumentensammlungen (beispielsweise in Rüdesheim) gepflegt. Es gibt auch einen Kino-Orgel-Club in Deutschland, dessen Mitglieder zuhause zum Teil ein solches Instrument aufgebaut haben und mit Enthusiasmus spielen. Stummfilmpraxis heute Vergleiche der Kinotheken belegen, daß in der Stummflim-Ära durchaus unterschiedliche musikalische Praktiken existierten und sich ablösten. Die Versuche, kompilierte Filmmusik zu rekonstruieren, sind meist zum Scheitern verurteilt. Das hat mehrere Gründe: – Notenmaterial und Kompilationslisten sind nicht mehr vorhanden, oder nicht zugänglich (auch wegen manch miserabler Archivierung und Desinteresse der Filmfirmen) – die Kompilationslisten decken sich selten mit den vorhandenen, meist hemmungslos zerstückelten Filmkopien – in der Regel sind vielleicht 20% des verwendeten Notenmaterials heute überhaupt noch aufzutreiben – vorhandene Klavierauszüge sind nur bruchstückhaft, oder mit Fehlern, Ungenauigkeiten und unpräzisen Angaben durchsetzt (sie sind ja oft nur für eine ganz spezielle Aufführung/Premiere angefertigt worden) Bei Neukompositionen ergibt sich häufig das Problem der wechselnden Vorführgeschwindigkeit. Manche Kinos haben keine Möglichkeit, den Film anders als mit den üblichen 24 Bildern pro Sekunde zu projizieren. Damit ist die Partitur sofort hinfällig (und bringt mich als Ensembleleiter erheblich ins Schwitzen). Eine Musik kann in der Regel nur für eine bestimmte Kopie erstellt werden, weil kaum zwei Stummfilmfassungen übereinstimmen. Damit habe ich schon häufig Probleme gehabt, daß plötzlich Szenen in einem Film auftauchten, die mir bezüglich Inhalt und vor allem Länge völlig unbekannt waren. Da ich im allgemeinen alleine musiziere (Klavier/Orgel), entfallen dabei zumindest die Synchronisationsprobleme mit weiteren Musikern.

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und den an sich starren Orgelton »beleben« soll. Die Koppelung mit Beiwerken wie Klavier, Glockenspiel, Xylophon, Notenrollenapparaturen etc. ist ein weiterer Unterschied zur Kirchenorgel; ebenso der Einbau von perkussiven Effekteinheiten, die ihre Klänge im übrigen durch »Originalteile« wie Autohupe, Telefonklingel, Sirene, Trommeln etc. oder durch raffinierte Konstruktionen erzeugen. So wird z.B. der Regen dadurch simuliert, daß harte Erbsen in einem geschlossenen Zinktrichter durch Druckluft hochgeschleudert werden und beim Aufprall auf die Trichterwände ein Regengeräusch hervor bringen. Die sehr häufige Verwendung des Multiplexsystems muß hier Erwähnung finden. Bei Walckers »Oskalyd« auch variierte Einzellösungen mittels »changierender Pfeifenreihen« die den Wechsel der Klangfarbe in ein einzelnes Register verlegen. Einige Orgelbauer, z.B. Steinmeyer, haben ohne Multiplexsystem disponiert (vgl. Gloria Palast Berlin). In einigen Fällen wurden Fernwerke eingebaut, deren Klang dann beispielsweise über einen 20 Meter langen tunnelartigen Kanal in das Kinotheater geleitet wurde, wodurch der Eindruck des Sphärischen, Geheimnisvollen erzielt wurde: z.B. war die dreimanualige Ernst-Seifert-Orgel des Kristallpalastes in Köln für derartige Effekte berühmt; leider wurde bereits Mitte der 30er Jahre das Fernwerk vom Dachboden des Kinos abgebaut und als »komplette Orgel« in ein anderes Kölner Kino eingebaut. Leider ist die Kinoorgel seit rund 50 Jahren hierzulande fast völlig in Vergessenheit geraten. Dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß die Entwicklung und Blüte des Kinoorgelbaus in Deutschland gerade 10 Jahre, von etwa 1922 – 1932, dauerte. In dieser Zeit bauten viele als renommiert geltende Orgelbauer derartige »Ableger« ihrer traditionsreichen Kunst für Theater und Kino (man vergesse nicht die seinerzeit gerade heftig entflammten Diskussionen im Zusammenhang mit der »Orgelbewegung« ) – u.a. die Firmen Steinmeyer, Hammer, Walcker, Sauer, Weise, Seifert und Rieger – meist mit Multiplexsystem , voll ausgebautem Schlagzeug (von der kleinen Trommel bis zum Gong) und vollgepackt mit Effekten wie Sirene, Telefonklingel, Eisenbahn, Wasser und Schlittenschellen.


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Horst Schimmelpfennig an der Rodgers-Orgel


Beschäftigung mit der Musik: vom Entwickeln der Gesamtrichtung über die Ausformung der einzelnen Bausteine bis zum handfesten – und oft stundenlangen – Üben am Instrument, um ein einheitliches Klangbild zu erreichen, Transpositionsübungen der Themen vor zubereiten und mehr.

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icht nur bei längeren Filmen halte ich es für wichtig, die Perspektive der Musik zu variieren, um nicht langweilig zu werden; also mal die Handlung zu begleiten, mal zu paraphrasieren, die Entwicklung anzudeuten oder die Bilder zu kontrapunktieren. Beispielsweise wird die Feuertodsequenz meiner Stummfilmmusik zu C. Th. Dreyers LA PASSION DE JEANNE D’ARC mit sehr ruhiger Musik – dem Choralthema aus dem Requiem »Zum Paradiese werden dich geleiten die Engel«- unterlegt, die die Gewißheit der Erlösungshoffnung widerspiegelt. Den Schnittrhythmus der Sequenzen zu verfolgen, ist eine andere Möglichkeit. Während der langen Schlußsequenz in Hitchcock’s frühem Thriller THE LODGER, einer Menschenjagd, wird bei Kamerablickwechsel die Tonart des Motivs und seine Klangfarbe (Lage/Register der Orgel) verändert, um die Spannung zu steigern. Oder es sind die verschiedenen Sinnebenen des Films instrumental zu verdeutlichen. Beispielsweise könnte traditionelle Dur/Moll-Harmonik die Atmosphäre eines einfachen, ländlichen Zuhauses skizzieren, während der böse Unbekannte eine spätromantische, mit Dissonanzen angereicherte Harmonik mit sich führt. Die Zusammengehörigkeit verschiedener Sequenzen können durch ein einheitliches musikalisches Thema markiert und dadurch ihre »großräumigere« Sinnhaftigkeit dokumentiert oder auch »Filmmusik selbst«, etwa bei einer Titelmelodie, zu präsentiert werden. Empfehlungen In so gedrängter Kürze kann ein Komponist seine, in vielen Stunden entwickelten, facettenreichen Überlegungen zur Vertonung nicht unmißverständlich darlegen. Daher ist es mir wichtig, mitzuteilen, daß ich durch die intensive Beschäftigung mit Stummfilmen – bedeutenden, wie weniger bekannten bei bislang mehr als 120 Stummfilvertonungen – in den letzten Jahren diesem Medium gegenüber einen erheblichen Respekt entwickelt habe. Daß Stummfilm nicht nur »Dick und Doof« ist, wissen hoffentlich inzwischen alle. Meine Einschätzung, daß die cineastische Kunst und die Bildsprache gegen Ende der Stummfilmzeit eine Höhe erreicht hatten, die auch heute kaum überschritten wird, soll dazu motivieren, in Zukunft weitere Kunstwerke der Stummfilmzeit zu betrachten. Es seien Ihnen – nicht willkürlich, aber sehr »querselektiv« – für’s erste einige cineastische Kostbarkeiten anempfohlen (wobei ich mir die bekannten Filme CALIGARI, NAPOLEON, NOSFERATU, GOLDRUSH fast erspare): Dreyer: PRÄSTANKAN (1920); Martin: VON MORGENS BIS MITTERNACHT (1920); Lang: DER MÜDE TOD (1921); Ruttmann: OPUS 1-4 (192225); Kuleschow: DIE SELTSAMEN ABENTEUER DES MR. WEST IM LANDE DER BOLSCHEWIKI (1924); Murnau: DER LETZTE MANN (1924); Tintner: CYANKALI (1930).

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Bei der Entwicklung von Stummfilmmusik beachte ich stets mehrere Faktoren: – Filminhalt, -genre: ist es ein wüster Slapstick oder ein sozialkritischer Dokumentarfilm? – Entstehungszeit: ein Zauberfilm von Méliès hat andere »Wurzeln im Denken« als ein Revolutionsfilm von Eisenstein und bedingt auch grundsätzlich unterschiedlichen Musikeinsatz – Regisseur, Filmsprache, Einordnung in die Entwicklung eines filmischen Konzeptes eines Regisseurs/Teams: Bei einem Asta Nielsen- Melodram habe ich einmal als stilistische Vorgabe die Musik gesetzt, die ein »Mann am Klavier« 1920 in der siebenundzwangigsten Vorstellung in einem Bretterkino in der tiefsten Provinz vielleicht hätte spielen können. Bei abstrakten RuttmannFilmen dagegen habe ich ein Grafikprogramm mit Zeichnungen des Filmes gefüttert und in synthetische Musik-Klänge verwandelt, wobei ein Computer mehrere Synthesizer ansteuerte. Bei C. Th. Dreyers in Skandinavien gedrehten Filmen zum Beispiel auf Musik von Grieg zurückgegriffen (Prästankan). – Organisatorische und örtliche Vorgaben: eine VHS-Veranstaltung zum Thema Filmkunst – Augenlust für Filmwissenschaftler beispielsweise evoziert die Demonstration unterschiedlicher Methoden der Stummfilmbegleitung innerhalb des Programms (an unterschiedlichen Filmen natürlich); außerdem reagiere ich bei Live-Auftritten und vor allem bei der Improvisation, also der Komposition aus dem Stegreif, immer auf das Publikum. Die Kombination aus komponiertem (eigenem und vorgefundenem) Material und Improvisation, die eine besonders schnelle Reaktion ermöglicht, kennzeichnet meine Filmmusik. Dabei reicht die thematische, wie harmonische Bandbreite von der Stilkopie bis zur völligen Verfremdung des Instrumentalklangs. Das bedingt natürlich eine intensive Beschäftigung mit Film (ich schaue mir die Filme vielfach an), Literatur (ich lese viel über das spezielle Werk, wie auch über den Regisseur oder periphere Themenbereiche). Selbstverständlich gilt das auch für meine


NANIGA KONOJO WO SOSASETA KA DAS MADCHEN SUMIKO – WAS TRIEB SIE DAZU, DAS ZU TUN? von GUNTER A. BUCHWALD

Im Oktober 1996 erhielt ich eine Anfrage vom Goethe-Institut Kyoto, ob ich interessiert und bereit sei, einen japanischen Stummfilm zu vertonen. Die Uraufführung sei auf den 5. Februar 1997 terminiert, das Orchester dürfe nicht mehr als 10 Musiker betragen. Auch wenn man sich schon lange Zeit mit Stummfilmmusik beschäftigt hat, stellt dies eine grosse Herausforderung dar, und die Antwort konnte selbstverständlich nur eine Zusage sein. Von folgender Überlegung ging ich aus: wenn man in Japan einen europäischen Musiker beauftragen will, wird wohl auch keine »japanische« Musik erwartet. Schon beim ersten Visionieren des Videos war für mich klar, dass der Film eine absolute Sensation darstellt, einerseits der modern anmutenden Kamera-und Schnittechnik, der flüssigen Erzählweise und der »Natürlichkeit« der Schauspielkunst wegen, und andererseits, weil ein Japanbild vermittelt wird, das man in dieser Schonungslosigkeit und Offenheit nicht von einem Japaner erwartet hätte. Erzählt wird das Schicksal des Mädchens Sumiko Nakamura. Die wirtschaftliche Depression infolge des verheerenden Erdbebens 1923 in Tokyo und die politische Unterdrückung durch das herrschende Militär hat die soziale Lage verschärft. Sumiko muss ihr Elternhaus verlassen. Sie begegnet auf ihrer Wanderschaft verschiedenen Menschen, guten und schlechten, lebt in verschiedenen Häusern und Institutionen und scheitert letzlich. Der Film erklärt die Frage, warum Sumiko sterben musste. Die Filmhandlung des Mädchens Sumiko basiert auf einer damals sehr bekannten Theatervorlage des proletarischen Schriftstellers Seikichi Fujimori, die der Regisseur S. Suzuki nachgerade wie einen Dokumentarfilm inszeniert. Das Pathos und die Unabwendbarkeit des Schicksals der letzten Szene – die übrigens verschollen ist und nur in Untertiteln zu Ende erzählt wird – scheint typisch japanisch zu sein, jedoch ist der Einfluss der europäischen Avantgarde nicht zu übersehen. Suzuki kannte aus längeren Aufenthalten in Europa die zeitgenössische europäische Filmszene,beson-

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die Restaurierung erfolgte mit Hilfe des Enkels des damaligen Produzenten, Herrn Yamakawa.

ders Dullac schätzte er sehr und seine Montagetechnik lehnt sich stellenweise an die Eisensteins an. Der Film galt in Japan alsbald als Meisterwerk des politischen »Tendenzfilms« und als offene Anklage der japanischen Verhältnisse in der Zeit der Militärdiktatur um 1930. Der Filmtitel »Naniga konojo wo sosaseta ka« wurde zum geflügelten Wort. (*) Wie in Japan üblich, wurde der Film nach dem Durchlaufen der Kinos in Einzelbilder zerschnitten – als Kinderüberraschungen in kleine Tütchen gesteckt – und galt seither als verschollen. Über die Mandschurei gelangte aber eine Kopie in die Sowjetunion, wo er mit grossem Erfolg gezeigt wurde. Dort verlor er sich in den Archiven von Goss-Kino, wo er 1993 inmitten zahlreicher anderer japanischer Filmrollen entdeckt wurde. Restauriert wurde er von Professor Y. Ota, Osaka;

Musikalische Folgerungen aus der Filmhandlung: Von folgenden grundsätzlichen Überlegungen ging ich beim Vertonen aus: 1. kein Versuch, »japanisches Kolorit« zu komponieren, sondern zeitgenössisch-modernes Idiom ... mit Ausnahmen, die ich weiter unten begründen werde. 2. keine »propagandistische« Musik dahingehend »linkes Liedgut« zu zitieren, denn die soziale Frage braucht neue Antworten, der Film ist heute so aktuell wie damals ... mit Ausnahmen, die ich weiter unten begründen werde. 3. die fehlenden Teile des Anfangs und des Schlusses, die mit Texttafeln nacherzählt werden, müssen melodramatisch untermalt werden, da sonst die emotionale Tiefe fehlt. 4. Die Vorgabe, sich auf 10 Instrumente zu beschränken, nutzen, und möglichst variabel instrumentieren. Volle Besetzung nur an wenigen Stellen. 5. Möglichst dialogisch komponieren, den Akteuren eine Sprache geben, den emotionalen Gehalt des Gesprochenen interpretierend hervorheben. 6. Nur an notwendigen Stellen illustrieren ... solche Stellen gibt es im Stummfilm unausweichlich. 7. Mit der Musik Strukturen des Films und der Geschichte nachzeichnen, Abschnitte markieren und Querverbindungen aufzeigen. 8. Keine akustische Verdopplung des Filmbildes, sondern möglichst eine zweite, eigenständige Schicht, ergänzend bis kommentierend zum Bild. Die fehlende Geräuschschicht musikalisch gestalten und nicht geräuschimitatorisch. 9. Musikalische Zitate nicht isoliert anklingen lassen, sondern als musikalisches Material weiterführen. 10. und das schien mir besonders wichtig: keine Musik, die sich sklavisch an der (in diesem Film sehr leb- und wechselhaften) Bildmontage orientiert sondern der Musik Zeit geben, sich selbst zu entfalten.


Synoptische

Gegenüberstellung

Filmhandlung

Musik

Credits Bericht über Wiederentdeckung und Restaurierung des Films Titel die verschollenen Bilder werden nacherzählt: Sumiko – einsame Wanderung eines armen Kindes – ein Zug rattert vorbei – Mädchen winken - ihre Holzsandale zerbricht. 1. Szene Der Kuli names Doi versorgt Sumiko mit Tee und Reis. Sie unterhalten sich unsicher, z.T. schüchtern lächelnd, Doi z.B. weil er eingestehen muss, dass er nicht lesen kann. Sumiko legt sich schlafen. Doi hantiert an ihrem Rucksack. (Dem Zuschauer bleibt verborgen, was er mit der Geldbörse tut.) 2. Szene Doi und Sumiko fahren in einem Pferdefuhrwerk über Land. Doi erklärt Sumiko den weiteren Weg zu ihrem Onkel..

Stille

g n u l l e t s r e b ü n e g Ge

6. Szene – an einen Zirkus verkauft Sumiko an der Wand des Messerwurfartisten. Der vermeintlich gute alte Bekannte ihres Vaters entpuppt sich als Direktor. Sumiko ohnmächtig. Shintaro, ebenfalls ein Waisenkind im Zirkus, tröstet sie. Der Clown liest Sumiko den Brief vor ... Das Leben geht weiter. Artistenauftritt. Ein Artist spricht zu seinen Kollegen über die Ausbeutung durch den Direktor. Parallelmontiert: eine Maus im Drehkäfig, zwei Artisten im Doppelrad, der essende Direktor, Sumiko und Shintaro beim Tete-a-tete. Die Zirkusdirektorin misshandelt jähzornig das Personal, da sie et-

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3. Szene Ihr Onkel empfängt sie misstrauisch. Die Tante stillt rauchend ihr Baby. Kinder spielen und streiten sich. Der Onkel liest den Brief, Sumiko ist durch Kinder abgelenkt. Geldscheine fallen zu Boden. Die Eltern raufen sich darum. Rauch. Die Kinder beklagen den erneuten Streit zwischen ihren Eltern. Beruhigung. Sumiko wird aufgenommen. 4. Szene Sumiko beim Spaziergang. Das Baby auf dem Rücken tragend – parallel montiert: Mutter und Kinder bei Tisch, lärmend, sich streitend. Sumiko kehrt traurig zurück. Sie muss alleine essen. 5. Szene Ein Mann erscheint mit dem Onkel. Verbeugungen. Gespräche. Sumiko geht ihr Bündel schnüren. Zu dem Bild Ihres Vaters sagt sie, dass sie eine Ausbildung erhalte und ihn bald wieder sehen werde. Sie entdeckt in ihrem Geldbeutel eine – von Doi zugesteckte – Münze. Diese rollt hinter den Ofen. Sumiko findet hinter dem Ofen den weggeworfenen Brief ihres Vaters. Die Tante erscheint und treibt Sumiko grob zur Eile. Hinterhältiges Lachen des Bekannten.

Sumikos Thema: eine Flötenmelodie mit Seufzermotivik, unterlegt von einem Akkord der Streicher.

G

Schlagzeug und Bläser imitieren Geräusche eines Zuges. Die Melodie bricht unvermittelt ab. 1. Szene Eine Bassklarinette im Dialog mit einer Flöte, die nun eindeutig Sumiko zugeordnet ist. Die Klarinette imitiert zögerndes Lächeln. Zu den beiden Instrumenten erklingen diffuse Blas- und Streichgeräusche, da unklar bleibt, was Doi vorhat. Beruhigung.

2. Szene Die Bewegung der Kutsche ist im unregelmässigen 7/8tel Rhythmus eingefangen. Darüber entfaltet sich eine Flötenmelodie zusammen mit einer Oboe (=Natur). 3. Szene Posaune und eine näselnde Trompete sprechen für Onkel und Tante. Die Flöte behält ihr Thema.Das Kinderlärmen durch schnelle Xylophon- und Streicherfiguren verdeutlicht. Posaunenglissando als deiktisches Zeichen für das herausfallende Geld und für das Erstaunen des Onkels. Musik macht den Streit hörbar. 4. Szene Die Oboenmelodie zeigt Sumikos Einsamkeit. Die Streicher begleiten mit einer repetitiven Figur. Die Musik ignoriert bewusst die Montage, sie bleibt bei Sumikos bis zuletzt. 5. Szene Das Streichertremolo sowie die langgezogenen Töne der Bläser sollen die zwielichtige Athmosphäre wiedergeben. Darüber zeigt das Mickeymousing der Verbeugungen (Klarinette/Trompete) , die bewusst falsch zusammen spielen, die Verlogenheit der Erwachsenen. Das Entgleiten der Münze muss man einfach auch hören. Dazwischen immer wieder das übertriebene Lächeln der anderen hörbar. Die Szene wirkt wie ein retardierendes Moment als Vorbereitung für die kommende Szene. 6. Szene Alle Instrumente in repetitiver rhythmischer Bewegung. Die Musik soll sowohl Zirkustreiben als auch Aggressivität vermitteln. Das »Zirkusthema« erscheint u.a. bei der Vergewaltigung wieder. Die Geige übernimmt hektisch Sumikos Thema. Posaune und Vibslap. »Zirkusthema« in Variationen, synchron zum Bildschnitt. Repetition besonders bei der Parallelmontage auf die »sinnlose« Bewegung abgestimmt. Shintaro und Sumiko in Terzen – gemeinsam also. z. T. Drumsolo zur aggressiven Direktorin

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tische

Syno

was nicht findet. Sie stösst auf Sumikos Geldbeutel (mit Dois Silbermünze!) und behauptet, Sumiko schlagend, diese hätte die Münze gestohlen. Der Direktor hebt die Peitsche gegen Sumiko. Ein Artist fällt ihm in den Arm. Sumiko liegt verzweifelt am Boden 7. Szene Ein Gong ertönt, das vereinbarte Zeichen zur Revolte. Artisten und der Direktor im Wortgefecht. Dann ein Messer. Allgemeines Durcheinander. 8. Szene Shintaro und Sumiko auf Wanderschaft, sich ausruhend. Shintaro geht voraus, um den Weg zur seiner Tante zu erkundigen und verlässt Sumiko. Ein Auto. Entsetzte Gesichter. Shintaro liegt am Boden, verletzt. Man legt ihn ins Auto und bringt ihn zur nächstgelegenen Stadt. Das Auto fährt an Sumiko vorbei.

9. Szene Sumiko auf dem Polizeirevier. Sie: weinend – der Polizist auf sie einredend.

10. Szene – Obdachlosenasyl Ältere Menschen stellen in mechanischer Handarbeit Kartonagen her. Draussen ein Greis im Wind. Herbststimmung. Die Bewohner ruhen sich aus, unzufrieden, erbost über den selbstsüchtigen Geschäftsführer. Sumiko widmet sich einem schreienden Baby, nimmt es auf den Arm und trägt es im Gang spazieren. Sie hält inne – Erinnerungen an den Vater, an Doi, Shintaro. Sie kehrt zurück, das Baby schläft friedlich. Ein junger Mann erscheint ungeduldig. Er holt Sumiko ab zu ihrer neuen Stelle als Hausgehilfin beim Stadtrat. 11. Szene Junge Frauen entgräten einen Fisch mit einer Pinzette. Die Stadtrattochter kehrt zurück. Stöckelschuhe. Befleissigtes Gerenne und Tischdecken. Die Tochter nimmt Platz. Man legt eine Jazzplatte auf. Tochter verschluckt sich, spuckt den Reis und den Fisch auf den Tisch. Eine lächelnde Buddhafigur. Allgemeines Durcheinander. Die Platte leiert auf der letzten Rille. Ein Dienstmädchen karikiert die Tochter; die anderen kichern. Die Tochter verlässt mit dem Auto das Haus. Sumiko kniet verzweifelt am Tisch, weinend. Eine andere erklärt ihr, dass die Tochter immer so launisch und ungezogen sei. Sumiko »geht ein Licht auf«. Alle lachen herzhaft. Die Frau des Stadtrates erscheint an der Tür und tadelt die Dienstmädchen wegen der Unordnung in der Küche. Betroffenes Schweigen. Sumiko erhält Erklärungen über »Benimmregeln«. Sich zu Sumiko herablassend weist die Hausherrin darauf hin, dass es ihr hier doch so gut gehe. Sumiko erzürnt. Sie nimmt einen Teller und schleudert ihn durch das Fenster. Die Frau verlässt eilig die Küche und ordert per Telephon jemanden, der Sumiko ins Asyl zurückbringt. Sumiko sitzt alleine im Zimmer. Rückzoom durch Fensterkreuz. Schneeflocken – (soziale) Kälte.

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schräger Akkord und Lautstärkehöhepunkt.

7. Szene Gongschläge. Rhythmische Verdichtung des Tuttis

8. Szene Über die ganze Szene entwickelt sich ein zunächst lyrisches Posaunenthema, das sich beginnend mit Shintaros Weggang, immer unruhiger aufschaukelt. Ein crescendierender Trommelwirbel begleitet das Unfallgeschehen aber ohne dramatisierende Akzente. Zurück bleibt ein Seufzermotiv in der Posaune. Die Melodie verliert an Gestalt. Sumiko ist abermals einsam. Der leiser werdende Trommelwirbel bildet den Übergang zur nächsten Szene... 9. Szene und geht in einen militärischen 1-2-3-4 Rhythmus über. Dieses Mal keine Imitation der Stimme des Polizisten, sondern nur eine klagende Flötenmelodie. um einen zentralen Ton kreisend: Sumiko gefangen. 10. Szene Pizzicato der Streicher und monotone Paukenschläge im Rhythmus der arbeitenden Alten. »Leere« Quartenakkorde bilden die Grundlage für ein Wiegenlied der Flöte. Tempo den Schritten Sumikos entsprechend. Diffuses Tremolozittern des Tuttis unterstreichen den unsympathischen Eindruck des jungen Mannes und sollen die kommende Musik kontrastieren.

11. Szene In der 11. Szene kommentiert die Musik: die pentatonische Melodik der Piccoloflöte soll «typisch japanisch« karikieren, und zeigen, dass man im Hause des Stadtrates sich nicht an der Tradition orientiert sondern am Westen. Als Jazzplattentitel wählte ich «Ain`t she sweet« aus: 1. historisch korrekt im Dixilandstil, 2. als Kommentar zur Stadtratstochter 3. als späteres musikalisches Material und Kommentarassoziation. Musik hängt wie eine Platte mit Rillenschaden. Rasende Bewegung von Flöte und Oboe. Flatterzunge,das Lachen hervorhebend. Verzerrte Trompete «Ain`t she sweet.« Langer Gongschlag. Flöte mit Sumikos Thema wie zu Beginn, die Mitte des Films markierend: dies war der heiterste Moment der Handlung, nun folgt der stetige Niedergang. Im Mittelpunkt steht eine Melodie in der Klarinette, die gleich einer sich windenden Schlange, die Doppelzüngigkeit der Hausherrin widerspiegelt. Generalpause nach einem Crescendo! Ich hoffe darauf, dass der fehlende Ton im Innern des Zuschauers eine Ergänzung findet, dass man innerlich zusammenzuckt über Sumikos Wutausbruch und Zeit hat, Sumikos Tat zuzustimmen. Mickeymousing durch die »schwätzende Klarinette«. Die Frau wird dadurch karikiert.


Gegenüber stellung

12. Szene Drei Jahre später. Sumiko ist bei einem Biwa (= jap. Lauteninstrument)-Meister. Wir sehen sie in der Kleidung einer Geisha. Abendliche Gewitterstimmung, eine Wanduhr schlägt Fünf Uhr. Wolken, Blitze. Regen. Sumiko am Fenstergitter blickt nach draussen. Die Blicke werden erwidert – von Shintaro. Wiedersehen durch das Gitter. Shintaro kommt ins Haus. Beide erzählen ihre Lebensgeschichte seit der Trennung. Der Biwa-Meister kehrt zurück, zunächst von aussen das Paar beobachtend. Shintaro entschuldigt sich, das Haus betreten zu haben und verabschiedet sich schnell. Sumiko hängt die Kleidung des Meisters an die Garderobe. Dessen Blick gleitet über ihren Körper. Sumiko richtet das Abendessen. Plötzlich ergreift der Mann Sumikos Hand. Sie kann sich aus der Umklammerung lösen und flieht durch das Haus nach draussen, während der Mann ihr nachruft, dass dies doch ein Scherz sei. Sumiko flüchtet in eine Telephonzelle und alarmiert Shintaro. Schnelle Überblendung zu einem Fenster, zunächst Regen, dann Sonnenschein. 13. Szene Sumiko bei der Hausarbeit und beim Kochen. Sie ist nun mit Shintaro verheiratet. Eine Nachbarin schaut lächelnd zu. Sumiko lächelt zurück. Shintaro kehrt mit einem Brief zurück: er ist als Schauspieler entlassen. Briefe mit Hilfegesuchen bleiben ergebnislos. Sonnenuntergang. 14. Szene Shintaro und Sumiko verbringen einen Tag am Meeresufer. Kleine Holzkreuze symbolisieren ihr Vorhaben: sie wollen gemeinsam aus dem Leben scheiden. Fischer beobachten die beiden. Nacht. Fackelleuchten. Boote im Wasser: die Fischer suchen das Meer ab. Sumiko auf einer Trage, ein Arzt untersucht sie.

15. Szene Sumiko ist in einem christlichen Erziehungsheim. Sie betet in einer Kapelle, dann im Garten die Bibel studierend. Ein Mädchen trippelt herbei, auf Sumiko einredend, ihrem Mann, der ebenfalls gerettet wurde, einen Brief zu schreiben, er würde sie dann auch »hier rausholen«. Sumiko lehnt ab. Abermaliges Drängeln des Mädchens, das vor der Entlassung steht, eine Glocke erinnert an den Beginn des Gottesdienstes. Sumiko kritzelt schnell ein paar Zeilen, obwohl sie keinen Kontakt mehr mit Shintaro haben möchte. 16. Szene Gottesdienst. Eine predigende Oberin, Mädchen in den Kirchenbänken, das zu entlassende Mädchen am Altar betend und singend. »Vulgär« wischt sie sich mit dem Arm über die feuchte Nase. Das Ende des Gottesdienstes naht, die Mädchen verlassen die Kirche. Der Blick der Oberin fällt auf den Brief, den das Mädchen am Altar verloren hat. Strafende Blicke der Oberin, flehentliches Zerren des Mädchens, das nun alle Schuld auf Sumiko schiebt. Die Oberin geht erzürnt ab, das Mädchen reckt ihre Arme gen Himmel: sie muss weiter im Heim bleiben.

12. Szene Musikalisches Einfangen der Uhr und des Gewitters; also der Filmraumakustik. Das Gespräch wird begleitet durch ein Duo Klarinette – Flöte im kontrapunktischen Barockidiom: zwei alte Bekannte begegnen sich wieder. Dunkle Posaune im Kontrapunkt zu obigem.

Verstecktes »Ain`t she sweet« ! mit Wa-wa-Effekt der Trompete.

Zirkusthema« = Aggression Aufgeregte Figur in der Klarinette. Darunterliegend eine hektische Figur der Streicher, die sich langsam beruhigt und den weichen Bildschnitt unterstützt. 13. Szene Heitere Stimmung. Weiche (Flöte,Oboe ,Horn) Melodik in Dur, die sich zum Diffusen wendet beim Erscheinen Shintaros. Dissonante Intervalle bei Duo Cello-Violine. Verzweiflung. Schwirrende Klangfarbe, innere Zerrissenheit, auch musikalisch kein Ausweg. 14. Szene Nicht erkennbarer Takt, die dissonante, obertonreiche Bewegung von Violine und Cello stehen für die Meerswellen, aber auch für die Gefahr, die von diesen ausgeht. Die Blasinstrumente spielen sprunghafte und repetitive Figuren, sich verdichtend und Spannung erzeugend. Verzicht auf «falsche Dramatik«. Lediglich Horn und Trompete imitieren Rufe der Retter. Der 5/8tel Takt wird monoton vom Schlagzeug – dumpf – beibehalten als Klammer für die schnelle Schnittfolge. 15. Szene Choralartiges Tutti geht in ein Flötenmelodie über, die den Choral «Aus tiefer Not schrei ich zu Dir» anklingen lässt. Schnelles Staccato in den Streichern (Tippeln des Mädchens), das die Aufgeregtheit des Mädchens zeigt. Sumiko/Flöte behält ihre Choralmelodie bei.

16. Szene »Vom Himmel hoch«. Das Orchester zunächst in vollem Klang wird mit jeder Strophe leiser; dafür tritt die Oboe mit immer falscheren Tönen in den Vordergrund, die nicht geglückte Erziehung der Mädchens pointierend. Zitat aus der Dreigroschenoper: Der Morgenchoral des Peachum (dort selbst ein Zitat): »Wach auf du verlorener (-logener) Christ!« Streicherglissandi verschmieren die Melodie. Das Orchester lärmt in aleatorischer Freiheit unterbrochen von einer rhythmisch akzentuierten Melodie im 10/8tel Takt.

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optische


Syn 17. Szene Die Oberin bedrängt Sumiko in einem Beichtgespräch, ihre grosse Schuld einzugestehen. Sumiko sitzt reglos mit gesenktem Gesicht. Die Oberin verlangt eine öffentliche Beichte vor der versammeltern Gemeinde. Sumiko fleht vergeblich die Oberin an, ihr diese Schmach zu ersparen, alles wolle sie tun, aber dies sei ihr nicht zumutbar. Hier enden die Bilder, da die letzte Rolle verschollen ist. Texttafeln erzählen das Ende der Geschichte: Am nächsten Sonntag wird während des Gottesdienstes Sumiko aufgefordert, öffentlich ihre Schuld zu bekennen. Sumiko fühlt sich an den Pranger gestellt – für eine Lapalie. Entschlossen greift sie zu einer Bibel und schleudert sie an das Altarkreuz: »Eine Religion, die Liebe verheisst, aber gleichzeitig ihre Gläubigen dermassen demütigt, ist keine neue Verheissung. Alles Lüge«. In der Nacht geht die Kirche in Flammen auf. Die Oberin rafft alles Geld zusammen und sucht das Weite. Sumiko tanzt auf dem flammenden Gemäuer. Hände strecken sie empor »Ein roter Engel fährt gen Himmel!« Zuletzt die (rhetorische) Frage : Was trieb Sumiko dazu, das zu tun?

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17. Szene Bassklarinette in tiefester Lage und Posauneneinwürfe verdeutlichen das Drängen der Oberin. Sumiko/Flöte zitiert aus Alban Bergs Violinkonzert (Im Angedenken an einen Engel) und dessen Bachzitat »Es ist genug«.

Choralmässige Verarbeitung anlehnend an »Mackie Messer« (An nem schönen blauen Sonntag...). Das Orchester untermalt den Text melodramatisch, steigert sich immer mehr bis hin zum Höhepunkt des Buchwerfens (Gongschlag).

Leise beginnend in den Streichern wird musikalisch ein »Feuer« entfacht, das in der Piccoloflöte eine rhythmische Struktur findet. Während die Lautstärke bis zum Schluss sich steigert, nimmt die Binnenbewegung langsam ab und beruhigt sich. Die Musik endet auf dem Intervall fis-cis, also weder Fis-Dur noch fis-moll. Die Fis-tonart mit ihren 6 Kreuzen als Vorzeichen (maximale Entfernung zu C-Dur) steht für die Erlösung Sumikos.


Anmerkung: (*) Jerzy Toeplitz schreibt: »In diesem Film kam das gesellschaftliche Unrecht besonders stark zum Ausdruck, während der Vorführungen in den Arbeitervierteln Tokyos kam es zum Aufruhr und zu Ausrufen ‘Weg mit dem Kapitalismus’. Übrigens war dieser Film der größte Kassenschlager der japanischen Kinematographie; er spornte die anderen Studios zur Produktion von Filmen mit radikaler Tendenz an.« (Geschichte des Films, 1895-1928, München 1979, Seite 500 f. Regie: Shigeyoshi Suzuki; Buch: Seikichi Fujimori; Kamera: Seiji Tsukagoshi; Produktion: Teikoku-Kinema AG, 1929 Kopie: aus dem Staatl. Archiv Goss-Kino, Moskau, wiederentdeckt 1993 Restauration: Prof Y. Ota, Universität Osaka

Die Teikoku-Kinema AG stellte dem Komponisten freundlicherweise eine neugezogene Kopie des Filmes für den Verbleib und zur Visionierung in Europa zur Verfügung. Eine deutsch- und/oder englischsprachige Übersetzung der Zwischentitel (per Dia einzublenden) liegt ebenfalls vor. Für Aufführungen vor Ort gibt es drei Varianten: 1. Eine Erarbeitung der Musik durch ein örtliches Ensemble mit dem Komponisten im Rahmen eines 3-4tägigen Workshops. (z.B. Musikstudenten) (Besetzung: flöte/piccolo; oboe; klarinette/Bassklarinette; horn; trompete; posaune; percussion; violine; violoncello; kontrabass; bei einfacher Besetzung der Streicher: 10 MusikerInnen; 2. Ein Engagement mit den Freiburger Filmharmonikern 3. Der Komponist als Stummfilmpianist solo

NANIGA KONOJO WO SOSASETA KA DAS MADCHEN SUMIKO – WAS HAT SIE DAZU BEWEGT Produktion: Teikoku-Kinema AG, 1929 Buch: Seikichi Fujimori Regie: Shigeyoshi Suzuki

Weitere Informationen über: Kommunales Kino Freiburg, Urachstraße 40, 79102 Freiburg

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no Die Musik zu »Das Mädchen Sumiko – was hat sie dazu bewegt« hat alle Merkmale einer Musik, die einen Stummfilm zu Begleiten hat. Sie hat Aufgaben zu übernehmen, die in Tonfilmen von der Geräusch- und Dialogebene schon ausgefüllt sind. Die selbstauferlegte Forderung bestand darin, diese fehlenden Tonschichten unter künstlerischen Aspekten zu ergänzen oder aber auszulassen; in keinem Falle als automatisch sich einstellendes Additivum. Der Film macht die Auswahl leicht: gezeigte Geräuschquellen, wie z.B. ein tropfender Wasserhahn, eine tickende Uhr selbst sind Bildsymbole für eine bestimmte Athmospähre. Eine Athmosphärenmusik verstärkt deshalb die emotive Schicht des Bildsymbols. Die 99,9% Anwesenheit der Musikebene erfordert dennoch »Hörpausen«. Die Instrumentation und der musikalische Satz ist deshalb »dünn« gehalten. Der Film hilft der Musik bei der Instrumentation: er ist »kammermusikalisch«, ein Kammerspiel, lediglich die Zirkusszene und die Episode im Hause des Stadtrates die bringt mehr als vier Hauptakteure auf die Leinwand. Das musikalische Idiom und Stil muss vielfältig sein, möchte aber deutlich zeitgenössische Akzente setzten, das der Film als Ganzes absolut »modern« und aktuell erscheint. Die musikalischen Anleihen bei Brecht/Weill und Berg sollen als Querverweise auf die Entstehungszeit des Filmes verstanden sein.


Stummfilmmusik(er) von A – Z Fragmente aus einem abgebrochenen Filmmusik-Lexikon von WOLFGANG THIEL

A A

wie AVANTGARDE In den 20er Jahren erwachte das Interesse der musikalischen Avantgarde an dem bisher verachteten oder belächelten Kino. Komponisten, die dem Expressionismus oder den Ideen einer Neuen Sachlichkeit nahestanden, gingen mit dem Film eine zeitweilige Verbindung oder auch Freundschaft fürs Leben ein. Der Schönberg-Schüler Hanns Eisler (1898 – 1962) sah in der Filmkomposition die Möglichkeit, »am ehesten breite Massen (zu) erreichen«. Aus seinem Bestreben, innerhalb der »angewandten Musik« (ein von ihm maßgeblich geprägter Begriff) zu einer subtilen Balance von ästhetischer Autonomie und Funktionalität zu kommen, resultiert die Tatsache, daß nach 1930 der überwiegende Teil seiner Orchester- und Kammermusik aus Filmpartituren hervorgegangen ist. Als ästhetische Maxime forderte er eine konsequent geplante, den entwickeltsten Stand der Kompositionstechnik sujetbezogen nutzende und so den Sinn einer Szene transparent machende Filmmusik, wobei der »dramaturgische Kontrapunkt« nur als eine von mehreren Möglichkeiten effektiver Bild-Musik-Zuordnung fungiert. E., der insgesamt 42 Partituren zu Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilmen geschrieben hat, komponierte 1927 für das Baden-Badener Kammermusikfest als erste Filmmusik ein »Präludium in Form einer Passacaglia« zu Ruttmanns abstraktem Lichtspiel OPUS III. Eine weitere Begegnung mit dem Stummfilm hatte er 1941 post festum bei der Vertonung von Joris Ivens 1929 entstandener REGEN-Etüde, aus der das zwölftönig strukturierte Quintett op. 70 (»Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben«) hervorging, das er seinem verehrten Lehrer Schönberg zu dessen 70. Geburtstag zueignete. Arnold Schönberg (1874 – 1951) selbst hatte 1931 in einer Diskussionsrunde im Berliner Rundfunk erklärt, daß zukünftige Lichtspiele »notwendigerweise künstlerische werden sein müssen. Und zu denen wird meine Musik passen!«. Sein am 6. November 1930 in einem Konzert unter der Leitung von Otto Klemperer in der Berliner Kroll-Oper uraufgeführtes Opus 34, die »Begleitmusik zu einer Lichtspielszene« mit den drei ineinander übergehenden Episoden »Drohende Gefahr-Angst-Katastrophe«, entstand außerhalb der gewöhnlichen Kinopraxis, für die jene »drei kurzen Stücke wegen ihrer instrumentalen und rhythmischen Kompliziertheit natürlich nicht in Frage (kommen)« (P. Schwers in: Allgemeine Musikzeitung Nr. 46/1930), das einzige wirkliche musikalische Gegenstück zum deutschen Filmexpressionismus.

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Musik: Gottfried Huppertz

Die Hinwendung des Komponisten Paul Hindemith (1895 – 1963) zu den »niederen« Gattungen jenseits von Oper, Konzert und Kirche geschah trotz vorhandener Berührungsängste als »Forderung des Tages« im Zeichen einer »Neuen Sachlichkeit« und somit als Parole gegen Expressionismus und Spätromantik. Hindemith schrieb nicht nur eine Musik für mechanische Orgel zu einem KATER-FELIX-Film (1926) und für Kammerorchester zu Hans Richters VORMITTAGSSPUK (1928), sondern unter dem Pseudonym »Merano« auch eine umfangreiche Partitur in bester Salonorchester-Manier (mit Klavier und Harmonium als harmoniefüllenden Instrumenten) zu Arnold Fancks Gebirgsdrama IM KAMPF MIT DEM BERG (1921). Diese erste, lange Zeit verschollene Filmpartitur H.’s – »keineswegs neutönerisch, eher an die Klangwelt eines Richard Strauss oder Max Reger erinnernd« (L. Prox) – entstand nicht als Auftragsarbeit, sondern motu proprio, angeregt durch die persönliche Bekanntschaft mit dem Regisseur und dessen Arbeit am Schneidetisch. Darius Milhaud (1892 – 1974) gehörte zur Komponistengruppe Les Six, der es um eine unpathetisch klare, melodisch und rhythmisch prägnante, in ihren Mitteln sparsame, aber dennoch klanglich reizvolle »Musik für alle Tage« ging. Bereits 1919 hatte M. geplant, sein Orchesterstück LE BOEUF SUR LE TOI, ein polytonales Rondo über populäre brasilianische Tanzmelodien, für eine Chaplinsche Groteske zu verwenden. Auf den Baden-Badener Musiktagen wurde 1928 seine Musik zu einer UFA-Wochenschau ACTUALITES (op. 104) mit großem Erfolg uraufgeführt. Auch der Sinfoniker Arthur Honegger (1892 – 1955) hatte frühen und lebenslangen Kontakt zum Film. In der Stummfilmzeit entstanden Partituren für die Abel Gance-Filme LA ROUE (1922) und NAPOLEON (1927). Aus der Musik zu LA ROUE ging das bekannte Orchesterwerk »Pacific 231« hervor. Der kompositorische Außenseiter Erik Satie (1866 – 1925) schrieb 1924 für den rund 18minütigen kinematographischen Zwischenakt (ENTR´ACTE) des dadaistischen Balletts »Relache« seine »Cinéma«-Musik, die (nach Grete Wehmeyer) »die erste moderne Lösung des Problems Filmmusik darstellt.« Saties statische und ornamentale Komposition basiert weitgehend auf der ständigen Repetition kurzer, entwicklungsloser Motive. Sie steht im Zusammenhang mit S.’s Konzept einer »musique d´ameublement« und weist eine geistige Affinität zur Ästhetik des »Cinéma pur« auf, dem sich der junge René Clair in ENTR´ACTE verpflichtet fühlte. Seinerzeit


B

B wie BECCE, Giuseppe (1877 – 1973) Nach dem Besuch des Konservatoriums in Padua und einem nachfolgenden Philologieund Geographie-Studium an der dortigen Universität lebte B., der als Komponist stets seinen akademischen Titel benutzte, seit 1900 (mit kurzen Unterbrechungen) in Berlin als Kinokapellmeister und Autor gefälliger Salonmusik sowie zahlreicher Arrangements, Kompilationen und Originalpartituren für Stumm- und Tonfilme im Zeitraum von 1913 – 1971(!). Nach zwei erfolglosen Versuchen als Operetten- und Opernkomponist übernahm B. durch die Vermittlung seines Librettisten K. Martull die Hauptrolle in Oskar Meßters RICHARD WAGNER-Film (1913), zu dem er auch die Begleitmusik schrieb. Teilweise leitmotivisch ausgerichtete Kompositionen zu weiteren Meßter-Filmen wie COMTESS URSEL (1914) oder DIE RÄUBERBRAUT (1916) bildeten den Grundstock der seit 1919 publizierten »Kinothek« (Kino-Bibliothek), einer Sammlung kurzer, strukturell anpassungsfähiger Charakterstücke zur stimmungsmäßig adäquaten Begleitung immer wiederkehrender filmischer Situationen. Bis 1929 erschienen in sechs Doppelfolgen insgesamt 81 Stücke, von denen einige noch in frühen deutschen und amerikanischen Tonfilmen Verwendung fanden. Bei B.’s Stummfilmpartituren handelt es sich nur in wenigen Fällen um echte Originalkompositionen (wie zu F. W. Murnaus TARTÜFF; 1925), sondern in der Mehrzahl um Kompilationen (Zusammenstellungen) (wie z. B. zu Murnaus DER LETZTE MANN; 1924), in

denen Fremdwerke neben speziell für den konkreten Film komponierten Stücken stehen. B., der zeitlebens im stilistischen Bannkreis der neueren italienischen Oper (Verismo) verblieb, folgte deren Neigung zur naturalistischen Darstellung gewaltiger Szenen in der für Kinozwecke 1929 publizierten »De profundis«-Suite mit Sätzen wie »Folter« und »Zwangsarbeit«. Nach dem 1. Weltkrieg war er bis 1929 Kinokapellmeister (u. a. Mozartsaal, Gloria-Palast). Erwähnenswert ist seine Mitarbeit an den Meßterschen »Dirigentenfilmen« und den »Triergon«-Tonfilm-Versuchen, »die Becces Offenheit auch gegenüber kulturellen und experimentellen Ansprüchen kennzeichnen« (E. Simeon). 1921 gab er das »Kinomusikblatt« heraus, das ab 1926 unter dem Titel »Film-TonKunst« erschien. Zusammen mit Hans Erdmann und Ludwig Brav verfaßte B. das instruktive »Allgemeine Handbuch der FilmMusik« (Berlin 1927), das nach wie vor bedeutendste Quellenwerk zur Theorie und Praxis der musikalischen Stummfilmillustration.

C

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stark kritisiert, übte sie in der Folgezeit einen großen Einfluß auf amerikanische Musiker wie Thomson, Antheil und Copland bis hin zu den heutigen Vertretern der sogenannten »minimal music« aus. Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975) schrieb die erste einer langen Reihe von Filmmusiken für ein Werk der Regisseure Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg über den Aufstand der Pariser Kommune 1871. Der künstlerische Wert dieser Orchesterpartitur zum Film DAS NEUE BABYLON (1928) liegt in der originellen und filmspezifischen Verarbeitung und Kombination zitierter und stilistisch nachempfundener Melodien und Musikstücke. Sch. machte den filmischen Schnitt zum Bestandteil seiner Kompositionstechnik. Die kaleidoskopartige Struktur der Musik, die von unerwarteten Übergängen, Brüchen, Kontrasten, unregelmäßigen Taktbildungen sowie willkürlich und überraschend in ihrem Ausdruckscharakteren umkippenden Motiven bestimmt ist, ermöglichte ihm, auf die Schnittmontage dieses Films sehr flexibel zu reagieren.

C

wie CHAPLIN, Charles (1889 – 1977) englischer Schauspieler, Filmregisseur und Amateurkomponist melodiös-gefälliger und tänzerischer Unterhaltungsmusik für seine eigenen (Stumm-) Filme wie CITY LIGHTS (1931) und MODERN TIMES (1936) und Jahrzehnte später auch für THE KID (1921), THE GOLD RUSH (1925) und THE CIRCUS (1928). Letztere entstand erst 1970(!) in Zusammenarbeit mit dem englischen Musiker Eric James. Ch. sah seine Aufgabe darin, »elegante und romantische Musik zu komponieren, um meinen Komödien einen Rahmen zu geben, der mit dem Charakter des Tramps kontrastierte... Die Arrangeure haben das selten verstanden.« Für Ch. kam es in alter Music-HallTradition einzig und allein auf die Melodie an, alles andere war »bloße Begleitung«. Seine Arrangeure verpackten diese Melodien jedoch in die pastose Klanglichkeit der üblichen Hollywooder Filmsymphonik. Von diesem Einheits-Sound heben sich nur die originell witzigen Arrangements des Schönberg-Schülers David Raksin für MODERN TIMES ab, die allerdings (wie z. B. in der FließbandSequenz) für Ch. zu neuartig waren, so daß der junge Komponist seinerzeit nur durch Fürsprache Alfred Newmans der fristlosen Kündigung entging.

D wie DESSAU, Paul (1894 – 1979) deutscher Komponist und neben Eisler und Weill der dritte bedeutende musikalische Mitarbeiter Bert Brechts (Opern, Bühnenmusiken, Lieder)

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D

Nach Korrepetitor- und Kapellmeisterjahren u. a. in Hamburg, Bremen und Köln wurde D. Kinodirigent und übernahm 1928 in Berlin das 15-Mann-Orchester des Kurfürstendamm-Kinos »Alhambra«. In seiner Arbeit verfolgte er das Ziel, daß das Lichtspiel als die aktuellste Kunstgattung »auch durch die modernste, lebendigste Musiksprache begleitet werden (sollte)«. So scheute er sich als Illustrator nicht, (wie z. B. in seiner musikalischen Begleitung zu Phil Jutzis MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK, 1929) »entgegen dem obligaten Antimodernisteneid der Filmmusiker, bis zur Grenze impressionistischer Harmonik vorzustoßen« (F. Wallner). 1928/29 organisierte D. an seiner Wirkungsstätte spezielle Nachtkonzerte mit moderner Kammer- und Filmmusik und schrieb kammermusikalische Originalpartituren in der Hindemith-Nachfolge zu Streifen der Disneyschen MICKEY-MOUSE- und ALICE-Serien sowie zu Ladislaus Starewitschs Puppenfilmen DIE WUNDERUHR (1928) und DER VERZAUBERTE WALD (1929).

E

wie ERDMANN, Hans (1887 – 1942) (eigentlich: Hans Erdmann Timotheus Guckel) deutscher Komponist, Dirigent und (Film-)Musikwissenschaftler Seit 1924 als Kinokapellmeister in Berlin tätig, arbeitete er auch als Musikreferent für das »Reichsfilmblatt«, und ab 1926 übernahm E. die Redaktion der von G. Becce gegründeten Zeitschrift »FilmTon-Kunst«. Die Fülle, Vielseitigkeit und der Gedankenreichtum seiner filmmusikbezogenen Aufsätze und Artikel lassen ihn aus heutiger Sicht als einen bedeutenden Theoretiker der Stummfilmmusik erscheinen. Als Ziel aller praktischen Bestrebungen sah er die Schaffung einer dem Kunstfilm adäquaten Musik, »welche mit der Filmszene untrennbar zusammenfließt.« E. war auch der theoretische Kopf beim Projekt des »Allgemeinen Handbuchs der Film-Musik« (Berlin 1927), an dem die Praktiker Becce und Brav mitwirkten. Von seinen Filmkompositionen ist die zu F. W. Murnaus Lichtund Schatten-Symphonie des Grauens NOSFERATU (1922) die wichtigste. Die Uraufführung am 4. 3. 1922 im Marmorsaal des Zoologischen Gartens in Berlin fand als »Fest des Nosferatu« mit Pantomine und Fest- Polonaise in einem sich anschließenden Ball statt. Die wesentlichen Teile der Originalfilmmusik veröffentlichte E. 1926 in seiner »Fantastisch-romantischen Suite« (Teil I und II). Ab Februar 1929 war er kurzfristig Leiter einer Filmmusik-Klasse am Berliner Lindworth-Scharwenka-Konservatorium.

E

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F wie Filmmusik respektive Kinomusik Während bei der Tonfilmmusik (im Ideal) sowohl in dramaturgisch-künstlerischer als auch durch die technische Fixierung auf dem Filmstreifen (Lichttonverfahren) in ontologischer Hinsicht eine feste, unabänderliche Verbindung zwischen Bild und Ton ent-

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steht, handelt es sich bei der Musik der Stummfilmzeit im Wesenskern um Kinomusik, d. h. um Musik im Kino zu einem bestimmten Film mit allen lokalen Unwägbarkeiten hinsichtlich Besetzung (vom Pianisten bis zum großen Kino-Orchester), Repertoireauswahl (vom buntscheckigen Potpourri bis zur Originalpartitur) und dem Leistungsvermögen der Musiker. Während im Tonfilm dramaturgisch die filmische Fabelerzählung wechselseitig und arbeitsteilig auf der Bild- und Tonebene erfolgen kann (s. in dieser Hinsicht einen frühen Tonfilm wie M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER, RE: Fritz Lang; 1931) bleibt Stummfilmmusik letztlich immer »Begleitung« eines unabhängig von ihr abrollenden Filmstreifens.

G wie Geräusche

G

Bevor es in einem Schlager von 1930 hieß: »Mein Bruder macht im Tonfilm die Geräusche« und ein solcher Geräuschemacher im Tonatelier aus seinen geheimnisvollen Koffern unter Ausschluß der Öffentlichkeit das klangvollste Kavalleriepferdegetrappel oder nächtliche Schritte auf feuchtem Kiesweg hervorzauberte, spielte das Geräusch im Stummfilm eine eher untergeordnete Rolle. In stilisierter Form als musikalische Geräuschimitation kamen die überlieferten Techniken und Topoi einer naturalistischen Tonmalerei zur Anwendung. Hier knüpften die Kinomusiker an die lange Tradition der Sturmund Gewittermusiken, an musikalische Schlachtengemälde, Maschinenmusiken usw. an. Die eigentliche punktuelle Geräuscherzeugung oblag dem Schlagzeuger, der neben seiner obligaten »Schießbude« über ein Arsenal an vielfältigen Effektinstrumenten wie Vogelpfeifen, Donnerblech, Ratsche, Peitsche, Windmaschine, Schreckschußpistole, Schellengeläut und »Scherbenkasten« für einschlägige Slapstick-Nummern verfügte. Im Gegensatz zum Tonfilm bildeten die Geräusche im Stummfilm kein Kontinuum, sondern wurden auf bestimmte dramaturgische Höhepunkte respektive Pointen im Sinne komischer Gags beschränkt.

H

H

wie HUPPERTZ, Gottfried (1887 – 1937) deutscher Sänger und Komponist H. zählte in den zwanziger Jahren mit groß angelegten, leitmotivisch gearbeiteten Orchesterpartituren für Filme wie DIE NIBELUNGEN (1923/24); RE: Fritz Lang), CHRONIK VON GRIESHUUS (1925; RE: Arthur v. Gerlach) und METROPOLIS (1926; RE: Lang) neben Edmund Meisel zu den bekanntesten deutschen Stummfilmkomponisten. Vor allem für ästhetisch konservative Kreise gehörten H.’s Filmkompositionen »zu dem erfreulichsten, schönsten und lebensvollsten was an Musik während der letzten 10 Jahre geschrieben wurde« (H. Biehle).

Edmund Meisel mit selbstkonstruierten Geräuschapparaturen


I G

I wie Illustrations- bzw. Kinothekenmusik

Illustration bedeutete seinerzeit allgemein die Zusammenstellung (Kompilation) einer Begleitmusik für einen bestimmten Film entweder mit Hilfe der von den Kinomusikern individuell angelegten Zettelkästen, mit Hilfe von »Musikfahrplänen«, die von großen Filmfirmen den Leihkopien beigegeben oder in Fachzeitschriften abgedruckt wurden oder in der Endphase auch mit Hilfe der in Vademecums wie Becce/Brav/ Erdmann’s »Allgemeines Handbuch der Film-Musik« (Berlin 1927) oder Ernö Rapees »Encyclopedia of Music for Films« (New York 1925) gegebenen Empfehlungen. Illustration bezeichnete weiterhin die konkret erklingende Musik während einer Filmvorführung. Der Berliner Musikund Theaterkritiker Dr. Franz Wallner-Basté machte zwischen 1925 und 1929 als einer der ersten die musikalische StummfilmIllustration zum Gegenstand der Tageskritik. Im speziell funktionalen Sinne wird unter illustrativer Filmmusik eine akustische Bebilderung des (äußeren) Leinwandgeschehens durch naturalistische Assoziationen, musikalische Symbole und Zitate verstanden (underscoring). Die »Kinothek« (etymologisch gebildet aus Kino-Bibliothek) war ein alphabetisch geordneter Katalog bzw. Zettelkasten gängiger filmischer Situationen mit Angabe der hinsichtlich Charakter, Stimmung und Länge jeweils passenden Begleitmusik. Das Repertoire bestand aus Bruchstücken von Opern- und Operettenouvertüren vornehmlich des 19. Jahrhunderts, aus Teilen populärer sinfonischer Musik sowie Tänzen, Märschen, Salonstücken und z. T. auch aus speziellen Originalkompositonen (KinothekenPiècen), die im Sinne von Charakterstücken stimmungsmäßig und strukturell auf bestimmte filmische Situationen zugeschnitten waren. Für die von vielen Verlagen in den verschiedensten Orchesterund Ensemblebesetzungen herausgegebenen »filmharmonischen« Reihen waren eine Unzahl von Komponisten tätig. Zu den bekanntesten gehörten neben Becce, Huppertz und Künneke, komponierende Kinokapellmeister und Arrangeure wie William L. Axt (1888 – 1959), Albert Wilhelm Ketelbey (»Auf einem persischen Markt«) (um 1875 – 1959), W. R. Heymann (1896 – 1961), Hans May (1986 – 1958), Julien Porret, dessen Kinothekenstücke zum eisernen Bestand der französischen und englischen Kinokapellen gehörte, Ernö Rapée (1891 – 1945) [Autor des Evergreens »Charmaine«],

Domenico Savino (1884 – 1973) und J. S. Zamecnik (1872 – 1954), der bereits 1913 unter dem Titel »Sam Fox Moving Picture Music Volumes« eine Sammlung von Kinotheken-Piècen veröffentlichte. In der Sowjetunion erschien 1932 eine Filmmusikanthologie, die u. a. Stücke von zeitgenössischen russischen Komponisten wie Kabelewski, Mjaskowski, Prokofjew und Schostakowitsch zur Filmillustration empfahl.

