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c © Editorial

, Janina Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Grusswort

, Mirjam Nastasi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die singenden Fans des SC Freiburg

, Annika Boehm-Kreutzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Künstlerische Konzepte von Meredith Monk

, Ursula Benzing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Giulio Caccinis Le nuove musiche von 1602 im Selbstversuch

, Silke Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Luciano Berio Sequenza I Offene und geschlossene Konzepte

, Sven Hinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Edward Elgars Cellokonzert – ein Interpretationsvergleich

, Peter Hajek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Wiener Klassik und Öffentlichkeit

, Simone Kathrin Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Das Phänomen der russischen Rockmusik

, Yaroslawa Storchak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Mondrian und Musik

, Anne Dorothea Kütemeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Das Oratorium »Golgotha« von Frank Martin

, Georg Hage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

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, Carolin Fütterer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Inhalt

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Liebe Leserinnen, Liebe Leser!

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{ Musikerinnen und Musiker präsentieren sich klingend. Ihre Gedanken über Musik

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bleiben dagegen oft nur einem handverlesenen Publikum vorbehalten. Dabei entstehen gerade im kreativen Freiraum der Hochschule sehr originelle wissenschaftliche Arbeiten. Mit dem neuen Magazin NOTENPAPIER möchten wir zur Lektüre einladen. Ob Musik unmittelbar emotional oder vorrangig als tönende Logik genossen wird, hängt davon ab, wie wichtig einem sinnliches Erleben und ästhetische Ideen sind. Der Unterschied entspricht ungefähr dem Verzehr einer Schwarzwälder Kirschtorte und deren lebensmittelchemischer Analyse. Musikbeschreibungen spiegeln diese Ebenen wider. Der wirkenden Chemie auf den Grund zu gehen, gehört zur musikalischen Professionalität. NOTENPAPIER zielt indessen auf eine allgemein interessierte Leserschaft. Darauf nehmen die Beiträge Rücksicht. Wie stark Musik erleben und Musik machen emotional fundiert sind, bestimmt nicht die ästhetische Qualität, sondern die Motivation, die Situation und das Umfeld. Die singenden Fans leisten im Stadion körperliche Schwerstarbeit und sind doch hoch zufrieden damit, wie Annika Boehm-Kreutzer herausgefunden hat. Dass Stimmexperimente zugleich Körperchoreographien sein können, verfolgt Ursula Benzing bei der Performance-Künstlerin Meredith Monk. Eine Veränderung des Körpergefühls beschreibt Silke Schwarz im Selbstversuch mit frühbarocker Gesangstechnik. Ihre praktische Erfahrung nutzt auch Carolin Fütterer, die unterschiedliche Notationen von Berios Sequenza I testet. Dahinter steckt ein grundlegendes Problem. Musik entsteht im Erklingen als flüchtiges Schallobjekt und erhält erst notiert einen materiellen Körper. Nun gibt es bei der Rückwandlung von Noten in Klang »schwarze Löcher«, in denen Teile der Autorenintention verschwinden. Aus diesem Reibungsverlust entspringt Interpretation. Wie stark sie vom subjektiven Lebensgefühl abhängt, diskutiert Peter Hajek an Elgars Cellokonzert. Dagegen bietet Sven Hinz in seinen 729 Momenten ein offenes Konzept an, bei dem der oder die Spieler den Ablauf mit bestimmen. Allerdings muss diese aktive Rolle erst neu gelernt werden, nachdem das Publikum klassischer Sinfoniekonzerte zu stummen Zuhörern erzogen wurde, wie Simone Kathrin Mayer nachzeichnet. Gern hätte die UdSSR die grenzenlose Freiheit kontrolliert und konnte Rockmusik doch nicht unterdrücken, so Yaroslava Storchak. Das inspirierende Verhältnis von Musik und Bildender Kunst spielt bei Anne Dorothea Kütemeier und Georg Hage eine zentrale Rolle. Am Gelingen des Startheftes haben viele Anteil, wie Andreas Immer, dem der Titel einfiel, und Susanne Keßler, die so manchen Fehler fand. Bedanken möchte ich mich bei allen, bei den Autorinnen und Autoren, den beteiligten Studierenden der Freien Hochschule für Grafik-Design & Bildende Kunst e.V., Freiburg, und besonders bei Wolfgang Blüggel, Dozent für Gestaltung, für das tolle Teamwork.

Janina Klassen Professorin für Musikwissenschaft

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{ Jeder weiß: eine Musikhochschule ist dazu da, professionelle Musikerinnen und