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wie KÜNNEKE, Eduard (1885 – 1953) deutscher Komponist von Opern, Operetten (»Der Vetter aus Dingsda«), konzertanter Unterhaltungs- und Filmmusik Von seinen beiden originalen Stummfilmpartituren zu Ernst Lubitschs DAS WEIB DES PHARAO (1920) und zum Kulturfilm DAS BLUMENWUNDER (1926) blieb letztere als Orchestersuite lange Zeit in Rundfunksendungen der gehobenen Unterhaltungsmusik lebendig. Künneke gehört zur Gruppe jener akademisch gebildeten Komponisten mit Geschmack und hohem handwerklichen Können, die aus verschiedensten Gründen vor Atonalität, Zwölftonmusik oder Neoklassizismus zurückschreckten. Für diese Musiker, die den von Schönberg und Strawinski vor- gezeichneten Weg nicht beschreiten wollten oder konnten, sondern innerhalb der klassisch – romantischen Traditionen verblieben, wurde das Kino ebenso wie die konzertante Unterhaltungsmusik zu einem Zufluchtsort vor jenen rasanten stilistischen Umbrüchen, wie sie sich nach dem Ersten Weltkrieg in allen musikalischen Zentren ereignet hatten. Exemplarisch hierfür ist auch die spätere Entwicklung des seinerzeit berühmten Opernkomponisten Erich Wolfgang Korngold zu einem der Hauptvertreter der ersten Hollywooder Tonfilmkomponistengeneration.

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H.’s satztechnisch oftmals überladener, stark an Wagner orientierter Stil (mit harmonischen Ausweitungen à la Strauss und Schreker) vereinigt neben filmbezogen beeindruckenden musikalischen Momenten (wie z. B. die ganz auf motorischen Rhythmus, Klangfarbe und Akkordik abgestimmte Maschinenmusik aus METROPOLIS) prätentiösen Schwulst mit Operettentrivialität. Seine fünf Tonfilmpartituren weisen insgesamt eine schlichtere Diktion auf.

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wie LONDON, Kurt (1899 – 55er Jahre in Washington, USA) deutscher Komponist, (Film-)Musikwissenschaftler, Autor des Standardbuchs »Film Music«, London 1936 L., der auch Kinothekenstücke komponierte, leistete in den 20er Jahren als Autor zahlreicher Aufsätze und Artikel zur Kinomusik neben H. Erdmann eine theoretische Grundsteinlegung der noch in den Anfängen befindlichen Filmmusik-Forschung. In einem Aufsatz zu »Problemen der Filmmusik« (1926) bezeichnete er die Musik als den »Atem des Films«. Dies verlange »vom Komponisten die Überwindung seiner eigenen Persönlichkeit... Durchschnittlich wird man Anhäufungen polyphoner Sätze zugunsten homophon-akkordischer Farbtupfer vermeiden müssen; also: mehr Farbe als Linie! Die Form, eines der schwierigsten Probleme der Filmmusik, muß jeweils nach dem Film neu geschaffen werden...« 1929 wurde er Chefredakteur der Zeitschrift »Der Film«. 1930 hielt L. am Sternschen Konservatorium in Berlin einen sechsmona-

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tigen Kurses in Filmmusik. 1932 gründete er mit Hilfe des Siemenskonzerns ein Rundfunkinstitut für Tonfilm, Radio und Schallplatte. 1933 mußte L. nach Paris emigrieren und kam von dort 1935 nach London.

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wie MEISEL, Edmund (1894 – 1930) deutscher Kinokapellmeister und Komponist M. erregte 1926 Aufsehen mit seiner Originalmusik zum Sergej-Eisenstein-Film PANZERKREUZER POTEMKIN, der wohl meistdiskutierten Stummfilmpartitur schlechthin. Es folgten seine Musiken zu Ruttmanns BERLIN. DIE SYMPHONIE DER GROßSTADT (1927) und 1928 zu OKTOBERA – ZEHN TAGE, DIE DIE WELT ERSCHÜTTERTEN (RE: Sergej Eisenstein). 1927/28 war M. Kapellmeister am Theater am Nollendorfplatz sowie Leiter eines Filmmusikstudios, in dem er sich mit Tonfilmversuchen (Klangmontagen) und der Konstruktion von Geräuschapparaturen beschäftigte. Im Umkreis dieser Experimente entstand auch eine Musik zum Kurz-Tonfilm TÖNENDE WELLE (1928; RE: W. Ruttmann). Charakteristisch für M.’s Tätigkeit war der heftige Widerstreit der Meinungen hinsichtlich des Wertes seiner durch partielle Atonalität, rüde Effekte und eine minutiös bildsyn chron illustrierende, pointillistische Faktur (insbesondere im BERLINFilm) geprägten Arbeiten. Die pointierte Ausrichtung der musikalischen Mittel auf die Erfüllung dramaturgischer Funktionen äußerte sich im bewußten Verzicht auf musikalische Eigenwerte, in der Beschränkung der Syntax auf Rhythmus, Klang, Instrumentalkolorit und assoziativen Genrebezug. M.’s teilweise gewollt wirkendes Neutönertum resultiert aus seinen letztlich eng begrenzten kompositorischen Fähigkeiten, die seinen filmspezifischen Bestrebungen im Wege standen.

N

Originalkompositionen für das Lichtspiel beanspruchten von Anfang an ein besonderes Interesse, da sie zumeist zur Premiere eines Films in den großen Uraufführungstheatern erklangen. G. Becce hatte 1928 in der Zeitschrift »Melos« bemerkt: »Für den wirklich wertvollen Kunstfilm aber kommt nur die Original-Komposition in Betracht.« ‘Doch trotz einer nicht unbeträchtlichen Zahl überlieferter Originalmusiken aus allen Filmländern bildet diese »Autorenillustration« (Becce/Erdmann) nur einen schmalen Ausschnitt aus der buntscheckigen Stummfilmpraxis, in der tagtäglich ein ungeheurer Verbrauch an Musik stattfand. Am Anfang der historischen Originalmusiken steht nach wie vor das Opus 128 des französischen Komponisten Camille Saint-Saens (1835 – 1921), nämlich seine Musik (Introduktion und fünf Fragmente) für Klavier, Harmonium, Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn und Streicher zum »Kunstfilm« L´ ASSASINAT DU DUC DE GUISE, auch wenn diese Komposition rein chronologisch gesehen nicht die allererste, speziell für ein Lichtspiel geschriebene ist. Aber sowohl die künstlerische Qualität als auch die gesellschaftliche Resonanz, die die Uraufführung dieses Films mit der Musik von Saint-Saens am 17. November 1908 in der Pariser Salle Charras hervorrief, rechtfertigen diesen Ehrenplatz. Das Orchester der Uraufführung dirigierte Fernand LeBorne (1892 – 1929), der selbst als Autor früher originaler Stummfilmmusiken in Erscheinung trat. Hierzulande gelten G. Becces Musik zum RICHARD-WAGNER-Film sowie die Partitur des Klaviervirtuosen Joseph Weiß (1864 – nach 1920 in New York) zu Paul Wegeners Film DER STUDENT VON PRAG (beide 1913) als früheste Beispiele einer originalen Begleitmusik für deutsche Stummfilme.

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N wie Nadeltonfilm

Das Nadelton-Verfahren funktionierte (wenngleich in technischer Weiterentwicklung) nach dem Prinzip der Tonbilder, d. h. auf elektrischem Wege wurde der Versuch einer synchronen Kopplung von Filmstreifen mit Schallplatten unternommen. 1926 zeigten die Warner Brothers erstmalig das Experiment DON JUAN mit Musik von William Axt und Geräuscheffekten. Am 6. 10. 1927 startete in New York der weltweite und folgenreiche Siegeszug des Nadeltonfilms THE JAZZ SINGER mit Al Jolson (1883 – 1950) in der Hauptrolle und seinem lippensynchronen Gesang des »Mammy«-Liedes von Irving Berlin. Inzwischen war jedoch das in den 20er Jahren von der Triergon-Gruppe entwickelte Lichttonverfahren soweit ausgereift, daß der Nadeltonfilm in der Geschichte des Tonfilms nur eine Episode aus der Anfangszeit seines endgültigen Durchbruchs blieb.

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O

O wie Originalmusik für Lichtspiele

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wie PAULIN, Gaston (geb. wahrscheinlich um 1860 – nach 1910) französischer Komponist von Salonmusik P. publizierte 123 Salonpiècen, die oft in direkter Beziehung zu Ballett und Pantomine stehen. Durch seine Mitarbeit für das seit 1892 im Pariser Museum Grèvin befindliche und bis 1900 betriebene »Optische Theater« von Charles Emile Reynaud ist er lexikalisch der erste namentlich bekannte Lichtspielkomponist. Reynaud verwendete für seine handgemachten »Pantomimes Lumineuses«, von denen angeblich einige bereits eine Länge von 15 Minuten aufgewiesen haben sollen, biegsame, perforierte Gelatinestreifen, auf die er zeichnerisch Bildergeschichten in Bewegungsphasen auflöste und teilweise sogar kolorierte. Für diese Vorformen des späteren Zeichentrickfilms schrieb und spielte P. die Begleitmusiken, vermutlich zumeist Kompilate aus beliebten Opern- und Operettenmelodien sowie Salonmusik.

Workshop »Stummfilm und Musik« mit Werner Schmidt-Boelcke; links Wolfgang Thiel


Aber es befanden sich darunter offenbar auch spezielle Klavierkompositionen für konkrete Bildstreifen. Eine »Serenade des armen Pierrot« (1892) wurde so populär, daß sie P. drucken und im Theater durch die Platzanweiserinnen verkaufen ließ.

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R wie ROLAND, Marc (1894 – 1975) deutscher Komponist und Dirigent Seit 1919 in Berlin freischaffend tätig war R. 1920 der musikalische Bearbeiter des Paul-WegenerFilms DER GOLEM – WIE ER IN DIE WELT KAM. Er schrieb spätromantische Kinothekenstücke sowie Originalpartituren zu Stummfilmen, u. a. DER WELTKRIEG (1927/ 28); RE: Leo Lasko), in denen er einerseits feste musikalische Formen, andererseits (in turbulenten Szenen) ein bildsynchrones Mosaik aus Klanggesten und -rufen anstrebte. So gestaltete R. in FRIDERICUS REX (1922/1923; RE: Arzen von Cserépy) eine Schlachtenszene als korrekten Sonatenhauptsatz, während seine Partitur zu ALT-HEIDELBERG (1923; RE: Hans Behrendt) ein Pasticcio aus Leit- und Assoziationsmotiven darstellt. 1928 gründete er als Leiter der Deutschen Filmmusik-Union eine Akademie für Filmmusik zur Ausbildung von Kinokapellmeistern.

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S wie SCHMIDT-BOELCKE, Werner (1903 –1985) und SCHMIDT-GENTNER, Willy (1894 – 1964) zwei prominente deutsche Kinokapellmeister und Illustratoren, die seit den 30er Jahren auch als Tonfilmkomponisten sehr produktiv waren. Von 1923 – 1926 arbeitete Sch.-Boelcke als Assistent von Sch.Gentner, »dem ungekrönten König der deutschen Kinokapellmeister in den Zwanziger Jahren« (G. Gandert). Nach dessen Weggang zur Ufa avancierte Sch.-Boelcke 1928 zum Chefdirigenten der Deutschen Emelka-Theater mit Sitz in Berlin. Besonders bekannt wurde seine effektvolle Musikkompilation (einschließlich einer lokalkoloristischen Tempelmusik-Imitation) für W. Pudowkins Film STURM ÜBER ASIEN (1929).

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wie Quelle Musikalische Primärquellen der Stummfilmmusik sind die teilweise in Bibliotheken, Kinematheken oder im Privatbesitz befindlichen Autographe von Partituren, Particelli oder Skizzen, Stimmenmaterial aus den Notenmappen der Kinomusiker sowie die (gedruckten) Klavierauszüge der Musik zu konkreten einzelnen Filmen. Hinzu kommen die von vielen Verlagen im Schlepptau der Becce’schen Kinothek herausgegebenen Sammlungen von Charakterstücken (meist in Salonorchesterbesetzung) für filmische Zwecke und szenische Situationen von A – Z. Eine weitere authentische Quelle sind erhalten gebliebene Schallplatten mit Aufnahmen von Originalkompositonen für konkrete Filme oder von Kinothekenpiècen im Originalsound damaliger Kinokapellen.

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wie Tonfilm Vornehmlich zwischen 1907 bis 1914 unternahmen die Filmproduzenten Lèon Gaumont und Oskar Meßter zahlreiche Versuche, Bildund Tonträger (Film- und Grammophonplatten) auf mechanischem, ab 1910 auf elektrischem Wege synchron zu koppeln. Meßters »Biophon« verband kurze Filmstreifen mit speziell produzierten Schallplatten. Das Repertoire umfaßte Ausschnitte aus besonders beliebten Opern und Operetten, wie den Prolog aus dem »Bajazzo« oder Szenen aus der »Fledermaus«, der »Lustigen Witwe« und dem »Walzertraum«. Für die Aufnahmen wurden u. a. die berühmte russische Tänzerin Anna Pawlowna, Otto Reutter mit seinen Couplets, Fritzi Massary und Guido Thielscher mit »Metropol«-Schlagern sowie der Berliner Operettenkomponist Paul Lincke mit dem Dirigat seines »Glühwürmchen-Idylls« engagiert. Da die Darsteller unmittelbar in einen Schalltrichter sprechen, singen und musizieren mußten (weshalb man sich bei Opernaufnahmen aus Platzmangel mit stark reduzierten Besetzungen oder dem Klavier behalf), konnten bei szenischen Darstellungen Bild und Ton nie gleichzeitig aufgenommen werden. Die erste Vorführung solcher »Tonbilder« fand am 29. August 1903 im Berliner Apollo-Theater im Rahmen eines Varietéprogramms statt. Eine Abart der Tonbilder waren die sogenannten Film-OpernSchallplatten. (vgl. Verfilmung von musikalischen Bühnenwerken). Schauspieler mimten in Kostümen vor gemalten Dekorationen die von einer Schallplatte wiedergegebenen Gesangsdarbietungen berühmter Sänger. Dieses künstlerisch zweifelhafte Verfahren, mit »geborgter Caruso-Stimme« als Schauspieler in Opernszenen zu agieren, wird als Playback noch heute in Opern- und Operettenverfilmungen praktiziert. Für die fünfhundert Kinos, die um 1913 die Meßterschen »Biophone« besaßen, waren bis zu diesem Zeitpunkt etwa tausendfünfhundert Tonbild-Filme hergestellt worden. Die Firma Gaumont hatte in diesem Zeitraum vergleichsweise zirka zweihundert Tonbilder produziert. Die 1906 von der Regisseurin Alice Guy gedrehte Phonoscène mit dem populären Chanson »Anna qu´est ce que t´attends?« stellt eine Vorform des heutigen Videoclips dar. Kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs flaute das allgemeine Interesse am Tonbild merklich ab. Das Hauptproblem war die fehlende Lautstärke der Schallplatten, die die größer werdenden Lichtspieltheater trotz versuchter Addition der Schallquellen (z. B. fünf Grammophone gleichzeitig) tonlich nicht befriedigend füllen konnten. Das Problem blieb ungelöst, da es seinerzeit noch keine Möglichkeit einer elektro-akustischen Verstärkung gab. Hinzu kam, daß der Gleichlauf von Bild und Ton stets durch den recht häufigen Filmriß gefährdet blieb. Während der Filmstreifen sich beim Schneiden und Kleben jedesmal etwas verkürzte, blieb die ehemals synchrone Schallplatte natürlich in voller Länge erhalten.

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wie UNKEL, Rolf (1912 – 1990) deutscher Komponist und Fernsehredakteur U. erhielt in den 70er Jahren ebenso wie Hans Jönsson (gest. 1993) vom ZDF den Auftrag, im Rahmen einer von deutschen Fernsehanstalten seit den 60er Jahren ausgehenden Stummfilmbearbeitung vorhandene Originalmusiken (wie z. B. Becces Komposition zu Murnaus TARFÜFF) zu bearbeiten oder Stummfilme neu zu vertonen. Auch wenn die Ergebnisse (wie beispielsweise bei U’s Komposition 1976 für Murnaus FAUST-Film infolge wenig plausibler Stilvermischungen und punktueller Einbeziehung von Geräuschen und Stimmengemurmel) nicht in jedem Falle überzeugten, wurde dennoch das kreative Entwicklungs- und Wirkungspotential solcher aktualisierender Neuvertonungen gegenüber einer bloßen Wiederbelebung der alten Stummfilmpraxis deutlich. Zumal die historische Stummfilmillustration auf Grund der besonderen geschichtlichen und kulturellen Situation ihrer Entscheidung in vieler Hinsicht ästhetisch fragwürdig ist.

U V

wie Verfilmung von musikalischen Bühnenwerken Bereits im frühen Stummfilm finden sich vielfache Versuche, beliebte Opern und Operetten für die Leinwand zu adaptieren (vgl. Tonbilder und Film-Opern-Schallplatten). In den 20er Jahren gab die Filmindustrie auch originale Filmoperetten und vereinzelt Filmopern in Produktion. In Berlin spezialisierte sich in besonderer Weise die Notofilm-Gesellschaft in der Friedrichstraße auf die Herstellung von Filmoperetten. Ihr Gründer, Direktor und Regisseur Ludwig Czerny widmete sich »namentlich dem Studium der Synchronisation von Laufbild und Begleitmusik und erfand auf Grund längerer Versuche 1919 das Notofilm-System, welches mit Hilfe eines Notenbandes die Direktionsstimme der Musik ins Projektionsbild überträgt.« (1922). Musikalische Mitarbeiter waren die Komponisten Hans Ailbout (1879 – 1957) und Otto Tilmar-Springefeld (1880 – 1954), die zumeist gemeinsam die Musik zu Werken wie DAS KUSSVERBOT, DIE BLONDE GEISHA oder MISS VENUS schrieben. 1922 kam das künstlerisch ehrgeizige Projekt »der ersten Filmoper der Welt« JENSEITS DES STROMS mit der Musik des Berliner Komponisten Ferdinand Hummel (1855 – 1928) heraus.

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W wie WILSON, Mortimer (1876 – 1932) amerikanischer Komponist W., der in Deutschland zwei Jahre bei Max Reger Komposition studierte und u. a. fünf Sinfonien geschrieben hat, ist heutzutage nur

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W X

noch von historischem Interesse durch seine ambitionierten Musiken für die (Groß-) Filme THE THIEF OF BAGDAD (1924), DON Q, SON OF ZORRO (1925) und THE BLACK PIRATE (1926) mit Douglas Fairbanks in der Hauptrolle. Insbesondere W.’s »exotische« Musik zum berühmten DIEB VON BAGDAD, für den er eine bemerkenswerte Partitur in der Rimski-Korsakow-Nachfolge à la »Scheherazade« komponierte, wurde von maßgeblichen Kritikern als »a landmark in the history of motion picture music« eingeschätzt. Allerdings verhinderten sowohl der sehr schwierige Streicherpart als auch virtuose Trompeten- und Englisch-Horn-Soli Aufführungen dieser anspruchsvollen Musik in kleineren Lichtspieltheatern.

X

wie Xylophon ein Holzstabspiel, das aus verschieden langen, abgestimmten Holzstäben besteht, die mit Holzklöppeln oder zwei Schlegeln mit kugelförmigen Köpfen angeschlagen werden. Auf Grund seines eigentümlich trockenen und klappernden Tones eignet sich das X. zur Gestaltung besonderer Effekte. C. Saint-Saens verwendete es 1875 erstmalig in der Kunstmusik, um in seinem »La danse macabre« das Knochenklappern der tanzenden Gerippe zu charakterisieren. Für analoge Groteskwirkungen wird das X. auch gern in der Filmmusik (speziell in Animations- bzw. Zeichentrickfilmen) eingesetzt.

Z

wie ZELLER, Wolfgang (1893 – 1967) Als Hauptvertreter der illustrativen Filmsymphonik in Deutschland und als Spezialist für große, oftmals durchkomponierte Kulturfilme blieb Z.’s Schaffen über drei Jahrzehnte lang (von den ABENTEUERN DES PRINZEN ACHMED 1926 bis zu SERENGETI DARF NICHT STERBEN, 1959) stilistisch und funktional nahezu unverändert. Seine Musik, die hauptsächlich als »dienende Magd der Geste« (Wallner-Basté) fungierte, stets »solide und fleißig gearbeitet« (Wanderscheck) war und als wesentliches Ziel »eine Überhöhung im Atmosphärischen und Dynamischen« (Zeller) anstrebte, zeigte in über 150 für den Film geschriebenen Orchesterpartituren gediegene Faktur, klare Formgebung, plastische Instrumentation und zugleich eine Tendenz zur Unauffälligkeit. Als Dirigent und Komponist an der Berliner Volksbühne in den Jahren 1921 – 1929 erwarb er sich mit ca. 80 Schauspielmusiken zu Inszenierungen berühmter Regisseure wie Fehling, Hilpert, Piscator und Reinhardt Handwerk und Fingerspitzengefühl für dramaturgisch-szenische Techniken und Wirkungen. Nach dem Erfolg seiner Kompositionen für Lotte Reinigers Scherenschnittfilm DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (1926) und Hans Kysers Lichtspiel LUTHER (1927) wurde Z. nach Einführung des Tonfilms in Deutschland einer der gefragtesten seriösen Filmkomponisten.

Vorbereitung für eine Synchronaufnahme mit »lebender« Musik


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Spot lights auf verschiedene

Aspekte

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NOSFERATU – Ein Immigrant aus Rumänien von HERBERT M. HURKA

Am Tisch sitzend bespricht Nosferatu mit Thomas Hutter die Unterlagen über ein Haus, das er in Wisborg zu kaufen beabsichtigt. Dabei fällt sein Blick auf eine zwischen die Papiere geratene Portraitphotographie von Hutters Frau Ellen. Nosferatus schneller Griff nach dem Portrait verrät Gier, und wie er es beim Betrachten gegen Hutters Blick abschirmt Besitzwünsche. Scheel von unten blickt er zu dem stehenden Hutter auf. Was er sagt, zeigt eine eingeblendete Texttafel: »Ist das Eure Frau? Was für ein herrlicher Hals!« Als er dem Besitzer das Bild zurückreicht, steckt dieser es genauso schnell in die Brusttasche seines Rocks wie Nosferatu es sich zuvor geschnappt hat. Allein in seinem Zimmer, holt er es noch einmal hervor, betrachtet es voll Herzensrührung und küßt es innig, bevor er es wieder einsteckt. Von jetzt an weiß Hutter, daß er einen Rivalen hat.

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isher war Hutter ein gewöhnlicher Reisender, einer, den es eher auf Nosferatus Burg verschlagen hat, und den, falls er nicht zurückkehren sollte, eben das Schicksal des Leichtsinnigen ereilt hätte. Sein Weg war schließlich gepflastert mit Vorahnungen und Warnungen. Noch zu Hause in Wisborg als er so fröhlich ins Sonnenlicht des Morgens hinauseilte, hielt ihn da nicht ein weiser Freund zur Langsamkeit an, weil er seinem Schicksal sowieso nicht entgehen werde? Und hatte Ellen beim Abschied nicht tiefste Sorge ergriffen? Und die einfachen rumänischen Bauern dann, waren die nicht über sein Vorhaben, Nosferatus Burg aufzusuchen, zusammengeschreckt? Und hatten die Kutscher sich nicht geweigert, Hutter ganz an sein Ziel im »Land der Phantome« zu bringen? Und versah ihn dieses Vademecum über Vampire nicht mit eindeutigen

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Hinweisen auf das Unglück, dem er sich, so übermütig alle Warnungen in den Wind schlagend, näherte? Es werden nur Geschäfte besprochen, von zwei Zweckpartnern – weit, weit weg von der Welt der Menschen. Mehr ist es bisher nicht. Natürlich läßt sich Nosferatu die Gelegenheit nicht entgehen und zweigt von seinem Gast, wenn der im Tiefschlaf liegt, ein paar Schluck Blut ab. Die wahre Natur der Halswunden wird dieser leichtsinnige Reisende ja sowieso nicht erkennen, und fallen sie ihm doch auf, wird er sie für Mückenstiche halten. Statistisch wird es ohne Bedeutung sein, was einem Angestellten eines Wisborger Immobilienmaklers in jener abgelegenen, von Fledermäusen gesuchten Burg in Transsylvanien zustößt. All diese Voraussetzungen verlieren in dem Augenblick ihre Substanz, als Hutters Frau Ellen Nosferatus Interesse weckt. Dieser hat plötzlich ein Ziel, eine intrinsische Motivation, die ihn veranlaßt, aus seiner Isolation in die Gesellschaft vorzudringen. Ellens Photo stellt den Zusammenhang her. Zwar war Nosferatus zukünftiger Aufenthaltsort von vornherein klar, doch erst unter diesen neuen Bedingungen lädt er sich mit Sinn auf: »Dies alte Haus scheint ganz das Richtige zu sein. Wir werden Nachbarn sein.« Die Uhr schlägt Mitternacht. Von nun an arbeitet der Film offen an dem dämonischen Profil Nosferatus. Wieder hält Hutter dieses Buch in der Hand. Er schüttelt den Kopf. Hatte er es nicht lachend weggeworfen? Auf einmal klingt es beunruhigend, wenn er lesen muß, daß sie sich von Blut ernähren und daß »man das Mal des Vampirs an der Spur seiner Fangzähne am Hals des Opfers (erkennt).« Er will sich gleich versichern und öffnet die Tür. Aber Nosferatu wartet schon. Schwarz und weiß. Weiß sind an ihm nur die kahle Kugeloberfläche

des Schädels, das Gesicht mit den spezialisierten Zähnen darin, die spitzen Ohren und die großen herunterhängenden Hände – alles andere ist schwarz. Daß Hutter die Tür zuschlägt, nützt ihm angesichts der übernatürlichen Kräfte seines Verfolgers überhaupt nichts. Sie wird sich auf der Stelle wieder öffnen, ganz von selbst. Der Vampir tritt ein. Die gotische Türeinfassung bildet den hellen Rahmen für die Finsternis des Hintergrundes, aus der Nosferatu sich löst. Mit aufgerissenen Augen, doch absent wie ein Schlafwandler nähert er sich Hutter. Eine Parallelmontage teilt die Ereignisse in Wisborg mit, wo Ellen im selben Augenblick aufschreckt, ihr Bett verläßt und, ohne aufzuwachen, über eine Brüstung balanciert. Hutter wiederum verkriecht sich, einem kindlichen Reflex nachgebend, unter der Bettdecke, während am Kopfende des Bettes – Verdoppelung der Projektionsfläche – der Schatten des Vampirs, bedrohlicher als dieser selbst, ins Bild wächst: zuerst steigen die Schatten der gespreizten Hände mit ihren langen Fingernägeln über den Bildrand, dann die flügelartig ausgebreiteten Arme, die kompakte Silhouette von Kopf und Rumpf zuletzt. Schnitt, Wisborg: Inzwischen ist der Arzt, den man herbeigerufen hat, zugegen, und Ellen wieder im Bett. Der Arzt und das Ehepaar, bei dem Hutter seine Frau in Obhut gelassen hat, haben sich besorgt um das Bett gruppiert, als Ellen hochfährt und mit einer Vision vor Augen ausruft: »Thomas, Thomas! Hör mich!« Wie die Technik der Parallelmontage die Ereignisse in eine unmittelbare Nachbarschaft zueinander bringt, so vereinigt Ellens somnambuler Schrei für einen Moment das getrennte Paar. Auf der anderen Seite hat der Vampir sich inzwischen zurückgezogen, und Hutter liegt schon wie aufgebahrt. Ein harter


Schnitt verbindet noch einmal Schauplätze und Personen. Nosferatu, der nach rechts abgeht und mit dem eingezogenen Kopf des schlechten Gewissens zum rechten Bildrand hinblickt, wird Ellen zur Seite gesetzt. Sie reckt die Arme beschwörend nach links, wie Nosferatu entgegen. Aus der Verbindung, die die Parallelmontage zwischen Nosferatus Blick und Ellens Armhaltung herstellt, läßt sich der Vorgriff auf die Beziehung zwischen den beiden am Ende des Filmes herauslesen.

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ie Tür schließt sich hinter Nosferatu automatisch, und Ellen sinkt bewußtlos ins Kissen zurück. »Ein plötzliches Fieber« wird diagnostiziert – und der Erzähler: »Der Arzt führte Ellens Trancezustand auf eine unbekannte Krankheit zurück. Jetzt aber weiß ich, daß sie in eben jener Nacht die Bedrohung durch Nosferatu gespürt hatte. Und Hutter in weiter Ferne hatte ihren Ruf gehört.« Am Morgen eilt Hutter in die Gruft. Durch Risse im Deckel sieht er Nosferatu, der ihn mit leblosen Augen anstarrt, im Sarkophag liegen. Diese Zähne! Es führt nichts daran vorbei: Sein Gastgeber ist der gefürchtete Vampir, vor dem ihn alle zu warnen versuchten. Nosferatu wird, rücksichtslos vorwärtsgetrieben von seinem Begehren, in eine laufende Ehe einbrechen und sich damit in der Keimzelle der Gesellschaft festsetzen. Hat er sich aber erst einmal diese eine Frau geholt, wird ihn nichts daran hindern, auch alle anderen zu holen: Hutters Rivale wird zum universellen Rivalen. Der vorsorglich in der Burg eingesperrte Hutter muß zusehen, wie Nosferatu, der es jetzt sehr eilig hat, zu seinem Trip aufbricht. Im Zeitraffer belädt er einen Wagen mit erdgefüllten Särgen. In den obersten legt er sich hinein, Deckel zu und schon sind

Friedrich W. Murnau hinter der Kamera

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Pferde und Wagen weg. Mit einem Handikap für Hutter hat der Wettlauf um das im fernen Wisborg weilende Objekt begonnen. Hutter entkommt zwar aus der Burg, bleibt aber schon an der Mauer liegen und wird später von Bauern in einem Hospital abgegeben. Er spricht wirr, angeblich ein Fieber. Eine Kurzszene zeigt ein mit Särgen beladenes Floß an einem Flußufer anlegen, fern jeder Zivilisation. Der Zeitpunkt des Übergangs, ein mythischer Augenblick, verbildlicht in der Symbolik des Flusses, der in archaischen Vorstellungswelten die Reservate der Toten von den Territorien der Lebenden scheidet.1 Nur – die Richtung ist umgekehrt: Nosferatu kommt entgegen der Erfahrung aus dem Totenreich in die belebte Welt zurück. Nach diesem Grenzübertritt wird Nosferatu zu einem gesellschaftlichen Wesen. Die nächste Etappe der Reise beginnt damit, daß die Besatzung eines Segelschiffs sich mit den Ladepapieren für die Särge befaßt. Als die Seeleute eine der Kisten anheben, um sie in den Laderaum zu bringen, wimmelt es darunter von Ratten. Die große Überfahrt. Nach dem Fluß das Meer. Zog der Fluß die Grenze noch weit draußen in der Wildnis an der immer gefürchteten Peripherie der säkularen Welt, so erstreckt sich das Meer, nimmt man den Hafen als einen letzten Ausläufer dazu, bis mitten in die Stadt als einen paradigmatischen Ort der Zivilisation. Zu dem symbolischen Gewässer des Übergangs tritt in Schiff und Besatzung ein neues Motiv hinzu. Für Nosferatu bedeuten die Besatzungsmitglieder des Seglers reale Vorboten der ihn erwartenden Gesellschaft. In der Ordnung der Symbole hingegen steht das Schiff für die Gesellschaft als Ganze.2 Wenn es einläuft, ist von der Besatzung niemand mehr am Leben. Es ist klar, womit die Gesellschaft zu rechnen hat.

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Eine Schrifttafel, die von der Totenschiff-Szene zu einem gewissen Professor Dr. Van Helsing überleitet, macht es explizit: Mit Nosferatu zieht das Verderben ein. Dieser Dr. Van Helsing hält eine Art Privatvorlesung »Über Geheimnisse der Natur und seltsame Parallellen im menschlichen Leben«, erläutert an den Beispielen Sonnentau und Süßwasserpolyp. Zur Veranschaulichung stehen die Pflanze und ein Wassergefäß bereit. Hier montiert der Regisseur Sequenzen aus naturwissenschaftlichem Dokumentationsmaterial in die Handlung. Die Greifarme des Süßwasserpolyps umschlingen einen Kleinorganismus, und die Fleischfalle des Sonnentaus verschlingt eine zappelnde Fliege. Mit dieser Demonstration und dem Kommentar: »Dieses Gewächs ist der Vampir des Pflanzenreiches«, wird das Phänomen Nosferatu in einen naturwissenschaftlichen, damit offiziellen Diskurs eingepaßt. Der inhärente Anspruch aufklärerischer Rationalität kann indessen nur vorgetäuscht sein, denn Dr. Van Helsings Analogieschlüsse erweisen sich als pseudowissenschaftliche Befunde. Bruchlos schreiben sie den Aberglauben der rumänischen Bauern und die Weisheiten des obskuren Vampirbüchleins in einem Code weiter, der komplexen Gesellschaftsverhältnissen gerecht zu werden vorgibt. Das gemeinsame Ziel aller drei Aussagemedien formuliert sich in der Dämonisierung Nosferatus, einer totalitären Bewegung, die bäuerlichen Aberglauben und urbane Aufgeklärtheit ebenso zwangsharmonisiert wie Mythos und Wissenschaft, Althergebrachtes und Fortschritt, Peripherie und Zentrum. Dem Professor wird der Makler Knock entgegengesetzt, indem der Vorlesungssequenz immer wieder Bilder aus einer Anstalt parallelgeschnitten werden. Dort sitzt der

unter dem Einfluß des näherkommenden Nosferatu verrückt gewordene Knock in Gewahrsam. Seinen Geisteszustand markieren zerzaustes Haar und irrer Blick. Mit Fliegenund Spinnenfangen hält er die Wärter auf Trab. Die Beute verspeist er. Diese Groteske, um Van Helsings Einlassungen zu verifizieren. Keine Hoffnung mehr. Trotzdem steigt Ellen auf die Dünen hinauf, um nach einem Schiff auszuschauen, das ihr Hutter zurückbringe. Der Aussichtspunkt, zu dem es sie offensichtlich hingezogen hat, ist umgeben von Grabkreuzen. Ein externer Friedhof für Schiffbrüchige. Im unbeständigen dem Seewind ausgelieferten Dünensand sind die Kreuze aus dem Lot geraten, zeigen in alle Richtungen. Hier starrt Ellen auf eine leere See, als die Freunde ihr einen Brief von Hutter überbringen. Er ist unterwegs! Eine Rückblende berichtet über seine Genesung. Wieder beginnt die Sequenz mit einer Szene des Erwachens und Aufstehens. Abschied von der Nonne, die ihn betreut hat, und Rückreise – meistens zu Pferd. Das Motiv des Wettlaufs wird wieder aufgenommen und zuendegeführt. Nosferatu zu Wasser, Hutter zu Land. Nosferatu auf dem Zweimaster, Hutter in einer wilden, aber üppigen Natur. Zwei Punkte, die sich eilig auf den ruhenden Bezugspunkt Ellen zubewegen. Der »mimetische Wunsch« 3 beziehungsweise das mimetische Begehren sind niemals autopoietische Originale, die sich aus sich selbst heraus entwickelten, sondern sie entzünden sich stets am Vorbild des Begehrens eines/einer Anderen – Ursprung aller Doppelgänger-Phantasmen. Das Subjekt und sein Double: »Der Rivale ist das Modell des Subjekts, und zwar nicht so sehr oberflächlich auf der Ebene von Lebensweise, Ideen usw.als vielmehr wesentlich auf der


kahle Schädel mit den Augenhöhlen, abgehoben gegen die strenge Geometrie der Seile und Masten. Dahinter ein monochromer Himmel; dann die Hände: weiße Spinnen, die mit ihren Beine die Luft um Nosferatus Körper abtasten. Als stünden diese Bilder nicht schon für sich, benötigt es einen zusätzlichen Schauplatzwechsel in die Irrenanstalt. Mit diesem Schnitt wird das abwechselnde Hin und Her zwischen den beiden Kontrahenten unterbrochen, um Nosferatu ein zusätzliches Gewicht des Bösen anzuhängen. Außerdem wird Wirkung der Bilder durch eine Schriftbotschaft mit der Autorität des Objektiven verdoppelt, um die Dämonisierung auf ein gesamtgesellschaftliches Niveau zu übertragen. Der irre Knock zieht einem Wärter heimlich ein Zeitungsblatt aus der Tasche, dessen Text das Ausmaß der Gefahr enthüllt, die Nosferatu für die ganze Gesellschaft darstellt: Aus Osteuropa, so ist zu lesen, dringe die Pest vor, und die Toten der Hafenstädte des Schwarzen Meeres wiesen »blutige Male« – wie Bißwunden – am Hals auf.

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tatt in wenigen paradigmatischen Szenen wird die Dramatik des Wettlaufs bis zum Ende durchgespielt. Nachdem der Nosferatu zugeordnete Knock einbezogen wurde, wird Ellen Hutter zur Unterstützung beigesellt. Dadurch vervielfachen sich die Kombinationsmöglichkeiten der montierbaren Szenen. Ellens Schlafwandeln wird an den Wellengang der See angeschlossen. Sie ahnt: »Er kommt. Ich muß ihm entgegengehen.« Hutter indessen steigt schon aus der Kutsche, die ihn um eine weitere Etappe nähergebracht hat. Zeitgleich läuft Nosferatus Schiff ein, und parallel zu Ellen – Motiv der Erwartung – Knock am Gitter seines Irrenhausfensters: »Der Meister kommt. Der

Meister ist hier.« Ohne irgendjemandes Zutun klappt die Ladeluke auf. Nosferatu steigt herauf. Die Langsamkeit, mit der er Stufe für Stufe sich zu dem Niveau der Lebenden hinaufbewegt, ist nicht Vorsicht, sondern die Gemessenheit des Gangs eines Herrschers. Der Name des Schiffs lautet übrigens Demeter, mythische Göttin der Fruchtbarkeit, die im Kreislauf der Jahreszeiten regelmäßig aus der Tiefe wiederkehrte, um Erde und Äckern die Früchte zu bringen. Nosferatu codiert den Mythos ins Gegenteil: Die Unterwelt als Schiffsbauch, der den Tod gebiert – hinterher ein Pulk Ratten, die Nachgeburt. Die Ankunft des Meisters versetzt Knock so in Erregung, daß er einen Wärter erschlägt. Inzwischen an Land, macht sich Nosferatu mit einem der Särge unterm Arm auf seine letzten Meter, für die er den Hof vor Hutters Haus überqueren muß. Zwei Bilder der Ankunft beenden der Wettlauf: Hutter umarmt Ellen – Nosferatu setzt auf einem Kahn über einen Kanal oder Bach, um seine neue Bleibe zu erreichen. Der in seinem langen schwarzen Mantel im Kahn stehende Vampir, der einsam auf eine menschenleere Häuserzeile mit dunklen Fensterhöhlen zugleitet – eine Komposition, die an Böcklins Toteninsel erinnert. Die Grenze zum Totenreich verläuft noch einmal mitten durch die Stadt. Seit dem Zeitungstext ist klar, daß Nosferatu nicht mehr allein ein privates Eheproblem Hutters darstellt, sondern sich zu einer allgemeinen Herausforderung ausgewachsen hat. In einer Gruppe beziehungsweise Gesellschaft, die ihre Binnenrivalitäten nicht mehr unter Kontrolle bekommt, steigt die Gefahr der Gewalt. Jeder wird dem Nächsten zum »monströsen Doppelgänger«. Noch einmal Girard: »Die Doppelgänger sind alle gegenseitig austauschbar, ohne daß ihre Identität klar zu

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Ebene des Wunsches.« 4 Aus der Perspektive eines Subjekts, das sich in Konkurrenz um ein begehrtes Objekt befindet, muß deshalb der Konkurrent zum »monströsen Doppelgänger« 5 werden. Die Handlung von Nosferatu greift auf die naheliegendste und augenfälligste Metapher zurück: den Wettlauf – in Szene gesetzt durch die naheliegendste Technik: die Parallelmontage, eine fiktionale Konferenzschaltung zwischen den Schauplätzen Meer und Wald, dem Schiff mit Nosferatu und dem Pferd mit Hutter im Sattel. Doch ist die Handlungsstruktur allem Anschein entgegen asymmetrisch, was sich bis in die formale Abfolge der Schauplatzwechsel auswirkt. Während der gute Hutter linear nach Hause strebt und schlimmstenfalls mit der Unwegsamkeit des Geländes zu kämpfen hat, wird die Dämonisierung Nosferatus während des Wettlaufs vollendet. Alles Schlimme, das später durch ihn verursacht werden wird, ist dann nur noch Folge, eine Steigerung in numero durch Anwendung der Formel. Zunächst aber bringt er den Tod auf das Schiff. Die Besatzung siecht einer nach dem anderen dahin. Krankheit? Vampirbiß? Beides. Einmal erscheint der Vampir wie ein Geist – da und schon wieder weg. Ein Filmtrick wie um seiner selbst willen. Das andere Mal aber schnellt Nosferatu aus seinem Sarg empor, gerade und starr wie der Stil eines Rechens, auf dessen Zinken jemand tritt. Der Mann, den er erschreckt hat, rennt wahnsinnig vor Angst hinauf aufs Deck, um ins Wasser zu springen. Lieber sich dem Element anheimgeben als diesem Passagier ausgeliefert! Nur der Kapitän ist noch übrig. Heroisch, den Tod vor Augen, fesselt er sich ans Steuerrad. Irgendwie muß das Schiff ja in den Hafen. Die Schiffs-Szenen zeigen Nosferatu am wirkungsvollsten. Aus Untersicht der massive schwarze Mantel, weit oben der


erkennen wäre. Sie liefern also, zwischen Differenz und Identität angesiedelt, jenen doppeldeutigen Mittelbegriff, der für … die Polarisierung der Gewalt auf ein einziges, alle anderen repräsentierendes Opfer unerläßlich ist.« 6 Im folgenden Teil der Handlung wird Nosferatu als dieser eine mönströse Doppelgänger aller aufbereitet.

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n Nosferatu trifft ein anachronistisches Wesen auf eine funktionierende moderne Stadtzivilisation. Daß die Handlung auf 1838 datiert wird, schwächt den Eindruck der Modernität nicht ab. Das Totenschiff wird von einer Kommission, vielleicht auch vom Senat selbst, mit kriminalistischen Methoden in Augenschein genommen. Man untersucht und diskutiert die Logbücher. Der Professor ist mit von der Partie. In diese Welt paßt der einsiedlerische Vampir, aus einem vergessenen Schloß am Rande Europas, wie heraufgestiegen aus der Tiefe der Zeit, als Individuum nicht mehr hinein – die Pest, die er mitbringt, ja. Die Pest ist Murnaus Kunstgriff, der es ihm auf eine weitaus rationellere Weise ermöglicht, das Phantasma der Ansteckung auf das Phänomen Massengesellschaft zu übertragen, als es Stoker in seiner Urschrift Dracula 7 vorgegeben hat. Hier nämlich findet die Vermehrung der Vampire allein durch Biß statt, was natürlich irgendwann einmal zu einem progressiven Effekt führt, doch bezeichnet dieses »irgendwann einmal« einen Zeitfaktor, der als unberechenbare Größe der Formel eingeschrieben bleibt und dem Rettenden Gelegenheit beläßt, mit der Gefahr mitzuwachsen. Murnaus Idee einer realen Epidemie hingegen versieht das Phantasma der Ansteckung mit dem Vorteil der Geschwindigkeit der Ausbreitung, und macht es damit dem a priori zeitunterworfenen

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Filmmedium kompatibel. Diese selbstreferentielle Implikation ist jedoch nur eine von mehreren Implikationen des Motivs Pest. In erster Linie ist es ein starkes Mittel der Dämonisierung. Nosferatus Bedeutung für die Dyade Hutter-Ellen wird auf der überindividuellen Plattform der Stadt(gemeinschaft) zur Epidemie erweitert. Das handelnde Individuum Nosferatu transgrediert zu dem Prinzip Epidemie, dem die Macht innewohnt, alle aufs Mal zu treffen. Um das zu demonstrieren, setzt der Film auf Chiffren, die unter geringstem Aufwand an Raum und (Film-)Zeit die Menschenmasse der Stadt vergegenwärtigen. Ein Herold geht durch die Straße und verkündet die vom Rat beschlossenen PestMaßnahmen. Die Angesprochenen schauen aus den Fenstern. Mit den ersten Worten des Herolds schließen sie sie und ziehen sich aus dem zur Gefahr gewordenen öffentlichen Raum in ihre Zimmer zurück. Die Leute in den Fenstern haben nichts miteinander zu tun. Eine schnell ablaufende Serie von Schnitten erzeugt die Illusion von Dichte und Menschenmasse, und ein Bild, in dem eine Mutter ihr Kind ganz schnell vom Fenster wegzieht, fungiert als der emotionale Fixpunkt, um den sich die Montage zentriert. Eine Einstellung zeigt aus der Vogelperspektive eine Reihe von Sargträgern, die – in ornamentaler Anordnung – einander paarweise im gleichen Abstand folgend eine entvölkerte Straße herunterschreiten. Prozession des Todes. Und in einer dritten Szene markieren Offizielle in Zylindern und schwarzen Kleidern die Türrahmen der Pesttoten mit Kreidekreuzen. Durch eine der Türen wird gerade ein Sarg herausgebracht. Mit der Diffamierung als Verursacher eines Massensterbens erreicht Nosferatus Dämonisierung ihren Höhepunkt. Das fol-

gende und gleichzeitig letzte Kapitel thematisiert die Rettung durch Nosferatus Vernichtung. Dazu begibt sich die Handlung wieder in die Privatwelt des Hutter-Paares. Mit Augen voll unerfüllter Sehnsucht klebt Nosferatu an seinem Fenster, von dem aus er direkt in die Wohnung des Ehepaares blickt. Ellen zu ihrem Mann: »Sieh doch! Jede Nacht mir gegenüber ... » Von so weit angereist und plötzlich von allen Nachbarn der nächste! Soziale Nähe, hier als räumliche ins Bild gesetzt, ist Grundvoraussetzung des Neids. Dieser nämlich entspringt vor allem dort, wo sich Gelegenheiten aufdrängen, »… sich mit anderen zu vergleichen …«8, und zwangsläufig geraten diejenigen in Konkurrenz zueinander, »… die sozial nicht zu weit entfernt stehen.« 9 So wird das Bild von Nosferatu am Fenster seines schäbigen Hauses als eine Imago des universellen Neiders entzifferbar, der im dunklen Winkel seines Zurückgesetztseins vom Leuchten des Besitzstolzes des Anderen hypnotisiert wird und nichts dagegen machen kann, daß die Verfügungsgewalt dieses Anderen das Objekt des gemeinsamen Begehrens letztlich in unerreichbare Ferne entzieht. Vom Standpunkt des Verfügenden aus entwickeln sich wiederum die angstbesetzten Vorstellungen, die die Besitzenden auf ihre wirklichen und vermeintlichen Neider projizieren. In dem dunklen Winkel dort könnten die Gifte des Neids zu schwarzer Magie vergären. Wie Neid unter der Bedingung sozialer Nähe entsteht, gehört zur Rivalität die Dämonisierung des Konkurrenten: unter dem Gesichtspunkt dieser von Helmut Schoeck beziehungsweise René Girard entdeckten Beziehungen wird das Bild von Nosferatu, wie er ins Fenster der Hutters schaut, zum Zentrum, um das sich die Motive der gesamten Fabel anordnen lassen. Dieses Bild


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osferatus Vernichtung läuft über den Katalysator eines Damenopfers. Wenn Ellen das ihr verbotene Buch über Vampire heimlich aufschlägt und liest, erfährt sie ihr eigenes Schicksal: »Nur eine Frau kann den Bann brechen – eine Frau reinen Herzens – die ihr Blut Nosferatu freiwillig darbietet und den Vampir an ihrer Seite hält, bis daß der Hahn kräht.« Wie Judith dem Holofernes, Feind Israels, beiwohnt, um ihm den Kopf abzuschlagen und ihr Volk zu retten, so wird Ellen Nosferatu an ihr Bett heranlassen, damit dieser am Ziel seiner Wünsche die Zeit vergesse und von seiner blinden Lust in den tödlichen Tag hineingetrieben werde. Einmal abgesehen von der verdeckten Erotik dieses Arrangements, verkörpert Ellen den rettenden, damit heiligen Aspekt des Opfers, während Nosferatu den dämonischen Anteil repräsentiert. Im Christentum spaltet sich das ursprünglich eine, ambivalente Opfer in zwei Funktionen auf. Im Film etwa Märtyrerin und Sünder. Die einstmalige Ambivalenz des Opfers rührte aus der zirkulären Struktur seiner Tötungsbedingungen: »Das Opfer zu töten ist verbrecherisch, weil es heilig ist … aber das Opfer wäre nicht heilig, würde es nicht getötet,« so Girard. 10 Mit der Opferung endet die Krise (hier: Pest), so daß die Gesellschaft ihren Frieden zurückgewinnt. Für dieses Verdienst wird das Opfer heilig gesprochen. Daß es aber dazu eines kollektiven Mordes bedarf, evoziert (nach-

trägliche) Rechtfertigung, und die kann nur lauten: Das Opfer war böse. Ellen ist kein dämonisiertes Opfer. Ihr Verhängnis resultiert aus dem Gegenteil des Dämonischen, der »Reinheit des Herzens«, metaphorische Fortsetzung der Jungfräulichkeit in der Ehe. In Zeiten der Menschenopfer galt Jungfräulichkeit als Auswahlkriterium, woran beispielsweise der Mythos von Theseus und dem Minotauros erinnert. Doch auch ohne diesen in die Vorgeschichte zurückverweisenden Bezug genügte schon allein Ellens Tugendhaftigkeit als Beispiel einer extremen Eigenschaft, die »wie Reichtum und Armut, Erfolg und Mißerfolg … Laster und Tugend … »überhaupt dazu geeignet sind, kollektiven Zorn hervorzurufen. 11 Wenn auch nicht dämonisiert, so deutet sich in der Figur Ellen eine BorderlineExistenz an, die gewisse Unsicherheiten bezüglich sozial verordneter Grenzen erwarten läßt. Sie erliegt der Verführungskraft der Neugier und liest in dem verbotenen Buch. Wieder eine Eva, die es nach den Früchten der Erkenntnis gelüstet. Nur wachsen die nicht an paradiesischen Bäumen, sondern sind eingelegt in Buchkonserven. Du sollst nicht wissen! Das patriarchalische Geheimnis über die Frau. Sie ist das Opfer, das die Einheit der Männergesellschaft konstituiert. Nichts geringeres erfährt die neugierige Leserin, als daß in die Grundsteine der männlichen Kultur Frauenleichen eingemauert werden müssen. Doch nicht genug, wird das Wie gleich mitverraten. Es funktioniert wie eine Zwickmühle. Ellen – und darin liegt die Pointe – muß die ihr zugedachte Opferrolle annehmen, denn eine Verweigerung käme dem Eingeständnis gleich, kein »reines Herz« zu besitzen und damit untauglich zu sein für die einzig mögliche Position in

der Gesellschaft: den Platz in der kleinbürgerlichen Ehe. Strategie des Wettlaufs zwischen Hasen und Igel: Das patriarchalische Argument ist immer schon da. Indem sie den Blick in das Buch des Mannes riskiert, verspielt sie ihren Platz in der Gesellschaft und damit ihr Leben. In einer Epoche, in der das Körperliche und seine Funktionen nicht mehr ohne Doppelbödigkeit gedacht werden, ist der Vampir vonvornherein ein Attraktor für sexuelle Phantasien: »Der Biß des Vampirs … hat eine rein sexuelle Komponente. Der Vampirmythos wurde vor allem im 19. Jahrhundert dazu benutzt ‘perverse’ erotische Beziehungen auf verhüllte Weise zu schildern.« So R. A. Zondergeld. 12 Und dennoch: Der Vampir wird einschließlich seiner sexuellen Attributionen exekutiert. Mit ihrem Trägerorganismus verschwindet auch die uneingestehbare Lust. Da der Vampir das Phantasma der Ansteckung repräsentiert, bedarf es zur Abwehr eines außergewöhnlichen Immunsystems: Ein zusätzlicher Aspekt der Forderung eines »reinen Herzens«. Blut, Pest, Gewalt ebenso aber Erotik und Sexualität bedeuten für den Gesellschaftskörper Gefahren der Ansteckung. Es muß also mindestens ein Ideal sein – eben dieses »reine Herz« als Extrem der Tugend und Makellosigkeit – um Immunität gegen die Anfechtungen (‘perverser’) Sexualität und den Fluch des postmortalen Wiedergängertums zu garantieren. Die körperliche Verseuchung durch die Infektion über den Biß bereinigt dann der physische Tod Ellens.

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er Film adaptiert von der Literatur die Methode der Rahmenhandlung. Der Prolog ist bereits eindeutig: »Nosferatu war es, der im Jahre 1838 die Pest nach Wisborg brachte.« Dieses Insert gibt eine Äußerung

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ist es auch, das die Fiktion, phantastisch wie sie ist, mit der Alltagserfahrung verbindet. Der neidische Nachbar am Fenster oder der um die Gunst der Frau unterlegene Rivale aus dem Haus gegenüber. Solch eine Konstellation wird ins Unermeßliche übersteigert, wenn Nosferatu zum Verursachung der Pest aufgeblasen wird.


aus dem fiktiven Tagebuch von Johann Cavallius, dem »begabten Historiker seiner Heimatstadt Wisborg« wieder. Die erste Charakterisierung der Hauptperson, deren Geschichte das Buch bezeugen soll, lautet: »Nosferatu, dieser Name allein kann das Blut erstarren lassen«. Das ist wörtlich zu nehmen. Entsprechend beschreibt der Epilog das Ende der Pest als das Ende des Vampirs: »Und wie durch ein Wunder sterben in diesem Augenblick die Kranken nicht mehr, und der würgende Schatten des Vampirs entschwand mit der Morgensonne.« Davor die Pest und die Gesellschaft. Die Pest war die Epidemie der Städte 13, und die Städte waren die Errungenschaft des Bürgertums. Die Seuche verbreitete sich über die Handelswege, vor allem in Hungerzeiten, wenn Getreide importiert werden mußte. Mit dem Getreide kamen die Ratten und mit ihnen der Rattenfloh als Wirtsorganismus des Pestbazillus. Statt sich sukzessive über die Dörfer auszubreiten, sprang die Epidemie von Stadt zu Stadt. Auch die schnelle Verbreitung innerhalb der Städte war auf die Infrastruktur der Verkehrswege zurückzuführen und wurde bedingt durch typische bürgerliche Lebensvollzüge wie Besuche, Einkäufe und geschäftliche Verpflichtungen. Soweit nimmt Nosferatu historische Wirklichkeit auf. Von Vilna nach Wisborg. Hafenstädte als bevorzugte Epidemieherde. Nosferatu ist der Dämon dieses modernen Staates. Weniger ein Teufel. Das einzige link, das ihn noch mit der Tradition von Teufelsbildern verbunden hätte, wäre der Name Dracula gewesen – rumänisch: Drache, Teufel. Murnau aber, der versäumt hatte, sich die Filmrechte an Bram Stokers Roman zu sichern, war zur Änderung der Namen seines Filmpersonals gezwungen. So setzt ein juristischer Zufall eine kulturge-

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schichtlich fällige Verschiebung innerhalb der Verweislage durch. Nosferatu ist kein Herrscher, der über ein Reich der Finsternis oder des Feuers regiert wie der Teufel. Der Film greift auf den älteren Topos des Totenreiches zurück. Die Kutscher setzen Hutter an einer Brücke aus. Danach beginnt Transsylvanien, Land hinter den Wäldern, Bezirk jenseits des Flusses; Hölle versus Totenreich, christlich versus heidnisch. Die Finsternis ist ein Attribut der Hölle. Entscheidend dabei: diese Finsternis ist die ewige, einzige Lichtquellen sind die Feuer der Qual. Der Vampir dagegen ist abhängig von Lichtverhältnissen. Nosferatu ist nicht der Herr der Nacht, sondern ihr Parasit, und der Tag mächtiger als er. Der konkrete Tag- und Nachtrhythmus bildet das referentielle Reservoir für die neuzeitlichen symbolischen Aufladungen, wenngleich der mythische Urkampf zwischen Licht und Finsternis immer schon der Wahrnehmung der natürlichen Verhältnisse eincodiert ist. Seit der französischen Revolution gehört die Finsternis der Despotie, das Licht der Freiheit, Wahrheit, Aufklärung und dem Fortschritt. Nosferatu wird mit gebräuchlichen Merkmalen charakterisiert: Nachtwesen, obskurer Blick, schwarze Kleidung, Gewaltpotential. Die Figur des Teufels ist das Resultat theologischer Bemühungen, das Böse als ein Prinzip zu definieren, das alle negativen Eigenschaften umfaßt. Nosferatu dagegen ist in erster Linie ein Individuum mit bestimmten Eigenschaften. Überschneidungen liegen in der Natur der Sache. Was Dieter Hombach »Die Drift der Erkenntnis« 14 nennt, daß nämlich theoretische Systeme sich nicht beliebig und ad infinto von der Realität wegbewegen, sondern ab gewissen Graden der Abstraktion eine Gegenbewegung zurück zur Konkretion einleiten, sie


Dennoch fallen Unterschiede zwischen Nosferatu und dem Teufel auf. Der Satan als Widersacher ist mit Gott in Machtkämpfe verstrickt. Objekt beider Machtbegehren ist die Menschheit – bis Faust und jenseits. Ein ubiquitärer Gott, ein ubiquitärer Widersacher, eine ubiquitäre Menschheit. Anders die Dämonen. Sie entsprechen Lokalgottheiten. Seine Ortswechsel muß Nosferatu wie ein Sterblicher anpacken. Er kauft Häuser, benützt öffentliche Verkehrsmittel, reist in Etappen, benötigt Ladepapiere, kann, im Unterschied zu all den Draculas aus seiner Verwandtschaft, nicht einmal fliegen. Dämonen haben genau wie die Lokalgottheiten ihre Spezialgebiete: Unfruchtbarkeit, Ernteschäden, Krankheiten. Nosferatu zum Beispiel ist der Meister der Ansteckung. Seine territoriale Abhängigkeit geht so weit, daß er kistenweise die Erde seines Reviers mitschleppen muß, um sich wenigstens eines Schlafplatzes sicher zu sein. Nosferatu ist also verwundbar, und, wenn es richtig angestellt wird, sogar sterblich. Eigentlich sind sie alle Wiedergänger. Kurtz, Mabuse, der Terminator, King Kong, Hyde, die Gremlins. Krepieren am Ende des einen Filmes und stehen im Vorspann des nächsten schon wieder am Start. Mit neuen Namen, neuen Out-fits in einem neuen Spiel. Gottheiten ewiger Wiederkunft bringen sich in Erinnerung wie Persephone – zwei Jahresdrittel oben, eins in der Unterwelt – oder Osiris, der ewig Zerstückelte und Wiedergeborene. Doch Filmteufel und Filmdämonen können sich als Serienhelden einer Endlosschleife leisten, Rituale der Wiederherstellung und Reinkarnation zu überspringen. Nun ergibt das Böse als Funktion des Monotheismus ein anderes Schaubild als das Böse in polytheistischen Zusammenhängen.

Das Hauptmoment liegt in der Fixierung der Religionsgemeinschaft auf das einzige (despotische) Zentrum. Als böse gilt jede Behinderung der Konzentration auf Gott. Der Mensch wird zum Schauplatz eines Machtkampfes zwischen Gut und Böse, die Trophäen sind die Seelen. Das Böse als konkrete Gefährdung des Zusammenlebens ist dagegen abgeleitet, von Gott zurückgeworfener Reflex. Der Dekalog als erste monotheistische Gesetzgebung regelt zuallererst, wie das Verhältnis Mensch-Gott auszusehen hat, dann – ab Gebot vier – widmet er sich den sozialen Verhältnissen. Polytheistische Götter und ihre Dämonen aber greifen direkt in das Leben ein. Das sich an den Körpern vergreifende Böse ist, ganz im Sinne Nietzsches, das Lebensfeindliche. Dracula, alias Nosferatu, ist dessen berühmtester Exponent.

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rotz der Bezeichnung Untoter beschreibt der Vampir keinen Punkt, der von Diesseits und Jenseits gleich weit entfernt wäre. Mit viel mehr als nur einem Bein steht Nosferatu im Reich der Toten. Er passiert nicht als Pendler sondern als Agent des Todes die Grenze zur hiesigen Welt. Was er mitbringt, ist die Pest, Tod der Städte, und mit dem Blut, das er den Körpern entzieht, versiegt der Strom des Lebens selbst. Zur Sucht verflucht, dreht sich bei ihm alles um den schnellen Konsum. Nichts also, das er als Äquivalent mit in seine andere Welt zurücknehmen könnte. Der Wiedergänger, weil immer mit dem Tod in Berührung, eignet sich bestens als mythische Verkörperung dieses ungreifbaren Phänomens der Ansteckung. Er verbürgt außerdem einen monokausalen Anfang, den eindeutigen Ursprung der Seuche, während die empirische Wissenschaft in

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also zwischen Polen oder Attraktoren hinund herdriften, scheint auch für mythische Realisierungen zu gelten, abzulesen an den Effekten des monotheistischen Systems. So hat Hans Blumenberg am Monotheismus ein spezielles »Regressionsproblem« ausgemacht. 15 Die Abstraktion des Bösen konnte niemals Schritt halten mit der Entbildlichung des Göttlichen. Blumenberg sieht die Schwäche des Monotheismus nicht in den Gefahren der Regression sondern in eben dem, was der Monotheismus sich zugutehält: »Die Bedrohung (des Monotheismus) lag nicht mehr allein beim Rückfall zu den Bildern, sondern beim Absolutismus der Transzendenz, bei der imperativen Metaphysik der Gottesautarkie und bei den Abstraktionen des Dogmas.« 16 Seit den Anfängen des Judentums gibt es den Versuch, den Teufel als reziprokes Gegenprinzip Gottes zu etablieren, an dem der Mensch seine Loyalität zu Gott beweisen sollte. Wenn es darum ging, den Teufel, wie Blumenberg sagt, zu einer »Übersteigerungsfigur des mythischen Repertoires« zu machen, und » … seine Natur als Naturlosigkeit, als omnipotente Selbstverfügung der Metamorphose und des Blickenlassens tierischer Attribute« festzuschreiben 17, dann ist dieses Projekt der Vereinheitlichung der chaotischen Vielfalt der Dämonen gescheitert. Weitaus unruhiger als die Drift zwischen Gott als Abstraktion und Gott als anthropomorphem Bild blieb die Drift zwischen dem Teufel als monistischem Prinzip und einem polymorphen Pandämonium. Vielleicht sind solche Erwägungen ohnehin müßig, wenn beispielsweise in Kauf zu nehmen wäre, daß es nicht nur schwierig, sondern unmöglich ist, eine stabile Differenz zwischen (theologischem) Teufel und (mythischen) Dämonen zu installieren.


dieser Hinsicht zur Spekulation gezwungen ist. Umgekehrt wie der Rattenfänger von Hameln zieht Nosferatu die Pestratten bis in die Mitte der Stadt hinter sich her. In der Epoche, die den Tod Gottes verkündet, verlagert das Böse seinen Wirkungsradius in die weltliche Sphäre der Volkshygiene. Die Verbindung von Vampirismus und Pest, die Murnau explizit formuliert, ist der Romanvorlage bereits eingeschrieben. Der Autor Stoker, dessen Mutter eine schwere Choleraepidemie miterlebt hatte, bestätigte, daß »… die Vampirpest in seinem Roman stark von den schrecklichen Geschichten beeinflußt worden sei, die ihm seine Mutter über diese Epidemie erzählt hatte.« 18 Der moderne Vampir ist also von vornherein eine Metapher der Ansteckung. Seine Eckzähne sind die infektiösen Fremdkörper, die sich Zugang zum Blut seiner Beutewesen verschaffen und anstatt Bakterien oder Viren den Fluch des Wiedergängertums übertragen. »Die Kenntnisse über das Wesen der Kontagien«, so vermerkt Brockhaus’ Conversations-Lexikon noch 1885, seien »noch immer ziemlich mangelhaft.« 19 Ein Befund, der verdeutlicht, wie frisch der entscheidende Durchbruch der Medizin noch Ende des 19. Jahrhunderts war. Die der medizinischen Wissensakkumulation parallellaufende Mythisierung des Ansteckungsphänomens in der Vampirfigur ist eine Dämonisierungsstrategie, die auf historisch hochaktuelle Ängste reagiert und sich diese zunutzemacht. Genauso gehört die Begriffsopposition Aufklärung/Despotie der neuesten Zeit an. In Stokers Wahl des Namens Dracula für seinen dunklen Helden liegt ein bewußter Verweis auf den gleichnamigen Fürsten der Walachei – Vlad Tepes, genannt der Pfähler, der von 1432 bis 1476 lebte und Ländereien

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im benachbarten Transsylvanien hatte. Ein Despot der frühen Neuzeit, in dem sich Macchiavellismus mit Lust an Grausamkeit kreuzte. Einzelheiten dazu in der Recherche »Auf Draculas Spuren« von Raymond T. McNally und Radu Florescu. 20 Es ist nicht irgendein Adliger, der in Gestalt des transylvanischen Fürsten eine verbotene Zeitenschwelle in die bürgerliche Epoche vordringt, sondern das Urbild feudaler Herrschaft schlechthin. Die Blässe des Vampirs fungiert, so Brittnacher, als »soziales Distinktionsmerkmal« und, »Um es in der spröden Sprache der Statistik zu sagen: rund 70 % aller literarischen Vampire sind Aristokraten …« 21. Es ist sicher unbeabsichtigte Ironie, daß der berühmteste deutsche Vampirmythos sich in die Tradition des Idealismus einschreibt und – ganz gegen die Gepflogenheiten des Genres – Nosferatu als seinem Repräsentanten des Feudalismus keine physische Gewalt zumutet, sondern es dem (Morgen-)Licht der Aufklärung überläßt, ihn und damit den »Schatten« 22 eines der ungeheuerlichsten europäischen Despoten aus der Welt zu strahlen.

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ahrer image-marker Nosferatus bleibt jedoch die Blutsaugerei. Der Zwang des Blutsaugens definiert ihn und bildet die Konstante, zu der die übrigen Übel – Pest, Despotismus, Perversion – im Verhältnis von Variablen stehen, die abhängig sind von Vorlieben und Phantasie der jeweiligen Autoren, die das Thema aufgreifen. Blut war immer eine Substanz magischer Projektionen und ist es bis heute. Der Duden führt Blut auf das germanische Wort bluot zurück – (vermutlich) »Fließendes« und ergänzt in einer Zusatzbemerkung: »Nach altem Glauben ist das Blut der Sitz des Lebens.« In dieser mythischen Zuordnung ahnt Michael M.

Rind die »Hintergründe für Menschenopfer«: »Als Ausgangspunkt spielt Blut als Lebensträger eine große Rolle, mit dem Verlust des Blutes schwindet das Leben und somit auch Macht und Kraft des Opfers. Man bemächtigt sich des Blutes, um sich außergewöhnliche Kräfte, die ‘Urlebensenergie’, zu verschaffen. Blutrituale haben die Entwicklung des Menschen entscheidend geprägt.« 23 Auch später, als die Menschenkörper längst ersetzt waren durch Opfertiere, war die Abflußrinne ein wichtiges Detail an Altären, und zwar frontal eingelassen, damit das Publikum das Spektakel des abfließenden Blutes sehen konnte. Oder es war »unter dem Altar eine Höhle angebracht, in welche man das übrigbleibende Opferblut goß.« 24 Im Mittelpunkt zahlloser Riten stand das Trinken von Blut. Solche sind dargestellt in dem Buch »Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit. Mit besonderer Berücksichtigung der ‘Volksmedizin’ und des ‘jüdischen Blutritus’« von Hermann L. Strack, erschienen in München fünf Jahre vor Stokers Dracula. 25 Die alte Heilserwartung an das Opfer setzte sich in der frühen Medizin fort, wenn dem Opfer magische Heilkräfte zugeschrieben wurden. Beispielsweise katalogisierte die Medizin des Mittelalters die Krankheiten, die durch Konsum von Menschenblut zu heilen wären. Parallel dazu wurden anthropophage Praktiken verzeichnet – Verspeisen von Herzfleisch beispielsweise – die allerdings immer fremden Völkern unterstellt wurden. Den Chinesen, Huronen und natürlich den Juden. Auch von der besonderen Wirkung des Fleisches und Blutes von Embryonen oder Neugeborenen wurde berichtet 26 – ein Wunderglauben, der sich noch heute in Modeanwendungen wie der sogenannten Frischzellenkur manifestiert, oder ist in der »Be-


Nosferatus Opfertod in der Morgenlichtfalle beendet die Pest. Dämonisierung ist Arbeit unter Legitimationszwang. Sobald die Figur zuendedämonisiert, das heißt, sobald sie genug hinausgeschoben wurde über die Grenzen jenes gesellschaftlichen Minimalkonsenses, der das Individuum vor der Mehrheit schützt, wird sie ausgelöscht. Die Dämonisierung ist die Summe der Mittel, die nicht nur alle Skrupel beseitigen, sondern – viel weiter noch – die Vernichtung der betreffenden Figur als überlebenswichtige Notwendigkeit in Szene setzen. Die Faszination für fließendes Blut geht dem Bluttrinken voraus. So steht die auffälligste Schuldzuschreibung gegenüber Nosferatu im Ursprung kollektiver Gewalt, die nun – und darin liegt die Infamie der Verkehrung – gerade dem Einzelnen untergeschoben wird. Vampirgeschichten mit Handlungsmustern, wie sie der Dracula-Roman und NosferatuFilm vorführen, stellen indessen auf der Bühne des Phantastischen nur noch einmal nach, was in der Realgeschichte seit dem 12. Jahrhundert als antijudaistische Ritualmord- oder Blutbeschuldigung Europas Christenheit in Erregung hielt. Ähnlich wie dem Einzelwesen Nosferatu ein Urverbrechen des Kollektivs angedichtet wird, so wurden die Juden, für die der Genuß von Menschenblut immer schon tabu war, jahrhundertelang verfolgt, weil sie angeblich in geheimen Riten Christenblut tranken. Haß und Beschuldigungen treffen das Volk, das in der Geschichte die ersten Versuche unternahm, den Wiederholungszwang kultischer Gewalt gegen Menschen außer Kraft zu setzen. Für die Umkehrung der Konstellation Tätergemeinschaft-Opfer in der Mythologie der Beschuldigungen ist ein ganzes Bündel von Motivationen verantwortlich. Jede Dämonisierung eines künftigen Opfers beginnt

mit einem Zeichen biologischer oder sozialer Abweichung. Nach Girard: »Opferzeichen«. Schon die Brudermordgeschichte von Kain und Abel wendet die Bedeutung dieses Zeichens ins Gegenteil. Das Kainsmal reduziert sich dort auf ein Zeichen der Delinquenz und wird gleichzeitig dahingehend umgedeutet, daß es seinen Träger vor Verfolgung und Rache schützen soll. Die Abschaffung des Lynchmordes, die aus dieser Bedeutungsverschiebung ablesbar wird, hinterläßt in der sozialen Ökonomie eine Leerstelle, die eine mächtige Sogwirkung auf die ausübt, die an Praktiken kollektiver Gewalt gegen Einzelne festhalten. Zweifellos bedurfte es eines großen Einsatzes an religiösem, ideologischem und natürlich physischem Zwang, die deshalb immer schon »schlechtgetauften Christen« (Freud) der unzivilisierten nördlichen Hemisphäre dazu zu bringen, daß sie einen Gott akzeptierten, der sich nicht nur freiwillig, sondern auch bewußt dem Opfertod ausgeliefert hatte.

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berhaupt erscheint NOSFERATU als ein cluster antisemitischer Motive und Anspielungen. Beispielsweise kursierten Ende des Mittelalters Gerüchte, in denen die Juden für die Pest verantwortlich gemacht wurden. 30 Selbst in dem Detail des Aschehäufchens, in das Nosferatu am Ende zerfällt, kommt ein Bild von den Feuermorden der mittelalterlichen Pogrome herüber: »Es war wohl nicht nur die Vorstellung von der apotropäischen Kraft des Feuers, die zur Beliebtheit gerade dieser Todesart führte, sondern auch die Vorstellung, daß dadurch das Opfer vollständig und restlos vernichtet würde.« 30 Zum anderen wäre in Nosferatus literarische Vorlage Dracula, so überliefert der Schriftsteller Thomas Hall Caine, ein enger Freund Stokers, unter vielerlei kanoni-

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nutzung eignen Blutes« 27, in der Heilpraktiker-Szene als sogenannte Eigenbluttherapie immer noch aktuell. Ausgesaugt zu werden ist eine Urangst. Die zuständigen und übrigens weltweit gefürchteten Dämonen kursieren in unserer Hemisphäre unter der Bezeichnung Vampire. Es gibt Hinweise, die nahelegen, daß die kollektive Angst vor dem Wiedergängertum, der anderen Haupteigenschaft des Vampirs, von Akten der Ausstoßung beziehungsweise der Opferung von Menschen herrührt. Michael M. Rind zitiert eine auf ein birmesisches Bauopfer bezogene Äußerung, derzufolge sich die »… Leichen geopferter Menschen … in Dämonen verwandelt« hätten 28, und McNally/Florescu erinnern an einen Fluch, der bei der Exkommunikation aus der orthodoxen Kirche über die Betroffenen verhängt wurde: »… und die Erde wird deinen Leib nicht empfangen!« 29 Die Desintegriertheit des Opfers überdauert den Tod und verschiebt sich zum Phantasma des Wiedergängertums. Als Phantasmen sind sie Protagonisten der Nacht. Sobald sie ihre Metamorphosen durchlaufen haben, kehren diese Toten als Dämonen wieder. Ihre Rache ist die Angst, die sie verbreiten, wenn die Gemeinschaft, die sich einst durch die Morde gegründet hatte, im Schlaf zerfällt. Wer wach bleibt, ist allein mit sich, mit der Finsternis und seinen Sinnestäuschungen. Eine offene Schlacht zwischen den Menschenwesen und ihren ephemeren Feinden scheitert an der Inkompatibilität der Welten und Materien, aus denen die Kontrahenten geschaffen sind. Die Macht der Dämonen liegt in ihrer Fernwirkung, und wollen sie die Körper der Lebenden direkt angreifen, dann müssen sie sich verdeckter Strategien bedienen, so das Heranschleichen an Schlafende und lautlose Absaugen des Blutes.


sierten Nachtgestalten auch »der ewige Jude … eingeflossen.« 32 Murnaus Filmtopographie ergänzt diesen Kontext, wenn er Nosferatu aus seinem heruntergekommenen Haus, das zwar in Sichtweite ist, doch durch den Bach von der Sphäre der Bürgerhäuser radikal getrennt, seine sehnsüchtig-neidischen Blicke wie aus dem Ghetto in die Hutter’sche Idylle schicken läßt. Allein im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gab es, verteilt über ganz Europa, eine Unzahl von Ritualmordbeschuldigungen und -anklagen gegen Juden. Einige Beispiele: Korfu (1891), Ungarn (1891, 1893), Deutschland (1891, 1892), Frankreich (1892), Rumänien (1892), Böhmen (1893, 1899), Tschechoslowakei (1893), Polen (1893). 32 Das österreichische Abgeordnetenhaus beschäftigte sich während der 90-er-Jahre sogar in mehreren Debatten mit dem Problem der Ritualmordbeschuldigung. 34 Der Markt für eine Fiktion über einen untoten Blutsauger war günstig im Jahr 1897, als Dracula erschien. In Fortsetzung dessen stellt der 1922 herausgekommene NOSFERATU einen verdeckten Bilderkanon als cinéastische Anschlußstelle für antisemitische Reflexe bereit. Anton Kaes weist auf die Synchronie der (politischen) Bezüge des Nosferatu-Stoffes hin: »In F.W. Murnaus klassischem Vampirfilm NOSFERATU lassen sich bei … subtextueller Lektüre … antisemitische Strukturen und Motive nachweisen. Der fremde Eindringling aus dem fernen Transsylvanien, einer Region Rumäniens, aus der viele emigrierte Ostjuden stammten, bringt die Pest mit, die sich bei seiner Ankunft in Bremen (=Wisborg H.M.H.) rapide ausbreitet. Bildlich wird Nosferatu, der um leben zu können parasitisch Blut saugen muß, mit Ratten gleichgesetzt, eine durch Montage herge-

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stellte Assoziation, die in Fritz Hipplers antisemitischem Propagandafilm DER EWIGE JUDE (1940) wiederkehrt.« 35 Zu Beginn der 20er-Jahre dominierte die Immigration osteuropäischer Juden nach Deutschland die politische Szene. »Deutschland den Deutschen!« lautete die Parole im Mittelpunkt einer rücksichtslosen und auf allen gesellschaftlichenn Ebenen geführten antisemitischen Hetzkampagne. Die »Ostjuden«, Opfer nicht nur von Propaganda sondern auch militanten Aktionen, sollten Schuld sein an der » … Weltkriegsniederlage, wirtschaftliche Depression (und) politische Krisen …«. 36 Als 1922 NOSFERATU auf den Markt kam, waren diese Kampagnen auf ihrem Höhepunkt.

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» racula«, ein Name für Despotismus und Massenmord. Indem Stoker den Namen weiterverwendet und mit ihm eine moderne Fiktion codiert, löst er von der historischen Figur den Schatten ab. Nur Schatten sind kompatibel mit dem neuen Medium, das Film heißt und auf den Stoff bereits gewartet hat. Jahr null des Filmvampirs war allerdings 1896. Ein Jahr vor (!) dem Buch Dracula dreht Georges Méliès den 2-Minuten-Streifen LE MANOIR DU DIABLE. Es ist schwer, an Zufälle zu glauben, wenn der Gegenspieler des dokumentarisch orientierten Lumière, Méliès, in seinem Pionierfilm des fiktionalen und phantastischen Kinos ausgerechnet das Vampir-Teufel-Motiv wählt: »Ein zweiminütiger Kurzfilm mit Trickaufnahmen: In einer Szene fliegt eine riesige Fledermaus durch eine mittelalterliche Burg. Die Fledermaus verwandelt sich plötzlich in Mephistopheles. Dann erscheint ein Ritter mit einem Kruzifix, das er dem Teufel entgegenhält, der daraufhin die Hände hochreißt und in einer Rauchwolke verschwindet.« 37

Das Medium selbst als message. Dies galt für den Film, als er sich noch in dem Stadium befand, das Experimentatoren wie Méliès verkörperten. Die Attraktion der Filmvorführung war nur eine Attraktion von vielen, die das neue Medium ausmachten: Die Dunkelheit des Vorführungsraumes, das in Vibrationen fragmentierte Licht, die Illusion der Bewegung, die Apparatur. Die Schatten auf der Projektionsfläche, die später zu dramaturgischen Kalkülen werden sollten, waren in dieser Phase kaum mehr als Effekte technischer Unzulänglichkeit. Eine apriorische Dunkelheit, die von selbst entsprechende Topoi herbeirief wie das Manoir du diable, die mittelalterliche Burg als Ort des Bösen. Und was sonst sollte denn das prästabilierte, Medium-konstituierende Dunkel hervorbringen, wenn nicht jenes andere (oder doch gleiche?) Dunkel, das, komprimiert auf das Schattenbild des Bösen, wiederum die Menschheit konstituiert. Aus der Materialität des Mediums, selbst noch message, löst sich schon die andere message, das Bild des Bösen in Vampirs- und Teufelsgestalt. NOSFERATU mag als Gründungsepos des Genres gelten, doch zwischen 1909 und 1922 waren bereits dreiundzwanzig Vampirfilme abgedreht, einer davon nach Stoker. 38 Das Mythisch-Böse, Fiktion und Projektion seit je, findet im Film endlich sein Medium, das die letztlich subjektiven, weil eben eidetischen Bilder entäußert, objektiviert, totalisiert, vereinheitlicht, verallgemeinert und den Massen als verbindliche Ikonen offeriert. Méliès’ Experiment macht sichtbar, was sich vielleicht nur in dieser ersten Stunde des Mediums zu erkennen gab, wie nämlich das Zusammenspiel von Elektrizitität und Projektor die psychische Energie der Projektion, die immer schon das Dämonische – und wahrscheinlich nur das –


Bibliographie: NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS Deutschland 1921/22; Regie: Friedrich W. Murnau; Drehbuch: Henrik Galeen, nach dem Roman Dracula von Bram Stoker; Kamera: Fritz Arno Wagner, Gunther Krampf; Darsteller: Max Schreck (Graf Orlok/Nosferatu), Gustav von Wangenheim (Hutter), Greta Schröder (Ellen Hutter), Ruth Landshoff (Lucy Westrenka); Alexander Granach (Knock, Makler); Produktion: Prana Film; schwarz-weiß; 84 Minuten; Erstaufführung: 4.3.1922 1

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Vgl. Detlef-I. LAUF, Im Zeichen des großen Übergangs. Archetypische Symbolik des Todes in Mythos und Religion, in: Leben und Tod in den Religionen. Symbol und Wirklichkeit, Hg. Gunther Stephenson, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1980, S. 89 Vgl. Hans BLUMENBERG, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1993 Vgl. René GIRARD, Das Heilige und die Gewalt, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1992, S. 211 ff Ebd. S. 214 Ebd. S. 236 Ebd. Bram STOKER, Dracula, Wilhelm Heyne Verlag, München, 1976 Vgl. Helmut SCHOECK, Der Neid und die Gesellschaft, Verlag Ullstein, Frankfurt/M – Berlin, 1992(2), S. 149 Ebd. S. 107 GIRARD, Das Heilige und die Gewalt, S. 9 Ebd. S. 24 f René GIRARD, Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1992, S. 32 Rein A. ZONDERGELD, Lexikon der phantastischen Literatur, Frankfurt am Main, zit. bei: Hans Richard BRITTNACHER, Ästhetik des Horrors, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1994 S. 143 Dieter HOMBACH, Die Drift der Erkenntnis. Zur Theorie selbstmodifizierter Systeme bei Gödel, Hegel und Freud, Raben Verlag, München Hans BLUMENBERG, Arbeit am Mythos, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1990(5), S. 155 f Ebd. S. 158 Ebd. S. 158 f Raymond T. McNALLY/Radu FLORESCU, Auf Draculas Spuren. Die Geschichte des Fürsten und der Vampire, Verlag Ullstein, Berlin,

Frankfurt am Main, !996, S. 134 19 Brockhaus’ Konversastionslexikon, 13. Auflg., 1885, S. 502 20 McNALLY/FLORESCU, s.o. 21 BRITTNACHER, S. 130 22 Friedrich KITTLER, Draculas Vermächtnis; in: Technische Schriften, Reclam Verlag, Leipzig, S. 50 23 Michael M. RIND, Menschenopfer. Vom Kult der Grausamkeit, Universitätsverlag, Regensburg, 1996, S. 18 24 DR. VOLLMER’S Wörterbuch der Mythologie aller Völker, Hoffmann’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, 1874, Fotom. Neudruck, Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik, Leipzig, 1978, S. 30 25 Hermann L. STRACK, Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit. Mit besonderer Berücksichtigung der »Volksmedizin« und des »jüdischen Blutritus«, Hg. im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen, Material Edition 8, München, 1979 26 Vgl. Ebd. S. 18 27 Ebd. S. 40 28 RIND, S. 36 29 McNALLY/FLORESCU, S. 119 30 Vgl. Frantisek GRAUS, Pest – Geissler – Judenmorde: Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen, 1994, S. 315 31 Ebd. S. 216 32 McNALLY/FLORESCU, S. 141 33 Vgl. STRACK, S. 150 ff 34 Vgl. Albert LICHTBLAU, Die Debatten über Ritualmordbeschuldigungen im österreichischen Abgeordnetenhaus am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, Hrsg. Rainer Erb, Metropol, Berlin, 1993, S. 267 ff 35 Anton KAES, Film in der Weimarer Republik, in: Geschichte des deutschen Films, Hrsg. Wolfgang Jacobsen, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar, 1993, S. 52 36 Ludger HEID, Der Ostjude, in: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, Hg. H. Schoeps und Joachim Schlör, Zweitausendeins, Frankfurt a. Main, 1995, S. 245 37 McNALLY/FLORESCU, S. 249 38 Vgl. Ebd. S. 249 f 39 Ebd. S. 159 40 KAES, S. 52 41 Vgl. Verena DOHRN, Reise nach Galizien. Grenzlandschaften des alten Europa, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1991, S. 170

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produziert hat, technifiziert und von den Subjekten abspaltet. Obwohl zahllose literarische Vampirphantasien vorausgingen, »obwohl Stokers Roman zum Dauerbrenner werden sollte und in alle großen Sprachen der Welt übersetzt wurde, trat Dracula zuerst auf der Bühne ins Rampenlicht der Öffentlichkeit; seine wahre Unsterblichkeit verdankt er aber dem Film.« 39 Mit »Vampir« bezeichnet der Film den ersten Schatten, den er in Szene setzte und mit Bedeutung belegte. Im Ursprung seiner Geschichte installiert der Film den Wiedergänger als Urbild aller je in irgendeinem Speichermedium auf ihre Reaktivierung, ihren Wiederauftritt, wartenden Figuren. Noch Nosferatu tritt 25 Jahre nach Méliès und nach 22 Verfilmungen des Stoffes im Augenblick seines outings als Böses in Gestalt des Schattens auf, Phantom des Phantoms, das » … selbstreflexiv auf das neue Medium des Films als das eigentliche Reich der Phantome … » verweist. 40 Der Meister, wie sein sklavischer Adept Knock Nosferatu aus der Ferne anruft, wird zum Meister des Todes dämonisiert. Herkunftsland Transsylvanien, am Fuß der Karpaten wie die Kleinstadt Czernowitz, in der 1920 der Lyriker Paul Celan als Sohn des jüdischen Handelsvertreters Leo Antschel geboren wurde. Nichts in der Stadt erinnert mehr an das Ghetto, dessen Bewohner nach Transnistrien ins KZ deportiert wurden. 41 Auch von Nosferatu bleibt nicht einmal die Asche. Der Schatten des Vampirs war monströs, doch gerade das verlieh ihm die Reichweite, mit der er zum Vorboten der Opfer des Gewaltexzesses wurde, mit dem Deutschland sich aus der Depression der Niederlage zog. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Damit rehabilitiert der Dichter, wenn auch viel zu spät, den angeblichen Eindringling aus dem Osten.


THE LIFE STORY OF DAVID LLOYD GEORGE Aus der Vergangenheit: Ein vergessenes Epos taucht wieder auf

von DAVE BERRY

. G . D. L

a g r e V r e d s Au

Kein anderer britischer Stummfilm kann sich einer Geschichte rühmen, die jener von THE LIFE STORY OF DAVID LLOYD GEORGE1 (Die Lebensgeschichte von David Lloyd George) – nahekommt, einem Film, der 76 Jahre nach seinem Verschwinden wiederentdeckt wurde. Der zweieinhalb Stunden lange Film – der längste, den ein britischer Regisseur in jenen Jahren drehte – war lange für alle Zeit verloren geglaubt nach seiner mutmaßlichen Unterschlagung durch die britische Regierung im Jahre 1918. Heute, 80 Jahre nach seiner Herstellung, kommt der Film – für sich genommen bereits eine bemerkenswerte Leistung – in großem Umfang europaweit heraus, nach dem reichlichen Lob durch erstaunte Historiker, die ihn als Meisterwerk priesen und als einen der besten Filme von Maurice Elvey, dem mit über 200 Filmen, die er in seiner Laufbahn zwischen 1919 und 1957 drehte, fruchtbarsten britischen Filmregisseur. Im November wird ein 250 Seiten starkes Buch mit Essays von Stummfilmfachleuten über die Entstehung dieses FeatureFilms auf dem Waliser Internationalen Filmfestival in Cardiff erscheinen. Es enthält einige neue Theorien über das Verschwinden des Films, und die Zeit scheint nun reif für eine umfassende kritische Anerkennung des Films und seines Beitrags im Kontext einer ums Überleben ringenden und bereits von den Vereinigten Staaten dominierten britischen Filmindustrie. Der Filmemacher und Autor Kevin Brownlow – bekannt als der Mann, der Abel Gance’s NAPOLEON von 1926, ein Wunder der Montage, zu neuen Ehren brachte, – beschrieb THE LIFE STORY OF DAVID LLOYD GEORGE bei dessen Wiederauftauchen im hundertsten Jahr des britischen Films als ‘Entdeckung des Jahrhunderts’. Brownlow verbrachte Jahrzehnte damit, in den Filmarchiven der Welt einige der spektakulärsten Filme der Stummfilm-Ära wieder zusammenzubasteln – doch sogar ihm ist selten eine so wunderliche Geschichte untergekommen wie diese. Verschwinden und Wiederentdeckung Elveys Spielfilm, den die Londoner Filmgesellschaft Ideal als Tribut für Großbritanniens Premier im Er-

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: t i e ngenh

sten Weltkrieg 1914 -18 ersonnen hatte, sah nie das Licht des Tages im letzten Kriegsjahr. Er fiel einem rücksichtslosen Spitzbuben und Journalisten namens Horatio Bottomley zum Opfer, der einmal Abgeordneter im britischen Parlament gewesen und zu jener Zeit der Herausgeber des einflußreichen chauvinistischen Magazines John Bull war. Bottomley, der in den Zwanziger Jahren sieben Jahre im Gefängnis saß, nachdem er Tausende von Lesern mit einer illegalen Lotterie-Gaunerei um ihr Geld gebracht hatte, beschuldigte den Vorstand der Ideal-Filmgesellschaft, die den Lloyd-Film drehte, als ‘Huns’ – (Hunnen, Schimpfwort für die Deutschen, Anm. d. Ü.) Nazi-Sympathisanten. Zum ‘Beweis’ veröffentlichte seine Zeitschrift eine Namensliste der Vorstandsmitglieder und Aktionäre der Filmgesellschaft, die ihre Namen geändert hatten, darunter auch die Namen von Ideal-Mitbegründer Harry Rowson und seines Bruders Simon (die beide ursprünglich Rosenbaum hießen und dem osteuropäischen Judentum entstammten). Bottomley zitierte die Aussage eines Zeugen, der behauptete, er habe in der Filmcrew Deutsch sprechen gehört – als ob dies allein schon inkriminierend wäre... Im Januar 1919 wurden John Bull und deren Herausgeber Odhams Press im Old Bailey-Gerichtshof wegen Verleumdung verurteilt. Doch bis dahin war der Schaden schon angerichtet – Ideal zog den Film mit der Begründung zurück, man sei von Ministern und Industrie unter Druck gesetzt worden. Ideal, eine nicht über die Maßen große Filmgesellschaft – damals in Großbritannien vielleicht an fünfter oder sechster Stelle – hatte sich zunächst einen Kriegsfilm vorgestellt, dessen Script sich der junge Politiker und ehemalige Berichterstatter des Burenkrieges, Winston Churchill, ausdenken sollte, dem Ideals regulärer Drehbuchautor Eliot Stannard zur Hand gehen sollte. Doch als Churchill Kabinettmitglied wurde und für das Projekt keine Zeit hatte, hatten die Rowsons den Einfall, die Handlung ganz um den charismatischen Lloyd George zu ranken. Es mag von Bedeutung sein, daß Bottomleys Biograph Julian Symons und andere notierten, daß Lloyd George und Bottomley die womöglich populärsten Männer und Redner der damaligen britischen Gesellschaft waren. Ideal mit seinem Sitz im Zentrum von Großbritanniens Filmindustrie in Londons Wardour Street und ursprünglich lediglich ein Filmverleih, posaunte sein revidiertes Filmprojekt im Triumph hinaus, Monate vor dem geplanten Starttermin. Die Gesellschaft hatte gar


f u a r e d e i w t h c u a t s o p E s e n e s s e g r Ein ve

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aurice Elvey, effektvoller Vorreiter für hauptfilmlange Biographien im britischen Kino mit Filmen wie FLORENCE NIHTINGALE (1915) und NELSON (1918 gedreht, herausgekommen 1919), sprach äußerst selten über den Lloyd George-Film, ehe er, seltsam ins Schattenlicht geraten, in den 60er Jahren starb. Kurioserweise sprach Elvey 1919 in einem Interview für eine Filmwochenzeitschrift im Zusammenhang mit der Premiere von NELSON an, daß er nun endlich die Art Epos liefern würde, die der britischen Filmindustrie Ruhm und Anerkennung bringen würde, unterschlug dabei jedoch vollkommen den viel längeren und qualitativ überlegenen LGFilm. Norman Page mag mit einigem Recht erwartet haben, daß Hollywood aufgrund seiner darstellerischen Leistung auf der Leinwand um ihn werben würde, doch er scheint in keiner einzigen Filmpublikation über das offensichtliche Hinscheiden des Films befragt worden zu

sein. Es scheint fast so, als sei man zum Schweigen verschworen worden, möglicherweise auf Wunsch der in Verlegenheit geratenen Rowsons. In den 70er Jahren jedoch, Jahrzehnte nach der Unterdrückung des Films, deponierte Janet Davis, Harry Rowans Tochter, dessen Memoiren im Britischen Filminstitut. Ein weiteres Jahrzehnt schlummerten die Memoiren vernachlässigt in der Bibliothek, ehe die britische Historikerin Sarah Street sie 1987 ans Tageslicht beförderte; sie gab Rowsons Behauptungen in einem akademischen Journal wieder. Eine schmutzige Geschichte voller Schwindel kam zum Vorschein. Rowson behauptete, daß nach dem Erscheinen des hetzerischen John Bull-Artikels am 5. Oktober 1918 Vorstandsmitglieder von Ideal in Kenntnis gesetzt wurden, daß Lloyd George, der ursprünglich die Erlaubnis zum Filmen gegeben hatte, sich nun dem Erscheinen des Films widersetzte. Als liberales Haupt der damals von den Konservativen dominierten britischen Koalitionsregierung hatte Lloyd George am Vorabend einer Neuwahl (die auf Dezember 1918 festgesetzt war) offenbar kalte Füße bekommen. Rowson nahm an, LG fürchtete, seine Beziehung zu einer Gesellschaft, die bezichtigt worden war, sie sympathisiere mit den Deutschen, würde ihn wichtige Stimmen kosten. In seinen Memoiren sagt Rowson zudem, der Ideal-Vorstand habe auch eine ‘heftige Reaktion gegen die Juden’ befürchtet, in dem Falle, daß Ideal den Film weltweit herausbrächte und damit frontal Lloyd Georges Wunsch zuwidersteuerte – wie groß die Versuchung, dies zu tun, auch gewesen war in einer Zeit, als die großen amerikanischen Filmgesellschaften wie etwa Carl Laemmles Universal Schlange standen und lautstark die Rechte für den USVertrieb einforderten. Rowson beschrieb – und dies ist die absonderlichste Verwicklung in dieser Geschichte –, wie ein Repräsentant der Anwälte Lewis and Lewis mit Sitz in London im Idealbüro aufkreuzte, anscheinend als Vertreter der Regierung (oder der liberalen Partei), £20 000 in 1 000-Pfund-Noten auf den Tisch blätterte und mit dem Negativ und der einzigen bekannten Kopie von THE LIFE STORY OF DAVID LLOYD GEORGE auf dem Rücksitz seines Autos davonfuhr. Rowson sah weder das eine noch das andre jemals wieder. Jahrzehntelang war der Film für alle Zeit verloren geglaubt – bis das Wales Film and Television Archive (Waliser Archiv für Film und Fernsehen) die öffentliche Premiere eines ‘Privatfilms’ in ihrer Sammlung organisierte: historische Dokumentaraufnahmen von Lloyd George, wie er

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eine Zeitlang die meisten anderen Produktionsaktivitäten auf Eis gelegt, um alle Kräfte in diesen Film einzuspannen, von dem sie fest glaubte, daß er ihr weltweit Ruhm einbringen und der Hit von 1919 werden würde nach seiner Freigabe für Dezember 1918. Ironischerweise waren in regelmäßigen Abständen doppelseitige Anzeigen in von Odhams Press vertriebenen Fachblättern erschienen, die den Film unter seinem Arbeitstitel »Der Mann, der das Empire rettete« ankündigten. Und doch verschwand der Streifen fast geräuschlos in der Folge des John Bull-Artikels kaum einen Monat vor der geplanten Fach-Vorschau des Films im November in Cardiff. Sogar 1919 erwähnten nur ein oder zwei Kolumnisten die Tatsache, daß es ihm versagt war, in die Kinos zu kommen, vielleicht in der Annahme, daß er schlicht ein Kriegsopfer und auf Halde gelegt war, um die deutschen Gemüter nicht zu verletzen – ein Schicksal, welches Herbert Brenons ‘nationalen Film’ heimsuchte, der gerade zu Kriegsende fertig wurde, bekannt unter dem Titel: VICTORY AND PEACE, und den viele als den potentiellen Propagandafilm des Krieges betrachteten. Brenons Film konnte ein Drehbuch des berühmten KommerzBestseller-Autors Hall Caine vorzeigen, den Lloyd George mit dem Schreiben von Filmdrehbüchern beauftragt hatte; letzterer war sich anscheinend nur allzu klar über den Wert politischer Propaganda durch das Kino. Daß VICTORY AND PEACE nicht freigegeben wurde, brachte Brenon dem Bankrott nahe; der Film selbst überlebte, nebenbei bemerkt, nur in zwei kleinen Fragmenten im Londoner Nationalen Filmarchiv.


THE LIFE S TORY OF 1936 Deutschland besucht und Hitler in Berchtesgaden trifft – aufgenommen von LGs persönlichem Privatsekretär, AJ Sylvester. Der Enkel des ehemaligen Premierministers, Lord Tenby, konnte die Einladung zur Vorführung in LGs Heimatdorf Llanystumdwy in Nordwales nicht annehmen, aber er rief das Archiv später an und erwähnte Dokumentaraufnahmen in seiner Sammlung in Hampshire. Unter den vielen Filmbüchsen mit Material über den Politiker, die das Archiv an Land zog und nun von Lord Tenby als Leihgaben hat, waren die unbezahlbaren Filmspulen des lang-verschwundenden LIFE STORY OF LG... Lord Tenby wußte nicht, daß dieser Film je gedreht worden war, so groß war die Geheimnistuerei, die dies Unterfangen in späteren Jahren umgab. Der Film hatte eine leichte Schimmelschicht, konnte davon aber vom Nationalen Filmarchiv in London so gut gereinigt werden, daß er in nahezu jungfräulichem Zustand fertig war für seine Weltpremiere am 5. Mai 1996 – 100 Jahre auf den Tag, nachdem die ersten projizierten Filme von dem bekannten Pionier Birt Acres in Cardiff gezeigt wurden. Elveys Film war in Cardiff mit Musikbegleitung durch ein 22 Mann starkes Orchester gezeigt worden; man spielte ein Stück von John Hardy, dem Komponisten des Spielfilms HEDD WYN von 1992, dem ersten Film in walisischer Sprache, der je als bester ausländischer Film für einen Hollywood-Oscar nominiert wurde. 1997 war THE LIFE STORY OF DAVID LLOYD GEORGE der Hauptfilm in einer sieben Filme umfassenden Maurice Elvey-Retrospektive auf dem größten Stummfilmfestival der Welt in Pordenone, Italien. Sein Überleben ist vielleicht die größte Ironie in der Story – denn kein anderer britischer Studio-Spielfilm von 1918 hat in einer ebenso vollständigen Fassung im Nationalen Filmarchiv überlebt. Die Meriten des Films Der LLOYD GEORGE-Film hat sich als Offenbarung herausgestellt, und modernen Beobachtern scheint es nahezu unglaublich, daß Elvey einen so langen, detaillierten und in seiner Konzeption so ambitionierten Film im Spätjahr 1918 vollenden konnte, wo er doch nicht vor Ende August bei den Dreharbeiten erschienen war. Er war um sechs Wochen verspätet, weil er nach einem Feuer im Twickenhamer Labor mindestens eine Rolle des NELSON-Films nachfilmen und neu bearbeiten mußte. Der LG-Film ist aber im Wesentlichen vollständig, und die Ver-

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sion, die 1996 in Cardiff vorgeführt wurde, war mehr als nur ein akzeptabler Rohschnitt, obgleich die Tatsache, daß die Filmgesellschaft ihn im November 1918 nicht der Fachwelt vorführte, unter Berücksichtigung der Umstände ein starker Beweis dafür ist, daß er möglicherweise bereits zu diesem Zeitpunkt in die Hände der Anwälte geraten war. Es sieht gewiß so aus, als sei er jedenfalls bis zum folgenden Januar verschwunden. Wäre dem nicht so, so hätte Ideals gerichtlicher Erfolg gegen die Verleumdungskampagne natürlich jedes Hindernis, den Film zu zeigen, aus dem Wege geräumt. Der Film könnte Hagiographie sein, so unkritisch, wie er LG gegenüber ist; er geht auch nicht auf Aspekte seiner Persönlichkeit, wie etwa seine dubiosen amourösen Abenteuer, oder die Schlappen in seiner Militärkampagne ein, doch die damalige Zensur erlaubte schwerlich eine freie Debatte über Kriegsbelange – in welchem Medium auch immer. Als Kino-Kunst mit spektakulären Nachschöpfungen dramatischer Ereignisse ist er jedoch zweifellos eindrucksvoll, sowohl dank Elveys Geschick für Komposition und großartiger Inszenierung als auch seines mutigen Versuchs wegen, die Kraft und den Bilderreichtum von LGs Kriegsreden, wie sie in dessen mehr emotiven Metaphern und Anekdoten Ausdruck fanden, bildhaft zu suggerieren. Zuweilen knarrt der Film in seinen Scharnieren und vertrödelt Zeit – Elvey war nicht eben ein Meister des cross-cutting à la D.W. Griffith (seine Schnitt-Technik wurde erst 1924-25 während seines Aufenthalts bei der Fox in den Vereinigten Staaten verfeinert), aber gewiß räumt THE LIFE STORY OF DAVID LLOYD GEORGE mit der lange vorherrschenden Meinung auf, daß Elvey bloß ein mittelmäßiger Handwerker war. Der Film beginnt mit üppigen Ortsaufnahmen zu LGs Kindheit in Nordwales, seinen frühen Rebellionen als kleinem Kind, und frühzeitig führt Elvey eine effektvolle Metapher ein: wie LG seine Schulkameraden in einem Gefecht anführt, das den preußisch-französischen Krieg nachspielt (gemeint als Analogie für des britischen Premiers spätere Bemühungen gegen die Deutschen). Elveys spätere Metaphern sind ambitionierter, ganz besonders sein Einsatz von Überblendungen, wenn der leicht beeinflußbare, jugendliche LG der Bibelgeschichte von David und Goliath lauscht und Elvey die Bilder von David mit der Schleuder und dem schwertschwingenden Goliath überblendet mit Bildern des erwachsenen LG und des Kaisers. Es wurde von den Zuschauern erwartet, daß sie die zeitgenössische politische Relevanz für den Krieg von 14/18


erkennen und stillschweigend darin übereinstimmten, daß LG der Held der kleineren Nationen war, der gegen die aggressive Macht Deutschland aufstand. (In dem demnächst erscheinenden Buch zeigt LGs Biograph John Grigg auf, daß dies nicht genau mit den Fakten übereinstimmt). Intelligent benutzt Elvey Bildauflösung und Überschneidung in der Sequenz, wo LG, just in Downing Street 10 angekommen, die Bilder der vergangenen Premiers – von Gladstone, Disraeli und allen anderen – evoziert, und er zeigt noch mehr Einfallsreichtum, wenn durch Stop-Trick Männer in Zivil augenblicklich zu Soldaten in Uniform verwandelt werden, später zurückverwandelt in ihre Arbeitskleidung, wenn der Film sich seiner Klimax nähert. An anderer Stelle erreicht Elvey erstaunliche Effekte mit statischer Kamera, etwa als sich das Paradefeld in Aldershot allmählich mit Männern füllt, bis am Ende kaum ein Fleckchen leer bleibt. Die Szene erinnert unweigerlich an das Meer von Köpfen in den Außenaufnahmen zur Birminghamer Rathaus-Episode. Mehrere Male benutzt Elvey später im Film Reden und Anekdoten von Lloyd George, um uns in die Realität des Konfliktes hineinzuziehen – wir sehen zum Beispiel, wie die Belgier durch die Eindringlinge mißhandelt werden, und wie Flüchtlinge, bepackt mit armseligen Habseligkeiten, durchs Land ziehen.

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er Film ist jedoch nie so voller Hurrapatriotismus, wie man vielleicht erwarten würde – Elvey kehrt Lloyd Georges’ Tugenden, seine politische Cleverness und seinen Einfallsreichtum mehr heraus als die Unmoral der Deutschen und ihrer Alliierten, wie sie damals gesehen wurden (er setzt jedoch Farbe sehr effektvoll ein, wenn er den Kaiser als in rot badend einführt, was nicht eben allzu subtil dessen Blutvergießen suggeriert.) Ein faszinierender Abschnitt des Films verfolgt Lloyd Georges Tätigkeit als Munitionsminister, ehe er im Jahre 1916 Premier wurde, und stellt als wichtigen Faktor, der schlußendlich zum Sieg von 1918 führte, das erfolgreiche Bemühen heraus, viele Fabriken von der Umstellung auf Kriegsproduktion überzeugt zu haben. Elvey betonte, wenn immer möglich, das Realistische in seinen Filmen, und versuchte ihm ein Flair von Dokumentarischem zu geben, lange ehe der Begriff in Mode war. In den Munitionsszenen mit ihren subtilen Lichtabstufungen stellt Elvey mit detailfreudiger Genauigkeit Fabrikbesuche nach, in denen Lloyd George Industrieprozesse beobachtet und die Arbeiter am Arbeitsplatz mit seinen Reden begeistert. Diese

Szenen, oft superb orchestriert mit einem eindrucksvollen Einsatz von Diagonalschwenks und Perspektive, sind in ihrem Tempo alle sorgfältig choreographiert, und Pages Darstellung ist so überzeugend, daß wir leicht vergessen könnten, daß wir hier keineswegs ein besonders gelungenes Stück Wochenschau vor Augen haben (obwohl die Fotografie der anonymen Kameramänner des Films qualitativ besser ist als das meiste zeitgenössische Material). Die Fachpresse berichtete 1918, daß 10 000 Statisten für die Gewaltszenen der Birminghamer Rathaus-Aufstände aufgefahren wurden, wo der als Gegner des Burenkrieges bekannte Lloyd George auf dem Terrain seines politischen Tory-Rivalen Joseph Chamberlain eine kontroverse Rede hielt und der Gefahr, ernsthaft verletzt zu werden, nur dadurch entkam, daß er sich als Polizist verkleidete. Elvey spielte auch einen Tumult vor der Londoner Queen Hall, an dem Suffragetten beteiligt waren, wieder nach, als die Unterstützer für und die Gegner gegen das Wahlrecht in Aktion traten, das Frauen rechtzeitig zu den 1918er Wahlen zulassen wollte. Szenen wie diese haben eine Authentizität, die den meisten anderen Filmen aus jener Zeit abging, da die britischen Filme damals hoffnungslos ans Studio gefesselt waren. Die Authentizität dieser Szenen wurde noch unterstützt durch die realistische und diszipliniert zurückhaltende Darstellung des Schauspielers, der den britischen Premier mimte – Norman Page, der mehr als Bühnendarsteller bekannt war. Monatelang war er Lloyd George während der Vorproduktion des Films gefolgt und beobachtete aufmerksam dessen Reden im Unterhaus, um die Manierismen des Politikers so wahrheitsgetreu wie möglich wiederzugeben. Page machte nur sieben oder acht Filme – bekannt war vor allem seine Darstellung des betrügerischen liebeskranken Beamten in Elveys BLEAK HOUSE (1919) – die Ähnlichkeit zwischen Lloyd George und dem Schauspieler ist jedoch zuweilen fast schon unheimlich. In einer demnächst erscheinenden Publikation beleuchtet einer der Essayisten, Nick Hiley, auf faszinierende Weise Elveys Tendenz, im LLOYD GEORGE-Film die Wochenschauen der Zeit zu imitieren oder sich vor ihnen zu verneigen. Wann immer LG im Film öffentlich auftritt, zum Beispiel als Redner, bleibt die Kamera im allgemeinen diskret auf Distanz, so wie man dies von einem NachrichtenFotografen bei Gaumont oder Pathé erwarten könnte. Da ist ein aufsehenerregender Augenblick nahe am Anfang der Birminghamer RathausSequenz, wo die Kamera auf der anderen Seite der Tür steht

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und Lloyd George einfängt, wie er hineinhuscht, weg von der Masse und auf die Kameralinse zu – ein in seiner Unmittelbarkeit spannender Moment. Das Bild könnte geradezu den Fernsehnachrichten von gestern Abend entnommen sein. THE LIFE STORY OF DAVID LLOYD GEORGE ist progressiv und auch in anderen Belangen bemerkenswert. Mit 3048 m ist er der längste Film, den ein britischer Regisseur damals drehte – ein Resultat vielleicht der ursprünglichen Entscheidung der Rowsons, den Film nicht als Hauptfilm in die Kinos zu bringen, sondern als Serie mit wöchentlichen Folgen. Es war zuerst diskutiert worden, den Film in sechs oder sieben Teilen herauskommen zu lassen, und sogar in einem späten Stadium seiner Promotion im Oktober 1918 beabsichtigte man immer noch, den Film als Serie erscheinen zu lassen (auf diese Weise hätte man Kinobetreiber zufriedengestellt, die die Begeisterung an dem Produkt möglichst in die Länge ziehen wollten, und damit ebenso die Kasseneinnahmen), obwohl Rowson in seinen Memoiren darauf besteht, daß er den Film immer als Spielfilm in ganzer Länge wollte, um Lloyd Georges Karriere auf der Leinwand als Ganzes zu erhalten.

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ie lebhaften Filmbilder wurden durch den Gebrauch von Farbe noch gesteigert, und es kam dem Waliser Film- und Fernseharchiv offensichtlich entgegen, daß die Originalanleitungen ans Labor in die Startbänder eingekratzt waren. Die Farbgebung im Jahre 1918 bestand aus Toning und Tinting; in einigen Fällen konnten die genauen Farbtöne heute nicht reproduziert werden, doch stellte ein kleines Londoner Labor, Tony Scotts Film and Photo, Farbkombinationen her, die den Angaben auf dem Negativ so nahekamen wie möglich. Es gibt Anzeichen für Eile am Anfang des Films, und die ersten fünf Minuten schauen fast aus wie eine schlechte pädagogische Fibel. Gewisse Teilbilder, die ungeschickt wiederholt wurden, mußten ausgemerzt werden, aber das Hauptproblem, dem sich das Archiv gegenübersah, lag darin, die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen. Die Spulen 9 und 10 kamen auf 30 Meter-Rollen an ohne Angaben über ihre chronologische Folge; das Archiv – in der Mittwaliser Küstenstadt Aberystwyth – mußte daher Filmexperten wie Brownlow als Ratgeber für die Restaurierung rufen, aber auch Historiker wie den Lloyd George-Biographen John Grigg, um sicherzustellen, daß die Leistungen des Politikers auf der Leinwand in der rich-

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tigen Reihenfolge dargestellt wurden. Der Film, nun Elveys vermuteter Intention getreu wieder zusammengebaut, findet nach den ersten paar Minuten zu seinem eigenen Rhythmus, doch ist sein Tempo unvermeidlicherweise im Staccato; viele von Lloyd Georges Reden enden in langen Zwischentiteln, die Bilder, die diese heraufbeschwören – zuweilen sind es Rückblicke, zuweilen allgemeinerer Natur oder gar Projektionen in die Zukunft. Elvey stellt einen Mann vor, der Ereignisse durch seine Reden und politischen Reformen kontrollierte, und in einer der besonders überraschenden Sequenzen demonstriert Elvey das Ausmaß von Lloyd Georges Wirkung auf die Gesetzgebung äußerst drastisch: der Regisseur zeigt, nach Verabschiedung des Rentengesetzes, eine abgerundete Wand, die die ganze Leinwand einnimmt, und die Kamera fährt prüfend eine ganze Weile über diese Wand, bis allmählich Figuren durch die Wand hervortreten – eine ausdrucksstarke Metapher: die älteren Insassen der Arbeitshäuser sind nun endlich befreit und in der Lage, mit der Welt klar zu kommen. Elvey lädt die Zuschauer ein, Lloyd George mit den Giganten unter den amerikanischen Präsidenten zu vergleichen – Washington, Lincoln und Wilson. Voll spielt der Regisseur Lloyd Georges Suche nach einem Kriegskabinett aus, das adäquat die verschiedensten menschlichen Erfahrungen vereint und alle gesellschaftlichen und Klassenschranken durchbricht. Der Film hält die Kamera kurz auf jeden ausgewählten Fall – in einer Sequenz, die nun gestutzt ist, weil einige Filmmeter verlorengegangen sind. Es gibt aber keinen Zweifel darüber, daß der Film dem Image eines ‘großen Mannes der Historie’ huldigt – indem er die Ereignisse durch den Beitrag filtert, den der ‘Genius’ Lloyd George geleistet hat. Daß der Nachspann nicht wiederaufgefunden wurde, ist nicht wenig frustrierend – selbst Recherchen in der Fachpresse haben bislang keinen der Kameramänner ausfindig gemacht, wenn auch Brownlow in seinem findigen Essay darauf hinweist, daß die Beleuchtung die Hand eines so talentierten Mannes wie Frenguelli verrät, der oft mit Elvey an Projekten in anderen Studios zusammengearbeitet hat. Es wurden mit Sicherheit drei oder vier Kameras in einigen der Massenszenen eingesetzt, und Eintragungen in den damaligen Jahrbüchern lassen annehmen, daß Ideal vier oder fünf eigene Kameramänner hatte.

Nur

wenige der im LLOYD GEORGE-Film mitwirkenden Schauspieler sind eindeutig identifiziert worden – obgleich jene, die mit den Horrorfilmen der 30er Jahre vertraut


Maurice Elvey kommt zu neuen Ehren Das Auftauchen des Films hat eine Neubewertung von Elveys Leistung ausgelöst. Elvey, in Dartington in Nordostengland geboren, begann seine Karriere als Theaterdirektor, war jedoch bereits seit 1913 Filmdarsteller und -regisseur; in den Jahrzehnten darauf arbeitete er mit phänomenalem Tempo – er produzierte etwa 40 Filme, allein in den Kriegsjahren 1914 – 18, viele davon Spielfilme. Er machte fünf Filme für Ideal, arbeitete in den früheren Jahren seiner Laufbahn aber hauptsächlich für die London und die Stoll Company. Für Stoll schuf er 15 Folgen einer SHERLOCK HOLMES-Reihe im Jahre 1921 und machte zwei Spielfilme über die Spürnase von Baker Street: THE HOUND OF THE BASKERVILLES (1921) und THE SIGN OF FOUR (1923), doch das Studio, das wegen seiner armseligen Beleuchtung und billigen Drehbücher in einem schlechten Ruf stand, tat schwerlich etwas für Elveys Renommee außerhalb Großbritanniens. Kein anderes Material im National Film Archive kommt dem Lloyd George-Standard nahe; die Filme aber, die der Kritiker David Robinson für eine Aufführung in Pordenone auswählte, ließen erkennen, daß Elvey seinen Höhepunkt in der späten Stummfilmzeit erreicht hatte, als er zunehmend willens war, am Schneidetisch und mit Spezialeffekten zu experimentieren und sich traute, vor Ort zu filmen. Er produzierte eine lebendige Leinwandversion von Stanley Houghtons volkstümlichem Bühnenstück HINDLE WAKES (1927), in dem besonders ein paar Aufnahmen auf einer Achterbahn Aufmerksamkeit erregen, eine witzige, erfindungsreiche Komödie, PALAIS DE DANSE (1928) und einen wundervoll unverkrampften, wenn auch gelegentlich ins Lächerliche abrutschenden, dabei aber zuhöchst cineastischen futuristischen Film, HIGH TREASON (1929, mit einem vertonten Remake 1930). Elvey drückte der Tonfilm-Ära fast sofort seinen Stempel auf, als er der nordenglischen Komikerin und Sängerin Gracie

Fields zu heimischen Ruhm verhalf mit SALLY IN OUR ALLY (1931), zuvor von Hitchcock verfilmt, sowie einer erstklassigen Komödie: I LIVED WITH YOU (1933). Er schuf außerdem ein Remake seines eigenen, hochambitionierten Epos THE WANDERING JEW (1933). Seine späteren Filme sind im allgemeinen nicht der Erinnerung wert, nur THE TUNNEL und THE CLAIRVOYANT (beide 1935) bekamen Kritiklob. Nach einer Reihe von mittelmäßigen Filmen in den 30er und 40er Jahren geriet Elvey allerdings in Vergessenheit. Der einzige Film, der frühzeitig seinen Ruf hätte fördern können, war THE LIFE STORY OF DAVID LLOYD GEORGE, und sein Verschwinden war, wie Kevin Brownlow hervorhob, nicht bloß für Elvey eine Tragödie. Wäre der Film 1918 herausgekommen, hätte er eine totale Neubewertung forciert, nicht allein der Laufbahn seines Regisseurs. Er hätte die Vereinigten Staaten und andere europäische Verteiler animiert, den britischen Film in einem anderen Licht zu sehen – der allgemein als bestenfalls medioker angeprangert wurde in einer Zeit, da die Deutschen, Italiener, Dänen und Hollywood allesamt Werke von unendlich höherer Qualität und Einfallsreichtum geschaffen hatten.

Das Mysterium geht weiter Die Bedeutung des Lloyd George-Films und seiner offenbaren Meriten beschert uns anhaltende Spekulation über sein Schicksal im Jahre 1918, und es sind diverse alternative Theorien geäußert worden, die das Zurückhalten des Films erklären wollen. Eine der Argumentationen lautet: Könnte Lloyd George wirklich nach alledem ernsthaft geglaubt haben, daß das öffentliche Bewußtsein nach Bottomleys Anschuldigung ihn mit den Deutschen assoziieren würde? – Und weshalb sollte er überhaupt Angst vor Bottomley gehabt haben, zumal Bottomley schwerlich ein unantastbarer Charakter war nach der damaligen Moral? Letzterer war mindestens einmal bankrott gewesen und verteidigte sich erfolgreich vor Gericht gegen eine Betrugsanklage. John Bull war zugegebenermaßen sehr einflußreich, und Bottomley war als Propagandist zweifellos der alliierten Sache sehr nützlich, doch als letzten Ausweg hätte Lloyd George das öffentliche Augenmerk auf diese Unebenheiten lenken können. Kevin Brownlow und Sarah Street haben beide in dem demnächst erscheinenden Buch, das bei der University of Wales Press herauskommen wird, die Annahme ausgesprochen, daß der Film womöglich als

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sind, kaum Schwierigkeiten haben, in Joseph Chamberlain den leichenhaft ausschauenden Ernest Thesiger zu erkennen. Denis Gifford nennt in seinem unbezahlbaren British Film Catalog 1895-1985 Douglas Munro als Disraeli – und Munro stand als Schauspieler einige Zeit bei den Londoner Twickenham Studios unter Vertrag, bei denen der LG Film zuhause war. Noch faszinierender: Alma Reville – später Alfred Hitchcocks Ehefrau und Mitarbeiterin – spielt, damals eben 18 Jahre alt, Lloyd Georges Tochter Megan in, wie man glaubt, Revilles einzigem Filmauftritt.


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Folge des Druckes unterdrückt wurde, der direkt oder indirekt durch Basil Thomson ausgeübt wurde, der bald darauf Chef der Sonderabteilung der Londoner Polizei werden sollte; jener war als Reaktionär bekannt, und er würde die sozialistischen Gefühle in dem Film mißbilligt haben, besonders zu einer Zeit, da so viele Soldaten, deren Ideen über ihren Stand hinausgingen, vielleicht mit Lloyd Georges Reformeifer sympathisiert hätten. Schließlich und endlich war manche europäische Regierung kopflos und fürchtete mögliche internationale Nachbeben der Russischen Revolution.

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ir erscheint es sehr viel wahrscheinlicher, daß Lloyd George, sollte er in der Tat kalte Füße bekommen haben, viel eher über die jüdischen Wurzeln der Rowsons besorgt gewesen sein mochte denn irgendwelche Nazi-Anspielung. Aus der Liste der von John Bull veröffentlichten Ideal-Aktionäre war ersichtlich, daß sie von jüdischer Herkunft waren, und Großbritannien war 1918 von Paranoia erfaßt. Es wurden selbst Regierungsminister im Unterhaus aufgefordert, Familienhintergrund und Abstammung zu erklären oder Einzelheiten anzugeben, um den Verdacht mangelnder Loyalität abzuwenden, und der Drehbuchautor des Lloyd George-Films, der in London wohnhafte Historiker Sir Sidney Low, trat aus einer Regierungsabteilung und einem Komitee aus, nachdem ein Schreiben an das Komitee (unter dem Vorsitz des Pressezaren Lord Northcliffe) die Aufmerksamkeit auf dessen ungarische Abstammung lenkte. Geschäftsleute ohne Zahl, die als Fremde klassifiziert wurden, wurden durch Hetze um ihren Lebensunterhalt gebracht. Eine außergewöhnliche Entwicklung begab sich 1918, als John Bull einen Laurence Cowen-Spielfilm mit dem Titel THE HIDDEN HAND sponserte und schamlos vertrieb – in der Tat die gestutzte Fassung eines Films mit dem Titel IT IS FOR ENGLAND, der 1918 herauskam. Dieser Film dreht sich um einen Industriemagnaten und deutschen Spion, der versucht, die britische Flotte zu sabotieren. Der Name des Protagonisten war Rosenbaum. Erkannte dies damals niemand als einen schlecht verhüllten Angriff auf die Rosen-

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baums oder Rowsons? Es erscheint unglaublich, daß die Rowsons nichts unternahmen oder zumindest öffentlich darauf anspielten, aber sie waren – wie wir von ihrer Reaktion auf den Druck, den LLOYD GEORGE-Film zurückzuziehen, wissen – eingeschüchtert und hatten Angst vor einem möglichen jüdischen Gegenschlag. Als Horatio Bottomley Reklame machte für den Film THE HIDDEN HAND, der im November 1918 in London aufgeführt wurde, in fast derselben Woche, in der die Fachwelt den LLOYD GEORGE-Film sehen sollte, wußte er vielleicht bereits, daß dieser unterdrückt werden würde. Die Entscheidung John Bulls, den Cowen-Film zu diesem Zeitpunkt zu unterstützen, muß damals als geschmacklos, ja sogar einfach als frech angesehen worden sein. Spekulationen um die Fakten hinter der Unterdrückung werden weitergehen und dem Film THE LIFE STORY OF DAVID LLOYD GEORGE noch auf Jahrzehnte hin eine besondere Faszination garantieren, besonders da sich die mutmaßliche £20 000-Transaktion weiterhin aller Beweise entzieht. Zumindest ist hier ein Film, der sich für eine neue Generation von Kinogängern als weitaus mehr herausgestellt hat als nur als einer, der der Befriedung der Neugier dient. Er ist ein äußerst rarer britischer Handelsartikel der Backfischjahre dieses Jahrhunderts – ein Film von bleibender Statur, der in seiner Art einer der feinsten Stummfilmspielfilme bleibt, den Europa hervorgebracht hat. Übersetzung aus dem Englischen: Carola Splettstößer

(1) Anmerkung (d. Red.): David Earl Lloyd George of Dwyfor, engl. Politiker (Liberaler), 1863 – 1945; als Handels-Min. (1905 – 08) u. Schatzkanzler (1908 – 15) Initiator der tiefgreifenden Sozialreform; 16 Kriegs-Min., danach 16 – 22 Premier-Min. (Koalitionsregierung); setzte sich auf der Pariser Friedenskonferenz erfolgreich für eine Milderung der Bedingungen gegenüber Dtl. ein; gewährte Irland 21 den Dominionstatus; seit 26 alleiniger Parteiführer der Liberalen Partei, deren Niedergang er nicht verhindern konnte (16 durch ihn gespalten; nach Wiedervereinigung trennte sich 31 die Mehrheit v. ihm). Der Neue Herder, 1967.


»Stumme« Experimente

von JOHANNES C. TRITSCHLER

Für den narrativen Film wird im allgemeinen die Premiere von THE JAZZ SINGER im Jahre 1927 als Beginn des Tonfilmzeitalters genannt. Doch Film war auch zuvor nicht »stumm«, denn bereits die frühesten Vorführungen wurden für gewöhnlich von live gespielter Musik begleitet. Das heißt, die allgemein übliche Definition ist nicht ästhetischer, sondern technischer Natur. Der Einzug des gesprochenen Dialogs mag im Bereich des narrativen Films als Differenzierungsmerkmal Sinn machen, doch läßt sich dieses Kriterium kaum im Bereich des experimentellen Filmschaffens anwenden, wo Dialog in weiten Teilen nur eine untergeordnete Rolle spielt. Der Experimentalfilm ist in der Regel nicht-narrativ und formal-ästhetisch ausgerichtet. So ist eine Abgrenzung der »Stummfilmära« im Bereich des Experimentalfilms weniger eindeutig und bleibt eine Hilfskonstruktion, um die frühe Avantgarde würdigen zu können. Und nicht zuletzt gibt es auch heute noch echt stumme Experimentalfilme. Abstrakter Film Abgesehen von einigen wenigen Einzelbeispielen kann man ab den 2Oer Jahren von einer selbständigen AvantgardefilmBewegung sprechen. Zu ihren frühen Vertretern gehörten unter anderem Walter Ruttmann, Hans Richter, Viking Eggeling und Oskar Fischinger, die allesamt mit dem Abstrakten Film experimentierten. Als frühestes Beispiel für die Bewegung abstrakter Formen im Film gilt Ruttmanns OPUS I aus dem Jahre 1921. Fast zeitgleich stellten Hans Richter mit RHYTHMUS 21 (ursprünglicher Titel FILM IST RHYTHMUS) und Viking Eggeling mit DIAGONAL-SYMPHONIE im Jahre 1924 ihre ersten Filme fertig, nachdem beide zuvor schon mit Bildrollen gearbeitet hatten. Ruttmann, Richter und Eggeling kamen von der Malerei und ihre frühen Filme ließen sich auch als »Malerei mit Zeit« 1 charakterisieren. Es sind autonom geschaffene Kunstwerke, am Tricktisch und ohne Schauspieler entstanden. Spielerisch erkundeten die Filmemacher visuelle Phänomene, setzten abstrakte Formen in einem quasi virtuellen Raum in Bewegung. Dabei blieben die Filme zunächst hinter der Wirkung

zeitgenössischer Gemälde zurück. Allmählich entdeckten die Pioniere der Avantgarde aber die spezifischen Möglichkeiten des neuen Mediums. Für Scheugl/Schmidt gilt DIAGONAL-SYMPHONIE als der komplexeste und schönste dieser frühen Filme. Da Viking Eggeling bereits 1925 gestorben ist, war dies der einzige Film, den er fertigstellen konnte. Eggeling experimentierte darin mit abstrakten Bewegungsphänomenen und nutzte die gesamte Bildfläche der Leinwand zur Begegnung von vollen und leeren Flächen, von verkürzten und verlängerten Kurven, von Dreiecken, Doppelstrichen und Punkten, die anschwellen und verschwinden. Im Wechselspiel der graphischen Grundelemente Linie und Fläche entsteht auf der Leinwand Rhythmus und Bewegung – oder »Musik zum Sehen« 2. Während bei Eggeling die bewegte Linie im Vordergrund stand, ging Hans Richter stärker von der Fläche aus und schuf räumliche Effekte. Auch gewann bei ihm die Zeit als filmisches Phänomen an Bedeutung. Richter experimentierte mit unterschiedlichen Helligkeitsstufen und erzeugte im Zusammenspiel von Licht und Zeit die Illusion von Raum. Auch er lehnte sich zunächst an musikalische Strukturen an, wendete sich dann aber optisch-zeitlichen Phänomenen zu. In RHYTHMUS 21 verwendete er auch erstmals Negativmaterial als Positiv. Fasziniert von der Montage löste sich Hans Richter später vom Abstrakten Film und wandte sich dem Realfilm zu. Dabei stellt FILMSTUDIE (1926) ein Übergangswerk dar, in dem abstrakte Formenspiele mit Realaufnahmen kombiniert sind. In VORMITTAGSSPUK (1928) sind es schließlich nur noch reale Gegenstände, die Richter in Bewegung setzt. In diesem dadaistischen Dokument, einer Auftragsarbeit für die Internationale Musikfestwoche Baden-Baden, kommt es zur Rebellion der Objekte gegen den Menschen – unter diesen die beiden Komponisten Darius Milhaud und Paul Hindemith. Richters erster Tonfilm war der 1929 gedrehte dokumentarische Film ALLES DREHT SICH, ALLES BEWEGT SICH. Oskar Fischinger, ein Mitarbeiter Walter Ruttmanns, entwickelte eine Reihe neuer Tricktechniken, mit denen er abstrakte Animationsfilme realisierte. Dabei handelte es sich sowohl um abstrakte Experimente als auch um kommerzielle Filme. Fischinger popularisierte den Abstrakten Film für die Werbung. Er war nach dem

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Was um Himmels willen macht einen Experimentalfilm zum Stummfilm?


Tod Eggelings und der Abwendung von Ruttmann und Richter der einzige, der den Abstrakten Film in Deutschland fortführte. Ab 1936 arbeitete er in den USA, wo er unter anderem auch an der Walt Disney-Produktion FANTASIA (1941) mit der Episode »Toccata and Fugue« zur Musik von Johann Sebastian Bach beteiligt war. Fischingers Filme bauten schon früher auf klassischer oder populärer Musik auf und waren abstrakte Illustrationen dieser Melodien. Der frühe Abstrakte Film hat seinen Ursprung in der Malerei und seine Bestandteile sind visueller Natur. Geometrische Formen, der Wechsel zwischen Hell und Dunkel, das Spiel von Linie und Fläche sind optische Elemente, und so macht es Sinn und ist nicht nur eine technische Notwendigkeit, daß die frühen abstrakten Filme stumm sind. Dadurch gehört die volle Konzentration dem Bild. Dennoch wurden auch diese »stummen« Avantgardefilme zum Teil von eigens dazu komponierter Musik begleitet. Bereits zur Uraufführung von Walter Ruttmanns OPUS I gab es eine Komposition von Max Butting und für OPUS III wurde Musik von Hanns Eisler verwendet. Sein »absoluter Dokumentarfilm« MELODIE DER WELT war 1929 gar der erste lange Lichttonfilm. Die drei ersten Filme von Hans Richter waren tatsächlich völlig stumm, aber zu FILMSTUDIE (1926) gab es ebenfalls Musik, zunächst von H. H. Stuckenschmidt, später von Ernst Toch. Und die auf bereits vorhandener Musik basierenden Filme von Oskar Fischinger wurden durch synchron abgespielte Schallplatten begleitet. Eine besondere Kategorie im Bereich des Abstrakten Films stellen die Handmade Films dar, bei denen direkt auf den Zelluloidstreifen gezeichnet oder in die Emulsionsschicht gekratzt wird. Bereits in den frühen 2Oer Jahren soll Len Lye in Australien Handmade Films hergestellt haben, die aber nicht erhalten sind. Zu Beginn der 3Oer Jahre arbeitete der Schotte Norman McLaren mit Blankfilm, den er zum Beispiel mit verschiedenfarbiger Schuhcreme einfärbte oder auf den er mit Tinte zeichnete. McLaren experimentierte auch mit synthetischem, handgezeichnetem Ton, unterlegte seine Filme aber, angeregt durch Oskar Fischinger, zumeist mit bekannter Musik. Welche Faszination auch heute noch mit Handmade Films zu erreichen ist, bewies vor einigen Jahren Cathy Joritz mit ihrem (nicht stummen) NEGATIVE MAN, der zu den herausragenden Beispielen subversiv-feministischer Filmarbeit zählt. Französische Klassik Eine Blütezeit erlebte der frühe Avantgardefilm in Frankreich, wo einige Klassiker entstanden sind. Zu ihnen gehört ENTR’ACTE von René Clair (1924), an dem einige der wichtigsten Avantgardekünstler jener Zeit beteiligt waren. Entstanden ist ENTR’ACTE als filmisches Zwischenspiel zu einem dadaistischen Ballett von Francis Picabia, von dem das Exposé stammte und der für die Bauten verantwortlich war. Eric Satie komponierte parallel gespielte Musik und neben diesen beiden traten unter anderem noch Man Ray, Marcel Duchamp, Antonin Artaud und Darius Milhaud als Darsteller auf. Der Film beginnt mit einer raschen Folge unzusammenhängender Einstellungen und mündet in eine Schachpartie. Hiervon ausgehend entwickelt sich eine assoziative Szenenfolge, vergleichbar dem »Psychischen

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Automatismus« im Surrealismus. Dementsprechend wird ENTR’ACTE manchmal dem surrealistischen Film zugeordnet, ist in seiner anarchischen Verspieltheit aber eher dem Dadaismus zugehörig. Ein echtes Meisterwerk des surrealistischen Films und vielleicht der bekannteste Avantgardefilm überhaupt ist UN CHIEN ANDALOU (1928) von Luis Buñuel, entstanden in der Zusammenarbeit mit Salvador Dali. Jene Sequenz, in der von einem Rasiermesser das Auge einer Frau aufgeschnitten wird, gehört zu den berühmtesten – und noch immer schockierendsten – Szenen der Filmgeschichte. UN CHIEN ANDALOU folgt keinem Handlungsstrang und entwickelt sich ohne innere Logik von Szene zu Szene. Offensichtlicher noch als ENTR’ACTE ist Buñuels Erstlingswerk durch den von André Breton erdachten »Automatismus« geprägt, bei dem die im Unterbewußtsein schlummernden Bilder hervortreten sollen. Traumartig ziehen die Bilder am Zuschauer vorbei und fordern zu psychoanalytischer Interpretation heraus, zumal den ganzen Film eine sexuell gefärbte Atmosphäre durchzieht. Die surrealen Effekte und bewußt auf Schock angelegten Bilder lassen bei UN CHIEN ANDALOU allerdings in erster Linie an einen Alptraum denken. Ebenfalls dem Surrealismus zuzurechnen ist LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN (1928) von Germaine Dulac nach einem Drehbuch von Antonin Artaud, der allerdings mit dessen Umsetzung nicht einverstanden war. Die ödipale Geschichte mit antiklerikalen Elementen zerfällt in der Inszenierung. Spielfilmartige Szenen wechseln sich ab mit formalistisch geprägten Sequenzen. In diesen ist es Dulac aber mit Zeitlupen- und Zerreffekten gelungen, einen frühen Beitrag zur avantgardistischen Bildsprache zu leisten. Auch der einzige vollendete Film des Malers Fernand Léger, BALLET MÉCANIQUE (1924), hat gewohnte Sehweisen untergraben. Nur aus wenigen Einzelbildern bestehende Sequenzen überlisten das menschliche Wahrnehmungsvermögen und erzeugen den Eindruck nicht vorhandener Bewegung. Die mehrfache Wiederholung einzelner Vorgänge und die abstrahierende Abbildung von Objekten in Großaufnahme vermitteln ungewohnte Sichtweisen, die sich der Abbildung von Realität widersetzen. Ebenso wie BALLET MÉCANIQUE, der konstruktivistische und futuristische Elemente enthält, bewegen sich auch die Filme von Marcel Duchamp und Man Ray im Zwischenbereich unterschiedlicher, zeitgenössischer Kunstströmungen. Duchamps ANÉMIC CINÉMA (1927) erinnert wie die abstrakten Filme an bewegte Malerei. In seinem einzigen vollständig ausgearbeiteten Filmwerk hat sich Duchamp auf drei verschiedene Motive beschränkt, die alle mit unbewegter Kamera aufgenommen worden sind. Das erste Element sind Bildscheiben, die mit akonzentrischen Kreisen bemalt sind. In Rotation versetzt vermitteln sie einen dreidimensionalen, räumlichen Eindruck. Als zweites Element verwendete Duchamp ebenfalls rotierende Scheiben, die spiralförmig mit Texten beschriftet sind. Da sich diese beiden Scheiben-Motive abwechseln, wirken die Texte wie bewegte Zwischentitel. Im Mittelteil sind die Fotos einer Frau zu sehen, die von verschiedenen Seiten aufgenommen worden ist. Zwar ist ANÉMIC CINÉMA ein einfach aufgebauter Film, thematisiert aber die Beziehung von Schrift und Bild ebenso wie den Faktor »Zeit« in


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BERLIN, DIE SINFONIE DER GROSSSTADT

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der kinetischen Bewegung und »ist wohl der intellektuellste und in diesem Sinne der abstrakteste aller frühen Avantgardefilme« 3. Man Ray führte in seinen Filmen Techniken fort, die er in der Fotografie erprobt hatte. Im Stil seiner Rayogramme streute er Salz, Pfefferkörner, Nadeln und Reißnägel auf Filmmaterial und belichtete es ein bis zwei Sekunden. So entstandene Sequenzen montierte Ray in EMAK BAKIA (1926) mit abstrakten, dokumentarischen und inszenierten Szenen. Steht dieser Film in der Nähe zum Dadaismus, wendete sich Ray mit L’ETOILE DE MER (1927) dem Surrealismus zu. Entstanden nach einem Gedicht von Robert Desnos, ist es die fragmentarisch erzählte Geschichte einer unerfüllten Liebe. Das Motiv des Seesterns zieht sich durch den Film als Symbol für die Träume und Wünsche des Protagonisten. In LES MYTSTÉRES DU CHATEAU DE DÉS (1928)vermischen sich dadaistische und surreale Elemente. Gedreht in der Villa des Vicomte de Noailles, dem Geldgeber des Films, wechseln sich Szenen der dokumentarischen Beschreibung mit inszenierten Szenen ab. Eine Besuchergruppe nimmt die Villa in Beschlag und vergnügt sich dort mit eigenwillig-absurden Spielen. Jahrzehnte später bildete die inzwischen zerfallende Villa in Hyéres den Rahmen für LA REPRISE des deutschen Experimentalfilmers Klaus Telscher (siehe hierzu journal film Nr. 28 und Nr. 31). Ein russischer Revolutionär Einer der großen Revolutionäre des frühen russischen Films war Dsiga Vertov, der in der Frühzeit vor allem außergewöhnliche Dokumentarfilme geschaffen hat. Seine Filme waren »praktizierte marxistische Theorie« 4 und hatten dementsprechend dialektischen Charakter. Im Gegensatz zu späteren Entwicklungen im Cinéma Vérité, das sich der unveränderten Abfilmung von Ereignissen widmete, war sich Vertov bewußt, daß sich »Wirklichkeit« aus mehr als dem direkt Sichtbaren zusammensetzt. Obwohl er nicht inszenierte und nur dokumentarisches Material verwendete, entstand doch erst in der Montage die »Kino-Wahrheit« Vertovscher Prägung. – KINO-PRAVDA (= Kino-Wahrheit) war der Obertitel einer ersten, über zwanzig Filme umfassenden Reihe, die unterschiedliche Ereignisse des sowjetischen Alltagslebens dokumentierte.

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Im Zusammenhang mit dem Experimentalfilm muß in erster Linie Dsiga Vertovs 1929 gedrehter Film CELOVEK S KINOAPPARATOM genannt werden. DER MANN MIT DER KAMERA ist ein Paradebeispiel für die Reflexion über das Medium. Vordergründig ist es die Dokumentation eines Tages im Leben einer Stadt, aufgezeichnet durch einen umherstreifenden Kameramann. Indem Vertov diesen ad personam einführt, hebt er die Identifikation des Zuschauers als neutralem Beobachter des Geschehens auf. In dieser Ausgangssituation liegt noch eine weitere (Zuschauer-)Falle. Denn die Bilder, die der Zuschauer sieht, sind keineswegs die Bilder, die dieser Kameramann aufnimmt, der seinerseits nur ein Darsteller ist. Immer wieder durchbricht Vertov die Illusionskraft seiner Filmbilder auf der Suche nach der »Wahrheit« des Kamera-Auges. Dabei nutzte er radikal die ästhetischen und formalen Möglichkeiten des Films. Bilder wurden angehalten, verlangsamt, beschleunigt und mehrfach belichtet, die Bildfläche wurde aufgeteilt und Sequenzen wurden rückwärts laufen gelassen. Während der narrative Film versuchte, mit seinen Bildern eine eigene Wirklichkeit zu erzeugen, hat Vertov beharrlich auf die »Unechtheit des Bildes« 5 verwiesen und so den Illusionscharakter seines Mediums untergraben. Stumme Experimente im Zeitalter des Tonfilms Nachdem sich um 193O das Lichttonverfahren durchgesetzt hatte, gab es im Bereich des narrativen Films schon bald so gut wie keine Produktionen mehr ohne Ton beziehungsweise ohne gesprochene Worte. Anders sieht es beim Experimentalfilm aus, wo es bis heute echte Stummfilme gibt. 195O drehte beispielsweise Jean Genet UN CHANT D’AMOUR ohne Ton. Lange Zeit unterdrückt, gilt dieser Film heute als Klassiker des homosexuellen Kinos. Radikal und poetisch zugleich werden darin die Leidenschaft und Kraft, aber auch die Qualen des sexuellen Begehrens geschildert. In Einzelhaft gehaltene Gefangene kämpfen mit ihren Sehnsüchten und Frustrationen. Die von Genet geschaffenen Bilder sprechen für sich und kommen ohne Worte aus. Die Männer streicheln die Zellenwand und stoßen ihren erigierten Penis dagegen. Sie küssen ihren eigenen tätowierten Kör-


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per und masturbieren. In einer der eindrücklichsten Szenen des Films vollführen zwei Gefangene eine symbolische Fellatio. Mit Hilfe eines durch einen Mauerspalt gesteckten Strohhalms tauschen sie zwischen den beiden Zellen Zigarettenrauch aus. Abwechselnd atmen sie ihn ein und aus. Ein Wärter beobachtet die beiden und weiß mit seiner eigenen Frustration nicht anders umzugehen, als einen Gefangenen zu mißhandeln und ihm seine Pistole in den Mund zu stecken. Anfang und Ende von UN CHANT D’AMOUR bildet ein von Zellenfenster zu Zellenfenster geschwungener Blumenstrauß. Wer mit solch suggestiven Bildern und Metaphern arbeitet, braucht über Worte nichts mehr zu erklären und kann sogar auf die emotionalisierende Wirkung von Musik verzichten.

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iner der bedeutendsten Avantgardefilmer, der trotz vorhandener technischer Möglichkeiten weitgehend Stummfilme gedreht hat, ist Stan Brakhage. Er gehörte zu den wichtigsten Vertretern des amerikanischen Undergroundfilms der 6Oer Jahre und dreht auch heute noch Filme. Sein bekanntestes Werk ist MOTHLIGHT (1963), in dem er Mottenflügel und Pflanzenteile zwischen zwei Lagen Blankfilm legte. Brakhages Filme handeln vom Sehen, erzählen von äußeren und inneren Bildern. Ohne Zweifel muß man Stan Brakhage zu den großen Avantgardisten zählen, der in den frühen 6Oer Jahren auch die Beschaffenheit des (Film-)Materials ins Bewußtsein rückte. Er machte Klebestellen sichtbar, verwendete verwackelte, unscharfe und mehrfachbelichtete Bilder, zerkratzte den Filmstreifen und benutzte Negativaufnahmen. Obwohl in diesen Filmen der formale Charakter in den Vordergrund drängt, besteht Brakhage darauf, daß Form niemals Inhalt ist. Mit seinen Inhalten erwies sich Brakhage vor allem in seinen frühen Filmen auch als einer der großen Tabubrecher. Er thematisierte die Masturbation in FLESH OF MORNING (1956, mit Ton) und zeigte verschiedene Spielarten sexueller Liebe in LOVEMAKING (1969). Nicht alltäglich auch die Aufnahmen von WINDOW WATER BABY MOVING (1959), in dem Brakhage auf sehr persönliche Art die Geburt seines ersten Kindes festgehalten hat. Es sind immer wieder ungewohnte Bilder, die Brakhage dem Zuschauer präsentier-

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te, bisweilen auch zumutete. War es in SIRIUS REMEMBERED (1959) noch sein toter Hund, dessen offene Verwesung er über ein Jahr hinweg gefilmt hat, so führte Brakhage in THE ACT OF SEEING WITH ONE’S OWN EYES (1972) den Zuschauer in ein Leichenschauhaus. Im Seziersaal beobachtete die Kamera leidenschaftslos das Öffnen der Leichen und die Entfernung der Organe. Trotz seiner Verdienste um das Durchbrechen visueller Tabus und der Entwicklung einer individuellen Ästhetik, erzeugt die Betrachtung des Gesamtwerkes von Stan Brakhage doch zwiespältige Gefühle. Die ungewöhnliche Formensprache dient ihm dazu, das Unbewußte, psychologische Zustände und innere Visionen sichtbar werden zu lassen. Hierbei kommt eine eigenwillige Mystik ins Spiel, der nicht ohne weiteres zu folgen ist. Deutlich sichtbar zum Beispiel in einem seiner Hauptwerke, SCENES FROM UNDER CHILDHOOD (1968-7O). Dieser autobiographische Film vermischt von Naturmystik geprägte Bilder der amerikanischen Landschaft mit Aufnahmen von Brakhages heranwachsenden Kindern. Es entsteht eine Idylle, die nicht durchbrochen wird und sich kaum den real existierenden gesellschaftlichen Verhältnissen stellt. Man muß Brakhages genialen Umgang mit dem Bildmaterial bewundern und seine Fähigkeit, seine Botschaften ganz ohne Worte zu vermitteln, aber seine zum Teil in den Irrationalismus umkippenden Visionen fordern auch Widerspruch heraus. Eine andere Gallionsfigur des amerikanischen Undergroundfilms, Andy Warhol, drehte seine frühen Filme ebenfalls ohne Ton. Zu diesen gehören Klassiker wie SLEEP, KISS, EAT (alle 1963) oder EMPIRE (1964). Und diese sind nicht ohne Grund stumm, geht es doch in all diesen Filmen um die konzentrierte Beobachtung von einem einzigen »Ereignis«. In SLEEP ist es der Schriftsteller John Giorno, der über einen Zeitraum von sechs Stunden im Schlaf gefilmt wird, in KISS sind es unterschiedliche Paare, die eben beim Küssen beobachtet werden, in EAT ißt der Maler Robert Indiana 45 Minuten lang einen Pilz, und im berühmten EMPIRE ist acht Stunden lang nicht mehr als das Empire State Building, aufgenommen aus einer einzigen Einstellung, zu sehen. Oft genug stoßen diese minimalistischen Meilensteine auf Unverständnis. Und in der Tat ist es ein

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begrenztes Vergnügen, stundenlang einen schlafenden Mann oder ein statisches Gebäude auf der Leinwand zu betrachten. Verständlich sind die Filme wohl auch nur in ihrer historischen Einordnung. Warhol durchbrach die vom Hollywoodkino festgeschriebenen Gesetzlichkeiten, verzichtete auf Inszenierung, auf die Bewegung der Kamera, den Schnitt – und den Ton – und machte so festgefahrene Sehweisen erst wieder bewußt. Und noch ein Vertreter des amerikanischen Undergroundfilms tat gut daran, in seinem bedeutendsten Werk auf Ton gänzlich zu verzichten. In TOM, TOM, THE PIPER’S SON (1969) nahm sich Ken Jacobs einen zehnminütigen Groteskfilm aus dem Jahre 19O5 vor und analysierte diesen mit rein visuellen Mitteln. Zunächst in seiner urspünglichen Form projiziert, wird der alte Film anschließend mit Hilfe von Ausschnittsvergrößerungen, Einzelbildablichtung, Rückwärtslauf oder Variation der Projektionsgeschwindigkeit seziert. Erst durch diese Bearbeitung wird die Fülle aller Handlungselemente sichtbar. Wenn der Groteskfilm dann am Ende noch einmal in seiner ursprünglichen Form vorgeführt wird, hat sich seine Wahrnehmungsweise verändert, ohne daß über Worte irgend etwas erklärt worden wäre. Eine weitere Häufung stummer Experimentalfilme findet sich auch im Werk der österreichischen Avantgarde der 6Oer Jahre, zu der Künstler wie Peter Weibel, Hans Scheugl, Otto Mühl oder Günter Brus gehörten. Ihr wichtigster Filmemacher, neben Peter Kubelka, war der kürzlich verstorbene Kurt Kren. Seine Werke gehören in den Bereich des Strukturellen Films und sind gegen die konventionellen Erzähltechniken des Spielfilms gerichtet. Inhalt wird zugunsten der Form reduziert und nicht die Einstellung, sondern der einzelne Filmkader ist die Maßeinheit. Dies erfordert exakte Schnitt- bzw. Drehpläne, da Kren viele seiner Filme direkt in der Kamera montiert hat. Auf Millimeterpapier aufgezeichnet werden die Bildabfolgen genau festgelegt. Wo dem einzelnen Bild so viel Gewicht beigemessen wird, tritt der Ton konsequenterweise zurück bzw. kommt erst gar nicht vor. Vereinzelt stößt man immer wieder auf Beispiele, wo Experimentalfilmer bewußt auf Ton in ihren Filmen verzichten. So drehte 1983 Heinz Emigholz seinen Film THE BASIS OF MAKE UP – von ihm selbst als »Basisfilm und Mastertape zu NORMALSATZ, DIE BASIS DES MAKE-UP, DIE WIESE DER SACHEN« bezeichnet – stumm. Es ist eine visuelle Collage, deren wesentlichstes Bildmaterial abgefilmte Tagebuchseiten sind. Diese werden jedoch zu kurz gezeigt, als daß man die Aufzeichnungen lesen könnte. So huschen die mal handschriftlich, mal mit Schreibmaschine geschriebenen Zeilen am Auge des Zuschauers vorbei, nimmt er gerade noch wahr, daß die Notizen durch Zeichnungen, Fotos und Zeitungsauschnitte ergänzt sind. Zwischen die Aufnahmen der Tagebuchseiten sind Zeichnungen, sowie Bilder einer Wohnung oder eines Hotelzimmers montiert. Es scheint widersinnig zu sein, daß die Inhalte der Tagebücher weder entzifferbar sind, noch durch eine Off-Stimme erklärt werden. Indem die persönlichen Aufzeichnungen von Emigholz aber nur als visuelles Kaleidoskop erscheinen, behalten sie ihre Intimität und wecken gleichzeitig das Interesse an der Gedankenwelt des dahinterstehenden Künstlers.

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Ein aktuelles Beispiel ist der 1996 gedrehte Film APPARATUS >M< von Takashi Ito. Mit einer reduzierten Bildsprache und ohne Ton bringt er sein Anliegen auf den Punkt. APPARATUS >M< ist eine Hommage an Yasumasa Morimura, einen der berühmtesten Transvestiten Japans. Ito setzt Morimura in Beziehung zu dem Klischee von Marylin Monroe, wie es der Zuschauer aus ihrer berühmten U-Bahn-Szene kennt. Optisch aufgemacht wie die Monroe, bewegt sich Morimura durch das Bild. Ito montierte U-BahnAufnahmen und Aufnahmen von Accessoires wie einem Kosmetikkoffer oder einem Dildo dazwischen. So erzeugt er Assoziationen, die die Grenzlinien zwischen den beiden Stars verwischen und über sie hinaus weisen. Sowohl die zur Ikone gewordene Monroe, als auch das Leben des Transvestiten haben viel mit Bildern zu tun und indem Ito sich in APPPARATUS >M< auf stumme Bilder beschränkt, unterstützt er den Blickwinkel auf den schönen Schein – und durchbricht diesen in der Montage.

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ie Ausgangssituation war für den Avantgardefilm nicht anders als für den Film generell. Zunächst fehlten die technischen Möglichkeiten, die Bilder mit synchronem Ton zu versehen. Dennoch wollte man auch in der Frühzeit des Kinos nicht auf akustische Begleitung verzichten. Live gespielte Musik und allerhand abenteuerliche Apparaturen, die zur Tonwiedergabe im Kinosaal konstruiert wurden, geben davon Zeugnis. Bemerkenswert ist, daß sich gerade in dieser Zeit einige der Pioniere des Avantgardefilms mit der optischen Umsetzung musikalischer Strukturen beschäftigt haben. Ihre Auseinandersetzung mit dem Ton fand nicht auf der technischen, sondern auf ästhetischer Ebene statt. Im »großen Kino« endete die Stummfilmzeit fast augenblicklich in dem Moment, als es möglich wurde, den Ton direkt auf den Filmstreifen zu übertragen und damit einheitlich wiederzugeben. Die Einführung des Tonfilms verteuerte allerdings die Filmproduktion, was die Produktion nicht kommerziell ausgerichteter Avantgardefilme erschwerte. Für das experimentelle Filmschaffen sind aber weder finanzielle, noch technische Gründe alleine dafür ausschlaggebend, ob ein Film mit oder ohne Ton hergestellt wird. Frei von den Zwängen der »Konsumierbarkeit« bleibt es hier eine ästhetische Entscheidung, auch heute noch einen Stummfilm zu drehen. Da die Bildsprache des Experimentalfilms weitaus origineller und vielfältiger ist als die des Kommerzfilms, macht dies durchaus Sinn – auch wenn es doch eher die Ausnahme ist.

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Birgit Hein und Wulf Herzogenrath: Film als Film. 191O bis heute. Stuttgart 1977, S. 63. Hans Scheugl und Ernst Schmidt jr.: Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms. Frankfurt/M. 1974, S. 43. Scheugl/Schmidt, S. 232. Scheugl/Schmidt, S. 1092. Amos Vogel: Kino wider die Tabus. Luzern und Frankfurt/M. 1979, S.44.


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ENTR’ACTE


Standorte Sendeplätze Wo und bei welchen Gelegenheiten Stummfilme zu sehen sind von WILLI KAROW

35 Jahre ist der Stummfilm alt geworden. Oder 32 oder 37 oder 40 Jahre. Das war von Land zu Land verschieden. Dann war es plötzlich aus mit ihm, so gründlich vorbei, daß an Wiederbelebung nicht zu denken war. Der Aufschrei vieler tausend Musiker, die über Nacht arbeitslos geworden waren, nützte da nichts, auch nicht das Lamento der Filmästheten und -enthusiasten, die das Ende einer inzwischen hochentwickelten Kunst gekommen sahen. Bei aller Einfallslosigkeit, die dem Ton zu schulden war, der nun die Musik machte, mußten auch diese Kritiker bald einsehen, daß Tonfilm und Trivialität nicht gesetzmäßig zusammenhängen. Als hätten sie nur darauf gewartet, daß es ihn endlich gibt – bedienten sich geniale Regisseure wie Fritz Lang (M) oder René Clair (SOUS LES TOITS DE PARIS) sofort umstandlos und kongenial der neuen Möglichkeit des Tons. Der Stummfilm also verschwand. Es muß aber eine geheime Sehnsucht nach stummen Bildern, die gewissermaßen von innen heraus klingen, nach dieser ganz spezifischen Beredtheit des Stummfilms überdauert haben. Ende der sechziger Jahre kam sie allmählich wieder zum Vorschein, setzte sich durch: die Renaissance des Stummfilms begann. Heute ist der Jubel groß, die Augen leuchten, der Puls schlägt schneller, wenigstens bei denen, die es zu schätzen wissen, wenn ein neuer alter, verschwunden geglaubter Film irgendwo wieder auftaucht oder Teile einer Kopie gefunden werden, die es ermöglichen, endlich die Restaurierung eines Klassikers, DIE FREUDLOSE GASSE z.B., zu vervollständigen. Schön so. Doch wieviele Augenpaare mögen es wohl sein, die diese Kopie zu sehen bekommen? Da fehlt es noch an macherlei. Gleichwohl, eine Renaissance ist da. Sie hat auch ihre Schattenseiten. Mode ist

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es geworden, Stummfilme zu zeigen. Man schmückt sich, sein Kino, seine Veranstaltung mit was Ollem, eigentlich eher, weil man der Musik alleine nicht mehr traut (?) oder weil es andere auch so machen: schon hat man das Event, das man heutzutage braucht, um Aufmerksamkeit zu erregen. So tut’s die Kommune, so das Zeltmusikfestival, das nie genügend Attraktionen anhäufen kann, so auch manches Filmfestival. Die Musiker sind teuer, aufwendige Technik kann man sich nicht zusätzlich leisten. Vom gewünschten Film gibt’s irgendwo eine 16mmKopie, sie ist etwas flau, so ganz vollständig ist sie auch nicht, aber wer merkt das schon. Denn das Juwel aus dem Filmarchiv wird von diesem ja nicht rausgerückt, es ist schon fatal, man hat nichts zum Tausch anzubieten, man ist als Veranstalter dem Kopiengeber eigentlich eher unbekannt. Der Vorführer (im gerwerblichen Kino) weiß nichts von einem stufenlos zu schaltenden Frequenzwandler (die Veranstalter vielleicht auch nicht), und ein Objektiv für Stummfilme ist auch keines im Haus. Macht nix, beruhigt der Vorführer, ich mach ‘ne Maske dafür. Die Köpfe oben, die Beine unten sind abgeschnitten, die Zwischentitel zu einem Drittel nicht lesbar, weil sie aus dem Bild laufen; eine Band spielt, sie macht einen geilen Rock-Jazz, der haut immer hin. Sozusagen ein Worst-Case-Szenario, das es leider so auch gibt. Am anderen Ende der Skala die supergeile Superinszenierung mit großem Orchester und volltönendem Sound, gegen den das arme schwarzweiße, schier unscheinbare Leinwandereignis vergeblich anflimmert. Fritz Güttinger meinte: »Wird eine Stummfilmvorführung als gesellschaftliches Ereignis aufgezogen, drängt sich die Musik unweigerlich in den Vordergrund, ganz gleich, wo das Ereignis stattfindet«. (In seinem Ar-

tikel »Der Begleitfilm«, abgedruckt in seinem Buch »Köpfen Sie mal ein Ei in Zeitlupe!«, Zürich 1992.) Und an anderer Stelle daselbst: »Den Teppichcharakter, den Ernst Bloch der Begleitmusik zuwies, setzt Unterordnung der Musik unter das Bild voraus, und mit Unterordnung (unter einen Stummfilm!) darf man einem Musiker heute nicht kommen. Früher machte man Musik, um den stummen Film richtig zur Geltung zu bringen. Heute dient der Film den Musikern dazu, sich selber Geltung zu verschaffen.«

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uch ist die Fangemeinde für Stummfilm vermutlich nicht allzu groß. Die gut besuchten punktuellen Ereignisse täuschen darüber hinweg. Wie sieht so ein Alltag in einem kommunalen Kino, sagen wir in Freiburg, denn aus? Dort wird pro Monat mindestens ein Stummfilm angeboten, zwei Termine jedesmal. An Technik mangelt’s nicht, auch bemüht man sich um gute, womöglich restaurierte Kopien. Ein bekannter Pianist mit überregionalem Ruf, der zudem Geige spielt, sitzt am Klavier. Wenn nicht METROPOLIS oder NOSFERATU gegeben werden, kann es passieren, daß nicht mehr als 15 Personen im Kino anwesend sind. Am Pianisten liegt es nicht – vielleicht aber daran, daß er nicht von auswärts herbeigeholt wurde? Oder daß man versäumt hatte, darauf hinzuweisen, daß es sich bei der vorgeführten Kopie um eine neue, neu restaurierte, viragierte, zudem an gewissen Stellen sogar handkolorierte handelt? – Hat man aber drauf hingewiesen. Hat es trotzdem nichts genützt. Andererseits: Wenn das Ambiente stimmt und der Film ist populär genug und die Musiker sind bekannt (womöglich auch die angekündigte Musik) und es gibt zu trinken und vielleicht ist der Abend lau und vielleicht findet das alles open air statt und ko-


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sten tut’s auch nichts, dann kann es allerdings geschehen, daß sich, wie beispielsweise im Innenhof des Bonner Schlosses, jetzt Universität, an die 2000 Leute drängeln (Bonner Sommerkino) und es herrscht eine Mordsstimmung und man schwimmt mit in dieser Woge der Begeisterung und gaukelt sich vor: der Stummfilm hat’s geschafft. Hat er seine Wiederbelebung wirklich geschafft? Bei den geldgebenden Sponsoren und Politikern? Oder beim Publikum? Was sind das für Leute, die sich dem Stummfilm zuwenden? Nostalgiker? Antiquitätensammler? Und welche Musiker reizt es, sich mit der Materie zu befassen? Es sind jedenfalls nicht viele (noch nicht?), denn man trifft allerorten auf dieselben Ensembles und Interpreten. Wenn man sich die Situation von früher vor Augen hält! Aber darf man das? Darf man unterstellen, es habe eine Umwertung stattgefunden dergestalt, daß nicht mehr der Film im Mittelpunkt der Darstellung steht, sondern die ihn begleitende Musik? Man geht ins Filmkonzert gewissermaßen. Und wohin geht man ins Filmkonzert? Ins Theater, in die Oper, in die Kirche, vielleicht sogar in die Fabrik. Aber nicht mehr ins Kino. Denn die dem Stummfilm einst errichteten Kinopaläste, seine Tempel, gibt es nicht mehr. Was soll heuer der Stummfilm in einem Multiplex, wo selbst Filme aus den fünfziger Jahren aussehen, als hätten sie sich durch die Hintertür eingeschlichen. Nein. Der Stummfilm ist wieder ambulant geworden. Wie in seiner Frühzeit. Allerdings besucht er nicht mehr den Jahrmarkt und die Varietés. Er besteht auch nicht mehr aus lauter bunt zusammengewürfelten kurzen Streifen, die gleichwohl, wie Martin Loiperdinger zu Recht bemerkt, »wohlinszenierte Aufführungsereignisse (waren), die durch ihre Programmfolge, die

Musik und vor allem die Sprechbeiträge des Rezitators zusätzliche Dimensionen erhielten, die den Stummfilmen als überliefertes Filmmaterial gar nicht anzusehen sind« (in »Eßlinger Zeitung«, Ostern 1997). Vielmehr finden die »wohlinszenierten Aufführungsereignisse« von heute in der Regel mit Filmen statt, die das Resultat des sog. Autorenfilms der späten zehner und der zwanziger Jahre sind, als das Kino endlich die Bürgerleiter ein paar Stufen hochgekraxelt war. Weshalb ihre Wiederaufführung heute in verschwiegenen Schloßinnenhöfen, Galerien, Fabriken, Theatern oder Kirchen keineswegs widersinnig ist.. Wenn das Kinopublikum nicht in den Stummfilm geht, muß der Stummfilm eben sein Kirchen- oder Theaterpublikum finden. Wird der Stummfilm dadurch zum Kirchen- oder zum Theaterstummfilm? In gewissem Umfang ja, denke ich. Denn DER MÜDE TOD in der Kirche ist dort ein anderer als im Kino. PANZERKREUZER POTEMKIN im Theater oder in einer Fabrik etwas anderes als im Filmpalast. Das soll keine Qualitätsunterstellung sein, sondern schlicht eine Beschreibung. Ähnlich verändern auch die unterschiedlichen Interpreten die Valeurs eines Stummfilms. Das ist ja das Reizvolle und immer aufs neue Faszinierende an ihm: daß er offenbar beliebig oft fortgeschrieben werden kann. Dies macht die Beschäftigung mit dem Stummfilm für alle, die sich für ihn begeistern, die Archivare, Restaurateure, Film- und Musikwissenschaftler, Kinomacher, Musiker und die Zuschauer so lohnenswert. Woher sind Stummfilme zu beziehen? Wer verfügt über Kopien? Filmarchive und Sammler zum Beispiel. Seltener gewerbliche Filmverleiher. Verleihkopien sind überhaupt eher selten, die meisten verfügbaren Filme gibt es nur als Archivkopien, die beschränkt zur Vorführung freigegeben werden und

dann auch bloß an nichtgewerbliche, professionell arbeitende Kinos. Kopien besitzen, um wenigstens einige aus dem deutschen Umfeld anzuführen, z.B.: das Filmmuseum in München; das Filmmuseum Frankfurt; das DIF (Deutsches Institut für Filmkunde, Wiesbaden) und die SDK (Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin – SDK und DIF haben gemeinsam einen Verleihkatalog herausgegeben); der Verleih »Freunde der Deutschen Kinemathek«, Berlin; das Bundesarchiv, Berlin (das auch die breite Erbschaft des Staatlichen Filmarchivs der DDR angetreten hat); das Archiv des kommunalen Kinos Hamburg, Metropolis (Heiner Roß); die Bonner Kinemathek (Stefan Drößler); das Filmforum Duisburg (Kai Gottlob). Zu sehen sind Stummfilme mehr oder minder regelmäßig in ausgewählten Kommunalen Kinos und verwandten Spielstätten, auf Filmfestivals (meist als Einzelereignis oder in Sonderreihen), z. B. ziemlich regelmäßig während der Berlinale in der Retrospektive, auch das Internationale Forum des jungen Films bemüht sich, jährlich ein oder zwei Wiederentdeckungen anzubieten. – Wenn ich im folgenden einige Stummfilmfestivals kurz skizziere, so bitte ich zu berücksichtigen, daß es sich nur um eine Auswahl handelt. Ich gehe nicht auf die Großereignisse ein, wie sie in Köln oder Geiselgasteig bei Münschen regelmäßig stattfinden, auch nicht auf die vielen Stummfilmreihen, die hier oder dort durchaus wiederholt zusammengestellt werden. Es tut sich mehr, als nachfolgend beschrieben, und das ist erfreulich. Bielefeld

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as Film&MusikFest findet 1998 zum 9. Mal statt. Ausgerichtet von der Friedrich

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Wilhelm Murnau Gesellschaft e.V., deren Existenz auf Wilhelm Plumpe alias Friedrich Wilhelm Murnau, geboren 1888 in Bielefeld, zurückgeht. Die Gesellschaft vergibt einen Filmpreis, der zuletzt, 1995, an Herbert Achternbusch ging. Außerdem erscheint eine Schriftenreihe, in der Regel im Anschluß an Symposien. Als Band 4 kam 1996 im Schüren Verlag »Die Metyphysik des Lichts« (über den Kameramann Henri Alekan) heraus, jüngst ebenfalls bei Schüren »Früher Film und späte Folgen« (Besprechung in diesem Heft), der einen Beitrag von Kurt Johnen, erster Vorsitzender der Gesellschaft und verantwortlich für das Film&MusikFest, über eben dieses enthält. Das Film&MusikFest findet jährlich statt und erstreckt sich, jeweils im Oktober, über insgesamt neun Tage; allerdings ist nicht täglich Vorstellung, schwerpunktmäßig vielmehr Freitag bis Sonntag, so daß, wenn kein Symposium dazwischengeschoben ist, eine Anreise von auswärts für die gesamte Dauer wenig ratsam sein dürfte. Die Veranstaltung hat allerdings regionale Bedeutung. Zur Festivalzeit verkehren zusätzliche Busse zur Oetkerhalle, die einer der beiden Veranstaltungsorte ist. Hier finden die Vorführungen mit Orchesterbegleitung statt, während die kleinen Besetzungen im Capitol angesiedelt sind. 1997 wurde auch die Neustädter Marienkirche einbezogen, dort kam Dreyers PASSION DER HEILIGEN JOHANNA zur Aufführung, mit der Musik von Wilfried Kaets; er selbst spielte Orgel, zusätzlich war die Choral-Schola Köln unter Leitung von Klaus Paulsen zu hören. Die Filmauswahl setzt auf das Bewährte. So standen 1997 Fancks DER HEILIGE BERG, Murnaus NOSFERATU; Medwedkins DAS GLÜCK und Chaplins CIRCUS auf dem Programm. Zu Fancks Film erklang die Musik von Edmund Meisel, und 1996 spielte das

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Deutsche Filmorchester Babelsberg unter Frank Strobel die Musik zu Chaplins CITY LIGHTS. Berndt Heller dirigierte die Guiseppe-Becce-Komposition zu Murnaus TARTÜFF. 1995, zum 100. des Kinos, war man auf Grund hinreichender finanzieller Mittel sogar in der Lage, eine Neukomposition für Murnaus DER LETZTE MANN in Auftrag zu geben: an den Komponisten Karl-Ernst Sasse. Bonn

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er Ehrgeiz der Bonner Veranstalter zielt auf Neuentdeckungen, Zukäufe (fürs eigene Archiv) und die Präsentation taufrischer Restaurierungen oder Rekonstruktionen. Veranstaltet wird das Bonner Sommerkino/Internationale Stummfilmtage, das jährlich im August stattfindet, von einem »Förderverein Filmkultur e.V.«. Die Macher und Macherinnen sind allerdings identisch mit jenen, die im »Kino in der Brotfabrik« die »Bonner Kinemathek« betreiben. Hauptverantwortlicher ist Stefan Drößler, der im Lauf der Jahre zu einem profunden Kenner des Stummfilms wurde und seine Begeisterungsfähigkeit mitzuteilen weiß. So sind denn die Darbietungen im Innenhof der Universität, dem kurfürstlichen Schloß, durchaus keine trockene Angelegenheit. Erst nach und nach haben sich die Internationalen Stummfilmtage in das Bonner Sommerkino hineinentwickelt, denn ursprünglich war das Programm der sommerlichen open-air-Veranstaltungen gemischt. So war 1998 das 14. Mal Sommerkino, aber erst zum 4. Mal Stummfilm pur. Die Internationalen Stummfilmtage erstrecken sich über zehn Tage, abends je eine Vorstellung (mit Vorfilm Dauer drei Stunden), an Wochenenden zwei Langfilme. Begonnen werden kann erst nach Einbruch

der Dunkelheit. Bei Regen wird trotzdem gespielt. Die Zuschauerreihen lichten sich dann, man geht entweder (denn der Eintritt kostet ja nichts) oder schleicht sich unter die Arkaden des Innenhofes oder bleibt sitzen unterm Regenschirm. Im Kino in der Brotfabrik werden zum Wochenende nachmittags Sichtungen angeboten. Für jemand, der sich die übrige Zeit im Bonn-Kölner Raum z.B. mit dem Besuch von Museen zu beschäftigen oder im Siebengebirge oder am Rhein mit frischer Luft zu versorgen weiß, eigentlich ein idealer Aufenthalt. Es wundert daher, daß nur begrenzt Teilnehmer von außerhalb anzutreffen sind. Musikalisch setzt man auf die kleine Besetzung, vornehmlich den Flügel. Man will es seriös und konzentriert, aber nicht spektakulär. Bekannte, von Jahr zu Jahr wiederkehrende Interpreten sind zum Beispiel Joachim Bärenz, Günter A. Buchwalld, Richard McLaughlin, Werner Loll oder Aljoscha Zimmermann. Der Jahrgang 1998 mag hinreichen, um das Angebot an Filmen zu charakterisieren: Bekanntes wie Pabsts DIE FREUDLOSE GASSE in der neuen rekonstruierten und viragierten Münchner Fassung oder Eisensteins STREIK oder restaurierte Originalfassungen von LAUREL & HARDY COMEDIES (die allerdings so bekannt auch wieder nicht sind) steht neben weniger oder so gut wie überhaupt nicht Bekanntem, Stummfilmen von Yasujiro Ozu (gleich vier an der Zahl), Hoyts THE LOST WORLD, für den Willis H. O’Brien die Urweltmonster bastelte, Feyders KINDERGESICHTER, Cooper/Schoedsacks CHANG; Maurice Tourneurs THE LAST OF THE MOHICANS oder HINDLE WAKES aus Großbritannien. Auch dort entstanden, was wenig bekannt ist, stumme Spielfilme, und nicht einmal schlechte. Und man muß sich nicht für Wilhelm Dieterles moralinsauren, wenn


Erlangen

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ie Stummfilm-Musik-Tage Erlangen werden in Kooperation mit dem Theater Erlangen von einer Gruppe veranstaltet, die sich (a)synchron nennt (Claudia Floritz, Organisation, Rolf Schamberger, Musik und Film) und die eng mit der Avantgardesektion der Nürnberger Symphoniker verknüpft ist. Veranstaltungsort ist das Markgrafentheater. Angestrebt ist ein Zweijahresrhythmus, Bisher haben die Stummfilm-Musik-Tage zweimal stattgefunden, für den 11.-14. März 1999 ist eine dritte Ausgabe geplant. Die Konzentration auf vier Tage hat – zumindest für anreisende Gäste – einiges für sich. Immerhin gelang es 1997, an nur drei Tagen insgesamt zehn Filmprogramme unterzubringen, zudem noch einen Vortrag und ein Publikumsgespräch. Ähnlich kompakt gibt sich die Vorschau für 1999. Zusätzlich ist eine Ausstellung zu besichtigen, die handelte 1997 von »Stummfilm und Musik« und soll 1999 über »METROPOLIS – die Filmarchitektur« gehen. Den Erlanger Veranstaltern ist der Avantgardefilm wichtig, 1997 fanden sich gleich mehrere Porgramme dieser Art, u.a. die Klassiker LE BALLET MECANIQUE von Fernand Léger, Clairs ENTR’ACTE und Ruttmanns LICHTSPIELE OPUS II-IV. Für die dritten Stummfilm-Musik-Tage ist ähnliches geplant. Geplant ist auch, wie schon 1997, als mit »Videoart und Live-Guitar« Rezentes auf dem Programm stand, den Faden vom Stummfilm bis in die Gegenwart fortzuspinnen: »Vom Stummfilm zum Multimediaprojekt« soll der diesbezügliche Programmpunkt heißen. (A)synchron setzt bei der

Titelauswahl keineswegs allein auf die Hits. So fanden sich 1997 neben PANZERKREUZER POTEMKIN oder Buster Keatons GO WEST auch ein kaum bekannter René Clair, LES DEUX TIMIDES (Ausführliches dazu in diesem Heft), oder sogar reichlich Abseitiges wie INSEL DER DÄMONEN von Friedrich Dahlsheim, ein Film über die Mythen auf Bali, im Programm. Für 1999 ist eine zehnteilige Kriminalserie aus dem Jahr 1919, DIE FRAU IM SCHATTEN, vorgesehen; außerdem soll eine arte-Produktion live in Erlangen aufgenommen werden, der wenig bekannte Pabst-Film ABWEGE von 1928, die Uraufführung der Begleitmusik der australischen Komponistin Elena Kats-Chernin unter der Leitung von Frank Strobel. (In Paranthese: Kirsten Winter, Experimentalfilmerin aus Hannover, hat bereits zweimal mit Kats-Chernin zusammegearbeitet: CLOCKS ist eine Art Porträt, beruhend auf bereits vorhanderner Musik; für SMASH schrieb die Komponistin die Filmmusik.) Neben Frank Strobel sind es vor allem Künstler aus dem süddeutschen Raum, die bei den Erlanger Stummfilm-MusikTagen auftreten: Der Komponist Klaus Treuheit aus Erlangen, der Pianist Miller the Killer aus Forchheim, der Nürnberger Schlagzeuger Yogo Pausch oder das ebenfalls aus Nürnberg stammende ensemble KONTRASTE. So wie bei der Filmauswahl eine gewisse Dominanz des Avantgardekinos auszumachen ist, so läßt sich für die musikalische Komponente eine prononciert zeitgenössische Herangehensweise unterstellen. Es geht um eine produktive Auseinandersetzung der Musik von heute mit dem Film von gestern. Esslingen

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ilme in Live-Performance, beste Akustik und Projektion, beste Kopien der

europäischen Archive. Zahlreiche Uraufführungen und deutsche Premieren, Fernsehaufzeichnung. Populäre Filme mit livemusikalisch höchsten Leistungen: ein anspruchsvolles Vergnügen« – verspricht das Internationale Stummfilmfest Esslingen, das seit 1991 bisher dreimal stattgefunden hat, jeweils im ersten Tertial eines Jahres. Angestrebt wird ein Drei-Jahres-Rhythmus. Veranstaltungsort ist die Württembergische Landesbühne Esslingen, der Zeitraum umfaßt fünf Tage. 1997 begannen die Vorstellungen in der Regel um 20 Uhr, eine zweite folgte um 22 Uhr, samstags war schon 17 Uhr der Beginn, sonntags eine Matinee. Über die Intention gibt ebenfalls das Programm von 1997 Auskunft: »Der klassische Stummfilm ist bloß der Bildteil eines (multimedialen) Gesamtkunstwerks, einer Performance, die nur live möglich ist – als einmaliges Erlebnis, immer wieder neu interpretiert, aktuell und überraschend. Genau das ist der Stoff, aus dem das Stummfilmfest gemacht ist.« Eine gewisse Ähnlichkeit der beiden Festivals in Erlangen und Esslingen ist nicht zu verkennen. Aber Wolfgang Trostorf, verantwortlich für das Stummfilmfest am Neckar, hat mit derlei partiellen Überschneidungen keine Schwierigkeiten. Ohnehin liegt in Esslingen der Akzent eindeutig auf der Musik. Ins Programm aufgenommen werden fast ausschließlich Filme, jedenfalls ist das mein Eindruck, die auch mit einer neuen oder neuartigen musikalischen Begleitung angeboten werden können. Da bleibt wenig Raum für Improvisation. Es häufen sich die Weltpremieren, so 1997 CYANKALI in Koproduktion mit den Esslinger Studiokonzerten, Musik von Albrecht Imbescheid, Text von Peter Paul Pachl, INOLERANCE in der Neuvertonung der Jazzmusiker Tom Cora, New York,

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auch in bester Absicht gedrehten Aufklärungsfilm GESCHLECHT IN FESSELN begeistern, um froh zu sein, auch das mal gesehen zu haben.


und Phil Minton, London, und TWO STARS, ein chinesischer Film von 1932 mit der Musik des an der Filmakademie Ludwigsburg lehrenden Komponisten Cong Su, vorgetragen vom Kammerensemble des Staatsorchesters Stuttgart. Auch zwei Deutschlandpremieren standen auf dem Programm: LUCKY STAR von Frank Borzage, bei der Aufführung begleitet von dem Briten Adrian Johnston, und Die Briefe des fliegenden Holländers, eine Art Multimediashow aus dem Anfang des Jahrhunderts: Laterna magica, Serpentintanz, frühe Filme, Conférenciers; Musik: Ulrich Rügner. Die Zusammenarbeit mit arte ist hervorzuheben. Schon 1995 wurden zwei arte-Produktionen geboten: TABU, Musik von Violeta Dinescu, vorgetragen vom ensemble KONTRASTE, und SODOM UND GOMORRHA von Michael Kértèsz (nachmalig Michael Curtiz), Musik von Bernd Schultheis und Stefan Traub. 1997 DIE BÜCHSE DER PANDORA, Musik Peer Raben, und LES DEUX TIMIDES, Musik Bernd Schultheis. In der Regel ist Frank Strobel der Dirigent; er hat zudem in Esslingen des Status eines Beraters. Auch hier gibt es Expertenrunden und den Brückenschlag in die Gegenwart, wenn beispielsweise ein Multimedia-Musiktheater mit Video, Elektronik und Live-Musik (von Cong Su) angeboten wird.

DER VERLORENE SCHATTEN, SUMURUN und ALRAUNE. Ein ähnliches Repertoire-Programm mit überwiegend deutschen Stummfilmen wurde auch die folgenden Jahre geboten. 1998 waren es 13 Beiträge, darunter FAUST, SALOMÉ, DER UNTERGANG DES HAUSES USHER, ASPHALT, RASKOLNIKOFF, TAGEBUCH EINER VERLORENEN und LIEBE IM RING. Wie die Bonner Stummfilmtage ist auch die Regensburger Stummfilmwoche eine Sommerkino, wie jenes findet auch dieses als open-air-Veranstaltung statt, wie jenes in einem Innenhof, hier ist es der Innenhof des Thon-Dittmer-Palais in Regensburgs alter Innenstadt. Beide Festivals haben überdies gemeinsam, daß sie sich nicht so sehr als Forum für Fachleute und von auswärts anreisende Besucher verstehen, vielmehr sehen sie sich dem lokalen Publikum gegenüber in der Pflicht. Bei beiden liegt der Akzent auf der Präsentation von Filmen, dies in authentischer Form, das heißt mit Musikbegleitung, in möglichst vollständigen Fassungen und mit möglichst guten Kopien. In der Regel »begnügt« man sich mit einer Klavierbegleitung. Interpreten sind zum Beispiel Joachim Bärenz, Yogo Pausch und Aljoscha Zimmermann.

Gleichwohl. Es gibt arte. Und es gibt in arte/ZDF die von Nina Goslar betreute Sektion Stummfilm. Einmal im Monat wird ein Stummfilm gezeigt (wenigstens annähernd einmal im Monat). Es werden zwar nicht mehr wie früher Restaurierungen im Sender selbst vorgenommen, man arbeitet (kostensparend) lieber mit den Filmarchiven zusammen, übernimmt deren Arbeitsergebnisse und investiert das Geld stattdessen in Musik-Aufträge. In den letzten vier Jahren waren laut Sender auf dem Sektor Stummfilmmusik 14 Neuproduktionen zu verzeichnen, darunter neun Auftragsproduktionen. Zu den Komponisten zählen neben den schon andernorts erwähnten etwa Taras Bujewski (GENERALNAJA LINIJA), Anne-Marie Fijal (DER BRENNENDE ACKER), Ashley Irwin (DIE WEISSE HÖLLE VOM PIZ PALÜ), Alexander Popov (SEMLJA) oder Henning Lohner (ORLACS HÄNDE). In der Regel liegt die Leitung der Neuproduktionen in den Händen von Frank Strobel. Man bevorzugt den live-Mitschnitt anläßlich von Aufführungen im öffentlichen Raum – in der Alten Oper Frankfurt oder, wie schon erwähnt, bei den Internationalen Stummfilmtagen in Esslingen.

arte/ZDF

Regensburg

on arte war schon die Rede. arte führt fort, was in den siebziger Jahren unter Jürgen Labenski und Gerd Luft im ZDF mit viel Verve begonnen wurde (Lothar Prox schrieb darüber in »Stummfilmmusik gestern und heute«, Berlin 1979). Aber arte ist, wie jeder weiß, ein Reservat, ein Alibi, und Stummfilm darin nur eine Nischenerscheinung und verflogen ist die Hoffnung von einst, daß der Stummfilm eine feste Größe innerhalb der Sender werden könnte.

Noch einmal Fritz Güttinger (a.a.O): »Früher, als das Kino noch nicht gesellschaftsfähig war, glaubten manche vorgeben zu müssen, der Musik wegen ins Kino zu gehen; heute nehmen sie tatsächlich an einem musikalischen Ereignis teil, mit einem Begleitfilm im Hintergrund als Zugabe. Der Stummfilm, einst Massenunterhaltung, wird zu einer Angelegenheit für Wallfahrer.«

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ie Regensburger Stummfilmwoche existiert bereits 16 Jahre und ist damit »die traditionsreichste Einrichtung dieser Art in Deutschland«, wie es in einem Positionspapier der Veranstalter, des »Arbeitskreises Film e.V.« heißt, der die Stummfilmwoche zusammen mit der Volkshochschule der Stadt durchführt. Man begann 1983 mit fünf Filmen: RÜBEZAHLS HOCHZEIT, DER GOLEM,

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Schon wahr. Aber noch einmal: Wo denn wäre der Stummfilm heute ohne die Musik?


Giornate del Cinema Muto und Il Cinema Ritrovato Stummfilmveranstaltungen in Italien von BODO SCHÖNFELDER

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ie beiden wichtigsten Veranstaltungen in Europa zum bzw. über Stummfilm finden erstaunlicherweise in Italien statt: Die Giornate del Cinema Muto in der friaulischen Kleinstadt Pordenone, zwischen Venedig und Udine gelegen, und die Il Cinema Ritrovato in Bologna. Erstere sind aus einer studentischen Kulturinitiative hervorgegangen, die nach einem verheerenden Erdbeben ins Leben gerufen wurde, letztere aus einer Veranstaltungsreihe, die man am ehesten mit den in Deutschland an verschiedenen Orten stattfindenden Tagen des Unabhängigen Films vergleichen kann. Die Giornate del Cinema Muto finden traditionell Anfang/Mitte Oktober statt, die Il Cinema Ritrovato wurde nach einem FIAF-Kongress vom November in den Sommer geschoben. Ende Juni/Anfang Juli ist inzwischen der Termin. Beide Veranstaltungen dauern acht Tage (Samstag bis Samstag). Die »Woche« in Pordenone wird organisiert vom kleinen Filmarchiv in Gemona (Friaul) in Zusammenarbeit mit dem sehr aktiven lokalen Filmclub, der schon eher so etwas wie ein Kommunales Kino ist und eine eigene kleine Zeitschrift herausgibt. Veranstaltungsort ist ein Kulturpalast für Film und Theater aus der MussoliniZeit, das CinemaTeatro Verdi, das ca. 800 Sitzplätze faßt und von

dem jedes Jahr das Gerücht geht, es werde abgerissen. Neben den Stummfilmen werden in einem kleinen Nebenraum Spezialvorführungen organisiert oder neueste Projekte auf Video oder Laserdisc vorgestellt. Unregelmäßig finden kleine Symposien statt. Seit kurzem werden auf einer kleinen Buchmesse neueste und antiquarische Literatur und CD-Roms präsentiert. Pordenone ist seit seinen kleinen Anfängen zu dem Treffpunkt schlechthin für Filmhistoriker mit Schwerpunkt Stummfilm und andere Interessierte geworden. Nirgendwo sonst kann man soviele amerikanische Experten treffen. Mehrere hundert »Verrückte« »fallen« jährlich in diesen kleinen Ort ein, der in bezug auf Gastronomie und Hotellerie an seine Grenzen gestoßen ist, so daß man immer wieder von Verlegung spricht. Allerdings ist die lokale Akzeptanz sehr groß. Die nach zuverlässigen Angaben reichste Gemeinde Italiens unterstützt die Veranstaltung großzügig, obgleich die Rezession auch hier nicht spurlos vorübergegangen ist, so daß am Musikprogramm, das jede Filmvorführung begleitet, gespart werden mußte. Spektakuläre Projekte gibt es nur noch zur Eröffnung und zum Abschluß. Eintritt kosten nur die Abendveranstaltungen. Begleitend erscheinen neben Sonderausgaben der zweisprachigen Zeitschrift des Archives in Gemona, Griffithiana, je nach Jahr mehrere Publikationen.

Postkarte aus Pordenone. Auch ein Beispiel für Farbe im frühen Stummfilm: nachempfundene Viragierung (siehe Umschlagseite)

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Als latenten Schwerpunkt kann man in den letzten Jahren das amerikanische Stummfilmschaffen ausmachen. Eine gewisse Tradition haben auch Stummfilmkomödien. Daneben gibt es weitere wechselnde Schwerpunkte: Personen, Länder, Genres, Neugefundenes und Restauriertes. Für Überraschungen sorgten u.a. eine Aufarbeitung des deutschen Stummfilmschaffens jenseits der Klassiker mit der Entdeckung Franz Hofers und der russische Stummfilm vor 1917. Das derzeit größte Vorhaben ist das Griffith-Projekt, das weit über das Jahr 2000 hinaus das Gesamtwerk dieses Stummfilmregisseurs jahrgangsweise vorstellen und filmographisch aufarbeiten will. Inzwischen ist Pordenone ein Synonym für Stummfilmenthusiasmus. Die Atmosphäre hat etwas von einem Freundestreffen und einem Fest. Einer der Gründer, Paolo Cherchi Usai, ist inzwischen Nachfolger Christopher Horaks am George-Eastman-House.

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her wissenschaftlich gibt sich die Veranstaltung in Bologna. Das liegt zum einen daran, daß die verantwortliche Kinemathek in den universitären Ablauf der ältesten Hochschule Europas eingebunden ist. Zum anderen an der Größe der Kinemathek, die filmhistorisch sehr aktiv ist. Das äußert sich z.B. darin, daß das angeschlossene Labor Imagine Ritrovato als eines der besten Restaurationslabors gilt. Veranstaltungsort war bisher das »Kommunale Kino« Lumière im Studentenviertel der Stadt. Wegen steigender Besucherzahlen ist man 1998 in ein größeres Kino umgezogen. Die Abendveranstaltungen sind als Open Air Kino mit attraktiver Musikbegleitung in historischen Innenhöfen konzipiert. Spektakulären Charakter hat die Eröffnungsveranstaltung auf der Piazza Grande. Seit einigen Jahren tritt das Niederländische Filmarchiv als Mitveranstalter auf. Angesichts des kulturellen Angebots in Bologna kann Il Cinema Ritrovato nicht so in Erscheinung treten, wie die Vergleichsveranstaltung in Pordenone. Das internationale Publikum kommt meistens aus Europa, ein Fachpublikum, das die Wissen-

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schaftlichkeit der Filmforschung vertritt. Auch das bedeutet geringere Publikumszahlen. Diskussionsveranstaltungen und Seminare unterschiedlicher Ausrichtung und Größe haben Tradition. Als Besucher muß man sich immer wieder zwischen »Film und Wissenschaft« entscheiden. Inzwischen wird die eigene Zeitschrift Cinegrafia zweisprachig herausgegeben. Schwerpunkt der Il Cinema Ritrovato war ursprünglich der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm. Erst im Laufe der Jahre verschob er sich zum Stummfilm. Aber immer noch gibt es einen vergleichsweise hohen Tonfilmanteil, z.B. mit der Vorstellung verschwundener Tonfilmverfahren. Inhaltlich ist man eher auf das europäische Stummfilmschaffen ausgerichtet. Stärker als in Pordenone werden italienische Filme vorgestellt. Dafür wechseln die einzelnen Schwerpunkte: Erster Weltkrieg, NonFiction, Expeditionsfilme etc. Seit einigen Jahren hat man, offensichtlich auch aus Finanzund Popularitätsgründen Personenwerkschauen eingeführt: Rudolfo Valentino, Greta Garbo, David Fairbanks. Die Arbeit der Organisatoren ist inzwischen mit einer zweimaligen Auszeichnung mit dem französischen Orden »Chevalier des lettres et des arts« gewürdigt worden. Einige Jahre hat es zwischen den beiden Veranstaltungen einen überflüssigen Konkurrenzkampf um öffentliche Aufmerksamkeit gegeben, der sich u.a. darin äußerte, daß man sich stritt, welcher Film, wo laufen durfte. Neben möglichen Subventionsfragen dreht es sich wohl auch um die Tatsache, daß die Veranstaltung in Bologna trotz höherer Geldmittel in einer bedeutenden Großstadt einen geringeren Bekanntheitsgrad als die in Pordenone besaß und in gewisser Weise immer noch besitzt. Mit dem neuen Direktor in Pordenone, David Robinson, der schon immer gute Kontakte zu Bologna besaß, scheint eine Entspannung eingetreten zu sein, die der Aufarbeitung der Stummfilmgeschichte nur gut tun kann.


Aphoristisches zur Farbe im Stummfilm

von IRMBERT SCHENK

1 von denen, die sich mit der Geschichte des Stummfilms, insbesondere der Zeit der kurzen Filme, aber auch dem zweiten oder dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts beschäftigen, bezweifelte die Richtigkeit des Vergleichs jener Tätigkeit mit der ‘Archäologie’ – obwohl wir ja insgesamt nur einhundert Jahre Filmgeschichte zählen... Am wenigsten daran zweifeln dürften jene, die sich in den ‘Ruinen’ der Filmgeschichte materiell mit dem Suchen, Sammeln, Restaurieren und Rekonstruieren von Film-’Scherben’ befassen. Doch sitzen auch wir, die wir ‘nur’ über Filmgeschichte reden, im gleichen philologisch recht unbefriedigenden Boot: daß wir nämlich selbst im Falle schönster Trouvaillen und größter Mühen nie wirklich sagen können, ob wir es mit einem ‘Original’ zu tun haben. Zu fragen ist sogar, ob wir überhaupt ein Original kennen können. Die Technik und der Tausch- wie der Gebrauchswert des Massenmediums Film/Kino verweigern uns gleichermaßen – zumal im frühen Abschnitt seiner Geschichte – die Gewißheit der Kunstwerks-Originalität der etablierten Künste und der Literatur. 1 (Wozu als weitere Frage die der individuellen bzw. individualisierbaren Autorenschaft kommt.)

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Farbe im Stummfilm’ bedeutet dann ‘Archäologie in der Archäologie’ – wie es möglicherweise bald für den ‘Ton im Stummfilm’ erneut gelten wird. Einmal weil wir davon noch weniger wissen als vom frühen Film allgemein – auch zudem wissen können, weil sich Farben teilweise auch pysikalisch verflüchtigt haben; zum anderen gilt dies aber auch in einem doppelten Sinn: weil sie in unserem Bewußtsein nicht so leicht Platz finden: Film, jedenfalls der Stummfilm hat schwarz und weiß zu sein. Es ist die tatsächliche oder vermeintliche Schwarz-weiß-Ästhetik der Filme der 20er Jahre, die die sinnliche Basis für Normierung von Filmästhetik gelegt hat. Die Verdoppelung des Archäologischen, bestenfalls Musealen, in Bezug auf die Farbe geschieht also durch die Verbindung von schwacher Materialbasis, geringem Kenntnisstand und normativer Abneigung. Aufgrund unserer Fixierung auf den fiktionalen Film und dessen Spielhandlung kommt beim frühen Film noch dazu, daß – zunächst unabhängig von der Frage der Farbe – ein Teil unserer zentralen, der Literatur- und Sprachanalyse entliehenen Untersuchungsinstrumentarien wenig ergiebig ist: die Filme sind vor 1910 einfach zu kurz dafür. Dies wurde immerhin in den letzten Jahren durch die Untersuchung des Umgangs mit Raum und Zeit auch im frühen Film vor der Verbreitung der ‘Montage’ erfreulicherweise kompensiert. Doch ist in diese Erweiterung unserer filmhistorischen Kompetenz bei der ungünstigen Materiallage dann auch noch die Farbe einzubeziehen? Welche Funktion hatte sie überhaupt – war sie

gestalterisch oder gar dramaturgisch intentional angelegt oder autorenunabhängiger Zufall, da ja zumeist ‘Post-Produktion’ im wörtlichen Sinn? War sie nützlich für die filmische Wirklichkeitsrepräsentanz beim Zuschauer oder für sein sinnliches Amüsement oder nur ‘für’ seine Kaufkraft? Solche Fragen scheinen zufällig wie die Behauptung einer Farbästhetik an dieser Stelle noch willkürlich ist, gleichwohl beschreiben sie wichtige Forschungsaufgaben. Versucht man eine Antwort, wird schnell klar, daß wir bestenfalls ganz am Anfang einer solchen Forschung stehen. Wenn dies zutrifft, scheint es mir fürs erste angebracht, unbefestigte Fragestellungen und allenfalls Antwortversuche zu sammeln, eben Bruchstücke in Richtung auf Erkenntnis: Aphoristisches.

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Als Hauptmedium der Vorgeschichte des Film muß die Fotografie gelten. Sie entsteht um 1839 und ist am Ende des Jahrhunderts bereits relativ verbreitet und technisch und sozial verfügbar. Früh möglich und erfolgreich ist auch die Farbenfotografie, durch nachträgliche Kolorierung (handkolorierte Daguerrotypien), bald aber auch schon durch Farbenprozesse mit optischer und/oder chemischer Aufnahme- und Entwicklungstechnik. Farbig waren zumeist auch die zwischen Fotografie, Malerei, Graphik und Theater liegenden kinetischen Schau- und Sehkünste des 19. Jahrhunderts, die Panoramen, Dioramen, optischen Theater, Nebel- und Lichtbildprojektionen, Panoptika, Mutoscope etc. Wen sollte es dann wundern, daß die ‘Photographies animées’, die ‘Bewegungsbilder’ des Kinematographen nach der ‘Sensation des Neuen’, der fotografischen Wiedergabe zusammenhängender Bewegung von Objekten ‘wie in der Wirklichkeit’, ebenfalls bald die Farbe suchten, die Anknüpfung an den technologischen Stand des Vormediums. Dieses Suchen und Finden geschieht mit immer neuen Verfahren, mit denen die Attraktivität wie die Konkurrenzfähigkeit des Massenmediums bei unterschiedlichen Publika und in unterschiedlichen Zeitabschnitten erhöht werden kann – über sehr lange Zeit mit der Erfinder- und der Verwerterperspektive, die Perfektion der Wiedergabe äußerer Wirklichkeit (oder zumindest des Surrogats davon in konventionierten Farbstimmungen) voranzutreiben. Ryan führt in seiner Technikgeschichte des Kinofarbfilms bis zum Drei-Farben-Technicolor im Jahre 1932 allein für den angelsächsischen Bereich ca. 40 verschiedene Farbverfahren auf. Mehnert und Koshofer beschreiben weitere europäische Verfahren, Thomas’ Büchlein zum britischen Kinemacolor detailliert anschaulich die Geschichte jenes Naturfarben-Verfahrens. Von den praktisch mit Aufkommen des Films in großer Zahl verbreiteten Handcolorierungen der Kürzestfilme von 20 bis 50 m Länge (in Manufakturen mit bald 50 Frauen), die später durch zunehmend mechanisierte

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Wer


…im Stummfilm Schablonenverfahren (in Fabriken mit bis zu 400 Arbeiterinnen, z.B. bei Pathé in Vincennes um 1910) abgelöst wurden, wissen wir. Wir wissen auch, daß sich das Maschinenkolorierungsverfahren bei Mehrfarbendrucken (bis 1920) wegen des Aufwands für das Ausstanzen der Leerfilmkopien nur bei großer Kopienzahl lohnte. Wo aber sind die folglich zahlreichen Filme geblieben und wie sind sie – im Hinblick auf ihre Farbigkeit – zu untersuchen? Das ebenfalls schon vor 1900 gebräuchliche, später dann industriell genutzte ‘Tinting’ und das danach aufkommende ‘Toning’ (resp. Virage und Tönung) oder die Kombination beider in ganzen Filmen oder Sequenzen oder Szenen oder Titeln sind uns besser bekannt, weil sie uns heute häufiger begegnen, doch sollten uns auch hier philologische Zweifel kommen, sowohl bezüglich der Gleichheit einzelner Kopien wie bezüglich des historischen Bezugs zur Konvention der Stimmungswertigkeit der zugeordneten Farbtöne, selbstredend abgesehen vom farblichen Erhaltungszustand des Materials. Analytisch dürfte zudem als entscheidendes Dilemma gelten, daß wir zur Urheberschaft und zur gestalterischen Intentionalität dieser Einfärbungen auf Nitro-Positiv-Kopien in fast allen Fällen wenig sagen können. Hatte der Regisseur damit zu tun, waren es andere künstlerische Arbeitsteilungen, oder waren es reine Vermarktungsgesichtspunkte? Von ‘Farbdramaturgie’ zu sprechen fällt demzufolge schwer – von ‘Farbwirkung’ aus anderen Gründen ebenfalls. Der Einbezug von Farben in die Aufnahmegestaltung war schon früh möglich in den zahlreichen Techniken mit natürlichen Farbprozessen, sei es im additiven oder später im subtraktiven Verfahren der Farbenteilung. Allerdings ist nicht nur die Farbqualität des bis nach 1930 üblichen zwei-Farben-Systems problematisch, sondern vor allem die technischen und finanziellen Rahmenbedingungen (Licht, Filmgeschwindigkeit; Hardware im Aufnahmewie im Vorführbereich), was dazu führt, daß einzelne Filme zwar großen Erfolg beim Publikum haben, daß aber insgesamt nur relativ wenig Filme entstehen. Das gilt für das englische KinemacolorVerfahren mit vorwiegend dokumentarischen Filmen wie für die in den USA gedrehten Spielfilme im abgewandelten Prizmaverfahren und dem Zwei-Farben-Technicolor vor allem in den 20er Jahren. Für uns ist dabei problematisch, daß die Zahl dieser Filme gering ist im Vergleich zu den mit anderen Verfahren eingefärbten und daß wir außerdem Probleme mit den Projektionsverfahren zur ‘Wiedererweckung’ der Farben haben, daß also theoretisierende Äußerungen auch schon deshalb schwierig sind.

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Mir scheint, daß allmählich eine Zusammenfassung der vielen Fragen nicht mehr zu vermeiden ist: wie lang werden wir es uns weiter leisten können, bei der Filmgeschichtsschreibung und

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der Filmanalyse des Stummfilms auf den Faktor Farbe zu verzichten – wohl wissend, daß ein großer Teil der Filme der ‘ersten Zeit’, des früher »primitiv« genannten Kinos hand- bzw. schablonenkoloriert war (bzw. in zwei Versionen, schwarz-weiß und farbig verkauft wurde) und daß im zweiten Zeitabschnitt, den 10er Jahren, Virage oder Tönung oder beides zusammen sehr vielen Filmen – den meisten Filmen?! – beigefügt war? Wobei die ‘natürlichen’ Aufnahme- und Wiedergabeverfahren noch unberücksichtigt bleiben. Wie sollen wir deduzieren, wie farbig irgendwo gefundene (zwangsläufig schwarzweiße) Negativkopien als Positive geworden wären, wie farbecht gefundene Positivkopien überhaupt bzw. noch sind (nicht zu reden vom allgemeinen Problem der Vollständigkeit des Materials), wer die Färbung wie für welchen Markt und welches Publikum gemacht hat, wieviele Färbungen ein Film erfuhr, wie weit die Färbung intentional in der Absicht des Filmemachers/Regisseurs lag oder arbeitsteilig künstlerisch oder rein kommerziell vorgenommen wurde. Die Reihe der philologisch offenen Fragen ließe sich lange fortsetzen... Abkürzend seien ein paar Konsequenzen für die filmgeschichtliche und filmtheoretische Arbeit aus diesem Stand der Materiallage angedeutet. Wirft die zuletzt gestellte Frage nicht von neuem das Entscheidungsdilemma auf, zwischen Film/Kino als Kunst auf der einen und als Massenmedium auf der anderen Seite wählen, folglich methodologisch und theoretisch reagieren zu müssen? Hält dann unser vorzugsweise der Literaturwissenschaft entlehnter Werkbegriff mit der Zuordnung von ‘Original’ und ‘Autor’ noch?

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ach der Klärung solcher allgemeiner Parameter ist zugunsten der Erweiterung der Filmgeschichtsschreibung differenzierter zu fragen, was Farbe für die neueren Erkenntnisse über die Stummfilmgeschichte bis 1920 bedeuten könnte. Wir sind übereingekommen, den frühen Abschnitt der (Spielfilm-)Filmgeschichte nicht mehr das »cinéma primitiv« zu nennen, weil wir vermuten, daß die Darstellung von Raum und Zeit trotz der Theaterperspektive und den unverbundenen Szenen-Tableaus im Zusammenhang der historischen Darstellungs- und Wahrnehmungsverfahren komplexer ist als der äußere Anschein uns bislang aufgegeben hat. 2 Zu beachten ist der intermediale Bezug einzelner Szenen nach außen wie der intertextuelle Bezug zueinander, der die statische Separation der Szenen bzw. Einstellungen flexibler macht, wodurch der Zuschauer früher und tiefgründiger als vermutet die filmische Repräsentation nicht-linearer Raum-Zeit-Beziehungen erlernt. Könnte dies möglicherweise durch die Farbigkeit des Gesehenen initiiert oder bestärkt werden, einmal durch den intermedialen Vergleich, zum anderen durch die stärkere Distinktion von Formen und Bewegungen in der Wahrnehmung? Warum sollte diese Distinktion eo ipso nicht in die gleiche Richtung wirkungsmächtig sein, in die dann die Bewegung der Kamera und der Objekte vor der Kamera geht, die wir als Evolu-


Bestand des niederländischen Filmmuseums – einige hundert Filme, alle ausser einem in Farbe – durchaus nicht immer diese Farbkonventionen bestätigt. Wenn dies aber so ist, dann kommt Abweichungen oder Variationen des Schemas eine besondere Bedeutung im Darstellungsmodus und wahrscheinlich auch in der Erzählweise zu. Eben dies gilt – im Umkehrschluß und verallgemeinert – für Farbe im stummen Film ganz generell, sowohl für das Medium als eine der Schaukkünste wie für den einzelnen Film als Erzählung, unabhängig von der je gewählten Farbtechnik. Die Geschichte des Stummfilms als Geschichte der frühen Filmästhetik kann ohne Berücksichtigung der Farbe folglich nicht mehr geschrieben werden. 10 Dies ähnelt aber einer Aporie: woher das farbige Material für die Analyse als Basis der Theoriebildung nehmen? Womit wir wieder bei der Archäologie und der Bruchstück-Philologie vom Anfang wären – mit dem Unterschied, daß die Ausflüge in die Problematisierung und die Theoriebildung verdeutlichen, daß das Bruchstücksuchen und -sammeln für sich allein nicht befriedigen kann. Unzweifelhaft ist doch, daß kein Kunsthistoriker eine ikonographische Arbeit anginge ohne Berücksichtigung der Farbe...

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An diesem Punkt, an dem sich die Crux der Beschäftigung mit dem frühen Film artikuliert, sei als Menetekel für die Zukunft – für die Zeit nach der Lösung des Farbproblems – noch auf ein ähnliches aber noch unbefestigteres, weil zumeist immateriellverflüchtigtes ‘Grabungsfeld’ hingewiesen: den Ton im Stummfilm. So wie viele Filme dereinst farbig waren, so waren sie auch so gut wie nie »stumm«. 11 Nur: von den wenigen Fällen abgesehen, wo der Ton uns vermittelt auf Walze oder Platte (mit oder ohne Synchronmechanismus) oder in Partitur erhalten ist – nie auf dem Primärmaterial Film, können wir ihn materialiter gar nicht rekonstruieren. Er war singuläres Ereignis, nicht nur zu jedem Film, sondern in der Regel zu jeder einzelnen Vorführung; meist zudem nicht homolog, sondern improvisiert hic et nunc. Der Ton zum Film trat dabei in den vielfältigsten Formen auf (Publikums- und Kino-Off-Geräusche nicht mitgerechnet): als Musik, als Geräusch, als Prosa-Monolog, Dialog oder Sketch, Lied, Arie usf., leibhaftig präsent oder mechanisch reproduziert oder beides zusammen. Der Klavierspieler (oder Kinoorgel-, Harmonium- oder Geigenspieler oder.... als musikalischer Untermaler) ist uns wieder bekannt, ebenso das kleine Ensemble, das Kammer- oder große Orchester können wir uns vom Theater her gerade noch vorstellen; vielleicht auch einen Geräuschmacher oder eine entsprechende Maschine, wie aber steht es, um den kompliziertesten Fall des nicht Rekonstruierbaren und auch nicht mehr Vorstellbaren zu nehmen, mit dem Filmerzähler 12 oder den hinter oder vor der Leinwand postierten Dialog- oder MehrpersonenTextsprechern?

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tion der Filmsprache in diesem frühen Abschnitt der Kürzest- und Kurzfilme feststellen? Könnte Farbe nicht ‘Bewegung’ in die einzelnen Tableaus und deren Abfolge bringen, die »Autarchy of the tableau« 3 modifizieren? 4 Das gleiche gilt – ebenso hypothetisch – auch für die Gewinnung des Raums als Tiefenraum, die Nutzung von Tiefenschärfe und die Entfaltung der filmischen mise-en-scené, wobei auch eine ‘innerpsychische Wirk-Dimension’ nicht außer Betracht bleiben sollte: die Bewegung der Phantasie- und Assoziationstätigkeit des Zuschauers durch die Farbigkeit der Bilder (und möglicherweise der Klangverbindungen von Bildern...). Farbe könnte das, was wir, sozusagen dramengeschichtlich orientiert, bis vor kurzem als ‘Primitivität’ von Darstellungsweise und Erzählstruktur im frühen Film zusammengefaßt haben, abgemildert und in ‘Bewegung’ gebracht haben. Wenn wir von den Einzelfällen vorweggenommener Evolutionserscheinungen filmischer Ausdrucksmittel absehen, wie sie uns in den schönen Arbeiten von Sanderson 5 bis Salt aufgezeigt wurden, und uns auf die breite Entwicklung der »Filmsprache« von der Bewegung der Kamera bis zur Parallelmontage beziehen, dann finden wir seit 1905, verstärkt ab 1907 und definitiv ab 1911 einschneidende Entwicklungssprünge. Äußeres Kriterium dafür ist die Zunahme der Filmlänge als Faktorenkombination von TechnikFortschritt, (Makro-und Mikro-) Marktinteressen und Publikumsbedürfnissen. Die längeren Filme erfordern veränderte Erzählverfahren, die Zunahme an Handlungsquantität bedingt größere Komplexität und fordert zur Vermittlung ans Publikum die Steigerung der Darstellungsqualität – die ‘Neuheiten-Attraktivität’ des Mediums als solche wie nach 1896 und der Charakter des »Cinéma des attractions« alleine reichen nicht mehr aus. Eine unumgängliche Antwort auf diese Anforderung stellt die Filmmontage als Kompression der Raum-Zeit-Repräsentation in Kinoraum und Kinozeit dar. Könnte es nun nicht sein, wie ich vermute, daß der Farbe – sei es in der Hand- oder Schablonenkolorierung, sei es in der Viragierung – Orientierungs- und Gliederungsfunktionen für den Zuschauer zukommen, die der Funktion von Montage vergleichbar sind? Eric de Kuyper berichtet, 6 daß er Filme in schwarz-weiß und dann in Farbe gesehen habe, wobei die Erzähldimension der farbigen Kopie wesentlich umfassender gewesen sei (»c’est que jouent une poétique et une estétique de la couleur« 7). Am Beispiel von viragierten Filmen, in denen durch Farbwechsel Zwischentitel überflüssig wurden, weist er die (»mais d’une autre manière«) Montagefunktion der Farbnutzung nach – übrigens mit dem weiterschauenden Hinweis auf Farbe wie »une articulation et une modulation très proche de la musique«. 8 Bei der Virage gehen wir üblicherweise von der Codierung der Farbtöne und der Konvention ihrer Bedeutungen aus: Nacht gleich blau, Wald gleich grün, Brand gleich rot, Innen gleich Sepia- oder kastanienbraun usw. 9 De Kuyper merkt dazu an, daß der


…im Stummfilm Zur Diskussion gestellt sei die Vermutung, daß auch der Ton alle Funktionen unterstützt, die ich oben für die Farbe angedeutet habe – im Bereich der filmischen Repräsentation wie dem der Erzählung oder der Kinopräsentation. Anzunehmen ist darüber hinaus, daß er in einigen Momenten von Wirkung der Farbe nicht nur ebenbürtig ist, sich z.B. mit dieser auch synästhetisch verbündet oder aggregiert, sondern sie sogar übertrifft. Ähnlich der Rolle der Farbe in ‘farbigen Films’ könnte die Funktion der Wirklichkeitsrepräsentanz durch Geräusche bzw. bildsynchron gesprochene Texte sein. Der Farbe ähnlich oder überlegen könnte beispielsweise Musik in jeder Form ob ihrer tendenziellen Abstraktheit fungieren: als Moment der Kontinuität gegenüber den Szenenschlüssen, den Abbrüchen der einzelnen Tableaus, noch vor der Möglichkeit und Erfahrung der visuellen Montage. Da die Konvention der Zuordnung von Inhalten zu musikalischen Melodien sozial sehr verbreitet ist, könnte mit ihr auch die inhaltliche Determinierung der Narration geschehen, d.h. daß Musik nicht nur zugunsten des Erzählflusses, sondern auch zum Nutzen der Bedeutung und des Verständnisses beiträgt. Ohne weitere Funktionen von Musik anzudeuten, sei noch einmal auf die Verbindung von Farbe und Klang hingewiesen, die möglicherweise so etwas wie eine Meta-Textebene konstituiert, welche eigenständige Wirkungen bzw. Modalitäten der psychischen Aufnahme nahelegt. Deutlicher verweilen möchte ich auf einem anderen Moment des Tons beim frühen Stummfilm: seine improvisierte Einmaligkeit im je einzelnen Kinogeschehen, das auch ein einmaliges soziales Geschehen ist. Der Musiker agiert und reagiert mit dem Publikum. Er muß sich sowohl innerhalb von dessen Musikvorstellung wie im Bezug auf den Film bewegen. Er vermittelt gewissermaßen die ästhetische Orientierung des spezifischen Publikums mit der des jeweiligen Films und des Kinos allgemein (vgl. dazu die gebräuchlichen Arrangements bzw. Potpourris der U-Musik). Nur schade, daß wir dies nicht mehr kennenlernen können. Noch weit interessanter erscheint mir in diesem Sinn die Rolle des ‘Kinoerzählers’, ‘Filmerklärers’, ‘Erläuterers’. Er hat – viel konkreter und inhaltlicher – die eben genannten Aufgaben des Musikers zu erfüllen. Darüber hinaus aber stiftet er dem Film Sinn – sozialspezifisch vermittelt in einer pragmatischen Erfahrungsdimension des gewählten Diskurses. Sinn stiften in den hier verhandelten Epochen des Stummfilms heißt aber zugleich, filmsprachliche Mängel auszugleichen. Auch solche der objektiven Formationsstufe der Filmästhetik – allerdings jeweils auf der Entwicklungsstufe der Filmwahrnehmung der bestimmten Zuschauer. Mit anderen Worten: der Erzähler könnte komplizierte Montageformen bzw. visuelle Assoziationsketten bremsen, vereinfachen; in der Regel des frühen Kinos aber wird er umgekehrt die einfache Erzählweise der Handlung integrativ in Fluß und in Kontinuität bringen: er ‘montiert’ den Film, er

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ersetzt oder erläutert Zwischentitel, er bestimmt den Rhythmus qua Spannungsbogen. Als filmexterne Erzählinstanz kann er so etwas wie »narrative continuity« (Abel) auch schon dort befördern, wo die Filme selbst, wie im Tableau-Film, visuell noch nicht dazu in der Lage sind. Der Filmerzähler wird zum ersten ‘Schnittmeister’ der stummen Filme zugunsten der verständigen Handhabung zunehmend schwieriger Stories und komplexer Narration – wobei er sie beim historischen Aufkommen seiner Funktion wohl komplexer machen und sie an dessen Ende vereinfachen muß. Wenn man diese und andere Bedeutungen des Tons für die Entwicklung der Stummfilmgeschichte in Betracht zieht, wird man mir auch hier zustimmen müssen: eine Darstellung der (Stumm-)Filmästhetik ohne Berücksichtigung des Tons erscheint unvollständig. Vielleicht ließe sich ein Teil der Erforschung der Farbe mit jener des Tons zum beiderseitigen Nutzen verbinden, da – über die Gemeinsamkeit der materialen ‘Archäologie’ hinaus – vor allem mittels der Bildung von Wirkungshypothesen Ähnlichkeiten der ästhetischen Funktion beider Elemente zu entdecken sein dürften, möglicherweise sogar in einem komplexen Sinn der FarbeKlang-Beziehungen (wovon im folgenden noch die Rede sein wird).

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Es geht hier nicht darum, die aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Aphoristisches muß bei soviel Ungewißheit über den Gegenstand als Annäherung erlaubt sein. Trotzdem drängt sich das leidige »Was tun?« auf. Unstrittig erscheint mir die Aufgabe, Primärmaterial zu suchen, sammeln, sichten und zu restaurieren (allerdings mit der Bitte, es dann auch jenen zugänglich zu machen, die sich damit nur theoretisch beschäftigen wollen – vielleicht endlich einfach per Video...). Jenen ‘theoretischen’ Filmwissenschaftlern habe ich vor kurzem vorgeschlagen, sie sollten in ihre Filmgeschichtsschreibung stärker den Gesichtspunkt der Wirkung des Mediums und der Filme einbeziehen – ein wenig zugespitzt bis hin zu Oral historyAnsätzen. Da dies umso schwieriger ist, je weiter zurück der historische Schwerpunkt liegt, sei die allgemeine Leitlinie genannt, die ich damals formulierte: es sollte mehr Rezeptionsforschung geben, durchaus im Sinne der »New Film History« – möglichst sogar über die unmittelbare Anbindung an das Kommunikat hinaus als ‘Rezipientenforschung’. 13 Mit ‘Rezeptionsanalyse’ dürfte das erste Stichwort für unseren schwierigen historischen Gegenstand genannt sein: alle Arten von zeitgenössischen bzw. zeitnahen Zeugnissen und Dokumenten zu sichten, in denen etwas authentisch Erlebtes zum Farbenfilm festgehalten wird. Das kann von Rezensionen von Filmkritikern bis zu autobiografischen Aufzeichnungen beliebiger Menschen gehen. Das gleiche gilt für die Bereiche der Produktion und der Zirkulation


Gründe in unserem Gegenstand selbst hat. Balázs’ Äußerungen stammen aus den Jahren 1924, 1931 und dem Anfang der 40er Jahre; Eisensteins datieren von 1928 bis 1942.

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n »Der sichtbare Mensch« sagt Balázs, daß ihn die »technischen Mängel« [der Naturfarben] »nicht skeptisch« 15 stimmten, vielmehr habe er Sorgen vor dem »vollkommenen Farbenfilm«: »Denn Naturtreue ist nicht immer von Vorteil für die Kunst«. 1931 revidiert er diese Meinung als Irrtum; sie sei gegründet auf »herkömmlichen ästhetischen Begriffen« der bildenden Kunst. »Beim Film stimmt aber das gar nicht.« Film bilde nicht wie die bildende Kunst »die einzelne Erscheinung«, sondern »ihre Beziehung zueinander und den Rhythmus ihrer Bewegung« (S. 145). Film als gestaltete Form entsteht vor allem durch die Montage. »Darum dürfen auch in der Farbe nicht die Einzelbilder bereits ‘gestaltet’ werden, weil sie sonst zu abgeschlossenen Gestalten, zu Gemälden werden, die nicht zueinander hinüberleiten. Die eine Bewegungsgestalt zerbröckelt dann in tausend stehende Bilder.« Für das Gelingen des Farbfilms folgert er optimistisch: »Hingegen wird die genaue Farbenphotographie im Film eine neue Erlebnissphäre für die Kunst erschließen. Diese Erlebnisspähre ist groß und wunderbar, wirkt bis in unser Innerstes, und keine Kunst hat sie noch bisher erfaßt. Am wenigsten die Malerei. Es die Bewegung der Farben.« (S. 146) Die Farbenbewegung, die »uns eine neue Welt entdecken« wird, kann in der ‘Farbenmontage’ »tiefere Verbindung zwischen Bildern schaffen als die formalen« (S. 147). Womit Balázs – übrigens verknüpft mit Hinweisen auf den möglichen Zugewinn an Tiefenperspektive – auf ähnliche Funktionen abhebt, wie ich sie oben der Farbe im Film ebenfalls hypothetisch und spekulativ zugeschrieben habe. Das gilt neben der ‘Montage von Kontinuität’ nicht zuletzt auch für den Bereich der Sinnstiftung und der emotionalen Wirkung: »Farben haben große Symbolkraft, Farben bewirken Assoziationen und emotionale Suggestion. Ungeheuere Möglichkeiten für den Farbenfilm, der kommen wird.« (S. 147) Eisensteins Bemerkungen entstammen der Zeit ab 1928, vor allem dem Zeitraum um 1940. In »Nicht bunt, sondern farbig!« von 1940 sieht er geradezu die Erfüllung der filmischen Evolution im Farbfilm: »Der Stummfilm drängte zum Ton, zur Wirkung des Tons, zum Tonbild – zur akustischen Assoziation. Ebenso organisch drängt unser heutiger Film zur Farbe.« 16 Er selbst hat zu diesem Zeitpunkt noch keine praktischen Erfahrungen mit Farbe gemacht. Auch wenn seine enthusiastische Begeisterung für den Zusammenhang von Musik und Farbe aus der Theaterarbeit mit Inszenierungen von Wagner-Opern herrührt, so ist sie doch im Hinblick auf die experimentelle Entwicklungslinie der Farbe-LichtKlang-Verbindung von großem Interesse; daß sie zugleich Entwicklungsprobleme der Tonfilm-Ästhetik bis zum heutigen Tag

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von Filmen, angefangen von Firmenkatalogen über Inserate zu Kinoreklamen oder Zensurakten. Zum Glück hat die neuere Publizistik zum frühen Stummfilm in den letzten Jahren mit Fleiß und Ausdauer angefangen, sich der Mühe solcher Aufgaben zu unterziehen. Ich habe mehr zufällig als systematisch oder gar repräsentativ in unterschiedlichen Literaturgattungen herumgeblättert – und bin dabei nicht sehr fündig geworden. Am wenigsten fand ich zu meinem Erstaunen in den klassischen Darstellungen der Filmgeschichte, obwohl ich vor allem solche anschaute, die kurz vor, im oder kurz nach Ende des 2. Weltkriegs geschrieben wurden, weil ich vermutet hatte, daß dort noch unmittelbare Kenntnisse von frühen Farbfilmen aus eigener Anschauung vorlägen, zumal davon auszugehen ist, daß die Zahl der kolorierten Filme groß und die der viragierten nach 1910 noch größer war im Verhältnis zu reinen s/wPositivkopien. Gleich ob bei Georges Sadoul, Jacques Deslandes und Jacques Richard, bei René Jeanne und Charles Ford, oder später bei Zglinicki: Farbe kommt immer nur am Rande und faktographisch zufällig vor, sie wird nie selber Bestandteil der Reflektion oder Analyse. Lewis Jacobs z.B. berührt das Thema Farbfilm erst bei der Erörterung des 3-Farben-Technicolor. Auch dort, wo Filmgeschichte vorzugweise als Geschichte von Einzelfilmen dargestellt wird, bleibt die Farbigkeit des Gegenstands fast immer ohne Berücksichtigung. Was sowohl verständlich wie fatal ist, denn wie kann eine Filmanalyse der Aporie entgehen, wenn die Farben, die einst den Zuschauern gezeigt wurden, nicht beachtet werden oder nicht mehr bekannt sind. Es scheint, daß die großen Historiographen der ersten Stunde die Norm der s/w-Ästhetik für den Stummfilm selber so verinnerlicht hatten, wie sie sie an uns weitergegeben haben. Ein wenig beunruhigt hat mich allerdings, daß der erste »Filmhistoriker«, Victor(in) Jasset, in seinen Artikeln von 1911 die Farbe nicht erwähnt. 14 Sollte dies damit zu tun haben, daß doch nicht so viele Filme farbig waren oder daß umgekehrt die Farbe in Filmen eine Selbstverständlichkeit war, oder sollte der Eclair-Regisseur Jasset das Färben für einen so sekundären, ‘außerkünstlerischen’ Vorgang gehalten haben, daß er ihn deshalb nicht erwähnt? Immerhin war er (bis 1913) Zeitgenosse des frühen Films. An Äußerungen von Filmtheoretikern und -praktikern habe ich bei Balàzs und Eisenstein betrachtet, wie sich beide mehrfach, allerdings erst relativ spät äußern. Deutlich wird an ihren Statements nicht nur, daß es keine Theorie für Farbfilm gab und nach wie vor gibt, sondern auch, daß die Farbe – anders als der Ton – in der allgemeinen Theoriebildung eine geringe Rolle spielt. Auch Filmtheorie scheint – wie die Filmgeschichtsschreibung – der Farbe gegenüber weitgehend blind oder hilflos zu sein. Wieder wäre zu fragen, ob das ein Niederschlag der Schwarz-weiß-Norm ist oder


…im Stummfilm reflektiert, sei angemerkt: »Und so können wir aus tiefster Überzeugung sagen, daß der Film die absolute organische Einheit, das heißt die Einheit von Bild und Ton, erst als farbiger Film erreichen wird. Erst dann werden wir dem vollendeten Melodienbogen ein passendes vollendetes optisches Äquivalent zu bieten haben. Und erst dann wird sich die optische Instrumentierung zu einem der Orchesterinstrumentierung vergleichbaren Farbreichtum aufschwingen können. Nur dann wird es gelingen, die Träume eines Diderot, eines Wagner und eines Skrjabin von der akustisch-optischen Synthese Wirklichkeit werden zu lassen, ja noch zu übertreffen.« (S. 200) Wenn Eisenstein die Farbgestaltung mit Musik und Orchester vergleicht, dann befördert er damit die Funktionszumessung der Farbe zu einem eigenständigen und kontinuierlichen Ausdrucksmittel, das – anders als die Musik – durch den ganzen Film hindurch vorhanden ist, in sich Kontinuität aufweist. Allerdings muß auch der Farbgebrauch dramaturgisch dem Filmganzen »im gestalterischen System eines Werks« dienen. Eisenstein stellt »die von der Tradition gebildete ‘Deutung’ der einen oder anderen Farbe« (203) in Frage, er fordert vielmehr dazu auf, »neue ‘feste Verbindungen’ zwischen der Farbe und der Emotion herzustellen«. (203) Besonders deutlich macht er dies 1943 in »Colour and Meaning«: »This means that we do not obey some ‘all-pervading law’ of absolute ‘meanings’ and correspondences between colours and sounds – and absolute relations between these and specific emotions, but it does mean that we ourselves decide which colours and sounds will best serve the given assignment or emotion as we need them«. 17 Wie weit ihm selbst dies 1946 mit der wie historische Malerei erscheinenden Farbsequenz des Gastmahls im zweiten Teil von »Iwan der Schreckliche« gelungen ist, sei hier dahingestellt. Im Hinblick auf den in seinen Erörterungen zentralen Aspekt der Farbwirkung bleiben seine Vergleiche mit dem Ton wie seine Unterscheidungen von Wirkungsarten gerade wegen ihres sehr spekulativen und zum Teil apodiktischen Charakters diskutierenswert. Da ich auf den pragmatischen Gesichtspunkt der Wirkung bei der Geschichte des Massenmediums Film Wert legen, seien nach den vorliegenden verdienstvollen Textsammlungen einige nicht filmschaffende Zeitzeugen aus dem literarischen Bereich angeführt, die in ihren Filmerlebnissen auch zur Farbe sprechen.

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ax Brod geht 1909 in ein »Kinematographentheater« und ist »belustigt«, daß von der »Kassa« bis zum »Saaldiener« alles »pedantisch genau so ist« wie im »wirklichen Theater«. 18 Er fühlt sich »siedend vor Erwarten« und hat das Programm mit den vielen Nummern, d.h. Kurz-Filmen (»belehrend«, »urkomisch«, »sensationell«, »rührende Szene aus dem wirklichen Leben«), studiert – in Brods Text finden wir eine schöne Übersicht über die Gen-

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re-Vielfalt der Programmabfolge: Nach der »Reise nach Australien«, nach der »Wissenschaft« kommen das »Fröhliche« und die »Tragik«, danach »die Zaubereien, geduldig kolorierte tausend Photographien, Verwandlungen der Blumen in Ballettmädchen, Brahminen mit langen Bärten, Übeltäter, denen der Kopf abfällt wie nichts, Schwebende, Reisende zum Mond, Gottheiten, der Teufel.« (Güttinger S. 34) Es schließen sich an »Geschehnisse des Alltags«, dann »Falschmünzer« und »Verbrecher« – das ist aber nur der erste Teil des Programms, die »zweite Abteilung« »überschüttet« ihn erneut mit Bildern vieler Gattungen. Die »Lebendigkeit« der vielen Geschichten läßt ihn »auf dem Heimwege« »zum Erfinder« werden: »denke mir selbst neue Bilder für den Biographen aus« – Bilder, die das Allzuviele des »Kinematographentheaters« ironisieren mit einer gewissen Bewertungstendenz zugunsten von Dichtung und Sprache. 1911 geht Brod mit seinem Bruder Otto und Franz Kafka in Paris ins Kino (»Omnia Pathé«) – noch in ein Nummernprogramm, das er erneut ausführlich mit vielen Details der jeweiligen Handlungsentwicklung beschreibt; darin sehen sie »die Güte irgendeines englischen Königs, handkoloriert, zwischen Theaterrüstungen und einer Ruine (die man aus einem abgebrannten Vorstadthäuschen hergestellt hatte) sich ausleben.« (S. 37) Ob die im Journal Pathé vorgestellte neue Militäruniform »couleur réseda« (S. 38) farbig war oder nur im Zwischentitel angesagt, läßt sich am Text leider nicht mehr feststellen. Alfred Polgar spricht 1911 in »Das Drama im Kinematographen« von »graue[r] Lebendigkeit oder kolorierte[r] Lebendigkeit«. (S. 57) Im Kino ist die ganze Welt zu sehen, »oder das, was wir so nennen. Wenn es aber wieder hell im Saal, so sieht man, daß all dieses graue oder kolorierte Leben nicht die geringste Spur auf der Leinwand zurückgelassen hat.« (S. 57) Polgars Text beweist für diesen Zeitabschnitt eine erstaunlich theoretische Qualität, die auch bereits am Gesichtspunkt der Wirkung orientiert ist. Vergleichend mit dem (dabei schlecht wegkommenden) Theater erkennt er dem Kino die Fähigkeit zu, »unsere Phantasie [zu] lockern und [zu] befreien«. (S. 59) Im Zusammenhang unserer Argumentation erscheint ferner interessant, daß er das Kino mit der Musik vergleicht (er mildert den Vergleich zwar anschließend etwas ab, »aber immerhin tritt etwas Ähnliches ein«): »Solcherart scheint mir der Kinematograph als optisches Phänomen etwas durchaus Verwandtes dem akustischen Phänomen, das wir ‘Musik’ nennen.« (S. 59) Im gleichen Band finden wir weitere zeitgenössische Äußerungen zur Farbe, die alle im Tenor sehr positiv sind und Kritisches nur zu konkreten Ausschnitten bemerken. Der Wiener Apotheker und Romancier Theodor H. Mayer lehnt in seinem langen Aufsatz »Lebende Photographien« von 1912 die »Verbindung von Kinematograph und Grammophon und die kolorierten Aufnahmen« ab. (S. 122) »Die mit der Hand in grellen unschönen Farben bemalten Films


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Ein (hier nur in einem kurzen Exkurs berührtes) Kapitel für sich stellt der Avantgarde-Film der Stummfilmzeit dar und zwar im Hinblick auf die intentionale und theoretische Durchdringung und die ‘Autorenschaft’ der Farbe im Film. In ihm laufen teilweise parallel weiter und teilweise verbinden sich zwei Genealogien, einmal die Herkunft aus Malerei und Farbe, zum anderen die aus Ton/Klang/Musik und Farbe. Die Vorstellung der ‘Klangfarbe’, daß dem Ton Farbwerte und/oder umgekehrt der Farbe Tonwerte entsprechen und daß beide zusammen sich synästhetisch aufwerten können, ist alt; früh fangen auch schon praktische Versuche an, diese Theorien wissenschaftlich und künstlerisch umzusetzen. Der Grenzfall der Farbe-Ton-Forschungen im 19. Jahrhundert konzentriert sich z.B. auf die »audition colorée«, das ‘Farbenhören’: Auftreten von Farbempfindungen beim Hören von Tönen/Musik, seltener umgekehrt das Hören von Tönen bei farbigen Reizen für das Auge. Bedeutsam für unsere Argumentation sind Überlegungen und Versuche zur Chromatik des Lichts und zur Farblichtmusik, filmhistorisch entscheidend wird jedoch die Verknüpfung der Ton-FarbeGenealogie mit jener der Malerei.

D

as Interesse der Maler an der Musik war über den Ton-Farbe-Zusammenhang hinaus begründet einmal in der Immaterialität und Abstraktheit der Musik und zum anderen in ihrer ZeitRhythmus-Kategorialität. Die Abstraktion konnte in die Malerei durch zunehmende Zersetzung des Kanons der Gegenständlichkeit hineingenommen werden, die Zeit-Dimension blieb trotz aller Versuche von Rollbildern und innerbildlicher Kinetik unerfüllt. Sie drängte aber spätestens ab 1900 durch die lebenswirkliche (und lebensphilosophische) Bedeutung des Komplexes ‘Zeit, Geschwindigkeit und Dynamik’ zur Bewegung der Bilder, damit zum kinematographischen Medium, wobei parallel dazu die Experimente zur Farblichtmusik weitergehen. Farbe, Rhythmus, Ton und tendenziell Abstraktion sind den avantgardistischen filmischen Unternehmungen von Anfang an konstitutiv. Dabei treten unterschiedliche Gewichtungen der einzelnen Elemente (auch auf grund unterschiedlicher Techniken) auf, jedoch gehen alle Beteiligten davon daus, daß sich diese Elemente komplementär zueinander verhalten. Fast immer gilt die Analogie von Film und Musik, Film ist eine Verbindung von Malerei und Zeit vermittelt durch Musik. Rhythmisierte Bewegung von Farben und Formen wird als (zumeist einzelbildmontiertes) Kontinuum zum Ausdruck der Zeit-Dynamik des modernen Lebens, wie ihn nur der Film leisten kann. Wenn er schwarz-weiß ist, dann sind es die Formen allein, wenn er farbig ist, sind es die Formen und die Farbtöne, die zur Darstellung dieser Dynamik genutzt werden. Das Werkverständnis ist (wie meist auch die Titel der Filme) ‘intern’ an der Zeitdimension der

75

journal film # 32

finden sich auch heute noch, man stößt hie und da auf Titel wie ‘Thesis Herz, koloriertes (!!) Drama aus der Römerzeit’; aber die Sachen erwecken keinen besonderen Beifall mehr.« (S. 122 f.) Dafür lobt er: »Einen geistreichen Ersatz dafür bieten in neuerer Zeit aus Frankreich importierte Films, die, vom Prinzip des Dreifarbendruckes« ausgehen. Anschließend beschreibt er dann detailliert den Vorgang des Zwei-Farben-Naturfarben-Verfahrens. Kurt Tucholsky schildert in »Rheinsberg« 1912 im beschwingten Stil des Buches einen offensichtlich gefallenden Farbenfilm-Kinoabend, in dem zuerst ein kolorierter Naturfilm (»Malerische Flußfahrt durch die Bretagne«) gezeigt wird. »Der Apparat schnatterte und warf einen rauchigen Lichtkegel durch den Saal. Eine bunte Landschaft erschien, bunt, farbenprächtig, heiter. Die Kolorierung war der Natur getreulich nachgebildet: Die Bäume waren spinatgrün, der Himmel, wie in einem ewigen Sonnenuntergang, in Rosa und Blau schwimmend...« (S. 156) Dann spricht er bei einem wohl viragierten Filmdrama von der Bedeutungskonvention der Farbtöne: »Auf Grund einer freundlichen, stillen Übereinkunft zwischen Filmfabrik und Publikum bedeutet die blaue Farbe Nacht, während die rote die Katastrophe einer Feuersbrunst anzeigt (...)«. (S. 157) In seinem schon im Titel programmatischen »Kino und Schaulust« bemängelt Walter Serner eine zu enge Anlehnung des Kinos ans Theater mit »Kulissen-, Musik- und Farbenunfug« (S. 192), zumal das Theater die »Wollust des Schauens« im Gegensatz zum Kino ohnehin nicht mehr befriedigen kann. An seinen Ausführungen zur Farbe ist nicht erstaunlich, daß er 1913 die Handkolorierung kritisiert, sondern wie er das tut, indem er auf das kommerzielle Motiv abhebt: »der handkolorierte Film aber, auf den ein irrsinniger Geschäftsgeist besonders aufmerksam macht, ist eine übrigens schon mehrmals gründlich mißlungene Zumutung«. (S. 192) Dabei sieht Serner wie alle zitierten Autoren die Bedeutung der Farbe für die Evolution der Filmästhetik außerordentlich positiv: »Gegen farbige Kinematographie ließe sich nichts einwenden: sie müßte, vollkommen erfunden, dem Auge geradezu Ungeheuerliches bieten können«. (192) Interessant ist auch der frühe Verweis von Franz Pfemfert auf den Kinemacolor-Naturfarbenfilm in seinem Artikel »Kino als Erzieher« (nämlich als »der gefährlichste Erzieher des Volkes«) von 1911, nach dem sich vermuten ließe, daß die herkömmlichen Färbungen nichts Besonderes waren: »Der ‘Kinemacolar’ [sic], der neuerdings gezeigt wird, bedeutet auf dem Wege der Photographie in Naturfarben ein gut Stück vorwärts.« (Kaes S. 61) Mir scheint, daß Zeugnisse der Filmrezeption uns zumindest den Stellenwert der Farbe im Kinoerlebnis der Zeit erschließen könnten. Wenn wir die Filme selbst nur mit Schwierigkeit finden und rekonstruieren können, so bleibt uns vielleicht doch der Weg über den Farbeindruck auf zeitgenössische Zuschauer offen.


…im Stummfilm Musik orientiert, wie weit auch ‘extern’ Musik dazukommt, hängt von den technischen Möglichkeiten ab. Das ästhetische Eigenverständnis der Künstler geht dabei soweit, daß sie meinen, den Menschen darüber zu einem völlig neuen, universal verständlichen Kunsterleben verhelfen zu können. Leider wirft auch dieser filmgeschichtliche Bereich heute Probleme auf: ein Teil der filmischen Werke ist nie entstanden (Survage), andere sind, falls überhaupt entstanden, bislang nicht aufgefunden (Gebrüder Ginanni Corradini [Ginna e Corra], Hans Stoltenberg u.a.), bei anderen kennen wir keine (kompletten) Farbkopien. Dies entspricht unserer üblichen Situation. Gravierend kommt allerdings eine theoretische Frage dazu: Wie weit diese avantgardistischen Filme (vom italienischen Futurismus bis zum deutschen absoluten Film oder der französischen Avantgarde der 20er Jahre) in ihrer besonderen Produktions- und Zirkulationsweise überhaupt mit dem Massenmedium Film/Kino vergleichbar sind und welchen Einfluß sie – zum Beispiel im Farbgebrauch – auf die Entwicklung der allgemeinen Filmästhetik gehabt haben. 19 Sie sind im Regelfall von einzelnen Künstlern ‘malerisch’ entworfen und handwerklich hergestellt und finden ein entsprechend in Kunstkennerschaft geübtes Publikum. Insofern sind sie kaum mit dem Kino in eins zu setzen. Gleichwohl erfährt ein Teil dieses Filmtypus’ eine kommerzielle Verwertung in Werbefilmen, bei denen zwar nicht die Abstraktion, aber zum Beispiel die Farbe und die Montage im Rahmen einer wieder eingeführten (zeichentrick-)gegenständlichen Erzählung publikums- und marktwirksam genutzt werden. Avantgarde-Elemente werden hier gewissermaßen hintenherum ins ‘wirkliche Leben’ überführt, wobei gerade der Farbe (in der alten Form der Kolorierung...) besondere Bedeutung zukommt. 20 Unabhängig von diesem neuen theoretischen Problem, ist die Tatsache positiv festzuhalten, daß der Farbe ein solcher Werbeeffekt zugeschrieben werden kann, wodurch zumindest die Attraktivität des Farbenfilms beim Publikum der Stummfilmzeit unterstrichen wird.

8

Zum Schluß meines Beitrags hatte ich vor, harmonisch an eine schöne Sichtungserfahrung aus 1994 zu erinnern. Sie hat sich allerdings jetzt als in doppelter Weise symptomatisch für das Vorgesagte herausgestellt. Ich sah damals im BFA in London die s/w-Sichtungskopie eines Mario Caserini zugschriebenen »Dante und Beatrice« von 1913 mit englischen Titeln. Das Fragment von 430 feet hat mich außerordentlich beeindruckt, mehr: hat mir ob seiner Beschwingtheit einfach sehr gefallen. Am Schluß meiner umfangreichen Notizen schrieb ich »Koloriert!?« mit Frage- und Ausrufezeichen, überzeugt, daß es bei einem so ‘trickreichen’ Film ein farbiges Positiv gegeben haben muß. Der Film kam mir vor wie eine wunderschöne Mischung von Filmtricks einer Féerie von 1904 und

76

solchen von z.B. 1913, alles noch angelegt in einem märchenhaften Erzählstil einer Stationengeschichte, bei der die einzelnen Tableaus allerdings in mehreren, aber gleichbleibenden Tiefenschichten wie in der Kontinuität eines Laufbandes (sowie durch Zwischentitel aus Dante) miteinander verbunden sind. Wenn man so will, handelt es sich um jene Vermischung des ‘Kino der Attraktionen’ mit späteren Aufnahmetechniken, in denen die alte Erzählstruktur nur quantitativ erweitert wird. Das ganze Fragment erschien mir wie ein Feuerwerk von Doppel- und Mehrfachbelichtungen, Bildmasken und Schablonen, Stopptricks und Einzelbildschaltungen, zum Teil in drei und mehr Ebenen über- und hintereinander, die manchmal auch noch gegenläufig zueinander (aber fast immer in den Ebenen parallel zur Kamera, damit theatralisch zur Seite) bewegt werden. Dante und Beatrice auf Wolken zwischen Jupiter und Saturn schwebend, oft mit interessanter Ausleuchtung und Schattenbildung. An einer Stelle sticht ein größer und kleiner, schneller und langsamer aufflackernder Stern ins Auge, der in seiner Leuchtkraft aussieht, als sei er direkt in Schwarzfilm gekratzt. Das Ganze wie gesagt von einer ironischen Beschwingtheit, daß der Gedanke an Farbe sich bei mir ganz unreflektiert einstellte... Ein Anruf in London ergab, daß das Fragment unter anderem auf früher dort vorhandene tintage-Teile zurückgeht, also einst farbig war. Er ergab freilich auch, daß die Katalogdaten inzwischen gelöscht wurden, daß es sich dabei also gar nicht um den vermeinten Film handelt, sondern wohl um einen »Dante und Beatrice« von Unbekannt aus dem Hause »Psyche« und dem Jahr 1911... Ich gebe zu, daß mir das beim Bedenken anderer CaseriniFilme, der Datierung der filmsprachlichen Ausdrucksmittel und der Lektüre der wenigen publizierten Zeugnisse hätte auffallen müssen. Doch hatte ich mir ganz naiv und ohne Reflexion erlaubt, mich der Vorstellung von Farbe hinzugeben, wodurch ich noch mehr in die Wirren der am Anfang geschilderten ‘Archäologie’ gefallen bin. 21


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…im Stummfilm Verdone, Mario: Poemi e scenari cinematografici

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d’avanguardia. Roma: Officina Ediz. 1975

etwaigem Mangel an Zusammenhang entgegen, der

1906/1907, daß die Malerei der Dekors »nur in

Zurhake, Monika: Filmische Realitätsaneignung. Ein

durch die Stummheit begünstigt wurde«. Er behaup-

Schwarz-weiß ausgeführt [wird], mit allen Grautönen zwischen tiefem Schwarz und reinem Weiß.« Das glei-

14 In: Lapierre 1946, S. 83-98. – Méliès betont bereits

Beitrag zur Filmtheorie, mit Analysen von Filmen Viking

tet zuvor – eingebettet in seinen filmtheoretischen

Eggelings und Hans Richters. Heidelberg: Winter 1982

Ansatz – eine größere Wirklichkeitsreferenz einge-

che gilt für das Schminken der Schauspieler. Als

(Reihe Siegen 36)

färbter Bilder, was m.E. noch zu untersuchen wäre:

Grund führt er an, daß die Wirkung der Bilder bei far-

»Das Hinzufügen von Farbe mußte daher die

biger Malerei in der (orthochromatischen; vgl. Cher-

Belebung von Bildern fördern, die, mit Stummheit

chi Usai 1991, S. 9f.) Schwarzweißaufnahme völlig

Anmerkungen:

geschlagen, allzu leicht einen gespenstischen

zerstört würde (aus rot wird schwarz etc.). Zur Ver-

1

Charakter annahmen. Färben war ein Mittel,

wendung speziell hergestellter (nicht natürlicher) Re-

Gespenster zu bannen.« (Kracauer 1964, S. 189)

quisiten führt er zusätzlich den Verweis an, daß

Ganz unabhängig von der Frage, wie weit Filme bis heute erhalten sind: Gerade in der Frühzeit hatte der

Daß Sanderson 1962 resp. 1977 Farbe nicht berück-

»wichtige Filme« oft »handkoloriert« werden, weshalb

chanik...) das selbstverständliche Recht, den Film be-

sichtigen konnte, ist verständlich, weil er sich der

die Helligkeit bzw. die Transparenz der Filmbilder für

liebig nach kommerziellen Opportunitätsgesichts-

Schwarz-weiß-paper-prints der Library of Congress

den späteren Farbauftrag gewährleistet sein muß.

punkten in sein (Variété- oder Kino-) Programm

1894-1913 als Anschauungsmaterial bedienen mußte.

(Georges Méliès: Les Vues Cinématographiques, dt. in:

Filmkäufer (oder der Vorführer oder die Projektorme-

In einem ebenso kurzen wie schönen Beitrag, in dem

Kintop 3, 1993, S. 21f.; frz. zit. z.B. bei Malthête

auszuschneiden, weiterzuverkaufen (und manchmal

er übrigens zu ähnlichen Überlegungen gelangt wie

1982, S.157; Malthête untersucht dort auch vorhan-

griff auch einfach der Vorführer oder die Projektorme-

ich und der mir leider erst bei Abschluß dieses Textes

dene (bzw. mögliche) Hand- oder Schablonenkolorie-

chanik ins filmische Material...) – Vgl. den Begriff

zugänglich wurde: Eric de Kuyper: La beauté du

rungen von Méliès-Filmen.)

»Editing control« (Charles Musser), zit. bei Abel

diable. Quelches notes éparses et provisoires sur la

1994, S. 61. Jacques Malthête spricht von der »non-

couleur dans le cinéma du second temps.

mut H. Diederichs, Wolfgang Gersch. Bd. 2: ‘Der Geist

fixité« der Filme des ersten Abschnitts der Filmge-

In: CinéMémoire 1992.

des Film’, Artikel und Aufsätze 1926-1931. München:

einzubauen, umzustellen (zu ‘montieren’?), ab- oder

6

schichte (Malthête 1982, S. 156). – Insofern wird das

7

Ibid. S. 31

»moralische Kriterium der Restaurierung, nämlich die

8

Ibid. S. 31

Treue gegenüber dem Original«, von dem Raymond

9

Elfriede Ledig erarbeitet eine »provisorische« Aufstel-

15 Zit. nach: Béla Balàzs: Schriften zum Film. Hg.: Hel-

Hanser, Berlin: Henschel 1984, S. 144. 16 Zit. nach: Mehnert 1974, S. 199; vgl. dazu und zum folgenden auch Koslow 1961.

lung der Farbenkonventionen, »Denotationen« und

17 Eisenstein 1968, S. 122.

riert (Einleitung zu: Koshofer 1988, S. 7).

»Konnotationen«, von Viragierungen (Ledig 1988, S.

18 Zit. nach: Güttinger 1984, S. 33; dass. bei Kaes 1978,

Vgl. dazu auch die Argumentation in neueren

108 f.), wie überhaupt ihr Aufsatz viele restaurations-

S. 39; dass. bei Schweinitz 1992,S. 15. – Die Texte

deutschsprachigen Beiträgen zum frühen Film. Nagel

philologisch wichtige Anregungen gibt. Eine Notiz gilt

sind bei Güttinger wie folgt nachgewiesen: – Max

betont schon einleitend: »Die Frühzeit war die Kurz-

auch Virage-Vorschlägen bereits in Drehbüchern; dies

Brod: Kinematographentheater. In: Die neue Rund-

filmzeit der Filmgeschichte. Die Kurzfilmzeit war eine

wäre weiter zu untersuchen, da Drehbücher ab

schau, Jg. 20 (1909), Bd. 1, S. 319-320. – Ders.: Ki-

ausgebildete Filmkultur und eine eigenständige film-

1907/08 (?) (national unterschiedlich?) häufiger wer-

nematograph in Paris. In: Der Merker, Jg. 3, H. 3,

historische Phase.« (Nagel 1988, S. 4) Corinna Müller

den.

Borde spricht, schon im Ausgangsmaterial konterka2

5

bezieht sich jüngst auf Epochenunterscheidungen

10 De Kuyper sagt dasselbe mit einer gewissen Radika-

1912. – Alfred Polgar: Das Drama im Kinematographen. In: Der Strom, Jg. 1, H. 2, Mai 1911. – Theodor

zwischen »dem Kino der Attraktionen« und dem »nar-

lität: »Pour moi il est évident qu’une évalutation

Heinrich Mayer: Lebende Photographien. In: Österr.

rativen Film«, korrigiert diese pragmatisch in ‘Kurz-

esthétique des films de cette époque [Kino der 10er

Rundschau, Bd. 312, H. 1, 1. April 1912. – Kurt

film- und Langfilmzeit’ und versucht zu belegen,

Jahre] ne peut plus se faire sur une copie de film en

Tucholsky: Rheinsberg. In: Ges. Werke,Bd. 1, Ham-

»daß eine Verknüpfung des ‘Narrativen’ mit der lan-

noir et blanc. Et que, par conséquent, il y a à réécrire

burg 1960. – Walter Serner: Kino und Schaulust. In:

gen äußeren Form nicht stichhaltig ist«; Müller 1994,

mais surtout à redécouvrir le cinéma de cette grande

Die Schaubühne, Jg. 9, H. 34/35, 1913.

S. 5 und passim. Diese Periodisierungen vereinfachen dabei die angel-

époque méconnue.« S. Anm. 5, S. 31. 11 Vgl. André Gaudreault: »Less well known, or too often

19 Vgl. I. Schenk: Moderne – Avantgarde – Postmoderne. In: Journal Film, Nr. 24, Sommer 1991.

sächsischen Begriffe: single-reel pre-feature story

ignored, is the absolute basic importance of this phe-

film – single-reel story film – feature-length film, wie

nomenon: it was quite exceptional, in the silent peri-

der Fischinger nach 1930, wo die alten Aufnahmen-

sie André Gaudreault und Tom Gunning erörtern; vgl.

od, for a film to be projected in complete silence.«

verfahren mit neuen Farbverfahren verknüpft werden.

dazu und zur Frage der Ablösung des Begriffs ‘Primiti-

Showing and Telling. Image and Word in Early Cine-

ve cinema’ und des Übergangs vom ‘Cinema of attrac-

ma. In: Elsaesser 1990, S. 274.

tions’ zum ‘Narrative cinema« zuletzt Abel 1994, Pre-

12 Die schriftliche Fixierung des Gesprochenen und gar

20 Diese Kombination gilt auch bei den Filmen der Brü-

21 Die Frage nach der Farbe im Stummfilm ist in jüngster Zeit, in Überschneidung mit diesem Aufsatz, an mehreren Stellen auf Tagungen und in Publikationen be-

face, sowie die französischen Umformulierungen in

deren Überlieferung sind absolut die Ausnahmen, wie

handelt worden (vgl. Kongresse in Udine 1995, Am-

»cinéma des premiers temps’, ‘du second temps’ etc.,

z.B. die (allerdings eher als dem Film beigegebene

sterdam 1996 sowie M. Dall’Asta, G. Pescatore, L.

erläutert z.B. bei Roland Cosandey: Welcome Home,

Inhaltsangabe zu verstehenden) »Lectures« von W.

Quaresima (Hg.): Il colore nel cinema muto, Udine

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Stephen Bush zu zwei Filmen 1911, in: Bordwell, Stai-

1996, wofür auch die Erstfassung dieses Beitrags en-

(Kintop. Schriften 1)

ger, Thompson: The Classical Hollywood Cinema, Lon-

standen ist). Dieses Forschungsinteresse hängt eng

3

Noël Burch 1990, S. 188.

don: Routledge 1988, Facs. Abb. 12.7 im Bildteil zw.

mit der in den letzten Jahren (»100 Jahre Film«) in-

4

Siegfried Kracauer vermutet im Hinblick auf das »Fär-

S. 112 u. 113. Vgl. zu dieser Frage Gaudreault, s.o.

tensivierten Arbeit an der Restaurierung des frühen

ben ganzer Filmpassagen« (Virage oder Tönung) beim

Fn. 11, S. 274 ff.

Kinos zusammen. Ähnliches gilt noch stärker für die

Stummfilm etwas Ähnliches: »Außerdem wirkte die Verwendung ein und derselben Farbe für größere

78

13 I. Schenk: Geschichte im NS-Film. In: montage/av 3/2/1994.

Musik bzw. den »Ton« beim Stummfilm und sogar für das schwer erforschbare Phänomen des Kinoerzählers.


journal film # 32

Lobby Card f端r den zweifarbigen Technicolor-Film THE BLACK PIRATE, 1925 (Farbreproduktion innere Umschlagseite)

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‌im Stummfilm

Grace Darmond im ersten Technicolor-Film THE GULP BETWEEN, 1917 (Farbreproduktion innere Umschlagseite)

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journal film # 32

Aus einem PathĂŠcolor-Film, um 1910 (Farbreproduktion innere Umschlagseite)

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Das Ufa-Plakat, die Filmkritik, Heinrich George und anderes Eine Bücherschau von BODO SCHÖNFELDER

Eisenstein und Deutschland Eisenstein und Deutschland ist der Titel eines Bandes, den der Henschelverlag in Zusammenarbeit mit der Akadamie der Künste herausgegeben hat. Für die Konzeption zeichnet Oksana Bulgakowa. Wie der Untertitel angibt, sind Texte, Dokumente und Briefe versammelt; neben Texten des Geehrten auch Analytisches zu ihm. Etliche Briefe und Texte haben außer dem »zufälligen« Ort oder den Adressaten nicht viel mit Deutschland zu tun. Sie gehören eher in die Rubrik Eisenstein-Philologie. Was nicht heißt, daß sie angesichts der schriftstellerischen Qualitäten Eisensteins nicht lesenswert sind. Unter anderem zeigt sich, wie er in Details einer Beobachtung die Essenz konzentriert. Seine Kurzbeschreibung der Katzenfürsorge bei der UFA ist auch eine Kurzcharakteristik des Konzerns. Das Konzept und die ästhetischen Überlegungen zu einem nicht realisierten und vermutlich auch schwer zu realisierenden Film Glashaus haben nur insoweit mit Deutschland zu tun, als sie teilweise in Deutschland entstanden sind. Sie belegen deutlich Eisensteins Herkunft aus dem Ingenieur- und Architekturwesen und zielen auf eine Aufhebung des zentralperspektivischen Kinos, eine Durchbrechung der planen Leinwand, aber noch mit Mitteln des Kinos. Viele Handlungsorte und Geschehnisse gleichzeitig im Bild und im Blick zu haben mit Mitteln des Films, bedeutet eine Dezentrierung des Sehens, ohne das Gerichtetsein ganz aufzugeben. Vielleicht sollte man Eisenstein nicht so sehr als Regisseur, sondern als kinetischen Künstler begreifen. Man kann sich fragen, inwieweit die modernen Medientechnologien seinen Vorstellungen eher entgegen kämen. Begleitend dazu eine schöne Analyse von François Albera. Ein weiterer kleiner Schwerpunkt ist die selten beachtete Walküren-Inszenierung aus der Zeit nach dem deutsch-sowjetischen Nicht-Angriffspakt. Die Regienotizen und der Kommentar von Boris Schafgans zeigen diese Opernaufführung als Resultat von Außen- und Innenpolitik und von künstlerischem Experimentieren unter den historischen Bedingungen. Schon die Regie durch den Juden Eisenstein war ein deutliches

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Signal. In der Aufführung, die durchaus als Kulturangebot an Deutschland verstanden werden sollte, hatte Eisenstein über die Form auch Kritisches zum Faschismus untergebracht. Andere Texte befassen sich mit der Neu-Montage des Mabusefilms durch Eisenstein, dem Verhältnis Eisenstein – Fritz Lang, bzw. Brecht, dem dialektisch-assoziativen Denken Eisensteins und den Beziehungen von Denken, Farbe, Musik und Film in den konzeptionellen Ansätzen des Regisseurs. Neben der Neuausgabe der Memoiren ist dieses Buch, das man auch als materialen Gegenstand schätzen muß, einer der gelungenen Beiträge zum 50. Todestag des Filmregisseurs. Eisenstein und Deutschland. Texte – Dokumente – Briefe. Konzeption und Zusammenstellung Oksana Bulgakowa; Akadamie der Künste/Henschel-Verlag, Berlin 1998, 250 Seiten, DM 58.—.

Früher Film und späte Folgen Im Schürenverlag hat Ursula von Keitz, seit kurzem stellvertretende Leiterin des Deutschen Institutes für Filmkunde und Lehrbeauftragte an der Hochschule für Film und Fernsehen München, einen schmalen Band herausgebracht, der unter dem Titel Früher

Film und späte Folgen als 6. Band der Schriften der Friedrich Wilhelm Murnau-Gesellschaft e.V das 5. Colloqium dieser Gesellschaft dokumentieren soll. Helmut Regel berichtet über die technischen Aufgaben und Probleme der Filmarchivierung, -restaurierung und Rekonstruktion am Beispiel seines eigenen Hauses, des Bundesfilmarchivs. Er legt plausibel dar, wie wichtig es ist, sich nicht nur den Klassikern, sondern auch dem Trivialfilm und anderer noch weitgehend vernächlässigter Filmrichtungen zu widmen. Archivarbeit muß auch immer den kulturhistorischen Aspekt im Auge behalten. Evelyn Hampicke und Jan Christopher Horak schildern die Rekonstruktionsarbeiten an den Filmen UMS TÄGLICHE BROT (HUNGER IN WALDENBURG) von Piel Jutzi, bzw. DIE FREUDLOSE GASSE. Neben den durch Materiallage u.a. verursachten Arbeitsbedingungen werden methodische Vorgehensweisen, Probleme und historisch-ästhetische Fragestellungen angeschnitten. Martin Loiperdinger versucht sich an einer Ehrenrettung des frühen oder »primitiven« Kinos, für dessen Zukunft er sich einsetzt. Lothar Prox beschreibt Anforderungen an Stummfilmkomponisten und -musiker, unter den Bedingungen heutiger Hör- und Sehgewohnheiten und unter Berücksichtigung zeitgenössischer Aufführungsbedingungen. Im letzten Beitrag stellt Kurt Johnen das Bielefelder Film & MusikFest vor. Kann man Evelyn Hampickes und Christopher Horaks Beitrage noch als gelungene Einführung in die Thematik und als Werkstattbericht lesen, und ist Martin Loiperdingers Text trotz einer etwas anderen Zielrichtung auch noch so zu verstehen, so muß man bei den anderen Beiträgen schon Abstriche vornehmen. Auch Helmut Regels und Lothar Prox’ Ausführungen können als Einführungen gewertet werden, allerdings setzen sie eigentlich schon ein Vorverständnis voraus. Kurt Johnens Beitrag ist eher Reklame, als ernsthaftes Beschreiben. Was bedenklich stimmt: Daß die meisten Beiträge in etwas anderer Form schon an anderer Stelle veröffentlicht worden sind. Auch stehen sie etwas beziehungslos nebeneinander. Das Kommunizierende eines Kolloqiums geht ihnen ab.


Filmkritik: Bestandsaufnahmen und Perspektiven In der Nachfolge einer Veranstaltung der »Arbeitsgemeinschaft« der Filmjournalisten von vor einigen Jahren widmete sich das Zweite Bremer Symposium zum Film der Krise der Filmkritik. Der vorliegende Band versammelt die dort gehaltenen Vorträge. Die Lektüre nötigt zunächst zu einer Korrektur. Es geht eigentlich mehr um das Schreiben und die Möglichkeit des Publizierens zum Film. Die Beiträge sind durchaus lesenswert, sieht man von Patrick Rösslers Beitrag »Gefangen in der Informationsfalle?«, der Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur Selbsteinschätzung von Filmjournalisten über ihre Arbeit und Situation referiert, einmal ab: positivistische Soziologie der flachesten Sorte, voller nichtssagender Resultate. Die Polemik Willi Karows gegen die Tageskritik, wie sie in den meisten Zeitungen betrieben wird, an einigen Beispielen prägnant illustriert, steht neben Miriam Niroumands Plädoyer für die Beschäftigung mit populären Filmen und Sabine Horsts Aufweis, wie flach der ‘Kultfilm’ PULP FICTION ist. Die Entwicklung der Filmkritik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, von Helmut H. Diederichs skizziert, und die Entwicklung der Zeitschrift »Filmkritik«, nachgezeichnet vom Herausgeber Irmbert Schenk, finden sich neben Dietrich Kuhlbrodts Plädoyer für ein flanierendes Schreiben und Klaus Kreimeiers Aufforderung der Erweiterung der Filmkritik zur Medienkitik, Peter W. Jansens Beschreibung der Rolle und der Arbeit des Filmkritikers in Radio und Fernsehen und Wolfram Schüttes knapper Analyse des Wandels der Film-Öffentlichkeit. Norbert Grob streitet für eine Filmkritik der

Autoren, Karsten Visarius sieht die Notwendigkeit und Möglichkeit der Filmkritik angesichts der Allgegenwart von Bildern. Karl Prümm beschreibt den Funktionswandel der Filmkritik in den letzten Jahren und versucht eine mögliche Perspektive zu bestimmen. Thomas Elsaesser stellt unterschiedliche Ansätze der Filmkritik in den jeweiligen nationalen und historischen Kontext der Gesellschaft. Er schält den emotionalen Kern der damit verbundenen Cinephilie heraus und sieht in der Besinnung auf die heutige emotionale Beziehung zum Film einen möglichen Weg aus der Krise. Merkwürdig nur, daß trotz der beschworenen Krise eine korrespondierende Stimmung in den Beiträgen kaum auszumachen ist. Durchweg ist alles ‘objektivierend’ gehalten. Auffällig: Die Beiträge stehen unvermittelt nebeneinder. Von ihren methodologischen und epistomologischen Ansätzen sind sie soweit voneinander entfernt, daß sie das Miteinander-Sprechen eines Symposiums eigentlich verfehlen. Die Verständigung über einen Gegenstand scheint zu fehlen, wie auch ein gemeinsamer Begriff von Kritik. So kann sich der Leser mit dem bedienen, was ihm am genehmsten ist. Die Auseinandersetzung mit den Texten ist nicht zwingend. Das mag eventuell daran liegen, daß die Diskussionsbeiträge fehlen, die vielleicht die Zusammenhänge hergestellt haben. So bleibt ein Tagungsband ohne erkennbare Relevanz. Filmkritik: Bestandsaufnahmen und Perspektiven / Bremer Symposien zum Film – II. Filmkritik; Irmbert Schenk (Hrsg.), Schüren Presseverlag, Marburg 1998, 160 Seiten, DM 28.—.

Um sie weht der Hauch des Todes Angzeigt wird ein schmales Bändchen des Schnitt-Verlages und des Studienkreises Film, Bochum. Offensichtliche Afficionados des Italo-Westerns haben Eigenbeiträge und Älteres zusammengetragen, um diesem Genre, wenn man es so nennen kann, das derzeit eigentlich nur noch bei den privaten Fernsehsendern mehr schlecht als recht gesehen werden kann, zu huldigen. Dement-

sprechend heterogen, auch von der Qualität her, sind die Texte. Manche nehmen sich wie studentische Schreibübungen aus, andere, nicht nur die älteren, zeugen von journalistischen Erfahrungen. Heterogen und vermischt sind auch die Ansätze: Zwischen soziokulturellen/politischen und ästhetischen Kategorien schwankt die Bandbreite, wobei den Autoren die Unterschiede nicht immer klar sind. Gelegentlich werden auch kritische Positionen gegenüber dem Italowestern aus den sechziger und siebziger Jahren etwas falsch eingeschätzt. Der historische Kontext ist offensichtlich fremd. Aber ein Porträt Ennio Morricones oder ein Text über das Fressen lohnt allemal das Lesen. Und natürlich die Interviews mit Enzo G. Castellari und Fanco Nero und der anrührende Nachruf Franco Neros auf Sergio Corbucci. Die nicht zufriedenstellende Qualität von Typographie und Abbildungen kann man wohl auf den schmalen Geldbeutel schieben. Das Register der Filme mag zwar das vollständigste in Deutschland sein, ist aber wegen der zu knappen Stabangaben kaum zu gebrauchen. Ein netter Appetithappen, wenn ein guter Film für die Schaulust fehlt. Und vielleicht kann man Enzo G. Castellaris und Fanco Neros JONATHAN DEGLI ORSI doch einmal in Deutschland sehen. Um sie weht der Hauch des Todes. Der Italowestern – Geschichte eines Genres; Hrsg.: Studienkreis Film, Bochum; Schnitt Verlag, Bochum 1998, 112 Seiten, DM 14,90.

Das UFA-Plakat Während der Berlinale ‘ 98 wurde in Räumen der Grundkreditbank unter Federführung der österreichischen Nationalbibliothek und der Stiftung Deutsche Kinemathek mit über 60 Filmplakaten der UFA eine kleine Ausstellung veranstaltet, die die Film- und Zeitgeschichte von 1918 bis 1948 dokumentieren sollte. Dazu erschien ein großformatiger Band, der die Plakate in guter Druckqualität noch einmal dem Betrachter nahebrachte. Kontrastiert werden die Plakate mit kleinen anderen Abbildungen – Fotos, Werbebildern und alternativen oder verworfenen Plakatentwürfen, kleinen Texten, die die Filme, die

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Eine gediegene Einführung wie Penelope Houstons Keepers of the Frame oder Paolo Cherchi Usais Purning Passions, beides schmale Bändchen, fehlten in Deutschland immer noch. Früher Film und späte Folgen. Schriften der Friedrich Wilhelm-Murnau Gesellschaft, Band 6; (Hrsg.) Ursula von Keitz; Schüren PresseVerlag, Marburg 1998, 128 Seiten, DM 24.—.


historischen Umstände und die Entstehung der Plakate schlaglichtartig beleuchten (Manchmal sind die Zensurentscheidungen erheiternd, zumindest aus heutiger Sicht). Zu den Plakaten aus der Zeit des Dritten Reiches werden zusätzlich Auszüge aus Kreimeiers UFA-Buch mitabgedruckt. Hatte man Angst, daß diese Entwürfe zu attraktiv sein würden? Sonst hätte man auch die Weimarer Republik mit vergleichbaren Texten kommentieren können. Knappe gelungene Einführungen zu Materie und Sammlung vervollständigen den Band. Wobei die Knappheit gelegentlich über Untiefen der Historie eher hinweggleitet als sie erhellt. Die Legende der Uninspiriertheit der Grafiker im Nationalsozialismus muß man zu den Akten legen. Erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges deutet sich die Biederkeit an, die dann die Plakatkunst der fünfziger Jahre dominiert. Auch wenn natürlich die Bandbreite des Schaffens schon vorher deutlich eingeschränkt war. Das Experimentieren aus dem Geiste des Expressionismus und des Konstruktivismus hatte sich zur Geste architektonischer Größe verschoben, die wohl Heldentum bedeuten sollte. In gewisser Weise ist das Buch sogar interessanter als die Ausstellung. Zum einen rückte die gedämpfte Beleuchtung die Plakate in die Nähe musealer Kunst. Zum anderen kommt das Blättern und Neubetrachten der realen Rezeption solcher Reklamewerke näher. Leider war das Buch nach der Berlinale nicht im Buchhandel zu finden. Im Verzeichnis lieferbarer Bücher taucht es noch nicht auf. Das UFA-Plakat. Hrsg.: Peter Mänz, Christian Maryska; Edition Braus, Heidelberg 1998, ohne Seitenzahl, DM 40.—.

Berlin im Film Wolfgang Jacobsen hat im Argon-Verlag einen Band herausgeben, genauer montiert, der neben einer kurzen Einführung Bilder (Standphotos, Produktionsphotos und Vergrösserungen aus Filmen) mit kurzen Zitaten aus Texten zu Filmen und über Berlin zusammenfügt, die einen quasi imaginären Raum der Stadt Berlin um- und beschreiben.

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Ziel ist nicht eine realistische Beschreibung der alten und neuen deutschen Hauptstadt, sondern eine Vorstellung der materialen Stadt Berlin und der Metapher von der deutschen Metropole schlechthin auf den Begriff oder auf das Bild zu bringen. So weisen etliche Filme als Schauplatz zwar nicht Berlin aus, aber die Bilder »sprechen« von nichts anderem. Was die eingefrorenen Bilder in der Buchpräsentation eher als die Filme verraten: Wie sich die ästhetische Imagination der Stadt im historischen Verlauf mit den Bedingungen der Filmherstellung verändert hat. So sind in den UFA-Filmen selbst Außendrehorte immer als Innenräume strukturiert und dargestellt. Künstlichkeit wird bewußt gesucht. In nennenswertem Umfang wird die Realität vorhandener Schauplätze erst mit dem Jungen bzw. Neuen Deutschen Film gesucht. Die Stadtwirklichkeit wird offensichtlich anders erfahren. Texte und Bilder kommentieren sich gegenseitig, gelegentlich kann man auch von Kritik sprechen. Daß Bilder teilweise ineinandermontiert oder auch beschnitten sind, erlaubt in diesem Kontext auch Zuspitzung und Konzentration. Aber wie bei derart subjektiven Verfahren zu erwarten, funktioniert die Montage nicht immer und nicht immer bei jedem. Der jeweilige Leser/Betrachter muß sein individuelles Urteil über die Mikromontagen fällen. Ansonsten gelingt es dem Buch durchaus, den Vorstellungsraum Berlin abzuschreiten. Berlin im Film. Die Stadt – Die Menschen. Hrsg.: Wolfgang Jacobsen; Argon Verlag, Berlin 1998, 232 Seiten, DM 48.—.

Heinrich George und Der Filmminister Vermutlich Zufall: Zwei Bücher, die direkt oder indirekt mit der Geschichte des Films in Nazi-Deutschland befaßt sind, sind in den letzten Monaten auf den Buchmarkt gekommen. Neben den historischen Themen verweisen sie auch auf die Frage nach dem adäquaten oder richtigen Umgang mit der Zeit des Dritten Reiches und den Menschen dieser Epoche. Das eine Buch will eine politische Biographie Heinrich Georges sein, das andere beschäftigt sich mit dem »obersten

Filmherrn« Joseph Goebbels. Als Verfasser des ersten zeichnet Werner Maser, der in den letzten Jahrzehnten schon mit etlichen – auch umstrittenen – Werken zum Dritten Reich, Hitler und Stalin in die Öffentlichkeit getreten ist. Geschichte ist ungerecht. Heinz Rühmann, Gustaf Gründgens u.a. haben das Dritte Reich relativ unbeschadet überlebt. Ihre Popularität hat keinen Einbruch erlitten. Während Heinrich George unter »tragischen« Umständen im Lager umkam. Im Lager hat der Autor diesen genialischen Schauspieler offensichtlich erlebt. Daß er sein Bild zurechtrücken will, ist verständlich. Eine politische Biographie könnte heißen, die Verzahnung von Geschichte und persönlichen Erlebnissen dazustellen, sei es durch Dokumente, durch Zeugnisse von Zeitgenossen oder private Aufzeichnungen. Das erfordert eine besondere methodische Sorgfalt. Bei Werner Maser ist davon nichts zu spüren. Die Zeitgeschichte steht beziehungslos neben Persönlichem und geht über allgemeinstes Schulbuchwissen nicht hinaus. Häufig gibt er Quellen und Zitate nicht an, andere bezieht er falsch. Ein Engelszitat zur gescheiterten Revolution von 1848 wird stillschweigend auf das Bismarck-Reich projiziert, woraufhin dann Schlußfolgerungen über die Linke und ihre angebliche Weltfremdheit gezogen werden. Die Äußerungen von Georges Frau Bertha Drews übernimmt Maser unhinterfragt, ebenso die von Freunden. Mögliche Gegner und Kritiker haben dagegen meist unlautere Absichten, wenn nicht bösartige Strategien. Besonders natürlich Brecht und die Kommunisten. Wolfgang Harich ist gleich ein Verräter. Kritisches zu George wird nicht wahrgenommen oder ausgeblendet, wie Iherings Anmerkungen aus der Weimarer Republik. Die nachdenklichen Äußerungen Paul Wegeners, keineswegs ein Linker, werden beiseite gewischt. Dafür werden für jede Handlung Heinrich Georges Begründungen und Entlastungen gesucht. Es wimmelt nur so von Konjunktivischem. Und fast natürlich fällt die allzu bekannte Formulierung »Konnte nicht anders«. Grotesk wird es, wenn Maser Dankesbriefe von Angestellten und Gefährdeten für Hilfeleistungen gegenüber der Nazi-Verwaltung als echte Gefühlsäußerun-


Robert Siodmak: ABSCHIED, 1930

kritische Äußerung verhindert hätten, muß nach der Lektüre dieses Buches ad acta gelegt werden. Es wurde durchaus im Sinne von Verhältnismäßigket entschieden. So müssen dann auch andere Legenden und Rechtfertigungen im Filmbereich zurechtgerückt werden. Die bekannten Größen hatten durchaus Narrenfreiheit. Man kam auch mit privaten Problemen zu »seinem« Minister. Ein grenzenloser Opportunismus war wohl vorherrschend. Die UFA war keine große Propagandamaschine, aber in vielen bisher als ziemlich unverdächtig oder harmlos geltenden Filmen hatte man doch überlegt ideologische Elemente eingebaut, mit einem Wissen oder einer Ahnung um mediale Wirkungen. Felix Moellers Buch sollte nach Klaus Kreimeiers UFA-Geschichte die Debatte um diesen Teil deutscher Filmgeschichte neu anregen. Werner Maser. Heinrich George. Mensch aus Erde gemacht; Edition q. Berlin 1998, 463 Seiten, DM 44.—. Felix Moeller. Der Filmminister; Henschel-Verlag, Berlin 1998, 466 Seiten, DM 58.—.

Siodmak Bros. Seit einigen Jahren ist die Berlinale-Retrospektive der Stiftung Deutsche Kinemathek vor allem der Aufarbeitung des filmischen Werdegangs von (Zwangs)Exilanten der deutschen Filmindustrie gewidmet. 1998 den Brüdern Robert und Curt (Kurt) Siodmak, dem Regisseur und seinem Bruder, vor allem als Schriftsteller und Drehbuchautor tätig. Die inzwischen mehrjährige Zusammenarbeit mit dem Argon Verlag hat eine Reihe gediegener großformatige Bände zu

einzelnen Personen hervorgebracht. Dabei hat sich eine Art Schema herausgebildet: Biographische Skizze und Einführung, analytischer Essay und Einführung in das jeweilige Werk, Textbeispiele, Briefe und Notizen und Anmerkungen von Kollegen, Bekannten, Freunden und Verwandten. Dazu ein umfangreicher bibliographischer und filmographischer Anhang, eingestreut schöne Photos. Diesem Muster gehorcht auch der diesjährige Band, erweitert auf zwei Personen. Schon optisch sind die zwei Teile zu erkennen. Man hat den beiden Brüdern unterschiedliche Papierfarben zugeordnet. Und doch ist das Buch dieses Jahr etwas unbefriedigend. Das liegt zum einen daran, daß Karlheinz Prümm in senem Essay zu Robert Siodmak sich anstrengt, unbedingt etwas Neues zu Person und Werk sagen zu wollen/müssen. Das macht seinen Text in sich verschraubt, so daß ein Punkt nicht mehr zu erkennen ist. Mit Abstrichen gilt das auch für Norbert Grobs Beitrag zu Curt Siodmak. Über film noir, Exil und Judenvertreibung ist schon soviel geschrieben, daß wirklich Neues auch nur schwer zu finden ist. Einzig Rolf Giesens Aufsatz zum Phantastischen bei Curt Siodmak entwickelt ansatzweise eine neue Perspektive. Besonders ärgerlich an dem Band, der sonst eigentlich einen guten Eindruck macht, ist aber, daß Vergrößerungen aus Filmkopien beschnitten worden sind. Das vermittelt dem nichtsahnenden Leser einen schiefen Eindruck von den Filmen. Fazit: Bedingt empfehlenswert. Siodmak Bros. – Robert und Curt Siodmak. Berlin – Paris – London – Hollywood; Hrsg.: Wolfgang Jacobsen / Hans Helmut Prinzler, Argon Verlag, Berlin 1998, 440 Seiten, DM 88.—.

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gen behandelt. Wenn der Intendant George nachlässige Angestellte mit der Drohung, sie den Machthabern zu melden, einschüchtert, hätten diese aber wissen müssen, es sei nicht so gemeint. Die einzige Spur, Heinrich Georges Ambivalenz aufzuhellen, sein schon in Frankfurt festgestellter »Caesarenwahn«, wird nicht weiter verfolgt. Was hat den Verlag und die Familie George bewogen, diese Veröffentlichung, die sich nahtlos in die Revisionismusversuche einreiht, zu fördern. Einer Würdigung des sicherlich großen Schauspielers Heinrich George ist ein Bärendienst erwiesen worden. Felix Moeller streift in seiner Arbeit Der Filmminister kurz Werner Masers Buch, ohne es beim Namen zu nennen. Er stellt nur die Frage, warum Heinrich George noch Reden für die Nazis hielt, wo andere sich bereits distanzierten oder absetzten, offensichtlich ohne größere Folgen. Diese Vorsichtigkeit im Urteil kennzeichnet die historisch-wissenschaftliche Herangehensweise des Autors. Geschichtsforschung nach Quellen im besten Sinne. Im wesentlichen ist das Buch Ergebnis der kritischen Lektüre großer Teile des Tagebuchs Joseph Goebbels’, ergänzt durch die Rezeption anderer Forschungsergebnisse. Die Filmgeschichte des Dritten Reiches muß nicht umgeschrieben, aber in etlichen Punkten korrigiert und revidiert werden. Allerdings ist manches erstaunlich. Die scheinbar großartige Medienplanung der Nationalsozialisten erweist sich als ziemliches Stückwerk. Vieles ist ad hoc entschieden worden, weitergehende Konzeptionen waren kaum vorhanden. Im wesentlichen hat man alles den Gesetzen des Marktes überlassen. Echte nationalsozialistische Filme oder auch Alternatives, das z.B. mit dem Neorealismus vergleichbar wäre, ist nicht entstanden, sei es weil man den europäischen Markt bedienen mußte oder mit den amerikanischen Majors konkurrieren wollte. Aber auch die Idee der Kontrolle von allem und eines vollständig durchrationalisierten Herstellungs- und Verteilungsprozesses erstickte das Innovative. Die extreme Kleinkariertheit vieler Vorstellungen ist immens. Nur auf dem Gebiet der Wochenschau gab es so etwas wie kreative Ansätze. Die Legende, daß die Nazis jede


Lynne Kirby: »Parallel Tracks – The Railroad and Silent Cinema«

besprochen von STEFAN VOCKRODT

The Railroad an Es ist einer der populärsten und aller Widerlegung zum Trotz nicht auszulöschenden, immer wieder kolportierten Irrtümer der Filmgeschichte: Lumières ARRIVÉE D’UN TRAIN – LA CIOTAT sei nicht nur einer der ersten Filme überhaupt gewesen, sondern habe das Publikum so sehr erschreckt, daß es Schutz unter den Bänken suchte oder schreiend den Saal verließ. Mag jedes Detail davon für sich sogar ein Körnchen Wahrheit enthalten, der daraus gewebte Gründungsmythos ist so falsch wie alle große Mythen. Doch wie viele Legenden wird auch diese die Wahrheit überdauern. Ganz unabhängig davon haben die Eisenbahn, ihre Lokomotiven, ihre Geschwindigkeit und das bewegte Bild, das sich den Reisenden beim Blick aus dem Rahmen des Abteilfensters bot, einen vielleicht größeren Beitrag zur Entstehung des Kinos geleistet, als manchem heute bewußt sein mag. Darüberhinaus gaben Züge und Eisenbahnen dem frühen Kino eines seiner ersten und ertragreichsten Sujets. Für zumindest die amerikanische Stummfilmzeit kann man »Eisenbahngeschichten« – »Railroad-Movies« – als ein eigenes und urständiges Stummfilm-Genre betrachten. Vereinfacht betrachtet läßt sich die Eisenbahn als »Motor« bzw. Transportmittel der industriellen Revolution darstellen. Entsprechend das Kino als genuin industrielle Kunstform, die erste Kunst, die aus einer und in eine Industrie hinein geboren wurde. Da das Kino von Anbeginn an ideologisches Transportmittel des modernen Kapitalismus war, kamen beide früh zusammen. Vor diesen Hintergrund entwickelt Lynne Kirby in ihrer Sammlung von Essays Parallel Tracks – The Railroad and Silent Cinema eine feministisch inspirierte Analyse der – vorwiegend – US-amerikanischen Eisenbahn-Stummfilme, ihrer gesellschaftlichen, politischen, rassischen und geschlechtlichen Wechselwirkungen. Der

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Buchtitel ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen: Die Eroberung des amerikanischen Westens mit Hilfe der Eisenbahn läßt sich als Sieg männlicher Technik über weibliche Natur lesen. Analog sieht Kirby in der Entwicklung der Eisenbahnstummfilme die Bezwingung und Domestizierung des Weiblichen. Ihre feministische Analyse gliedert sie in vier Hauptteile: Im Ersten gibt Kirby einen historischen Überblick von der Entwicklung der Bahn und der Photographie bis zur Entstehung des Kinos. Sie zieht Parallelen zwischen der Eisenbahnfahrt und dem Kinobild (wie Schivelbuschs »Geschichte der Eisenbahnreise«), schlägt einen Bogen von der Werbung der Bahnen mit Photos und dynamisch übertriebenen Darstellungen hin zu den frühen Filmen. Dieser Teil, der im Grunde altbekannte Erkenntnisse wiederholt, konzentriert sich auf ideologische und wahrnehmungsspezifische Überlappungen zwischen Eisenbahnfahrt und Kinofilm. Der zweite Essay vertieft ihre begonnene Analyse und untersucht die Beziehung zwischen Stummfilm und Eisenbahn vor dem Hintergrund der Begriffe Geschlechtlichkeit und Rasse, wobei sie besonders intensiv die Darstellung von weißen Frauen und die Wirkung der Filme auf diese untersucht. Danach stellt Kirby die Frage, inwieweit Handlungsund Rollencharakteristika des frühen Stummfilmes in den klassischen Stummfilm der zwanziger Jahre eingeflossen sind. Anhand der Entwicklung der Eisenbahnfilme in den USA – von der Serie zum Klischee – beschreibt die Autorin die »Zähmung der Frau« im Film. Sie verdeutlicht dies am Beispiel von Helen Holmes, die als Heldin der vor und während des ersten Weltkriegs entstandenen Serie THE HAZARDS OF HELEN Lokomotiven fuhr, falsch gestellte Weichen umstellte, Runaways stoppte, Zugüberfälle vereitelte und eine Fülle weiterer großarti-

ger Heldentaten vollbrachte, die dann in den Zwanzigern Männern vorbehalten wurden. Kirby zeigt dies auch an den veränderten Charakteren, die Helen Holmes nach 1920 noch spielte. Diese »Zähmung der Frau« resultiert für Kirby in einer Reduktion der Frauenrollen auf weiblich besetzte Positionen, die der Hausfrau, Mutter, Geliebte. Eine Frau, die nicht agiert, sondern passiv wartet, was geschieht und sich in ihr »Schicksal« fügt. Im dritten Abschnitt, der vieles wiederholt und vertieft, was sie in den ersten beiden Abschnitten erörtert hat, behandelt Kirby ihre Subjekte Eisenbahn und Stummfilm vor dem Hintergrund großstädtischer Kulissen und Zuschauer. Dieser Abschnitt enthält ausführlichere Analysen der Filme THE CROWD von King Vidor (USA 1928) und von Dziga Vertovs MANN MIT DER KAMERA. Im abschließenden und eigentlich interessantesten Abschnitt untersucht sie die Bedeutung der Nationalität in der Darstellung der Eisenbahn im Film. Dazu analysiert Kirby John Fords THE IRON HORSE und LA ROUE von Abel Gance. Sie versucht anhand dieser Analysen auch die Trennung zwischen dem, was sie klassisches Hollywood nennt und dem Avantgarde- und Autorenfilm aufzuzeigen. Allerdings hat sie dazu doch wohl eher ungeeignete Beispiele gewählt. So unterschätzt sie den Autoren John Ford und inwieweit Abel Gance zur Avantgarde gezählt werden kann, muß an anderer Stelle erörtert werden. Kirbys Diskurs über Geschlecht und Rasse läßt mitunter andere Interpretationen und Analyseansätze außer acht. Eisenbahn wie Film gaben den Massen Anfang des Jahrhunderts sowohl räumliche als auch geistige Mobilität. Die zweifache prinzipielle Möglichkeit, per Bahn überallhin zu kommen und so alles zu sehen oder im Kino alles zu zeigen und damit auch alles sehen zu können, barg die Gefahr gesellschaftlicher


Destabilisierung, einer Erkenntnismöglichkeit, die den gewohnten Rahmen in Zweifel zieht und in Frage stellt. Kriby behandelt den ideologischen und den herrschaftsstabilisierenden bzw. destabilisierenden Aspekt der frühen Kinematographie nur am Rande. Auf ihren feministischen Teller, gefüllt mit Geschlechtlichkeit und rassischen Aspekten, fixiert, übersieht sie die ideologische Funktion der Vermittlung bürgerlichkapitalistischer Ideale, Träume und Lebensart an die sozial, räumlich und vor allem psychisch entwurzelten Massen. Wenn es denn beim frühen Film um »Zähmung« ging, dann nicht nur um die der Frau und der inferioren Ethnien, sondern vor allem um die der Massen, um die Ausrichtung der Individuen – männlich wie weiblich – hin auf bürgerlich – kapitalistische »Werte«. Daß dies

die Unterordnung der Frau unter den Mann und des schwarzen unter den weißen Mann beinhaltete, ist dabei selbstverständlich. Ganz zur Nebensache gerät für Kirby allerdings, daß der Einsatz des Mediums Kino zur Zähmung und Domestizierung der Massen zuallererst die Zähmung und Domestizierung des Mediums selbst bedingte. Erst vor diesem Hintergrund läßt sich die ganze ideologische und propagandistische Meisterschaft eines Films wie THE IRON HORSE lesen. Kirby stellt dies denn auch, zum Teil in erheblichem Widerspruch zu ihren vorangegangenen Ausführungen, ausführlich dar. Ihr Versuch, Abel Gances LA ROUE ebenso auf die Darstellung und den Entwurf der »Nationalität« wie THE IRON HORSE hin zu deuten, mißglückt jedoch fast zwangsläufig. Der postulierte Widerspruch

zwischen den Filmen resultiert hier aus einem unvollständigen beziehungsweise ideologisch bornierten Analyseansatz. Allerdings sollten diese kritischen Anmerkungen nicht von der Lektüre des Buches abhalten, machen doch gerade diese Mängel und Unvollständigkeiten sowie die Widersprüchlichkeit ihrer Analysen Kirbys Buch erst recht interessant. Parallel Tracks ist im Großen und Ganzen eine lesenswerte, hochinteressante und vom Umfang der Recherche wie der Materialfülle beeindruckende Lektüre. Es hilft, den Blick auch auf andere Akzente und Betrachtungsweisen der Stummfilmgeschichte zu richten. Lynne Kirby. Parallel Tracks – The Railroad and Silent Cinema; Duke University Press, Durham, North Carolina, USA, 1997, 338 Seiten, 32 Abb., ca. US$ 17,95 (SC), US$ 49,95 (HC).

Film als subversive Kunst besprochen von JOHANNES C. TRITSCHLER

Film as a Subversive Art von Amos Vogel gehört auch über 20 Jahre nach Erscheinen der Originalausgabe zu den aufregendsten Filmbüchern, die je geschrieben wurden. Der österreichische Hannibal-Verlag hat die lange Zeit vergriffene deutschsprachige Ausgabe (seinerzeit unter dem Titel Kino wider die Tabus erschienen) endlich wieder zugänglich gemacht. Film als subversive Kunst ist die Geschichte und Analyse der Grenzüberschreitungen im avantgardistischen Film. Ein einleitender Text ordnet Film als »vielleicht einflußreichste Kunst des Jahrhunderts« in den Zusammenhang mit der Entwicklung der Naturwissenschaften, Philosophie, Psychologie und Politik des 20. Jahrhunderts ein. Danach wendet sich der Autor den »Waffen

der Subversion« zu. Die »Subversion der Form« nimmt für ihn ihren Ausgang in der revolutionären Filmavantgarde der frühen Sowjetunion, wo die Grundlagen der Montage entwickelt worden sind. Als ästhetische Rebellen traten die Surrealisten und Expressionisten auf, aber auch die SlapstickKomödianten des frühen amerikanischen Films waren höchst subversiv, indem sie mit ihrem rebellischen Chaos zur Entmystifizierung der bürgerlichen Ordnung beigetragen haben. Relativität und Vieldeutigkeit, Merkmale des modernen Bewußtseins, finden bereits hier ihren vehementen Ausdruck. Die alten Begriffe von »Zeit« und »Raum« als absolute Kategorien wurden aufgeweicht und die Ablehnung eines simplen Realismus führte zur Zerstörung von Handlung und

konventioneller Erzählform: »Die Handlung wird dem poetischen Potential des Mediums untergeordnet.« Im Zusammenhang mit der »Subversion des Inhalts« wendet sich Vogel zunächst dem linken, revolutionären Kino zu, das oft formal überaus konventionell ist und rein über politische Aussagen das Bewußtsein des Zuschauers verändern möchte. In einer besonderen Situation befanden sich die avantgardistischen Filmemacher des ehemaligen Ostblocks, die unter totalitären Regimen auf Metaphern und Allegorien ausweichen mußten. Zunächst überrascht es, daß Vogel im Zusammenhang mit dem subversiven, politischen Film auch auf die »schreckliche Poesie« des nationalsozialistischen Films eingeht. Kein Film wird so ausführlich

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d Silent Cinema


Filmsubversive als

K U N S T

unter die Lupe genommen wie Leni Riefenstahls Propagandafilm TRIUMPH DES WILLENS. Vogel analysiert wie darin an das Unbewußte des Zuschauers appelliert wird, was den Film so subversiv und gefährlich machte. Die »Waffen der Subversion« sind die verbotenen Themen des Films, und Vogel gibt einen Überblick über die Geschichte des visuellen Tabus. Als ursprüngliche Tabus nennt er Tod, Sexualität und Geburt, wobei Sexualität immer besonders streng tabuisiert wurde. Die Darstellung des Koitus nennt er »das gefährlichste Bild, das der Mensch kennt«. Der Angriff auf die Prüderie erfolgte durch die Abbildung von Nacktheit. Ihre volle Bejahung ist eine Errungenschaft der Avantgarde, führte aber schnell auch zur Ausbreitung des kommerziellen PornoFilms. Während die explizite Darstellung des Geburtsvorgangs auch im Zusammenhang mit der Tabuisierung von Sexualität zu sehen ist, ist die (Nicht-) Darstellung des realen Todes in tiefsitzenden Urängsten verwurzelt. Als grundlegende Intention des subversiven Films nennt Vogel die »Unterwanderung des Bewußtseins und die Einbeziehung des Zuschauers«. Er ist schöpferisch und bricht mit Vergangenem. Dies ist ein

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immerwährender Prozeß, der ständig fortgeschrieben wird und folgerichtig bezeichnet Vogel auch seine Abhandlung als »Entwurf«. In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß das Buch aus dem Bewußtsein der Linken der frühen 70er Jahre geschrieben worden ist, die die westliche, kapitalistische Gesellschaft als »eine im Untergang begriffene Gesellschaft« gesehen hat. Inzwischen hat die Geschichte einen anderen Verlauf genommen, als seinerzeit erhofft, und manches wäre zu relativieren und zu ergänzen. Eine grundlegende Überarbeitung war wohl nicht möglich und so begnügt sich die Neuauflage mit einem zusätzlichen Vorwort von Amos Vogel und einer ergänzenden Einleitung des ehemaligen Viennale-Leiters Alexander Horwarth. Notgedrungen fehlen dadurch Entwicklungen wie z.B. das Cinema of Transgression, dessen Vertreter sich explizit gegen die aus ihrer Sicht mittlerweile etablierte Avantgarde der 60er Jahre richteten, deren Werke bei Amos Vogel breite Berücksichtigung finden. Es fehlen auch die Grenzüberschreitungen einer feministischen Avantgarde, die sich erst ab Mitte der 70er Jahre in größerem Umfang entwickelte. Trotz dieser Einschränkung ist Film als subversive Kunst nach wie vor ein unver-

zichtbares Grundlagenwerk zum Verständnis der filmischen Avantgarde. Zu Recht weist Horwarth darauf hin, daß viele der darin beschriebenen Filme heute unbekannter sind als zum Zeitpunkt der Erstausgabe, als sie in Filmclubs, Kommunalen Kinos und anderen nichtkommerziellen Abspielstellen ein Forum hatten. Amos Vogel selbst war u.a. Gründer von Cinema 16, dem größten und bekanntesten Filmclub der USA. Sein Buch trägt dazu bei, die weitgehend verdrängten Filme dem völligen Vergessen zu entreißen. Neben der grundlegenden Darstellung des »Kinos wider die Tabus« werden etwa 400 Filme in Kurzbeschreibungen vorgestellt. Unter ihnen befinden sich bekannte Filmkunstwerke und experimentelle Klassiker, aber auch eine Vielzahl weitgehend unbekannter Kleinode. Film als subversive Kunst ist ein spannender Leitfaden durch die »andere« Filmgeschichte und eine Fundgrube für Entdeckungen. Abgerundet wird das Buch durch eine ganz hervorragende Auswahl von Standbildern, die zwar kein Ersatz für das Sehen der Filme sind, aber einen ersten visuellen Eindruck vermitteln. Amos Vogel: Film als subversive Kunst. Kino wider die Tabus – von Eisenstein bis Kubrick. Hannibal-Verlag, St. Andrä-Wördern 1997, 340 S., Abb., DM 54.–.

Charles Bowers: NOW YOU TELL ONE, USA 1926


http://

Stummfilm im Internet

von BODO SCHONFELDER

journal film # 32

Im folgenden sind einige Internetadressen aufgeführt, die im Zusammenhang mit Stummfilm von Interesse sein können. Speziell in den USA scheint das Internet für die doch recht vereinzelt dahinwerkenden Filmesammler ein Medium der Selbstdarstellung und Kommunikation zu sein. Hinter vielen Institutionen verbergen sich bei genauerem Blick solche Liebhaber. Wie leider überall in diesem elektronischen Jahrmarkt ist die Qualität der Seiten sehr unterschiedlich. Reine Selbstdarstellung steht neben Reklame, Institutionen- und Projektvorstellung, Abbildungen und interessanten Texten. Gelegentlich werden auch Veröffentlichungen in Zeitschriften- oder Buchform oder auf CD-Rom angeboten. Die Datenbanken sind als Quelle je nach Ausrichtung nur unterschiedlich und bedingt ergiebig. Leider werden die Web-Seiten formal, inhaltlich und technisch nicht immer im nötigen Umfang gepflegt. Manche Produkte sehen aus, als ob Computerfreaks oder wildgewordene Webdesigner eher die Verantwortung getragen haben als Filmfachleute. Bei technischen Veränderungen sind die Seiten gelegentlich nicht mehr gültig oder werden nicht weitergeschaltet. Deshalb kann trotz Überprüfung keine Gewähr übernommen werden. Allerdings erfährt man überrascht, daß Griffith’ Stammfirma Biograph oder die Thannhouser-Gesellschaft immer noch existieren. Manche Namen verraten deutlich ihren Inhalt, andere sind nur bei Erkun-

dungen einzuordnen. Relativ klar ist z.B. die Projection Box, die u.a. über Vorführangebote von Laterna Magica und frühen Filmen informiert. Georges Méliès informiert über die Forschungsarbeit der Gesellschaft der Freunde von Méliès und die Möglichkeit von Filmprogrammen. Haddon dagegen ist ein Archiv ethnografischer Filme der ersten fünfzig Jahre dieses Mediums. Hinter The Silent Bookshelf verbirgt sich ein Programm, das monatlich Quellen zur Stummfilmgeschichte veröffentlicht, darunter auch Cue Sheets und Musikbeispiele als Mini-Programme. Dagegen rezensiert The Silent Film Sources Neuerscheinungen von Stummfilmen auf Video oder Laserdisk. Dabei sind gelegentlich interessante Artikel zu einzelnen Filmen entstanden. Angesicht des Chaos oder der Freiheit im Internet (je nach Sichtweise) ist Stöbern empfohlen. Die Einordnung in Diverses und Geschichte ist etwas willkürlich. Andere wären sicherlich möglich. Die Filmmuseen sind bewußt ausgeklammert, da deren Web-Seiten meist nur die Informationen enthalten, die auch durch einen ersten Anruf oder ein Telefonat zu erhalten sind. Im elektronischen Bereich herrscht da die Devise: Dabeisein ist alles. Nichtvollständigkeit und eventuelles Veraltetsein ist als evident vorrauszusetzen. Die Liste (auf Seite 90) sollte Anregung sein, diesbezügliche Informationen auszutauschen.

Harry O. Hoyt: THE LOST WORLD, USA 1925

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www.f ilm Diverses

AFI OnLine http://www.afionline.org

HADDON http://www.rsl.ox.ac.uk/isca/haddon/HADD_home.html

Bill Mead’s Cinema Technology Page http://www.cinenet.net/users/wmead/ca_tech.html

HFF Potsdam-Biblothek http://www.bibl.hff-potsdam.de

GRAFICS http://grafics.histart.umontreal.ca/default-eng.html

Internet Movie Database http://www.leo.org/Movies http://www.imdb.com/ http://us.imdb.com/

LA LATERNA MAGICA http://intercity.it/~mndniovo LE SERVEUR DES ETUDES CINEMATOGRAPHIQUES ET AUDIOVISUELLES http://www.imaginet.fr/secav

Stummfilme im TV http://www.geocities. com/Hollywood/2845 The Film-Theory Web Page http://jefferson.village.Virginia.EDU/~spoons/film-theory_html/ f-t.index.html THE SILENTS MAJORITY http://www.mdle.com/ClassicFilms/indexold.htm The Silents Majority Archive Directory http://www.mdle.com/ClassicFilms/LostFilms/archive.htm THE SOCIETY FOR CINEMA STUDIES http://www.cinemastudies.org Turner Classic Movies http://www.tcm.turner.com

MELIES GEORGES http://www.alphacentauri.be/friends/melies MovieLine http://www.movieline.de Northeast Historic Film, 1996 http://www.acadia.net/oldfilm Palace: The Classic Film Site http://www.scruz.net/~mmills/palace POLISH FILM DATABASE http://info.fuw.edu.pl/filmy Quellen zur Filmgeschichte (speziell Stummfilmzeit) – »Birett im Netz« http://www.unibw-muenchen.de/campus/film/wwwfilmbi.html S & L Moviedata http://www.moviedata.de Stiftung Deutsche Kinemathek http://www.kinemathek.de

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THE SILENT BOOKSHELF http://www.cinemaweb.com/silentfilm/bookshelf

Greatest Films http://www.filmsite.org

VILLA LUMIERE http://www.culture.fr/culture/inventai/itiinv/lumiere/expo_lum.htm

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Beitr채ge zur Freiburger Filmund Kinogeschichte Teil 1 1896 bis 1919 journal film # 32

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Kinolandschaft bis 1919

von MARGA BURKHARDT

Camera obscura und Kaiser-Panorama Bald nach der Erfindung der Photographie 1839 wurden die ersten Stereoskopbilder hergestellt, die mit Hilfe einer speziellen Beleuchtungsoptik den Eindruck von Räumlichkeit vermittelten. Stereoskopbilder wurden in Form einer Camera obscura für einen einzelnen Betrachter oder im sogenannten Kaiserpanorama mit bis zu 25 Zuschauerplätzen zu viel bestaunten Attraktionen. In Freiburg beantragte 1885 der ortsansässige Zahnpraktiker Leopold Zipfel vor dem Ursulinen-Kloster oder der Karlskaserne eine Camera obscura aufstellen zu dürfen. Schließlich, so argumentiert er in seinem Antrag an den Freiburger Stadtrat, seien solche Apparate bereits in Berlin, Mannheim und Stuttgart zu bewundern. Dieses Argument verfehlte seine Wirkung nicht: Der Stadtrat befürwortete die Aufstellung der Camera, die in Absprache auf dem Rotteckplatz installiert wurde, jedoch knapp ein Jahr später wieder entfernt werden mußte. Erneut baten Zipfel und zu seiner Unterstützung die Witwe Otto Hausers die Stadt um einen Stellplatz; geeignet waren – ihrer Meinung nach – entweder der Holzmarkt oder der Karlsplatz. Zipfel durfte seine Camera auf keinem der beiden Orte aufstellen, er fand jedoch auf einem Privatgrundstück Unterschlupf, dem »Dägle Wirthsgarten« an der Ecke Basler- und Günterstalstraße. Auch dieser Platz war nur eine vorübergehende Lösung, denn schon 1892 wandte er sich erneut an die Stadt, um nun doch noch einen öffentlichen Platz für die Camera obscura zu erhalten. Dieses Mal ersuchte Zipfel um einen Platz an der Schwabentorbrücke. Vermutlich wurde Zipfel informell angedeutet, daß sein Antrag keinen Erfolg haben würde, denn als darüber im Stadtrat abgestimmt werden sollte, hatte er die Camera bereits nach auswärts verkauft 1. Knapp drei Jahre später stellte der Kaufmann Fritz Waidner ebenfalls das Gesuch, eine Camera obscura aufzustellen zu dürfen. Waidner argumentierte gegenüber dem Stadtrat, daß er auf diesen Nebenerwerb angewiesen sei, denn als angestellter Kaufmann eines Bauunternehmens habe er im Winter keinerlei Verdienstmöglichkeit. Aber auch diese Begründung vermochte den Stadtrat nicht zu überzeugen. Zumindest auf öffentlichem Gelände hatte die Camera obscura, außer dem kurzfristigen Intermezzo auf dem Rotteckplatz, in Freiburg keine Chance. Ob das ablehnende Votum des Stadtrats auch das Ergebnis einer feindseligen Haltung gegenüber modernen Technologien war, sei dahingestellt.

D

as Freiburger Kaiserpanorama residierte im alten Bursengang. Dort bot man Bilder von Reisen in fremde Länder und in schöne Landschaften, von Jerusalem bis Helgoland, oder den Anblick der schönen Helena. Insgesamt gab es ca. 250 Kaiserpanoramen in Mitteleuropa, die dem Berliner Unternehmer August Fuhrmann gehörten. In seiner Werbung betonte Fuhrmann den Bildungscharakter seiner Einrichtung: »Durch das Kaiserpanorama ist das Problem gelöst die Welt mit der Welt bekannt zu machen.« 2 Diese Botschaft kam beim Publikum an, und ein regelmäßiger Besuch im Panorama gehörte bald zu den bevorzugten Frei-

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zeitaktivitäten. Als die Bilder laufen lernten, ließ die Attraktivität der räumlichen Bilder stetig nach. So wurde in einem Leserbrief in der Freiburger Zeitung befürchtet, daß mit der Eröffnung der Kinos in Freiburg das Bursengang-Panorama aus Besuchermangel geschlossen werden müsse: »Durch das drohende Eingehen des Kaiserpanoramas würde unsere Stadt um ein Bildungsmittel ärmer. Man steht heutzutage längst auf dem Standpunkt, daß für die geistige Bildung möglichst lebendige Anschauungen ungleich wichtiger sind als die Anhäufung bloßen Gedächtniskrams, und das Interesse sämtlicher öffentlicher Schulen sowie Privatbildungsanstalten am Platze erforderte, sich über Schritte zu vereinbaren, die vielleicht doch noch die Erhaltung dies so ungemein günstig im Bursengebäude gelegenen Instituts sichern.« 3 Obwohl auch die Stadtverwaltung die Ursache des Rückgangs der Besucherzahlen im Kaiserpanorama in der Eröffnung des Kinematographen sah, »besonders die Jugend geht nicht mehr ins Kaiserpanorama sondern in den Kinematographen«, fühlte sie sich außerstande zugunsten des Panoramas einzugreifen. Kinos Ab 1896 über 10 Jahre lang reisten Wanderkinos durch Deutschland. Die Kinematographen gastierten auf Messen oder in Varietésälen. Auch in Freiburg wurden »lebendige Bilder« auf der Frühjahrs- und Herbstmesse auf dem Stühlinger Kirchplatz gezeigt. Bald gehörten die reisenden Kientopps zu den beliebtesten Messe-Vergnügen. 1897 führte der Kinematograph Edison »lebendige Photographien« wie DIE GEFESSELTE GRIECHIN, DIE KUGELSICHERE DAME, DER RIESE PISJAK, DESSEN EINE HAND DREI HÄNDE VON NORMALER GRÖSSE BEDECKT und DAS KOLOSSALKIND MARTHA vor. 4 Welt-Kinematograph Das erste ortsfeste Kino, der Welt-Kinematograph, eröffnete am Samstag, den 15. Dezember 1906 in Freiburgs Geschäftszentrum. In der Kaiserstraße 68 – im Haus der Oberrheinischen Bank 5 – hatten die Freiburger Kaufleute Bernhard Gotthart, Franz Julius Wenk 6, Franz Steiger und Oscar Kö(c)hler einen Raum für ihr »Theater lebender Photographien« angemietet.. Das Haus des Welt-Kinematographen gehörte zu diesem Zeitpunkt den Gebrüdern Hackenjos 7 und Julius Beit. Das »belehrende Institut« kündigte in seiner Eröffnungsanzeige »Sehenswürdigkeiten ersten Ranges« an und versprach »täglich ununterbrochen von Mittags 3 Uhr und Sonn- und Feiertags von 11 Uhr morgens ab Vorführung flimmerfreier kinematographischer Bilder in unerreichter Vollendung mit Klavierbegleitung« und jeweils mittwochs und sonntags Programmwechsel. Die Vorstellungen sollten ca. 1 Stunde dauern. Die Eintrittpreise beliefen sich auf reserviert 80 Pfg., I. Platz 50 Pfg. II. Platz 30 Pfg. Kinder und Militär vom Feldwebel abwärts: reserviert 60 Pfg, I. Platz 40 Pfg., II.Platz 20 Pfg. und für das Programm waren 5 Pfg. zu entrichten. Dies war im Vergleich zu den Löhnen zwar erschwinglich, doch kein ganz billiges Vergnügen. 1913 lag der Wochendurchschnittslohn für männliche Arbeiter im


Die

Welt-Kinematographen in Zürich, Esslingen 13 (26.3.1908) und Straßburg 14 (Herbst 1908) arbeiteten vermutlich nach einer Art Franchise-Konzept. Diese Kinos waren nicht unmittelbarer Bestandteil der Firma, sondern die Freiburger Zentrale kooperierte mit ortsansässigen Geschäftspartnern, die ihren Betrieb mehr oder weniger selbständig führten. Klaus Hosemann gibt in seinem 1991 erschienenen Artikel zur Freiburger Kinogeschichte die Zahl der Welt-Kinematographen-Theater im Deutschen Reich und der nahen Schweiz mit 16 an 15. Es ist anzunehmen, daß das erste Kino in Freiburg nicht besonders groß war, hatte das Kino als Ladengeschäft doch nur einen Teil der Geschäftsräume der Bank angemietet. Leider läßt sich das Eröffnungsprogramm nicht rekonstruieren. Das erste überlieferte Programm eines Freiburgers Kino stammt vom Sonntag, den 30. Dezember 1906, und verzeichnet folgenden Nummern 16: »Besuch des Vetters, sehr belustigend Bauer und Hexe, interessant Elektrischer Strom, sehr fidel Die Zerstörung von Valparaiso, authentische Aufnahme Verbotene Furcht, sehr humoristisch Die Mütze, großer Lacherfolg Musikalische Hallucination

Aladin mit der Wunderlampe, Märchen aus 1000 und einer Nacht« Diese Zusammenstellung entsprach der goldenen Regel zur Zusammenstellung der Filmsujets: Bestandteile sollten Musikstücke, Aktualitäten, Humoristisches, ein Drama, komische Aufnahmen, Naturbilder sowie Wissenschaftliches sein. Anziehungskraft hatten vor allem auch Aufnahmen von aktuellen Ereignissen. Insbesondere Katastrophen wie Erdbeben, Zugunglücke oder ähnliches boten Stoff für die Verfilmung. Die Filme wurden jedoch im Kientopp nicht stumm präsentiert, sie wurden durch Klavier oder ein kleines Orchester begleitet. Selten bekam ein Film eine eigene neue Instrumentierung, die Begleitmusik bestand in der Regel aus der Mischung von improvisierten Geräuschen und bekannten Musikstücken. Wie das Zusammenspiel von Bild und Musik funktionierte, illustriert folgender Bericht des Kinematographen über die Vorführung des Welt-Kinematographen-Films SZENEN AUS MESSINA, der Opfer des dortigen Erdbebens zeigte. »Nach einigen friedlichen Bildern erhebt sich das brave perpetuum mobile, der Klavierspieler, von seinem Sockel und verkündet Extraeinlage: Szenen aus Messina. Atemlose Stille. Der wackere Jünger Franz Liszt’s setzt sich wieder an die Tasten der Klaviatur und sucht durch ernste Klänge Stimmung zu machen. Zunächst sieht man nun auf dem Film die Wunderstädte des sonnigen Südens als großen Trümmerhaufen – eine gewaltige Tragödie der Natur. Furcht und Mitleid – die beiden Aufgaben der Tragödie des Theaters – waren im Publikum erregt. (...) Der Pianist spielte den so oft grausam mißhandelten Chopin’schen Trauermarsch.« 17 Schon 1908 zeigte das Freiburger Welt-Kino eigene Aufnahmen meist lokalen Bezugs. Kurzfilme über das Turnfest in Kenzingen, das Hochwasser in Zähringen, die Wagenrundfahrt am Waldsee oder den Besuch des badischen Großherzogpaars in Freiburg konnten im eigenen Kino bewundert werden. Die Freiburger Kinopioniere wandten sich bald der Filmproduktion zu, ihre Filialen wurden nach und nach an andere Betreiber verkauft 18. Ihre Anteile am Freiburger Kino Welt-Kinemato-

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südlichen Baden bei 24,85 Mark, für Fabrikarbeiterinnen zwischen 7,50 und 16 Mark 8. Der Freiburger Kinobetrieb war nicht das erste Filmtheater, das die findigen Kaufleute eröffneten. Die Freiburger Zentrale warb in ihrer Anzeige damit, daß die Welt-Kinematograph GmbH das größte Unternehmen dieser Art auf dem Kontinent sei. Die Kino-Kette hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Zweigstellen in Köln 9 (28.4.1906), München (15.4.1906), Düsseldorf (18.8.1906). Fast zeitgleich mit dem Freiburger Geschäft wurde die Nürnberger Zweigstelle des Welt-Kinematograph gegründet (21.12.1906) 10. Später folgten die Kinos in Saarbrücken (22.6.1907) 11, Stuttgart (18.4.1908), Augsburg und Karlsruhe (28.3.1908), sowie in Basel (2.Mai 1908) 12.


graphen übergaben die Gesellschafter bereits im Dezember 1908 an den Kaufmann Andreas Schaller 19. Das Welt-Kino wird unter diesem Namen mit Erfolg weiter betrieben. Die neue Attraktion fand so großen Anklang, daß schon 1909 weitere Räume im 2. Stock der Kaiserstraße 68 angemietet werden. 20 Apollo-Kinematograph beim Wiener Café Als zweites Freiburger Kino wurde am Ostersonntag 1908 nur wenige Häuser entfernt in der Kaiserstraße 25 a der Apollo-Kinematograph eröffnet. Die Preise für die Vorstellungen im Apollo oder wie es in der ersten Zeit hieß das »neuste Kino-Theater« bewegten sich auf demselben Niveau wie diejenigen vom Welt-Kinematographen. Das Apollo spielte in einem Nebenraum des Wiener Cafés zum Beginn folgendes Programm 21: »Panorama der Lagunenstadt Venedig. Aufnahme gelegentlich des Besuchs des deutschen Kaiserpaars in Venedig; Pierrot in der Hölle. Phantastische, spannende Handlung; Der kluge Hans in Dressur. Kom. Zirkusnummer; Das Pferd als Retter. Ergreifend; Die Rose, welche Alle zum Tanzen bringt. Erheiternd, koloriert; Unverfroren. Humoristisch; Trauerspiel im Zirkus. dramatisch; Die unzeitige Weckuhr. urkomisch«.

G

eschäftsführer des neuen Kinos war Carl Metzger 22; die Geldgeber im Hintergrund drei Freiburger Kaufmänner (Johann Helwig, Adolf Sibler und Georg Röbcke) 23. Dieses Kino gab nur ein kurzes Gastspiel, schon 1911 wird die das Kino betreibende Gesellschaft Apollo-Kinematograph wieder aus dem Handelsregister gestrichen 24. Saal-Theater Zentral-Kinematograph G.m.b.H: Die nächste Kinopremiere fand im Storchen-Saal in der Schiffstraße 9 am 18. April 1908 statt. Dieser Saal im zweiten Stock des Gebäudes hatte zuvor als Varietésaal gedient 25; im Erdgeschoß befand sich das Gasthaus Zum Storchen. Haus und Gaststätte gehörten den Brauereigesellschaft vormals J. Bercher in Breisach. 1911 ging das Anwesen in den Besitz der Mittelbadischen Brauereigesellschaft in Emmendingen über. Gesellschafter des neuen Kinos waren Bernhard Dietsche (Kaufmann), Karl Morat (Privatmann) und Franz Steiert (Kaufmann), die alle in Freiburg ansässig waren. Die Besitzverhältnisse sollten sich allerdings in den nächsten Jahren ständig verändern, ihre Dynamik bildete damit die fortwährenden Veränderungen des Kinogewerbes ab 26.

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Die Kinovorstellungen begannen nachmittags 3 Uhr und endeten wochentags um 10 Uhr abends. Sonn- und Feiertag startete die erste Vorstellung um 1 Uhr. Die Preise der Plätze lagen auf demselben Niveau, wie diejenigen des Weltkinos: Erwachsene. Loge 80 Pfg., I. Platz 60 Pfg., II. Platz 40 Pfg., III. Platz 20 Pfg.; Kinder und Militär: Loge 40 Pfg., I. Platz 30 Pfg., II. Platz 20 Pfg., III. Platz 10 Pfg.. Zudem bot die Direktion wie der Welt-Kinematograph ein Abonnement an: I. Pl. (12 Karten) M. 6.-, II. Pl. (12 Karten) M. 4.-. Neben den Abonnements gab es Ermäßigung für Vereine. Man offerierte ein Büfett im Saal, versprach keinen Trinkzwang auszuüben 27. Im ersten Weltkrieg wurde das Zentralkino am 22. August 1917 durch Bombenabwurf beschädigt. Die Explosion richtete nur Sachschäden an, Menschen wurden – nach Angabe der damaligen Filmvorführerin Elise Hatt – weder verletzt noch getötet, da der Betrieb gerade Mittagspause hatte 28. Die Räumlichkeiten des Zentral schienen – nach Meinung des städtischen Hochbauamtes – nach dem ersten Weltkrieg im Vergleich zu anderen Spielstätten in wesentlich schlechterem Zustand gewesen zu sein. Vielleicht war dies auch eine Folge der Zerstörung im Krieg. Deshalb kündigte der Zentral-Kinematograph 1919 den Umbau des Kinos in »ein modernes, allen Anforderungen der Neuzeit entsprechendes, mit Balkonen und Logen versehenes Lichtsspieltheater mit 800 Plätzen« an; dies stellte gegenüber den Anfangsjahren immerhin eine Verdoppelung des Platzangebotes dar 29. American-Biograph, Merianstraße 8 Unter Direktor W. Krüger wurde der American-Biograph am 26.10.1910 eröffnet und spätestens 1913/14 geschlossen. Zumindest verschwand der American-Biograph in diesem Jahr aus dem Freiburger Adressbuch. Genauer konnte die Schließung bisher nicht datiert werden. Ein Besuch kostete 1910 zwischen 60 und 20 Pfg. 30 Auch dieses Kino wurde in den Räumen einer Gaststätte eröffnet, nämlich derjenigen »Zum Goldenen Lamm«. Die Eröffnung eines Kinos stieß nicht immer auf die Begeisterung der Anwohner. Der Leiter des städtischen Amtes für Statistik Dr. Ehrler beschwerte sich am 28.10.1910 beim Freiburger Stadtrat über den neu eröffneten American-Biograph: »Wir beehren uns ergebenst zu berichten, daß am 27 ds. Mts in den Parterreräumen des Gasthauses zum goldenen Lamm gegenüber unseren Geschäftsräumen in der Gauchstraße ein Kinematographen-Theater eröffnet worden ist, in welchem durch das ständige Musizieren am

Sandwich-Männer als laufende Werbetafeln für den American Biograph, 1911.


Friedrichsbau-Lichtspiele, Kaiserstraße 150, Als letztes Kino der »Gründerzeit« wurden die Friedrichsbau-Lichtspiele am 15.4.1911 eröffnet. In ihrer Anzeige zur Eröffnung warben die Besitzer mit Feuersicherheit, neuzeitlicher Ventilation, der Größe und Schönheit, dem halbwöchentlichen Programmwechsel und der Musikbegleitung durch eine Künstlerkapelle 32. Der Friedrichsbau war das erste neuerbaute Kino in Freiburg. Inhaberin war Henriette Hansberger, die Witwe des Restaurateurs Johann Josef Hansberger in Mühlhausen. Es ist bisher noch nicht geklärt, ob dieser Johann Josef Hansberger identisch ist mit dem Herrn Hansberger, der sowohl in Basel, Colmar als auch Mühlausen Kinos besaß 33. Hansberger besaß in den 1910er Jahren zudem auch eine »Aktiengesellschaft für Kinematographie und Filmverleih in Straßburg«. Das neuerbaute Kino scheint die alteingesessenen Etablissements ziemlich unter Druck gesetzt zu haben. Weltkinemtograph und Zentralkino schalteten große Anzeigen, um auf ihre Leistungen hinzuweisen. Der Weltkinematograh wirbt mit dem Slogan »das 1te und feinste Lichtbild-Theater am Platze ist und bleibt der Welt-Kinematograph« und das Zentral versucht seine Gäste mit den größten Darbietungen der Saison wie dem DEUTSCH-DÄNISCHEN KRIEG oder dem Sensationsroman DER SCHRECKEN ins eigene Kino zu locken. 34 Die Preise fürs Kino im Friedrichsbau lagen zwischen 1,20 Mark (Parkettloge) und 30 Pfennige für den 3. Platz. In der Direktionsriege des Friedrichsbau gab es allerhand Wechsel. 1913 war C. Heinz Direktor, 1914 Ludwig Goebel, in der Verwaltung war Richard Straub tätig. Ab 1917 leitete Alfred Flügel das Friedrichsbau-Kino. Flügel betrieb auch das Café im Friedrichsbau und später einen Filmverleih 35. Sonstige Kinoveranstalter Filmvorführungen fanden von 1906 bis 1919 nicht nur in den Kinos statt. So kündigte das Colosseum beim Martinstor, Varieté-, Theater- und Veranstaltungssaal (1921 entstand hier das Casino-Kino), in der Freiburger Zeitung am 15.9.1910 die Vorführung von Kinemacolorfilmen an. Auch die Verfilmung des »grossen Faustkampfes« zwischen Jack Johnson und Jim Jeffries, der im Juli 1910 in Reno stattgefunden hatte 36, wurde im Colosseum präsentiert. Zum Boxkampf-Film versprach der Veranstalter sogar, daß der Deutsch-Amerikaner Mr. H. E. Neumann – einer der Inhaber der Produktionsfirma – bei der Vorstellung anwesend sein werde und dem »hochverehrlichen Publikum die Vorgänge auf den Films fachmännisch erläutern« werde. Filme wurden auch im Saal der Gaststätte Harmonie in der Grünwälderstraße vorgeführt. Am Sonntag, den 6. Februar 1916, zeigte man in zwei Vorstellungen Aufnahmen aus dem ersten Weltkrieg: »Serie: Mit der Kino-Kamera im Weltkriege: Die Durchbruchschlachten in Galizien. Tarnov – Gorlice – Brest-Litowsk. Leben-

de Orginalaufnahmen und Schilderung der offiziell vom Großen Generalstab der Armee zugelassenen kinotechnischen Abteilung der Expreß-Film (Inhaber Robert Schwobthaler, Freiburg). Verbindender Text gesprochen von Herrn von Klinkowström, Filmlänge 2 Kilometer. Ein lebendes Gesamt-Gemälde dieser 4 Wochen tobenden historischen Schlachten, wo es gelang, die Russen entscheidend zu schlagen, Galizien zu befreien und vorzustoßen in das Herz Russlands. Im Gegensatz zu den Stellungskriegen in den Vogesen zeigt dieses neue Filmwerk den Bewegungskrieg in allen seinen Phasen: die großen Mörser in voller Feuertätigkeit, Verfolgung der Russen durch Honwed Husaren usw. usw. Einzig dastehend: Lebende Bilder, aufgenommen vom Doppeldecker aus über den russischen Stellungen und im Fesselballon.37 Ein »richtiges« Kino wurde in der Harmonie aber erst 1927 eröffnet. Der Freiburger Kinoskandal: DIE PROSTITUTION Die Auseinandersetzung darüber, was auf den lebenden Bildern gezeigt werden darf, ist fast so alt wie das Medium. Am 9. Januar 1909 macht das Stadtarztamt den Freiburger Stadtrat auf einen Film im Welt-Kinematographen aufmerksam: »Wir wurden von einem Arzt – nicht etwa von einer empfindsamen Dame – darauf aufmerksam gemacht, daß die letzte Serie im Welt-Kinematographen eine Nummer gehabt, welche das Verschlingen eines Kaninchens durch eine Riesenschlage darstellte. Derartige Vorführungen sind u. E. weniger geeignet, die naturgeschichtlichen Kenntnisse zu erweitern, als vielmehr Gefühllosigkeit und Rohheit bei der heranwachsenden Jugend groß zu ziehen.« 38 Immer wieder wurden die Gefahren des Kinos von Gegnern unter dem Aspekt der Nachahmung des Gesehenen diskutiert. Die Auseinandersetzung über die Inhalte der Filme setzte sich auch mit den abendfüllenden Filmen fort, erste lange Kinofilme kamen ab 1912 in die Lichtspieltheater. Weitaus heftiger reagierten verschiedene Gruppen innerhalb der Freiburger Bevölkerung allerdings auf den sogenannten Aufklärungsfilm DIE PROSTITUTION 39, der vom Dienstag, den 22 Juli bis zum Freitag, den 25. Juli 1919, im Freiburger Zentralkino gezeigt wurde. So wurde für den Film von Richard Oswald 40 – einer der erfolgreichsten Filmemacher der Weimarer Republik und zugleich ihr skandalträchtigster- geworben: »Die besten Berliner Künstler spielen in diesem größt. Film-Kunstwerk. Zum ersten Male wird das wunderbare Spiel der einzelnen Künstler besonders durch vergrößerte, wunderbare plastische Photographie wiedergegeben. Diese Filmschöpfung war vom hiesigen Bezirksamt verboten und wurde vom Ministerium des Innern wieder freigegeben. Beginn der einzelnen Vorstellungen 2.45, 5.00, 7.00, 9.00 Uhr, Freikarten sind von 5.00 Uhr an gesperrt« 41. Der sozialhygienische Film DIE PROSTITUTION war kommerziell so erfolgreich, daß Oswald noch im selben Jahr einen zweiten Folge mit dem Titel DIE SICH VERKAUFEN drehte und über seinen eigenen Verleih verlieh. Als wissenschaftlicher und medizinischer Berater arbeitete Dr. Magnus Hirschfeld, Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin mit.

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Nachmittag die Nerven so angegriffen werden, daß ein ruhiges sachgemäßes Arbeiten unmöglich ist. Wir bitten beim Großh. Bezirksamt dahier wegen Einstellung des Theaterbetriebs oder wenigstens der Musik baldgefällig vorstellig zu werden.« 31


In Freiburg wurde die Kampagne gegen die Aufführung der PROSTITUTION zunächst durch den Universitätsprofessor Engelbert Krebs initiiert, der den Kinotheaterbesitzern in einem Leserbrief an die Freiburger Zeitung vorwarf aus »Mammonismus« nur noch »Dirnengeschichten und Bordellszenen« zu zeigen 42. In der Sitzung der Vertrauensmänner des Zentrums am 25. Juli 1919 vertraten die Anwesenden die Meinung, daß der Film »die größte Schweinerei vor halbwüchsigen Personen männlichen und weiblichen Geschlechtes« zeige. Deshalb beantragte das Zentrum in einem Antrag vom 20. Oktober, daß die Kinos nur noch eine Spielerlaubnis für die Zeit zwischen 8 und 10 Uhr abends erhalten sollten 43. Der katholische Jungmännerbund forderte sogar: »Falls die Gesamtrichtung der in den Kinos aufgeführten Stücke dieselbe bleibt wie bisher, schließt die Stadt aus einfacher Notwehr sämtliche Kinobühnen, indem sie die Stromlieferung an die Lichtspieltheater endgültig verweigert, und läßt es auf den Prozeß gegen sich sowie auf die Entscheidung des Landtags ankommen« 44

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em Ansinnen schloß sich ein großes Spektrum vor allem katholischer Vereine an: katholischer Frauenbund, Mütterverein, Elisabethenverein, Fürsorgeverein, Frauen-Vinzentius-Verein, Mädchenschutzverein, katholischer Lehrerinnenverein, kath. Kaufmännischer Verein Veritas, kath. Kaufmännischer Verein Treubund, Arbeiterinnenverein, Dienstbotenverein und der Handwerkerinnenverein an 45. Der Jungmännerbund erhielt aber auch Unterstützung von Frauenvereinen abseits der katholischen Bewegung; das Spektrum der Unterzeichnerinnen reichte von der Sozialdemokratischen Frauensektion bis zur deutschnationalen Frauengruppe, dem Verband der weiblichen Handels- und Büroangestellten bis zum Hausfrauenbund, vom altkatholischen Frauenverein über dem Verband evangelischer Frauenvereine bis zum Israelitischen Frauenverein 46. Diese gemeinsame Plattform jenseits von Konfessions- und Parteigrenzen reichte eine eigene Antragsbegründung nach. In den beanstandeten Filmen würde nicht nur das Frauentum entwürdigt, sondern sie verstießen auch gegen die allgemeinen Sittlichkeitsvorstellungen: »Die vorgeführten Filme verderben unsere Jugend und unser Volk. Sie verbreiten den Geist der Faulheit und der Genusssucht [sic!], des Bordell- und Dirnenwesens. Sie verherrlichen das Abenteuer- und Verbrechertum und Zersetzen das gesunde Gefühl für Familie und Ehe. Eine Flut von Schmutz wird über unsere Stadt ausgegossen« 47 Am 27. September meldete sich der Intendant des Freiburger Stadttheaters Schwantge zu Wort und forderte eine lokale Zensurbehörde nach elsässischem Vorbild. In Mühlhausen beurteilte der örtliche Theaterdirektor als Zensor das Kinoprogramm. Damit könnten nach Schwantges Meinung auch in Freiburg die Auswüchse der Kinos bekämpft werden und große ernste Kunst gefördert werden. Nicht zuletzt sei der schlechte Besuch der großen Klassiker und anderer ernster künstlerischer Schauspielaufführung dieser Entwicklung zu verdanken 48.

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Sogar die Zeitung der Sozialdemokratie, die Freiburger Volkswacht, stellte sich auf die Seite der Konservativen, obgleich sie sich von der generellen kulturpolitischen Stoßrichtung des Zentrums, die sich z.B. auch gegen Theaterstücke von Frank Wedekind richtete, distanzierte. »Müssen wir wirklich da bloß mit geballten Fäusten zusehen wie die durch die Roheit der Kriegsjahre erkrankten Seelen mit ekler, infektiöser Jauche überflutet werden?« 49. Konsequenz der Diskussion war die Einrichtung einer neuen lokalen Zensurkommission – eine einheitliche gesetzliche Regelung fehlte zu diesem Zeitpunkt noch -, die aus den bisher damit befaßten Polizeibeamten Raus, Hölle und Umbauer sowie aus sechs Bezirksratsmitgliedern 50 (Klett, Klieber, Hörburger, Marbe, Schramm und Zimmermann) gebildet wurde. Diese Kommission besuchte nach einem festgelegten Fahrplan zweimal pro Woche jedes der drei Freiburger Kinos. Die Kinobesitzer stimmten dieser Regelung zu, da sie damit noch am glimpflichsten aus der Sache herauskamen. Gleichzeitig verwahrten sie sich gegen die Forderung eine Vorzensur vor der Programmierung des Filmes durchführen zu lassen. Das Ansinnen, ihre Spielzeit auf zwei Stunden abends einzuschränken, konnten sie augenscheinlich mit dem Hinweis auf den darauf folgenden unvermeidlichen wirtschaftlichen Ruin abwenden. Die Kinomacher setzten sich gegen die Kinohetze zur Wehr: Zum einen würden die Freiburger Kinos zur Zeit sowieso nur zu verkürzten Zeiten spielen, zum anderen erziele die Stadt durch die von Kinos bezahlte Lustbarkeitssteuer nicht unbeträchtliche Einnahmen. Und endlich würden durch eine Reduzierung der Spielzeiten viele Kinoangestellte arbeitslos werden und damit zu Empfängern von staatlicher Unterstützung. Die Diskussion um die Überwachung der Lichtspielhäuser wurde in den Jahren unmittelbar nach Kriegsende nicht nur auf kommunaler Ebene geführt, sowohl der badische Landtag als auch die Nationalversammlung diskutierten, ausgelöst durch Filme der unmittelbaren Nachkriegszeit, über die Filmzensur. Schließlich wurde am 15. Mai 1920 ein Reichsgesetz zur einheitlichen Regelung der Filmzensur in Kraft gesetzt 51. Ein kommunales Kino für Freiburg Die Forderung nach einem kommunalen Kino war keine originäre Idee der 1970er Jahre. Sie entwickelte sich bereits in den frühen zwanziger Jahren, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Im Rahmen der Auseinandersetzung um die sogenannten Aufklärungsfilme kam auch in Freiburg die Überlegung auf, ein Kino in städtischer Regie einzurichten. Das Anliegen wurde in die Diskussion um Filmzensur, wenn auch mit unterschiedlichen Implikationen, von der Stadtverwaltung und der sozialdemokratischen Volkswacht eingebracht. Die Volkswacht forderte nicht nur die Kommunalisierung der Kinos, sondern die Sozialisierung der Filmindustrie. Die Stadtverwaltung prüfte, ob und wie eine Kommunaliserung für die Stadt zu bewerkstelligen wäre. Dazu beauftragte der Stadtrat die Leiter des Rechnungsamtes und des Verkehrsamtes, Daten und Information über die Kinosituation in Freiburg zusammen-


Ausblick auf die weitere Kinogeschichte Wie wir gesehen haben, siedelten sich alle Kinos bis 1919 im unmittelbaren Stadtzentrum an. Sie nutzten zunächst bereits vorhandene Gebäude der Innenstadt, wie ein Ladengeschäft (Welt-Kinematograph) oder Varietésäle bzw. Nebenräume von Gaststätten (Apollo,

Amerikan-Biograph, Zentral). Diese zentrale Lage entsprach den Wünschen des Kinopublikums, Stammgäste waren nicht in erster Linie Arbeiter, sondern Frauen, Kinder und Jugendliche, die ihren Aufenthalt in der Stadt zu einem oftmals auch spontanen Kinobesuch nutzten. So erging 1912 die Anweisung des Bezirksamtes Freiburg an die Schulkommission, die Kinematographen so zu überwachen, daß Kinder nur spezielle Kindervorstellungen besuchen dürften. Auch in Begleitung ihrer Eltern dürften sie keine andere Vorstellung anschauen 52. Nach dem Ende des ersten Weltkriegs gab es in Freiburg noch drei Kinos: Das Central.-Kino (Schiffstraße 8), die Kammerlichtspiele (früher Friedrichsbau, Kaiserstraße 150) 53 und das Weltkino (Kaiserstraße 68). Am beliebtesten war 1919 das Zentral mit 232.752 Zuschauern, während das Welt-Kino nur von 147.532 und der Friedrichsbau sogar nur von 53.980 Kinogängern aufgesucht wurde 54. Die Freiburger/innen gingen durchschnittlich sieben Mal pro Jahr ins Kino. In den nächsten beiden Jahren vollzog sich eine Konzentration auf dem Freiburger Kinomarkt. Das Zentralkino übernahm nicht nur den Friedrichsbau, dessen Kauf die Kinoleitung in einer Anzeige in der Freiburger Zeitung wie folgt begründete: »Das hiesige Lichtspieltheater zum Friedrichsbau ist durch Kauf in unseren Besitz übergegangen. Der seitherige Besitzer, Herr Alfred Flügel, wird das Theater bis Mitte August 1920 weiterbetreiben. Eröffnung unter anderem Namen nach vollständiger Renovierung. Anfang September. Durch die Vereinigung zweiter Lichtspieltheater am Platze (ZenralTheater, Schiffstraße 9 und Lichspieltheater zum Friedrichsbau Kaiserstraße 150), sind wir durch Verringerung der Betriebskosten in die Lage versetzt, unseren verehl. Besucherinnen und Besuchern noch Besseres wie seither zu bieten. Für die kommende Spielzeit haben wir uns nur Groß-Filme der größten deutschen Fabrikate (im Genre von Herrin der Welt) UFA, Decla usw. in Erstaufführung gesichert. Durch unseren erprobten Hauskapellmeister werden die Films absolut tonrein feinsinnig und künstlerisch illustriert. Durch bewährte Fachleute mit langjähriger Praxis, niedere Betriebsspesen, äußerst günstige Abschlüsse nur erstklassiger Films bis Sommer 1921, setzen wir uns in den angenehmen Stand, jeder Konkurrenz die Spitze zu bieten« 55. Auch das älteste Kino, der Welt-Kinematograph, wurde vom Zentral aufgekauft 56. Aber das Zentralkino wechselte den Betreiber und Besitzer. Karl Thoma, zuvor nur anteilsmäßiger Gesellschafter des Zentralkinematographen GmbH, erwarb den Kinobetrieb 57. Bis 1924/25 zeigt der Welt-Kinematograph in der Kaiserstraße Filme, dann ist seine Zeit als Kino beendet. Der Hauseigentümer Otto Hackenjos eröffnet in den Räumen des Kinos ein Schuhgeschäft.

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zutragen. Mit der Raumsuche wurde das städtische Hochbauamt beauftragt. In seinem Bericht zieht Gruber, Leiter des Amtes, Bilanz über die Raumsuche. Geeignet wäre seiner Meinung von der Freiburger Kinos nur der Friedrichsbau. Dieser habe eine sichere und bequeme Anlage. Einen städtischen Raum, der als Kino genutzt werden könnte, wie z.B. Aulen oder das alte Theater an der Sedanstraße, gäbe es nicht. Ein Neubau könnte jedoch in der Hildaschule erstellt werden. Dies würde allerdings ungefähr 100 000 Mark kosten. Das städtische Rechnungsamt kommt zum Ergebnis, daß nach Besucherzahlen, Einnahmen und Lustbarkeitssteuern sich mit der Kommunalisierung der Kinos ein Betriebsüberschuß für die Stadtkasse erzielen lassen würde. Allerdings gibt das Amt zu bedenken, daß der Umsatz natürlich auch von den gezeigten Filmen abhinge: »Es ist eine betrübende und bezeichnete Erscheinung, daß die belehrenden Filme nicht die Einnahmen erbringen, die der Unternehmer von den sogenannten zugkräftigen Stücken mit Sicherheit erwarten darf.« Der Leiter des städtischen Verkehrsamtes Dufner gab zu bedenken, daß sein Amt im Frühjahr 1919 ein Schulkino in städtischer Regie eröffnen wollte. Dieses Vorhaben sei aber durch Ermangelung eines geeigneten Raumes gescheitert. Zudem lägen ihm keinerlei Angaben zu den Hauptkosten des Kinobetriebs, nämlich den Filmmieten und der Reklame, vor. Er betonte, daß Filme als Handelsware keine festen Preise hätten: »Selbst für denselben Film können die Preise von einigen Hundert bis zu einigen Tausend Mark schwanken. Ein Film-Schlager z.B., der von einem Kino sofort nach dem Erscheinen erworben wird, kann auf 2-3000 Mark zu stehen kommen, während er am Ende seiner Tournee nur noch 5-800 Mark kostet. Hierin das Richtige zu treffen und Ein- und Ausgaben in erträgliches Verhältnis zu setzen, ist die hauptsächliche Geschäftsaufgabe der Kinotheater-Besitzer. Von zugkräftigen Films hängt der Besuch und damit die Rentabilität des Kinotheaters ab. Zugkräftige Films sind aber um ein mehrfaches teurer als »matte Ware«. Den Effekt der Kommunalisierung auf die künstlerische und sittliche Qualitätsverbesserung beurteilte Dufner skeptisch, eine Verbesserung in dieser Hinsicht könnte eher durch den Einfluß auf Filmproduktion und -handel erzielt werden. Nach diesen ernüchternden Rechercheergebnissen versandete damals das Interesse an einem kommunalen Kino.


1921 wurde das Casino-Kino in der Belfortstraße neu eröffnet. Geschäftsführer waren bei der Eröffnung Mathias Göringer, Kaufmann aus Karlsruhe, der Freiburger Kaufmann Kurt Kitt, Leiterin des Kinos war Vera Bern 58.

Der Complex Casino umfaßte nicht nur ein Kino, sondern auch ein Restaurant, ein Café, eine Konditorei und Weinstuben. Die Leiterin des Casino-Kinos, Vera Bern, prophezeite in der Fachzeitung »Der Kintematograph«, daß in Freiburg Filmgeschichte geschrieben werden würde: »Das Casino soll das schönste Kino von ganz Baden sein. Schon möglich. Uebrigens ist das Casino nicht nur ein Kino, sondern eine ganze Mausefalle, wie die Casinos der französischen Modebäder: eine Kombination von angenehmen Möglichkeiten.(...) Alle Achtung vor so einer Stadt, die noch vor kurzem von allem Großstadttum unbeleckt war. Aber das ist nicht alles! Es gibt noch viel mehr hier. Es gibt eine Filmfabrikation [Berg- und Sportfilm; M.Burkhardt]. Nein, nicht den Welt-Kinematographen meine ich, das heißt, den gibt’s auch, sondern etwas ganz Besonderes, ganz Neues! Etwas Junges. Etwas symthathisches! Etwas, was mich mit Stolz erfüllt für unsere deutsche Kinematographie, die wieder einmal bahnbrechend wirkt.« 59 Anmerkungen 1 Zur Auseinandersetzung um die camera obscura. In: Stadtarchiv C2 71/19. 2 Zitiert nach Plessen, Marie-Louise. Sehsucht: das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts. Basel Frankfurt a.M. 1993. S. 281. 3 Freiburger Zeitung vom 15. 12.1908. 4 Freiburger Zeitung vom 20.10.1897. 5 Die Kaiserstraße 68 lag schräg gegenüber der Münstergasse. Hier befindet sich heute die Stadtsparkasse Freiburg. 6 Wenk stirbt 1915. Siehe Meldung des Kinematographen vom 8.12.1915. 7 Einer der Brüder Otto Hackenjos ist von 1915 bis 14.2.1928 Gesellschafter in der Zentral-Kinematographen Gmbh und von 1926 1928 auch ihr Geschäftsführer. 1928 verkauft Hackenjos seine Anteile an Karl Thoma. In: Staatsarchiv Freiburg, B 18/30, Nr. 359, Oz: 59, Zentral Kinematograph-Gesellschaft. 8 Zahlen stammen aus: Boelcke, Willi A.: Sozialgeschichte Baden-Württembergs 1800 1945. Stuttgart 1989. 9 Das Kino des Welt-Kinematographen war auch in Köln das erste ortsfeste Kino. In: Kinematograph vom 5.5.1910. 10 Die Gründungsdaten entstammen der Publikation von Corinna Müller. Vergl. Müller, Corinna: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen. Stuttgart, Weimar 1994. S. 39. 11 Aus dem Handelsregister des Amtsgerichts Freiburg, Band I, S. 265. 12 Aus: Kern-Meier, Paul: Verbrecherschule oder Kulturfaktor? Kino und Film in Basel 1896 1916. S. 30f. 13 Siehe Broschüre der Esslinger Stummfilmtage 1983. 14 Notiz im Kinematographen vom 11.11.1908. 15 Vgl. Hosemann, Klaus: Seinerzeit bahnbrechend heute vergessen. Filmschaffen in Freiburg. In: Freiburger Almanach 24. Jahrbuch (1991): S. 109- 116. 16 Freiburger Zeitung, Ausgabe vom Sonntag, den 30 Dezember 1906 17 »Aus der Hauptstadt des Reichslandes«. Im: Kinematographen vom 20. Mai 1909. 18 Im Handelsregister des großherzoglichen Amtsgerichts Freiburg wurde auch die Aufhebung der einzelnen Zweigstellen eingetragen: Düsseldorf (4.3.1908) Nürnberg (15.10.1909), Köln (28.2.1911), Saarbrücken (3.2.1911), Augsburg (17.2.1911), Stuttgart (9.9.1911), Basel (22.10. 1912), Karlsruhe (31.10.1912), München (2.5.1916). 19 In: Der Kinematograph. Nr. 105, vom 30.12.1908. 20 Im Freiburger Adressbuch 1909. S. 167.

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Freiburger Zeitung vom 18. April 1908. Freiburger Adressbuch von 1912. S. 40 Gewerbetriebe. Handelsregister RA 13/161/1911. Eintragung im Handelsregister beim Amtsgericht Freiburg Band XX, Seite 302, 18.4.1911, Band XXV Seite 456 (die Gesellschaft ist gelöscht) Vergl. z.B. die Programmankündigung vom 15.4.1908 in Freiburger Zeitung. Staatsarchiv Freiburg, B 18/30, Nr. 359, Oz: 59, Zentral Kinematograph-Gesellschaft. In: Freiburger Zeitung vom Samstag, den 22. August 1908. Erzählung der Filmvorführerin Elise Hatt. In: Herterich, Wolfgang: Bomben auf Freiburg. In: Freiburger Alamanach. 1984. S. 110. Im Kinematographen vom 11.6.1919. Anzeige vom 3.11.1906. Eintrittspreise: I. Platz 60 Pfg., II. Platz 40 Pfg., III Platz 20 Pfg; Militär bis zum Feldwebel und Kinder wochentags halbe Preise. In: Freiburger Zeitung vom 3.11.1910. IN: Stadtarchiv C3 536/1/1. Anzeige in der Freiburger Zeitung vom 15.4.1911. Siehe Meier-Kern, Paul: Verbrecherschule oder Kulturfaktor. Kino und Filme in Basel 1896 1916. In: 171. Neujahrsblatt der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige. Basel 1893. S.32f. Freibuger Zeitung vom Samstag den 15.4.1911 Aus den Adressbüchern der Stadt Freiburg. Freiburger Zeitung vom 12.4.1911 (Anzeige Boxkampf) und 15.9.1910 (Kinemacolor) Freiburger Zeitung vom 4.2.1916. Stadtarchiv Freiburg C3 536/1/1. Der Titel DIE PROSTITUTION wurde vom Verleih später in DAS GELBE HAUS und IM SUMPFE DER GROSSSTADT geändert. Oswald wurde am 5.11.1880 in Wien geboren, er starb 1963 im amerikanischen Exil. Freiburger Zeitung vom 26. Juli 1919. Freiburger Zeitung vom 11.7.1919. Stadtarchiv C4 XII/30/6. Vergl. Zeitungsartikel zur Versammlung des Jungmännerbundes, der dem Schreiben der Zentrums-Stadtverordneten vom 20.10.1919 beigelegt ist. In. Stadtarchiv C4 XII/30/6 Petition an den Freiburger Stadtrat vom 19.10.1919. In: Stadtarchiv C4 XII/30/6. Unterzeichnerinnen waren: Katholischer Frauenbund, Luisen Frauenverein, Verein abstinenter Frauen, Sozialdemokratische Frauensektion, Verein Frauenbildung – Frauenarbeit, Verein bad. Lehrerinnen, Kath. Lehrerinnenverein, Deutschnationale Frauengruppe, Verein der Freundinnen junger Mädchen, Hausfrauenbund, Verein kath. Geschäftsgehilfinnen, Verband evangelischer Frauenvereine, altkatholischer Frauenverein, israelitscher Frauenverein, Verband der weiblichen Handels- und Bürgangestellten Ortsgruppe Freiburg, Frauenbund, Hausbeamtinnenverein, Verein der Postund Telegraphenbeamtinnen. Petition an den Stadtrat der Hauptstadt Freiburg vom 3.11.1919. In: Stadtarchiv C4 XII/30/6. C4 XII/30/6. Volkswacht vom 2.8.1919. Artikel Aus der Stadt Freiburg. Beseuchungsgesellschaften ohne Pflicht und Haftung. Vergleich mit dem heutigen Kreisrat. Stadtarchiv C4 XII(30/6. Schreiben des Bezirksamtes Freiburg vom 19.9.1912. In: Stadtarchiv Freiburg C3 536/1/1. Eigentümer des Friedrichsbau war 1921 die Dannemannsche Verwaltung. Für weitere Informationen zum Gebäude-Komplex siehe in: Kalchtaler, Peter: Freiburg und seine Bauten. Freiburg 1990. S. 70f. Zahlen stammen aus dem Gutachten des städtischen Rechnungsamtes vom 16.10.1919. In: Stadtarchiv Freiburg C4 XII/30/6. Freiburger Zeitung vom 21. Juli 1919 Nachricht im Kinematographen vom 20.2. 1921 Die Geschichte der Handelsgesellschaft Zentral-Kinematograph läßt sich anhand des Handelsregisters rekonstruieren. In Staatsarchiv Freiburg B 18/30, Nr. 359, Oz: 59, Zentral Kinematograph-Gesellschaft Kinematograph vom 29.5.1921. Kera Bern im Kinematogaphen vom 2.1.1921.


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Fakten und Fragmente zur Freiburger Filmproduktionsgeschichte 1901-1918 von WOLFGANG DITTRICH

Zwischen 1906 und 1908 brach »der Kino« über Bürger und Bürgerinnen wohl herein wie Blitz und Donner. Zeitgleich gab es Gründungen von Kinos aller Größen und Ausstattungen in den meisten Städten des deutschen Reiches mit über zehn- oder zwanzigtausend Einwohnern. Die überall gleichermaßen Neugierigen sahen Bilder, die Ihnen bisher zumeist vorenthalten geblieben waren. Weit weg im doppelten Sinne: die fernen Länder und Kulturen wegen der großen räumlichen Entfernung, die reichen und erhabenen Fürsten und sonstigen Berühmtheiten wegen der gesellschaftlichen Distanz zwischen Untertanen und Herrschenden. Nun rückte alles sichtbar zusammen: auf der Leinwand und im Publikum. Wie kamen solche fernen Bilder auf die Leinwand? Wie konnte die einmal geweckte Schaulust über Jahre hinweg befriedigt werden? Wer produzierte welche Sujets? Wer besuchte ferne Länder, hohe Häupter? Wer stellte Kameras in den Urwald, zwischen Schlachtlinien und an Hafenquais? Wer dachte sich Themen, Titel und Geschichten aus wie KINDERWAGEN-BLUMEN-CORSO (1910) oder FRAU HAUPTMANN UND DIE ORDONANZ (1906) produziert von Welt-Kinematograph bzw. Raleigh & Robert? Von heute aus betrachtet möchte ich behaupten, es ging alles jedenfalls sehr schnell. Die Entwicklung eines völlig neuen Mediums – die Vorstufen außer acht gelassen – vollzog sich nicht etwa nur fließend, nein, eher reißend. Es entstand innerhalb kürzester Zeit ein Sog, der die meisten Länder der westlichen Hemisphäre – Rußland und Südamerika wegen der umfangreichen kulturellen Kontakte eingeschlossen – erfaßte. Produziert und gezeigt – gegen Geld – wurde von den immer irgendwo gleichermaßen heimischen wie reisenden Produzenten dem staunenden Publikum das fremde Andere, das Außergewöhnliche. Pariser Produzenten verkauften mit Erfolg nach Deutschland die Serie »Um die Welt im Automobil«, wie etwa die Folge DIE ANKUNFT UND ABFAHRT IN NEUYORK (1908), 100 m, Produktion Raleigh & Robert. Freiburger Produzenten produzierten Bilder aus der Freiburger Umgebung und dem geographischen Umland – insbesondere der Schweiz und dem Elsaß – und verkauften sie mit Erfolg Kinobesitzern in Europa und dem Rest der Welt. Raleigh & Robert (R. & R.) Die international tätige Filmproduktionsfirma Raleigh & Robert (R. & R.) wurde 1901 in Paris gegründet. Neben eigenen Produktionen vertrieb sie als Repräsentant von The Continental Warwick Trading Co Ltd (CWT) bis 1911 überwiegend Reisebilder, Aktualitäten und sonstige belehrende Filme. Dramen und komische Szenen waren eher selten. Daß R. & R. zu den Freiburger Produktionsfirmen zu

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zählen ist, liegt an der engen personellen Verwobenheit einer ihrer Geschäftsführer mit dieser Stadt und Region. Die Direktoren und Geschäftsführer von R. & R. waren der englische Kameramann Charles Raleigh und der deutsche Kaufmann Robert Schwobthaler. Raleigh hatte schon vor 1900 bei zahlreichen Reisen in alle Welt – vor allem in Afrika und Südamerika – vermutlich für CWT Reisebilder und Aktualitätenfilme gedreht. Sein Partner Schwobthaler war Branchenneuling, hieß mit vollem Namen Robert Isidor Schwobthaler (1876-1934) und war als Sohn katholischer Eltern in Endingen am Kaiserstuhl geboren. Nach einer kaufmännischen Lehre in Freiburg hatte es ihn schon in jungen Jahren ins Ausland gezogen: mit siebzehn zwei Jahre nach London als Speditionskaufmann, 1895-1897 zwei Jahre als Weinhandelskaufmann nach Sizilien, Florenz und Bruchsal/Baden. 1898 kam er nach Paris, um dort als Vertreter eines Stahlunternehmens zu arbeiten. Just im Januar 1898 hatte dort gerade Zola sein Pamphlet »J’accuse« veröffentlicht und auf diese Weise die Dreyfus-Affäre auf ihren Höhepunkt gebracht: der durch das Pamphlet wieder aufgenommene Prozeß um den der Spionage verdächtigten jüdischen Offizier elsässischer Herkunft mit deutsch klingendem Namen beherrschte die Tagespresse und die öffentliche Meinung. Antisemitische Ressentiments fürchtend, verbarg Robert Isidor Schwobthaler alles Jüdische und Fremdländische in seinem Namen und ließ sich von seinen Mitarbeitern und Geschäftspartnern einfach M.(Monsieur) Robert nennen.

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obert I. Schwobthaler wird in seiner Heimat nachgesagt, schon im Jahr 1898 oder 1901 eines der ersten Kinos in Paris eröffnet zu haben. Diese Annahme scheint zumindest für ein ortsfestes Kino als ausgeschlossen. 1902 gab es in Paris davon gerade fünf, das legendäre Kino des Cinématographe Lumière im Salon Indien des Grand Café hatte gerade 1901 mangels Nachfrage seine Pforten geschlossen. Die Zahl der Neugründungen dieser ersten Jahre des 20. Jahrhunderts blieb bis 1907 recht überschaubar. Ein Schwobthaler oder Robert taucht erst 1910, als es bereits 95 Kinos in Paris gab – zusammen mit seinem Partner Raleigh – als Kinobetreiber auf. R. & R. hatten bis dahin zwischen den großen Filmproduktionsgesellschaften dieser Zeit des frühen Kinos – Cinematograph Lumière, Pathé Frères, Gaumont, Edison und American Mutoscope and Biograph Company, kurz American Biograph genannt – als kleinere Firma sich durchaus mit ihren speziellen Spartenprogrammen auf dem französischen und britischen Markt halten können. Produziert und vertrieben wurden Reisbilder, Ansichten und Aktua-


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litäten, Dramen nur ganz selten. Neben anderen kleineren Gesellschaften – wie Lux, Itala Film, Théophile Pathé oder Vitagraph – waren sie dabei sicherlich auf vielfältige Kontakte und Geschäftsverbindungen zu anderen und auch größeren Produktionsgesellschaften angewiesen. Ein Firmenfoto von 1906 zeigt neben den beiden Direktoren eine zwölfköpfige Belegschaft. Es ist aber anzunehmen, daß nicht sämtliche Filme der Firma R. & R. aus eigener Produktion stammten. So wirbt die Firma 1905 in Frankreich mit »garantiert authentischen« Filmen vom russisch-japanischen Krieg 1904/05, aufgenommen von »speziellen Operateuren«. Eine eigene Berichterstattung wäre sicherlich stärker herausgestellt worden. Belegt ist dagegen eine Afrikaexpediton – vermutlich 1906 – die von Charles Raleigh organisiert und geleitet worden ist. Sie erbrachte umfangreiches Bildmaterial, daß in den Folgejahren unter dem Serientitel »Quer durch Afrika« (franz.: »Du Cap au Caire) auf den internationalen Markt (nachweislich in Frankreich, Deutschland und Belgien) gebracht wurde. Ab 1906 wirbt R. & R. – ohne eine offizielle Repräsentanz in Deutschland anzugeben – in deutschen Branchenblättern. Zum Beispiel 1907 für zwei neue Bilder der genannten Expedition: VOM KAP DER GUTEN HOFFNUNG NACH TRANSVAAL und DIE WILDEN BEIM EISENBAHNFAHREN (beide von 150 m Länge). Mehrere Filme mit Ansichten aus dem nahen Osten, Ägypten, Konstantionopel etc. folgten. Gleichzeitig im Angebot für das Deutsche Reich: DER UNTERGANG DES SCHIFFES »BERLIN« und, als (Kassen-)Schlager, BETTELBUB’S BELOHNUNG. Zwischen 1906 und 1913 produzierten R. & R. oder vertrieben unter ihrem Namen in Deutschland ca. 450 Filme zwischen 31 und 600 Metern. Dazu gehörten auch Filme aus italienischer Produktion, die sie selbst nicht erstellt hatten; z.B. von Luigi Maggi GLI ULTIMI GIORNI DI POMPEI (1908). Als Telegrammadresse zur Filmbestellung geben die Annoncen in Kinofachzeitschriften Biograph-Paris an. War die Firma neben der CWT auch mit American Biograph in Verbindung – oder wollten R. & R. mit dieser Namensgebung eine solche suggerieren? – Bislang kann ich nur Letzteres vermuten. Raleigh und Robert nannten ihr eigenes Pariser Kino 1910 American Biograph, allerdings spielten sie dort nicht die Standardprogramme von American Biograph wie sonst in Filialen dieser Kette üblich, sondern eher aus ihrem eigenen Themen-/Produktionsspektrum. Wie eng dabei R. & R. mit den anderen Freiburger Produktionsfirmen und den dortigen Kinos zwischen 1906 und 1913 zusammengearbeitet haben, ist ebenfalls noch weiter zu erforschen. Vielfältige Kontakte hat es sicherlich gegeben. Bernhard Gotthart, ein enger Geschäftspartner

von M. Robert, hat 1921 allgemein beschrieben, daß Schwobthaler und er regelmäßig einige »...Jahre vor dem Kriege [1914-1918] Filme hergestellt, getauscht und gegenseitig in alle Welt vertrieben haben.« Von dieser Zusammenarbeit zeugen viele Spuren. So ist z.B. bei der Premierenveranstaltung des ersten Freiburger Kinos, des Welt-Kinematographen, im Dezember 1906 die R. & R. – Produktion DIE ZERSTÖRUNG VON VALPARAISO die einzige »authentische« Aufnahme des Abends und der einzige Film im Programm, der nicht von Pathé Frères, Paris, stammt. Auch als das längere Zeit größte Kino der Stadt, der Zentral-Kinematograph, 1908 in Freiburg eröffnet wird, lief die erfolgreiche und später einige Nachahmer findende Raleigh & Robert-Produktion SCHWEFEL-INDUSTRIE IN SIZILIEN (1908) an dritter Stelle im Eröffnungsprogramm.

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arüber hinaus waren Charles Raleigh und sein Kompagnon bei der Aufnahme vieler Sujets – sofern diese nicht außerhalb Europas angesiedelt sind – im sogenannten Dreiländereck tätig: in der Schweiz, wo sie EIDGENÖSSISCHES SCHWING- UND ALPLERFEST IN NEUCHATEL aufnehmen, im Elsaß, um SEINE MAJESTÄT DER DEUTSCHE KAISER IN ELSASS-LOTHRINGEN zu porträtieren und im Breisgau, für den Dokumentarfilm SONNENBAEDER IN FREIBURG, BREISGAU (alle 1908). Die Aktivitäten von R. & R. in Deutschland umfassen 1907 auch Dreharbeiten im Bereich inszenierte Dokumentation: In Baden-Baden nahmen sie Szenen auf, die die dortigen Passanten in Verwirrung stürzten: Szenen und Gestalten aus dem allgemein wohlbekannten Gerichtsprozeß um den Mörder Hau, werden so nachgestellt, daß Stunden später die Zeugen der Dreharbeiten glauben, Hau »wirklich« gesehen zu haben. Bei den späteren Vorführungen des Zweiteilers DAS DRAMA H. IN BADEN-BADEN (je 138 m) mit den Szenen »Durch Intrige ins Gefängnis«, »Mord an Schwiegermutter« und »Verurteilung« in den deutschen Kinos mag der sonst dokumentarische Charakter der R. & R.-Filme wohl dazu beigetragen haben, daß auch viele Zuschauer des Dramas geglaubt haben, Hau »wirklich« gesehen zu haben. Die Sparte Gerichtsreportage scheint erfolgreich zu vermarkten gewesen zu sein, denn R. & R. produzieren ein Jahr später ein weiteres Doku-Drama nach einem anderen zeitgenössischen Prozeß: DIE AFFÄRE STEINHEIL – mit dem Inhalt »Frau Steinheil beschuldigt Falsche; Reporter klärt auf«. 1908 befindet sich die Film- und Kinobranche zumindest in Europa in ihrer ersten Rezession: der Sinn, der Zweck und vor allem die Moral der Filme wird hauptsächlich vom Bürgertum hinterfragt, die Zensurdebatte entbrennt zum ersten Mal recht heftig. Schmutz und Schund sind an den Pranger gestellt. R. & R. bleiben

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wegen ihrer dokumentarisch ausgerichteten Produktpalette davon kaum berührt. Im Gegenteil: 1909 gelang es ihnen, ihre Sparten für Deutschland um den »Kunstfilm« zu erweitern: DIE BÜRGSCHAFT, das berühmte Gedicht Friedrich Schillers, wurde anläßlich seines 150. Geburtstages auf 261 m Länge illustriert und – zumindest in Bielefeld – durch vorgetragene Rezitationen live vertont. Es muß ein erhebender Abend gewesen sein. – Daß sie zu anderen Zeiten auch anders können, zeigten R. & R. drei Jahre später. WENN BERTRAM SCHILLER DEKLAMIERT (1911) ist eine Parodie auf »Das Lied von der Glocke«, das die bekanntesten Zitate als Lustspiel gestaltet. Auch anderen Produktionen bleibt das Prädikat »Kunstfilm« verwehrt: der Film DAMENSPORT aus dem gleichen Jahr, der als Sujet Boxkämpfe zwischen Frauen enthält, wird von der deutschen Zensur als für »vor Kindern verboten« eingestuft. Weltläufigkeit findet sich dagegen wieder im gleichen Jahr in den Aktualitäten-Filmen GRUSINISCHE GASTFREUNDSCHAFT und seiner Fortsetzung, KAUKASISCHES REITERFEST, beide gedreht anläßlich der KaukasusFahrt des Prinzen von Oldenburg, 1911.

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n den Jahren 1912 und 1913 produzierten R. & R. wesentlich weniger Filme als zuvor. Hauptstandbein der Firma blieb zwar die Produktion, aber neben dem internationalen Vertrieb und Verleih, vor allem für Frankreich und Deutschland, kam eine weitere, erfolgreiche Sparte des Filmwesens hinzu: das Abspiel. Im April 1910 eröffneten R. & R. im neunten Pariser Arrondissement das Kino American Biograph (sic!), Rue Taibout 7. In diesem kleineren Kino waren eben die Filme im Programm, für die auch der Name der Produzenten im Filmgeschäft steht: Dokumentarfilme, Aktualitäten, die Berichte aus den europäischen Fürstenhäusern, Naturaufnahmen und nur in geringem Anteil am Gesamtprogramm auch komische Szenen. Ein echtes Spiegelbild ihrer Aktivitäten. Ab Juli 1911 setzten R. & R. ganz auf die Vermarktung einer wesentlichen Neuerung im Film- und Kinobereich, die alle Branchenriesen mit mehr als nur Argwohn betrachteten: den Farbfilm. Vermutlich durch ihre Bekanntschaft mit dem Ex-CWT-Direktor Charles Urban wurden sie Hauptrepräsentant für die Filme seiner neugegründeten Natural Color Kinématograph Company Limited. Das völlig neue Farbverfahren, erfunden vom Briten Albert Smith und 1908 in Paris von ihm zum ersten Mal einem Fachpublikum vorgestellt, arbeitete mit Farbfiltern und einer für damalige Verhältnisse doppelten Geschwindigkeit: 32 Bildern pro Sekunde. Es wird als Urban-Smith-Verfahren bezeichnet, da Urban nach seinem Weggang von CWT die Exklusivlizenz Smith 1908 abkaufte. Da das Kinémacolor genannte Verfahren den anderen ersten Versuchen, authentische

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Farbe ins Kino zu bringen, mindestens ebenbürtig war, kommt es vor allem in der führenden Kinonation Frankreich zu einem Dauerstreit mit dem Branchenriesen Pathé um Patent-, Lizenz- und vor allem Namensrechte. Vielleicht deshalb findet die »Welt-Neuheit« zuerst Zugang zu mehreren exklusiven Sondervorstellungen im Freiburger Prachtbau »Colosseum«, in dem – vermutlich durch Schwobthaler als Geschäftsmann mit konstanten Beziehungen nach Freiburg, vielleicht aber auch durch R. & R. als Lizenznehmer für Deutschland – DIE WELT IN DEN FARBEN DER NATUR bereits im September 1910 präsentiert wird. Die erste öffentliche Pariser Premiere findet dagegen erst im Juli 1911 statt. Das Verfahren wird dort vom Publikum begeistert angenommen und bringt R. & R. beachtlichen kommerziellen Erfolg. Eigens für die neuen Farbfilme eröffneten sie im Dezember 1911 ein weiteres Kino im 9. Bezirk und nannten es American Biograph-Kinémacolor (19, Rue Le Peletier). Die dort von ihnen gezeigten Farbfilme hinterließen beim Publikum nachhaltige Eindrücke. Insbesondere die Ansichten des prachtvoll angelegten Delhi Durbar von 1911 – L’APOTHÉOSE DE L’EMPIRE DES INDES – hatten derartigen Erfolg, daß die Bilder von der prächtigen Parade indischer und britischer Herrscher und ihrer Hofstaaten über vierzehn Monate im R. & R.-Kino zu sehen blieben. R. & R. hatten nun auch Geld genug, beachtliche Aufwendungen für – natürlich farbige – Programmhefte zu machen und Sandwich-Männer als »laufende« Werbetafeln zu beschäftigen. Dabei gab es Grenzen polizeilicher Art: ein als »Schotte« verkleideter Werbeträger wird von den französischen Polizeibehörden beanstandet, da das Tragen von fremden Kostümen und Verkleidungen in Paris verboten war. Da der Saal des American-Biograph in der Rue Taitbout zu klein geworden war, gaben sie dieses Kino Juli 1911 auf und mieteten speziell für die Kinémacolor-Vorführungen das 500 PlätzeKino Salle Berlioz in der Rue de Clichy. Die Auswertung der Filme boomt, nicht nur in Paris, sondern auch in der französischen Provinz. Das Ende des prosperierenden Unternehmens kommt jäh: Ein von R. & R. gegen Pathé und andere Firmen angestrengter Rechtsstreit, der Schadensersatz einbringen und die Exklusivität des Urban-Smith-Verfahrens als das Farbverfahren schlechthin sichern sollte, wendet sich gegen die Betreiber. Da Pathécolor und Cinémacolor des Pariser Filmunternehmers Gabriel Kaiser bereits auch und mit ähnlichen Markennamen auf dem Markt waren, werden R. & R. ihrerseits zu solch hohem Schadensersatz verurteilt, daß die Firma mit Gerichtsbeschluß vom 20. Januar 1913 von heute auf morgen in die Liquidation geht. R. & R. verschwinden mit einem Schlag gänzlich aus der Riege französischer Produzenten, die Kinos wechseln die Besitzer und die Programme; die Vermarktung des Kinémacolor-


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Verfahrens fällt an Charles Urban zurück, der nun selbst die Filme in dem von ihm gemieteten, sehr luxuriösen Pariser Théatre Edouard VII vermarktet.

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er Ruin von R. & R. wirkte sich auch auf die Verbindung der beiden Geschäftspartner aus: Von Charles Raleigh verliert sich – nach dem jetzigen Stand – jede Spur. M. Robert erhält einen Ruf, genauer gesagt ein Telegramm aus Griechenland, das ihn für längere Zeit in ein neues Projekt einbindet, das der wohl größte eigenständige Erfolg des Endingers werde sollte: Auf Einladung der griechischen Regierung erhielt der als offizielles Mitglied des königlichen Hofstaats Konstantin I. nun zum Robert Schwobthaler wieder Umbenannte den Auftrag, einen Film über die Kriegshandlungen im sogenannten zweiten Balkankrieg zu drehen. Die Dreharbeiten zum im französischsprachigen Raum unter dem Verleihtitel SOUS LA MITRAILLE im deutschsprachigen unter MIT DER KAMERA IN DER SCHLACHTFRONT (beide 1913) bekannt gewordenen Kriegsdokuments von ca.1000 m Länge erfolgten unter erschwerten Bedingungen, da Schwobthaler tatsächlich mit der kämpfenden Truppe reiste und drehte. Zwar nicht in vorderster Front, aber in der Etappe und den Frontverschiebungen zu Pferd oder zu Fuß täglich folgend, waren er bzw. sein Team immerhin in realer Reichweite feindlicher Geschütze. Mit ihm im Team der Kameramann der Freiburger Firma Expreßfilms. Es ist der später mit anderen Naturaufnahmen Karriere machende, gerade 18jährige Kameramann Sepp Allgeier (18951968). Robert Schwobthalers Erlebnisse wurden in einer ausführlichen Artikelserie unter dem Titel »Mit der Kino-Kamera in der Schlachtfront« im Fachblatt KINEMA veröffentlicht. Das eigentlich Besondere, die teilweise wirklich unter Gefahr und wahrhaftig gefilmten Erlebnisse werden dabei herausgestellt. Als Autor der Artikel wird Robert Schwobthaler genannt. »M. Robert« hat aufgehört zu existieren. Gleichwohl startete der Film in Frankreich und in Deutschland. In Paris am 30. Oktober 1913, nun vertrieben von dem Pariser Filmunternehmer Louis Aubert. Der Film war – auch wegen seiner auf hohem technischem Niveau stehenden Aufnahmen (es ist zu vermuten, daß bei den Aufnahmen ein neu entwickeltes Teleobjektiv mit langen Brennweiten verwandt wurde) – und wegen seines für die damalige Zeit außergewöhnlichen Realismus eine Sensation. Er bot zudem abendfüllende Länge und lief als Exklusivprogramm einen ganzen Monat im 350 Plätze-Boulevard-Kino Cinéma Palace im 10. Pariser Arrondissement. Der Stellenwert dieses Films für die Filmgeschichte ist auch hinsichtlich seiner dokumentarischen Qualität, zumindest sei-

nes dokumentarischen Anspruchs wegen einzigartig. Als einer der ersten (Kriegs-)Filme sollte er etwas belegen, beweisen, nämlich die Greuel des Krieges, verursacht durch den Aggressor Bulgarien, der Griechenland und damit den Auftraggeber des Films, die griechische Regierung, in einen überaus grausamen und unnützen Krieg getrieben hat. Unvorstellbar in einem Jahrhundert der Zivilisation und des Fortschritts, mitten in Europa. Das gleiche Denken wie auch heute hinsichtlich der Unbegreiflichkeit der jetzigen Balkankriege führte zu dem Bedürfnis nach Belegbarkeit der Schuld. Wer waren die Verantwortlichen für dieses Grauen? M. Robert/Robert Schwobthaler und seinen Operateuren scheint die Umsetzung dieser Aufgabenstellung gelungen. Wie kaum ein anderer Kriegsfilm dieser Zeit wurde er mit einem pazifistischen Impetus vermarktet. Der Film spielte nicht zuletzt wegen dieser Ausrichtung weltweit große Summen ein, die Spielorte und -wochen sind zahlreich und illuster. Es ist noch nicht erforscht, ob Robert Isidor Schwobthaler durch diesen Film auch finanziell wieder auf die Füße gekommen ist. Sicherlich war für ihn dieser Film persönlich ein großer Erfolg, obwohl die ihm zugeschriebene Rolle des Kameramanns durch diesen Film nicht belegt ist. Da Allgeier seit 1911 Filme aufnahm, ist zu vermuten, daß Schwobthaler eher als »Regisseur« des Films und Organisator der Reise, als Manager zwischen der Regierung und des Militärs aufgetreten ist. SOUS LA MITRAILLE ist nach November 1913 die letzte Spur des M. Robert in Frankreich. Schwobthaler kehrte spätestens zu diesem Zeitpunkt nach Freiburg zurück und beteiligte sich bei der 1910 gegründeten Expreß-Films GmbH, Freiburg. Welt-Kinematograph Freiburg GmbH Freiburger Kinogeschichte und Freiburger Filmproduktionsgeschichte waren ab 1906 eng miteinander verwoben. Nicht nur wegen der bekannten Einheit von damaligem Aufnahme- und Abspielgerät. Auch wegen der Einheit des Interesses der Betreiber beider Branchen, fast hätte ich gesagt, dieser Branche: man wollte Geld verdienen. In Freiburg jedenfalls waren die ersten Betreiber von Kino- und Filmproduktionsbetrieben – wie heute meist auch noch – Geschäftsleute. Sie handelten vor ihrem Einstieg in die Filmbranche mit Wein, Stahl und Textilien. Mit dem Kino kam erhebliche Bewegung in die Branchen. Am 13.02.1906 erfolgte im Freiburger Handelsregister die Eintragung des ersten Freiburger kinematographischen Betriebs überhaupt. Sein Name ist Programm: Kosmograph. Man muß sich das auf der Zunge zergehen lassen, einen Namen, dessen Dimension auch heute noch nicht annähernd ausgeschöpft wird. Aber die Vision, alles uns Greif- und Erfahrbare zeigen oder abbilden zu können,

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war wohl damals wie heute auch jenseits aller Übertreibungen sprachlicher Art schon vorhanden. Das Ziel des »Unternehmens ist, in Städten des In- und Auslandes kinematographische Institute in Verbindung mit Straßenreklamen zu gründen«. Die Geschäftsführer von Kosmograph waren vier Freiburger Kaufleute: Bernhard Gotthart (1871 – 1950), Franz Julius Wenk (???? – 1915), Franz Steiger und Oskar Köhler. Über den weiteren Geschäftsverlauf der Firma ist nicht viel bekannt, es gab sie unter diesem Namen auch zu kurz dazu. Es muß wohl turbulent zugegangen sein, denn bereits gut einen Monat später scheidet Oskar Köhler aus der Geschäftsführung aus. Auch der Name wird geändert, der zweite Anlauf, ins Geschäft zu kommen, beginnt. Der neue Name klingt eine Nummer kleiner, zwar immer noch visionär, aber schon realistischer: Welt-Kinematograph. Am 30.01.1906 erfolgte die Umwandlung dieser GmbH mit Hauptniederlassung in Freiburg. Die drei »alten« Geschäftsführer bzw. Gesellschafter leiteten die Firma weiter.

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eben reisenden Instituten bauten die Freiburger Kaufleute rasch eine Kinokette mit der Markenbezeichnung WeltKinematograph auf. Obwohl das Konzept Kinokette für 1906 ziemlich einmalig gewesen sein dürfte, setzten die Kaufleute nach gut zwei Jahren auf eine Erweiterung ihrer Zielsetzung. Am 4./6. Februar 1908 wurde der Handelsregistereintrag für unseren Zusammenhang entscheidend ergänzt: »Der Zweck der Gesellschaft ist jetzt die Errichtung und der Betrieb von kinematographischen Instituten aller Art (reisenden und feststehenden) in Städten des In- und Auslandes, ferner auch der Betrieb von kinematographischer Straßenreklame, die Erweiterung des Geschäftskreises durch Fabrikation von Films, Transparentplatte und Apparaten für fixe und kinematographische Projektionen, ferner durch Handel mit den erwähnten Artikeln und Vertretung anderer Fabrikate.« Die erste »echte« Freiburger Filmproduktion nimmt – vermutlich mit Unterstützung aus dem Ausland (M. Robert?!) ihre Arbeit auf. Im April sucht die Firma Welt-Kinematograph per Anzeige im Branchenfachblatt einen »Photographen«. Da viele der Kameramänner des frühen Kinos von der Photographie her kamen, ist anzunehmen, daß die Firma expandiert und als Kameraleute Photographen anlernt. Während Produzenten wie die französische Firma Pathé Frères und die nordamerikanische American Mutoscope and Biograph Co., die Marktführer in den späten Jahren des 19. und frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, Sujets aller Sparten in die Kinos brachten, setzten die Kaufleute aus Freiburg bereits in den Gründungsjahren speziell auf die Produktion von solchen Filmen, die das einlösten, was der Fimenname versprach: Filme von Welt, aus der

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ganzen Welt, über die ganze Welt: eindrucksvolle Naturaufnahmen, danach die Welt, wie sie war, aktuell, interessant, eindrucksvolle Abbilder derselben. Sie befanden sich damit in guter Gesellschaft und am Puls der Zeit: »Ab 1907/08 zeichnet sich in der Tat ein auf der Basis des freien Wettbewerbs konsistent aufgebautes Repertoire ab. Die Firmen Pathé, Gaumont, Eclipse, Urban, Raleigh & Robert, Ambrosio und die Freiburger Welt-Kinematograph sind mit von der Partie bei diesem vornehmlich europäischen Phänomen einer bedeutenden und ausdauernden Produktion von ‘non-fiction Filmen’, deren Beständigkeit sich an der Zusammensetzung der Kinoprogramme bis zum Weltkrieg ablesen läßt. (Roland Cosandey, Bilderbogen einer Filmexpedition im Lande des Tourismus, Kintop 4, 1995).« Zunächst nahmen die Operateure von Welt-Kinematograph regionale Bilder auf. So die FELSENKLETTEREI IM SCHWARZWALD (1908). Der Film wird im Freiburger »Stammhaus«, dem Kino Weltkinematograph, gezeigt, aber sicherlich auch in ganz Deutschland vermarktet worden sein. Dann brachen die Produzenten in ihre weitere Umgebung auf: Die Schweiz, Frankreich und Italien, vereinzelt der Balkan bilden den Hinter-/Vordergrund für viele, jedenfalls über 280 Filme, allein zwischen 1908 und 1911. Besonderes Merkmal der Gesamtproduktion: nicht ein Drama, Lustspiel oder dergleichen befindet sich darunter. Dazu kommen Aufnahmen, die eher lokal von Interesse gewesen sein dürften, wie etwa der Film, den einer der Kaufleute und Gesellschafter, Franz Julius Wenk, 1909 ermöglichte und der als typische Lokalaufnahme mit Auswertungsinteresse vor Ort bezeichnet werden kann: EINE BOOTSFAHRT AUF DER DREISAM VON FREIBURG BIS ZUM RHEIN (1909). Es ist anzunehmen, daß dieser Beitrag zur Freiburger Stadtgeschichte auch zur Imagepflege des Kinematographengewerbes beitragen sollte.

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ut ein Jahr nach der Gründung müssen sich wieder erhebliche Dissonanzen in der Geschäftsführung zugetragen haben. Als nächster Geschäftsführer schied mit Wirkung vom 29. März 1909 aus bisher ungeklärten Gründen Bernhard Gotthart aus. Ein Mann, der 1919 von sich behaupten wird: »In der Fabrikation, dem Verleih und Ankauf von Monopolfilmen sowie der Leitung von Lichtspieltheatern und Reisegeschäften habe ich wohl die längste praktische Erfahrung in Deutschland« (1919). Ein Jahr später gründete er in Freiburg die Expreß-Films Co. Für den ausgeschiedenen Gotthart fand die Firma WeltKinematograph am 2.4.1909 als Nachfolger: Hermann Bösel, Kaufmann in Freiburg, stellvertretender Geschäftsführer; nach gut einer Woche ist er schon wieder aus dem Handelsregister gestrichen: aus-


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geschieden 10.4.09. Unruhige, schnelllebige Zeiten! Erst im Februar 1910 fand sich mit dem Freiburger Kaufmann Fritz Karcher ein Nachfolger ein, der bis zur Liquidation der Firma als Geschäftsführer tätig blieb. Über die Auswirkungen des Ausstiegs Gottharts auf die Geschäftspolitik der Firma und die spätere Gründung des direkten Konkurrenten Express-Film direkt vor Ort ist bisher leider nichts bekannt.

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s ist aber anzunehmen, daß die Geschäfte mit der Filmproduktion bei Welt-Kinematograph gut laufen, zumal das Konzept, sich zu spezialisieren, nach wie vor aufgeht und auch Referenzen vorzuweisen sind. Am 21. 9. 1910 warb die Firma Welt-Kinematograph Freiburg mit der »...exklusiven Drehgenehmigung des Großherzogs von Baden innerhalb seines Schloßplatzes ein genaues und übersichtliches Bild von den Festlichkeiten in seiner Residenz herzustellen«. Am 1. Dezember 1910 fanden Freiburger Filme den Weg nach Südafrika. Mit dem Dampfer eingetroffen machen »...Films einer Freiburger Firma einen recht günstigen Eindruck...«, so daß der Besuch als angenehme Abwechslung empfohlen wurde. Ungefähr drei Jahre reichen die Räumlichkeiten der Abteilung für Fabrikation von Welt-Kinematograph im Hause des Kinos Welt-Kinematograph, Kaiserstr. 68, aus. Am 8.3.1911 verstärkt die Firma mit einem neuen, sehr deutsch wirkenden Signet (Ein Adler hält einen Ausschnitt aus dem Weltall zusammen, das Licht der Sonne auf die Erde wird gleichgesetzt mit dem Blick von WKF = Welt-Kinematograph Freiburg auf die Natur) ihren Anspruch, schöne und inhaltsreiche Naturbilder aus aller Welt für alle Welt präsentieren zu wollen. Die Firma produziert, verkauft und verleiht von nun an ihre Produkte unter der eingetragenen Schutzmarke »Welt-Film«. Am April 1911 erscheinen in den Fachblättern Anzeigen, die darauf hinweisen, daß »...die gesamten Büros und Fabrikationsanlagen, um den gesteigerten Anforderungen in jeder Weise gerecht werden zu können, in die bedeutend erweiterten Räume nach Zähringerstr. No. 17 verlegt worden sind. Durch bedeutende Vergrößerung und Einrichtung mit den neusten Fabrikationsmaschinen ist die Gesellschaft in den Stand gesetzt, die Fertigstellung der aufgetragenen Arbeiten auf das Pünktlichste zu erledigen. Die sämtlichen Fabrikate werden in Zukunft unter der Marke »Welt-Film« auf dem Markte erscheinen.« Die Neuheiten von Welt-Film für das Kino, den ehemaligen Kinematographen, bleiben unverändert: Völkerstudien (UNTER DEN NOMADEN), Naturbilder (DIE JUNGFRAUBAHN), interessante Industriebilder (ELEKTROSEILBAHN ZUR SPEISUNG DER HOCHÖFEN) und Belehrendes und Interessantes (UNSERE BLAUEN JUNGENS BEIM DIENSTE AUF DEM LANDE).

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m 2. 8. 1911 bewirbt Welt-Kinematograph seine Neuheiten (HAMBURG, NOMADENVÖLKER und EIN SELTENER KÜNSTLER) und bietet gleichzeitig an, Lokal-Aufnahmen herstellen zu können: »Eine Abwechselung und volle Kassen bringen Ihnen Lokal-Aufnahmen. Ehe Sie jedoch dieselben vergeben, fordern Sie unsere Preise und Bedingungen. Wir garantieren für ein gutes Bild, lassen Sie sich von uns Lokal-Aufnehmen machen.« Es scheint, als ob die erste Schaulust, sich die Welt in allen Facetten anzuschauen, der Selbstzurschaustellung gewichen ist. Die Kaufleute reagieren auch mit Anzeigen, als sich filmverleihwirtschaftliche Veränderungen abzeichnen, so zur Monopolfrage am 2.9.11 in der L.(icht)B.(ild)B.(ühne): »Wir erklären hiermit, daß wir uns an dem geplanten oder noch später auftauchenden Monopolprojekten in keiner Weise beteiligen werden, sondern nach wie vor mit unseren Kunden direkt arbeiten.« WeltKinematograph G.m.b.H. Freiburg i.B. Abteilung für Fabrikation. Nach wie vor ist die Firma gut für Innovationen und bringt auch Sujets auf die Leinwand, die wenig publikumsträchtig, aber dafür selten sind. Der Film EIN SELTENER KÜNSTLER (1911) handelt von einem an Händen und Füßen behinderten Malkünstler, der es im Laufe der Jahre durch Geduld dazu gebracht hat, mit dem Munde seine Arbeit zu verrichten. »In unserem Film sehen wir, wie der Künstler sein Modell in einem gut gelungenen Bild festhält, ferner wie er ißt und trinkt und ganz besonders interessant ist sein Kartenspiel.«

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m 25. 10. 1911 ist der Signet-Adler wieder aus den Anzeigen verschwunden, statt dessen erscheint die Schutzmarke Welt-Film, die das alte Buchstabensignet WKF umrahmt. Nur eine Geschmacksfrage? – 1912 verwendet Welt-Film nur bestes KodakMaterial. Die Firma Welt-Kinematograph unterhält jetzt auch in Berlin, Friedrichstr.10, dort wo alle großen Filmproduktionsgesellschaften ihren Sitz haben, eine Vertretung (H. Rosenblum). Von Freiburg aus bietet sie ein Jahr später landesweit als Dienstleistungen das Entwickeln von Negativen, die Herstellung von PositivAbzügen, Titel und Reklamefilms, das Viragieren in allen Farben, einfache und Doppelfärbung, den Service einer Perforier- und Kopier-Anstalt, die Herstellung von Lokalaufnahmen und den FilmKlebstoff »Marke Haltfest« an. Als Beispiel einer Lokalaufnahme gilt die Zusammenarbeit mit dem Freiburger Stadttheater, dessen Regisseur Dr. Eckert für die Schattenspielaufnahme DER TOTENGRÄBER VOM FELDBERG (1913) Schattenspielfiguren aufstellt und bewegt. Kino und Theater scheinen sich in Freiburg arrangiert zu haben.

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Der Beginn des 1. Weltkriegs bedeutet auch für die Produktion und den weiteren Geschäftsverlauf von Welt-Kinematograph Freiburg eine große Zäsur, obwohl ab 09.09.1914 mit der Produktion von Kriegsprogrammen, wie z.B. DEUTSCHE SOLDATEN IM FELDE begonnen wurde. Wobei allerdings bisher unklar ist, ob der Film selbst produziert oder nur »geliefert« wurde. Die Produktionszahlen gingen – verglichen mit denen von 1908 -1911 – rapide in den Keller. 1912 bis 1919 wurden – nach Herbert Biretts unschätzbarem Verzeichnis – in dem doppelten Zeitraum einhundert Filme weniger gedreht. Vor allem 1917-1919 müssen die Produktionszahlen erschreckend niedrig gewesen sein. Zudem starb Ende des Jahres 1915 Mitbegründer und Teilhaber Franz Julius Wenk. Über den weiteren Verlauf der Firma ist bisher nur zu sagen, daß sie ihrer Ausrichtung treu blieb und weiterhin in den Kriegsjahren hauptsächlich Naturbilder, z.B. DURCHS HÖLLENTAL UND DER RAVENNASCHLUCHT NACH TITISEE (1916), Aktualitäten wie BEISETZUNGSFEIERLICHKEITEN SEINER EXCELLENZ GENERAL DER INFANTERIE GÄDE AM 19.6.1916 IN FREIBURG/BR. und Lehrfilme wie VORFÜHRUNG VON RASSEHUNDEN (1916) produzierte. Es ist aber davon auszugehen, daß die Konzentrationsbewegungen innerhalb der Filmwirtschaft während des 1. Weltkrieges nicht spurlos an der Firma vorbeigegangen sind. Außerdem erschwerte die kriegsnahe Lage die Produktion. Die spezielle Ausrichtung auf lediglich lehrreiche Themen, die während des Krieges und sicherlich auch einige Zeit danach nur noch wenig Interesse fanden, tat sicher ihr Übriges. Am 23.2.23 ließen sich die langjährigen Geschäftsführer Steiger und Karcher als Liquidatoren eintragen. Am 10.3.1924 war die speziellste und umfangreichste Freiburger Produktionsgesellschaft erloschen. Express-Film GmbH, Freiburg i. Brsg. Eine ganz andere Dynamik vermittelt die Firmengeschichte der zeitgleich mit der Welt-Kinematograph GmbH in Freiburg ansässigen Expreß-Films GmbH. Am 12. April 1910 hatte Bernhard Gotthart – ein knappes Jahr nach seinem Ausscheiden bei Welt-Kinematograph – als alleinigen Zweck von Expreß Films Co. »...die Fabrikation, Verkauf und Verleihen von Films, Apparaten, Platten, Photos etc. für fixe und kinematographische Projektion« ins Handelsregister eintragen lassen. Das Stammkapital der neuen Firma betrug 20.000 Mark, Gotthart war alleiniger Geschäftsführer mit neuen Ideen, die er und seine Mitarbeiter ziemlich schnell und geschäftstüchtig umsetzten. Es entstanden Novitäten wie z.B. Rätselfilme, deren primäres Ziel, neben dem Spaß am Rätseln, es war, das Publikum so oft wie möglich

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ins Kino zu locken, um die Rätsel daselbst zu lösen: WILHELM TELL (1910), WER BIN ICH (1911) und DER NIBELUNGENRING (1912) stehen für eine neue Kategorie von Kinounterhaltung. Am 2. November 1911 schlug Expreß Films Freiburg ein neues und nachhaltiges Kapitel in der deutschen Kinematographie auf. Durch Beschluß der Gesellschafter – mehrerer? – wurde der Name der Firma programmatisch richtungsweisend geändert: Expreß Films Co. GmbH (Redaktion und Verlag »Der Tag im Film«. Erste deutsche tägliche kinematographische Berichterstattung) Freiburg i. Br. Am 30.11.1911 warb Express-Films mit dem Motto »Hissen Sie die deutsche Flagge in Ihrem deutschen Theater« für die erste deutsche tägliche kinematographische Berichterstattung und unterhielt für den Vertrieb dieser Tagesschau Agenturen in Berlin, Wien, Budapest, Paris, London, Amsterdam, Stockholm, Kopenhagen, Kristiania, Moskau, Rostow a.D., Helsingfors und Sofia. In der Produktion waren zahlreiche Operateure beschäftigt. Der Bruder seiner Frau Margarete, Sepp Allgeier, der vom Zeichnen und Malen zur Photographie und von dort zum Film kam, wurde 1911, gerade 16jährig, auf dem Dach der neuen Firma in der Freiburger Schusterstraße 5, bei Probeaufnahmen von einem Erdbeben überrascht. Er vergaß vor Aufregung, das Erdbeben zu filmen. Aber Allgeier gehörte trotzdem bald zum festen Team der ExpressOperateure und blieb trotz oder gerade wegen dieses Schlüsselerlebnisses bei einem Beruf, der – auch angesichts der Ziele Gottharts – hohe Flexibilität und Reiselust verlangte. Ausgebildet wurde er vom Express-Mitarbeiter, Kamerabauer und Kameramann Post, der für Gotthart und die Express-Film auch die Gebrüder Franz und Othmar Osterm(a)eyer – die später durch ihre Ganghofer-Filme bekannt wurden – ausgebildet hat. Der Freiburger Versuch täglicher Berichterstattung wurde allenthalben mit Erstaunen aufgenommen und alsbald Gegenstand ernster Diskussionen in der Fachpresse. Dabei werden die Aktualitätenbilder als »Zeitungskino« rezipiert. Inhaltlich eben als tägliche Nachricht und so schnell und aktuell wie eine Zeitung. Die Presse wittert Konkurrenz. Bereits am 27.12.11 fragt ein A.J. Storfer im Kinematograph: »Wird die kinematographische Zeitung die Zeitungspresse ernsthaft schädigen?« Seine Konklusion ist – für die Presse – beruhigend: »Im Gegenteil: Das Lesen wird in erhöhtem Maße zum Schauen, das Schauen zum Lesen anregen. die Annahme, die optisch-bewegliche Zeitung und die gedruckte, sprachliche Zeitung könnten sich gegenseitig Konkurrenz machen, wäre so unhaltbar, wie etwa zu glauben, die Zunahme der Reisewerke bedinge ein Abflauen der Reiselust oder der Verkauf von Textbüchern vermindere die Zahl der Theaterbesucher.« Skepsis dagegen herrscht bei der


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Einsatzmöglichkeit täglicher Berichterstattung in Kinos, die überwiegend Wochenprogramme vorführten. Der Freiburger Versuch wird als wirklich ernstzunehmendes Angebot jeden Tag neue Berichterstattung anzubieten eingeschätzt, verbunden mit der Frage nach dem Nutzen bezüglich der Kinobesucher, die dann ja auch täglich ins Kino gehen müßten, um die Aktualität erfahren zu können. Die Freiburger Idee wird aber grundsätzlich als von großer kulturpolitischer Tragweite betrachtet und die rühmenswerte Kühnheit der Freiburger Firma gelobt. Darüber hinaus müßte es »... Wunder nehmen, wenn dem deutschen Kapital die Lösung dieses par excellence organisatorischen Problems nicht gelingen würde.« Zunächst reichte das Kapital von Gotthart, um Das Tag im Film-Konzept aufgehen zu lassen. Seine Firma bestand 1911 aus 12 Personen, darunter seine Ehefrau, die ihn vertrat, wenn Gotthart auf Reisen war. Die Kameraleute der Firma, allen voran der junge Allgeier, drehen überall dort, wo große Publikumswirksamkeit garantiert ist. Allgeier filmte dabei die Welt (von) oben; so 1911 den Aufstieg des Luftschiffs »Schütte-Lanz« in Berlin; daneben entstanden auch Aufnahmen aus dem Luftschiff mit Blick auf die große Kaiserparade auf dem Tempelhofer Feld. Am 1. Januar 1912 entstand ein weiteres Bild von »Oben«: Allgeier erregte als Operateur beim Aufnehmen des Kaiser und seiner sechs Söhne die Heiterkeit der Hohenzollern, da er zu Frack und Zylinder – wegen einschneidender Konfektionsprobleme – im Gegensatz zu den anderen bei Hof zugelassenen Fotografen kurze Hosen trug. Die lachenden Hohenzollern – Allgeier ließ nun die Kamera laufen und schuf damit eine sensationelle Aufnahme Gefühle zeigender Herrscher.

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eben der täglichen Berichterstattung ging Express auch weiter andere, neue Wege der Dokumentar- und Naturaufnahmen. Im Winter 1912/13 brachte Gotthart seine Mitarbeiter – wieder ist Allgeier der Kameramann – dazu, die hunderte Kilo schwere Ausrüstung ins Hochgebirge zu schleppen. Am Ende der abenteuerlichen und extremen Dreharbeiten war der erste deutsche, vermutlich auch international erste Hochgebirgsfilm entstanden: 4628 METER HOCH AUF SKIERN. BESTEIGUNG DES MONTE ROSA (1913). Wesentlichen Anteil an dem Gelingen des Films hatten die Aktiven des Akademischen Ski-Clubs Freiburg, die als Akteure – von Darstellern kann noch nicht gesprochen werden – exzellenten Skisport demonstrierten: Der Ethnologe Odo Deodatus Tauern, Dr. Hans Rohde und der Geologe Arnold Fanck. Tauern und Fanck wurden die Dreharbeiten ebenfalls zum Schlüsselerlebnis. Anfang 1920 gründeten sie, vom Film und von den Bergen gleichermaßen begeistert, zusammen mit Bernhard Villinger und Rolf Bauer die Freiburger »Berg- und

Sportfilm Gesellschaft«. Fanck wurde mit dieser Gesellschaft in den zwanziger Jahren zum Regiefachmann eines Genres, das Millionen in die Kinos gezogen hat. Aber das ist eine Geschichte für den zweiten Teil.

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unächst rüstete die Express-Film weitere Expeditionen aus, um europäische und auch außereuropäische Begebenheiten in die Kinos zu bringen. Die Ziele der oft akademischen Freiburger Projektleiter und Operateure waren neben dem Himalaja das Amazonasgebiet, Rußland und die Molukken. Mit der internationalen Berichterstattung erweiterte sich auch die Verleih-/Vertiebsstrategie. Im Juli 1913 ändert sich ein weiteres Mal der Name der Expreß Film Co. Er wird bezüglich Der Tag im Film genauestens spezifiziert: Erste und älteste internationale tägliche kinematographische Berichterstattung. Der Zusatz Freiburg i. Br. entfällt, das Unternehmen wird auch vom Namen her international. Von nun an erschien die erste deutsche Tagesschau nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern mit französischen und englischen Zwischentiteln international im Abonnement vertrieben unter den Titeln »Express-Journal« (franz.) und »The Day in the Film« (engl.). »Der Tag im Film« blieb in diesen Jahren Thema in den Branchenblättern. 1913 erschien ein Artikel »Kinematograph und Zeitgeschichte«, der sich speziell der kinematographischen Berichterstattung über Tagesereignisse aus der Sicht eines Vertreters der Anti-Schund-Film-Liga, Albrecht Hellwig, widmet. Der Autor outet sich dem Kino und der täglichen Berichterstattung gegenüber insgesamt eher ablehnend und nimmt die »früheren dithyrambischen Lobpreisungen« auf’s Korn. Gleichzeitig gibt er sich aber pragmatisch duldend, da er insbesondere der nationalen Berichterstattung kulturfördernden Einfluß beimißt. Sportberichterstattung – z.B. das Wettspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft in München – ist ihm dabei eher ein Greuel. Dabei entwickelt er fast beiläufig, und es bleibt unklar ob ironisierend oder hellsichtig, die Zukunft der täglichen kinematographischen Berichterstattung, das Fernsehen: »Wessen Phantasie noch kühnere Bahnen (als den Ersatz der Zeitung durch das Kino, Anm., d. Verf.) einzuschlagen vermag, wird es vielleicht sogar für möglich halten, daß über kurz oder lang jeder, der es sich leisten kann, in seinem Hauskino abends die neuesten Ereignisse aus Nah und Fern sich vorführen läßt, vielleicht sogar, ohne, daß in seiner Wohnung ein kinematographischer Vorführapparat sich befindet. Wer will derartiges als unmöglich zu verwirklichende phantastische Träume bezeichnen, wenn man an die Fernübertragung von Bildern, an die drahtlose Telegraphie und an die drahtlosen Telephone denkt...« (1913!)

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Außerhalb dieser Vision spricht sich Hellwig vor allem für die Förderung des nationalen Gefühls und die Stärkung der deutschen Reputation im Ausland durch die tägliche, aktuelle Berichterstattung durch »Der Tag im Film« aus, wobei es ihm dabei nicht darauf ankommt, ob die Sinnbilder deutscher Stärke und deutschen Selbstbewußtseins aus deutscher Produktion stammen. Hauptsache, sie sind wesentlicher Bestandteil der Kinovorführung und nicht der Schundfilm! Ganz wesentlich für die Einordnung des Stellenwerts von »Der Tag im Film« in diesem Zusammenhang ist die Bemerkung desselben Autors, daß die Produktion der deutschen Berichterstattung über deutsche Sujets dazubeigetragen hat, die Marktführer der internationalen Berichterstattung – die französischen Firmen Pathé-Journal, Gaumont-Woche und Éclair-Revue – dazu zu bringen, der Konkurrenz durch die stärkere Aufnahme deutscher Sujets in ihre internationalen Programme zu begegnen. Ihre selbst auferlegte Verpflichtung, aktuell berichtzuerstatten, wird aus den Anzeigen in den Branchenblättern deutlich, die Bestattungsbilder vor der Beerdigung bewerben: Der 60 Meter Film DIE BEISETZUNG SR. KGL. HOHEIT PRINZREGENT LUITPOLD VON BAYERN IN MÜNCHEN kann per Telegrammwort »Beisetzung« geordert werden. Lieferbar ist der Film bereits am Tag nach der Beisetzung! Ähnlich aktuell ist der 60 m Film CÖLNER FASCHINGSZUG AM ROSENMONTAG 1913, dessen Auslieferung für den Karnevalsdienstag angekündigt wird. Anläßlich dieses Karnevals warb die Firma in ganz Deutschland für die Aufnahme von Faschingszügen durch Express-Films. Zum Umfang der Filmfabrik gehörten nun dezidiert die Herstellung von Lokalaufnahmen, Reklamefilms, das Kopieren von Negativen, das Entwickeln von Negativen und Positiven, das Perforieren, die Chemische Virage, Titelanfertigungen, Färbung und Doppelfärbung, das Perforieren von Positiv- und Negativ-Material in »erstklassiger Ausführung«. Am 24.12.1913 wurde der Film MIT DER KAMERA IM EWIGEN EIS über die Hilfsexpedition Lerner nach Spitzbergen zur Auffindung der verunglückten Schröder-Stranz-Expedition mit der Möglichkeit des Monopol-Abschlusses nur über Express-Films Co. angeboten. Kameramann bei dieser erneut sehr aufwendigen Produktion war wieder Sepp Allgeier, der monatelang und unter Lebensgefahr im Nordmeer als Teilnehmer einer Hilfsexpediton zubrachte. Mit dabei drei Kilometer Rohfilm. 935 m davon wurden einer der Verkaufsschlager der Firma.

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Es ist von den Anzeigen von 1913 her zu vermuten, daß die tägliche internationale Berichterstattung zurückgefahren wurde. Gegen Ende des Jahres bestand das Agenturennetz nur noch aus den Agenturen in Berlin und Wien. Es ist zu vermuten, daß die Express-Film bzw. Bernhard Gotthart und Robert Schwobthaler erkannt hatten, daß die genannten Bergfilme und Kriegsberichterstattungen mit abendfüllender Länge bessere Rendite einbrachten. Die größten Einspielergebnisse bzw. der größte Verkaufsschlager der Firma blieb nämlich der bereits oben beschriebene Frontbericht MIT DER KAMERA IN DER SCHLACHTFRONT, der nicht nur verkauft, sondern auch verliehen wurde. Der Film »... feiert Triumphe bei Hoch und Nieder«. Für das Jahr 1914 vermeldete Express-Films weltweit ausverkaufte Vorstellungen : Im Frühjahr 1914 in den USA, Ägypten, Ungarn und Griechenland. Teilweise hob die Werbung nur auf den pazifistischen Charakter des Films ab, der die Greuel eines modernen Krieges realistisch und ergreifend darstelle. In einer Branchenblattanzeige hieß es am 26.11.1913 sogar: »Millionen von Menschen werden ausrufen: Nieder mit den Waffen, wenn sie unseren Monopol-Film gesehen haben!«

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er 1. Weltkrieg brachte für die deutsche Kinematographie, auch und insbesondere für die Freiburger Produzenten einschneidende Veränderungen. Deutschland kämpfte gegen Frankreich, auf dem Schlachtfeld und im Kino. Einerseits mit Waffen, andererseits mit Filmen, die die nationale Gesinnung stärken sollten, mit patriotischer und den Kampfeswillen betonender Kriegsberichterstattung und gegen Filme, die dem entgegen standen, französische Produktionen zu allererst. Die deutsche Film- und Kinowirtschaft wurde von dem weltweit führenden Filmland Frankreich – aus dem von 1895 bis 1911 siebenundvierzig Prozent aller in Deutschland aufgeführten Filme stammten, mit einem Schlag abgeschnitten. Nach zwei eher zögerlichen Jahren – die Propagandawirkung der Kinematographie mußte erst Einzug in die Köpfe der hohen Militärs und Regierenden Einzug halten – kam es zu erheblichen Bemühungen von Politik, Generalität und Filmwirtschaft, das Kino und den Film in die Kriegsstrategie einzubeziehen. Die Organisation der Filmwirtschaft wurde zur Chefsache erklärt, die Vorbereitungen für die spätere UFA mit preußischer Gründlichkeit von Politik und Generalität getroffen und die Branche ermuntert, sich zu nationalem Interesse dienenden Zusammenschlüssen einzufinden. Für klei-


Der erste Freiburger Filmproduzent Robert Isidor Schwobthaler rechts auf der Bank neben seinem Partner Charles Raleigh.

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nere, zudem badische Unternehmen war als Firma kaum noch Handlungsspielraum, Schwobthaler und Gotthart waren nun auf sich gestellt.

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obert Schwobthaler verhalfen seine Referenzen hinsichtlich MIT DER KAMERA IN DER SCHLACHTFRONT zu einer sofortigen Beschäftigung in der Reichswehr. Am 30. Oktober 1914 vermeldet in Freiburg eine Zeitungsnotiz, daß er »seit einigen Wochen mit seinem Kinofotographen der Kronprinzen-Armee, dem Generalkommando des fünften Armeekorps zugeteilt..« vor Verdun ist. Als »Soldat für Filmaufnahmen« drehte er bzw. ließt drehen: Aufnahmen von Armeeabteilungen, Aufnahmen vor Verdun und aus Rußland sowie sensationelle Aufnahmen aus dem Flugzeug. Schwobthaler schien dabei weniger als Express-Repräsentant oder Kameramann tätig gewesen zu sein, in seinem Nachruf wird seine Funktion als zugeteilt zur »Inspektion des Lichtbildwesens« beschrieben. Ein Kaufmann in beratender Funktion in Sachen Kino für Generäle!? – Es scheint so gewesen zu sein. Auch Gotthart war – während »seine« Kameraleute an und hinter der Front drehen, vor allem wegen seiner Branchenkenntnisse als Kaufmann und Organisator gefragt. Im Jahr 1917 beauftragte ihn die Reichswehr, im Bereich des 14. Generalkommandos »Vaterländische Lichtspiele« einzurichten. Er bereiste mit zwei mobilen Einheiten mit eigener Technik bis Kriegsende ca. 130 Spielstellen, wobei die Kriegsberichterstattung Hauptthema der Vorführungen war. Die eigentlich produktiven Aktivitäten der Firma kamen dabei fast ganz zum Erliegen. Express-Films produziert unter eigenem Namen zwischen 1914 und 1918 lediglich drei Filme über Kriegshandlungen. Der 1.875 Meter lange Film über Kampfhandlungen in Rußland, DIE DURCHBRUCHSSCHLACHT IN GALIZIEN (1916), wurde dabei in Anlehnung an den erfolgreichen Balkankriegsfilm als Teil der Serie »Mit der Kino-Kamera im Weltkrieg« vermarktet. 1915 löste Robert Schwobthaler den Geschäftsführer Gotthart ab. Es ist anzunehmen, daß diese Übernahme in gegenseitigem Einvernehmen geschah. Beide blieben auch noch in den zwanziger Jahren geschäftlich eng verbunden, produzierten beispielsweise ihren ersten gemeinsamen Spielfilm, den Passions-Film DER GALILÄER (1921). Während des Krieges ist jedoch folgende Aufgabenteilung anzunehmen: die Kameramänner von Express-Film arbeiteten an der Front, Schwobthaler organisierte ihren Einsatz und beriet die Militärführung bei kinematographischen Projekten. Gotthart leitete bis 1915 die kaufmännischen Geschicke und kümmerte sich zunächst noch um den Vertrieb der Express-Filme. Weitere Recherchen zu den Aktivitäten der Firmen Welt-Kinematograph und Express-Film von 1914-1918 werden sicherlich näheren Aufschluß darüber geben

können, welche Rolle und welchen Anteil die Freiburger Filmkaufleute z.B. an der Entstehung der BUFA und der UFA hatten. Bekannt ist bisher lediglich, daß ein größerer Bestand an Reisebildern wie EIN TRACHTENFEST IM SCHWARZWALD (1911) der aufgelösten Firma R. & R. – vermutlich durch Schwobthalers Initiative – in den Bestand des Bild- und Filmamtes (Bufa) übernommen wurde. Dort sollen auch die meisten Express-Filme 1918 eingelagert und verbrannt sein. Die ehemaligen Räumlichkeiten der Freiburger Filmfabrik und zusammen damit auch der private Bestand Gottharts an Express-Filmen wurden beim Bombenangriff auf Freiburg 1944 zerstört bzw. vernichtet. Durch die jüngsten Forschungen zum frühen Kino sind viele Filmtitel und Produktionsangaben wieder aufgetaucht. Durch intensive Recherche gelingt es auch immer wieder, Filmkopien oder Fragmente aufzuspüren, die durch glückliche Umstände erhalten geblieben sind (so z.B. die Sammlung des Abbé Joye, Basel, jetzt BFI/NFTVA) oder der Restaurierung dringend bedürfen (so z.B. FREIBURG DIE PERLE DES SÜDLICHEN SCHWARZWALDES von 1919).

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on allen Filmen Freiburger Produktionsgesellschaften, R. & R. immer eingeschlossen, sind bisher ca. 80 Titel aufgespürt worden, die materiell wirklich noch vorhanden sind. Der Zustand der Kopien ist teilweise erschreckend, bei vielen Umkopierungsarbeiten wurde das Farbmaterial lediglich als Schwarz/WeißKopie gesichert. Es scheint notwendig, weiter zu forschen, auch für die Jahre 1906 -1918, um auch die Situation der noch vorhandenen Filme zu verbessern, sie möglichst umfassend zu archivieren und benutzbar zu halten. Aber auch die Geschichte nach 1919 birgt sicherlich noch die eine oder andere film- und stadthistorische Besonderheit, die es zu entdecken gilt. Literatur: – Birett, Herbert: Das Filmangebot in Deutschland 1895 – 1911, München 1991. – Cosandey, Roland: Bilderbogen einer Filmexpedition im Lande des Tourismus, Kintop 4, Basel 1995 – Fleer, Cornelia: Vom Kaiser-Panorama zum Heimatfilm, Marburg 1996. – Hosemann, Klaus W. : Seinerzeit bahnbrechend – heute vergessen, in: Freiburger Almanach 1991, S. 109-116. – Meusy, Jean-Jacques: Paris-Palaces ou le temps des cinémas (1894 -1918), Paris 1995. – Müller, Corinna: Frühe deutsche Kinematographie, Stuttgart, Weimar 1994.

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Autoren und AutorInnen im journal film Dave Berry, Jg. 1943, Journalist und Filmwissenschafler; gegenwärtig Leiter der Forschungsstelle der walisischen Filmorganisation Sigrin; war 1978 – 1994 Filmkritiker der in Cardiff erscheinenden Abendzeitung The South Wales Echo, darüber hinaus Mitarbeiter vieler Zeitungen in Großbritannien; Autor von Wales and Cinema. The First 100 Years (University of Wales, 1994) sowie der Essays David Lloyd George: The Movie Mystery, 1998, und über den Filmpionier William Haggar in der demnächst erscheinenden Anthologie Moving Performance. Günter A. Buchwald, Jg. 1952. Studium an der Musikhochschule Freiburg; seit 1978 improvisierender Interpret von Stummfilmen; seit 1982 Studienrat für Musik und Geschichte; seit 1984 Lehrbeauftragter an der Musikhochschule Freiburg; 1985 Gründung der »Silent Movie Music Company«. 1995 Preisträger des Regio-Kulturpreises der Europäischen Wirtschaft; arbeitete als Dirigent und Komponist bereits mit verschiedenen Sinfonieorchestern zusammen; das Tokyo Metropolitan Symphny Orchestra eröffnete das 10. Internationale Filmfestival Tokyo mit seiner Komposition zu dem Film DAS MÄDCHEN SUMIKO; seit 1997 Dirigent zu Aufführungen von DER GOLEM zusammen mit dem Klarinettisten Giora Feidman.

Marga Burkhardt, Jg. 1961. Historikerin und Mitarbeiterin im Kommunalen Kino Freiburg. Seit 1997 wissenschaftliche Angestellte am Historischen Seminar der AlbertLudwigs-Universität Freiburg im Projekt »Identitätskonstruktion im 19. Jahrhundert«. Wolfgang Dittrich, Jg. 1954. Aufgewachsen in Bochun; M.A. Publizistik und Kommunikationswissenschaften; Reisen, Jobs und ABM. Publizistische und journalistische Tätigkeiten und Arbeit mit Video und Film seit 1985; kommunale Filmarbeit seit 1986 in Soest, Freiburg, Bottrop und wieder Freiburg; seit 1994 Mitglied der Geschäftsführung des Kommunalen Kinos Freiburg. Herbert M. Hurka, Jg. 1949; lebt in Freiburg; arbeitet als Pädagoge. Zuletzt erschienen: Phantasmen der Gewalt. Die mediale Konstruktion des Opfers, Passagen Verlag, Wien 1997; Der Weg zur Glückseligkeit endet im Tunnel zum Jenseits sowie Theogonie und Gentechnologie, beide in »Ästhetik und Kommunikation«, Nr. 101, 1998; Pikturale Netze. Selbststeuerung und Emergenz im Werk von Klaus Merkel in »Klaus Merkel«, hg. Dorothea Deimann – Räume für Kunst, Basel 1998.

Wilfried Kaets, Jg. 1961. Komponist und Organist; studierte an der RobertSchumann-Hochschule für Musik und der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf; Wettbewerbspreisträger 1987 (Gottfried-Schreuer-Preis); Studien im Bereich Orgel- und Klavierimprovisation bei Petr Eben (Prag), Olivier Latry (Paris) und Peter Planyawski (Wien). Seit 1988 Beschäftigung mit dem Stummfilm (bisher rund 120 Stummfilmvertonungen für verschiedene Besetzungen); Teilnahme an Kursen für Stummfilmillustration (Richard McLaughlin, Klavier, und Heinrich Riethmüller, Kinoorgel); seit 1992 Dozent für Filmmusik an der Universität in Düsseldorf. Tätigkeit als Regionalkantor für das Stadtdekanat Köln und als Kantor an St. Rochus, Köln-Bickendorf. Willi Karow, Jg. 1936. Studium der Germanistik, Philosophie und Geographie; mehrere Jahre Kulturredakteur bei einer größeren Regionalzeitung; Filmjournalist, wesentlich am Aufbau des Kommunalen Kinos Freiburg beteiligt und bis Ende 1996 dessen Leiter. Verantwortlicher Redakteur von journal film. Irmbert Schenk, Jg. 1941. Dozent für Medienwissenschaft an der Universität Bremen, Schwerpunkt Film und Fernsehen. Arbeiten und Aufsätze zur italienischen Literatur- und Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts sowie zur Medienwissenschaft und Medienpädagogik allgemein. Gegenwär tige Arbeitsschwerpunkte: Filmgeschichte (Deutschland, Italien, Stummfilm), Intermedialität.

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d Autorinnen wart, Henschelverlag Ost-Berlin 1981; zahlreiche Fachartikel, u.a.: Opernverfilmungen der DEFA in »Oper heute«, 1986; Vergiß, daß du Musiker bist. Notate zum Problem einer filmspezifischen Musik in »Jeder nach seiner Fasson«, 1997; Modern und volkstümlich zugleich? Hanns Eislers Spielfilmmusiken nach 1948 in »‘S müßt dem Himmel Höllenangst werden«, 1998.

Bernd Schultheis, Jg. 1964. Studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie an der RuhrUniversität Bochum sowie Komposition und Gitarre an der Guildhall School of Music and Drama in London (Teilzeitstudium); zeitweise Regieassistent und Regisseur für Oper und Schauspiel; schrieb Bühnen- und Filmmusiken. Komponierte neue Musiken zu Stummfilmen, u.a. für LES DEUX TIMIDES (ensemble) und SODOM UND GOMORRHA (2 Klaviere, 3 Schlagzeuge) von Michael Kertesz (jeweils für arte) Filmmusik für SIGNALSTÖRUNG; Experimentalfilm (Kleines Fernsehspiel, ZDF); lebt als freischaffender Komponist in Berlin.

Stefan Vockrodt, Jg. 1958. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Braunschweig; seit 1984 Filmkritiken für lokale Zeitungen; 1987 Mitbegründer des filmfest Braunschweig; 1997 Co-Autor des Buches »Von den ’lebenden Photographien‘ zum Multiplex – Braunschweigs Kinos 1896 bis heute« (Zelter Verlag, Braunschweig).

Wolfgang Thiel, Jg. 1947, Professor für Musikwissenschaft; studierte an der Humboldt-Universität Berlin sowie Komposition an der Musikhochschule »Hanns Eisler«, Berlin; promovierte 1975; von 1979 bis 1981 Meisterschüler bei Siegfried Matthus; zwischen 1975 und 1990 freischaffend tätig; seit 1991 Direktor der Städtischen Musikschule Potsdam. Kompositorische Hauptwerke u.a.: Schiff im Eismeer, media vita Sinfonische Variationen, Ehrfurcht vor dem Leben, Kantate sowie Kammermusik in verschiedenen Besetzungen. Buchpublikation: Filmmusik in Geschichte und Gegen-

Ilona Ziok, geb. in Gliwice/Polen; 1968 Auswanderung und Schulbesuch in England, Abitur in Deutschland; 1975-1977 Theater- und Filmstudium an der City University, New York; praktische Erfahrungen am Bread and Puppet Theatre, New York; 1977-1982 Studium der Politologie (Internationale Beziehungen), Slawistik sowie Theater- und Filmwissenschaften an der Goethe-Universität, Frankfurt a.M.; 1985-1989 Promotionsstudium an der Universität Mainz über: Die filmische Umsetzung der Dramen V. Rozovs (WENN DIE KRANICHE ZIEHEN, SU 1956); DAAD-Stipendium an der

Johannes C. Tritschler, Jg. 1961. Studium der Soziologie, Psychologie, Philosophie in Konstanz und Berlin. Freier Mitarbeiter verschiedener Filmund Kulturzeitschriften, Schwerpunkt: Experimenteller Film. Arbeitet beim SWR in Baden-Baden.

Moskauer Filmhochschule (VGIK); 1989 – 1990 Redaktions- und Regietätigkeit für den Hessischen Rundfunk; 1990 Gründung der Filmproduktionsfirma TV-Ventures;

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Bodo Schönfelder, Jg. 1948. Studium der Sozialwissenschaften in Göttingen; über Filmclubs zur Beschäftigung mit Film gekommen; diverse Tätigkeiten im Kultur- und Filmbereich, u.a. Geschäftsführer des Göttinger Filmfestes. Seit dem Studium freiberuflich filmjournalistisch tätig; lebt in Göttingen.

Dokumentarfilme als Realisatorin 1989 DER ZWEITE SIEG DES JURIJ VLASOV, 15 Min., ARD/HR; 1990 DU MEIN KAZIMIERZ, SHALOM..., 30 Min., Rias TV; HIER SIND WIR DAHEIM, CoAutorin: Frauke Sandig, 30 Min., Rias TV; DIE JUDEN VON MINSK, 15 Min., ARD/HR; 1991 WO IST DIE STRASSE, WO IST DAS HAUS, 28 Min., Rias TV; 1992 UND DANN MUSSTEN WIR NOCH WAS SCHWÖREN – SPECIAL OLYMPICS MINNEAPOLIS, Co-Regie: Jacek Blawut, 45 Min., ARD/SR 1993 DIE REISE NACH TUNESIEN – PSYCHISCH KRANKE MACHEN URLAUB. Co-Regie: Jacek Blawut, 45 Min., ARD/SR 1998 KURT GERRONS KARUSSELL; 70 Min., ARTE/SFB, Nederlands Filmmuseum, Studio No. 1 Praha; In Vorbereitung: WILLY DER STUMMFILMPIANIST – ein dokumentarischer Stummfilm mit und über Prof. W. Sommerfeld, 70 Min., NDR; gefördert durch MSH SchleswigHolstein und kulturelle Filmförderung Niedersachsen aus Mitteln des NDR.

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I mp re s s u m

Herausgeber: Kommunales Kino Freiburg Urachstraße 40 D-79 102 Freiburg Telefon 49 (0) 761 / 70 90 33 Fax 49 (0) 761 / 70 69 21

jf.32 Anzeigen und Vertrieb: Durch den Herausgeber; verantwortlich: Reiner Hoff

journal film # 32 112 Seiten DM 16,–

E-Mail und Internet: kino@ freiburger-medienforum.de www.freiburger-medienforum.de

journal film kann auch in Fortsetzung abonniert werden: – Einzelheft bis 80 Seiten DM 12,– incl. Porto – Einzelbestellungen zuzüglich Versandkosten

Redaktion: Willi Karow

Weitere MitarbeiterInnen dieser Ausgabe: Carola Splettstößer, Übersetzung Gisa Windhüfel, Korrekturen Matthias Wrage, Regisseur, Statement zu Willy Sommerfeld

Danke ! Für die Unterstützung der journal film-Ausgabe »Stummfilm« danken wir der Medien- und Filmgesellschaft Baden Württemberg (MFG)

Das Copyright für die Artikel liegt bei den AutorInnen.

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Bildnachweis: Archiv Bonner Kinemathek: Seite 3, 64, 88, 89 Archiv Günter A. Buchwald: Seite 22, 26/27 Archiv Kommunales Kino Esslingen: Seite 4, 8/9, 10/11, 12/13 Archiv Kommunales Kino Freiburg: Titelbild, Seite 35, 37, 40/41, 42, 44/45, 55, 57, 58, 59, 61, 93, 94, 102 Archiv Franz Josef Neymeyer: Seite 91, 107, 108 Archiv »Sigrin«: Seite 48, 49, 50, 52, 53 Archiv Wolfgang Thiel: Seite 28, 30, 32, 34 Stadtarchiv Freiburg: Seite 97, 99, 103, 104/105 Michael Weidt: Seite 15

journal film # 32 – Winter 1998 ISSN 0724-7508 DTP–Satz und Gestaltung: Büro MAGENTA, Freiburg Herstellung: Druckerei Weber, Freiburg

Die Fotos Seite 17 und 20 sind mit freundlicher Genehmigung des Verlages folgendem Band entnommen: Karl Heinz Dettke: Kinoorgeln und Kinomusik in Deutschland, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart – Weimar 1995 Die Fotos Seite 79, 80 und 81 sind mit freundlicher Genehmigung des Verlages folgendem Band entnommen: Gert Koshofer: Color. Die Farben des Films, Wissenschaftsverlag Volker Spiess, Berlin 1988

Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier




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