Musiker auszubilden und sie möglichst umfassend auf einen der vielen Musikerberufe vorzubereiten. Dabei steht die klingende Musik – wie soll es anders sein – im Mittelpunkt. Nicht umsonst bieten die zahlreichen Konzertveranstaltungen und Vortragsabende unserer Hochschule – über 400 im Jahr – einerseits Podiumserfahrung für die Studierenden, andererseits sind sie ein öffentlicher und damit überprüfbarer Beleg nach innen und außen für die Arbeit, die wir alle gemeinsam – Lehrer, Lernende und Verwaltung – leisten. Übersehen wird dabei leicht, dass außer den Anstrengungen in Bezug auf das klingende Resultat auch zahlreiche und vielfältige Leistungen seitens der Studenten im Bereich der »musikalischen Reflexion« erbracht werden: theoretische und historische Fragestellungen, schriftliche Aufsätze, Examensarbeiten, Abhandlungen zur Interpretation und Aufführungspraxis, aber auch zur Verbindung von Musik mit anderen Künsten und Wissenschaften. Schier endlos und grenzenlos sind da die Möglichkeiten: pädagogische und soziale Aspekte der Musik und Musikvermittlung, Musik und bildende Kunst, Musik und Sprache, Musik und Philosophie, Musik und Informatik, Musik und Medizin, Musik und Naturwissenschaften und und und. Das meiste aus dieser studentischen »Produktion« ist der Erfüllung jener Aufgaben zugeordnet, die von den vielen Prüfungs- und Studienordnungen vorgegeben sind. Das bedeutet leider, dass diese Arbeiten der Öffentlichkeit, auch der Hochschulöffentlichkeit, weitgehend verborgen bleiben. Das neue Hochschulmagazin NOTENPAPIER möchte dies ändern. Hier soll ein Forum geschaffen werden, das zum einen Überblick über die große thematische Vielfalt vermittelt, zum anderen auch Anregungen, Anreize und Austauschmöglichkeiten geben soll. Gespräche innerhalb des Rektorates und der Kollegenschaft führten schrittweise zu dem Resultat, das Sie hier erstmals vorfinden und das den Auftakt einer Reihe bildet, die einmal jährlich erscheinen wird. Das Besondere in der Gestaltung dieses ersten Heftes ist das Ergebnis einer äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit mit der Freien Hochschule für Grafik-Design & Bildende Kunst e.V. Freiburg, deren StudentInnen aus dem Fachbereich Editorial Design sich mit viel Engagement und Fantasie am Projekt beteiligen. Ein großer Blumenstrauß für Frau Prof. Dr. Janina Klassen für die intensive konzeptionelle und redaktionelle Arbeit. Ihr ist es gelungen, sowohl ein neues Forum für Studierende als auch eine Verbindung von zwei künstlerischen Ebenen geschaffen zu haben, welche nicht zuletzt auch zu einer fruchtbaren Kooperation geführt hat.

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Prof. Dr. Mirjam Nastasi Rektorin – Hochschule für Musik Freiburg

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+ »Wenn wir auf der Nordtribüne stehn« Die singenden Fans des SC Freiburg

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Annika Boehm-Kreutzer

{ Was zieht die Menschen so in den Bann, dass sie – ganz gegen ihre sonstigen Gewohnheiten – anfangen rhythmisch zu klatschen und zu singen? Würde man einen Fan auf der Straße treffen und ihn bitten zu singen, täte er das mit ziemlicher Sicherheit nicht. Warum aber fallen im Stadion diese Hemmungen? Was sind das für Lieder und wo kommen sie her? Welche Kriterien muss ein Lied erfüllen, um ein Fangesang zu werden? Wie treffen die Fans den Ton? Ist die Tonart willkürlich? Und was mich als Sängerin natürlich besonders interessiert: Wie benutzen die Fans ihre Stimme? Sie singen meist länger als 90 Minuten mit nur kurzen Unterbrechungen. Das ist mehr, als ein Opernsänger während einer normalen Oper zu singen hat. Um die Gesänge auswerten zu können, stand ich (übrigens als einziger Nicht-Fan einer Fußball begeisterten Familie) wochenlang mit einem Aufnahmegerät in der Fankurve des SC Freiburg (Nordtribüne) und wertete zu Hause das ganze Spiel musikalisch aus.

Wie setzten sich die SC-Fußballfans als Gruppe zusammen?

{ Für den ausdauernden und kräftigen Gesang der Fans, wird eine gute körperliche Konstitution benötigt. Das Durchschnittsalter der aktiven d.h. singenden Fans liegt zwischen 18-35 Jahren. Der Anteil der männlichen Fans ist hierbei deutlich höher als der weiblichen Fans. Im Stadion vereinen sich tatsächlich alle sozialen Schichten, zumindest bei den stark vertretenen Fanclubs auf den Stehplätzen. Nicht alle Besucher sind in Fanclubs organisiert oder gehen regelmäßig zu jedem Spiel. Vielmehr verhalten sie sich so wie Rebstock und Saalmüller dargestellt haben: ? »Konsumorientierte Fans« sind nicht daran interessiert, sich in die Masse der Fans einzugliedern. Sie halten sich lieber etwas abseits, da sie Fußball lediglich als abwechslungsreiche Freizeitbeschäftigung ansehen.

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? »Erlebnisorientierte Fans« geniessen das Spektakel, bei dem nicht das Fußballspiel im Vordergrund steht, sondern das Gemeinschaftsgefühl. ? »Fußballzentrierte Fans« sind ihrem Verein treu ergeben, komme was wolle. Fußball und Fanclub nehmen im Leben eine starke Rolle ein.

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»Ein Fußballfan verliert sich in der aufgewühlten Atmosphäre eines Fußballspiels, er ›läßt sich gehen‹« (Rebstock & Saalmüller, S. 27). Gerade das ›sich gehen lassen‹ faszinierte mich am meisten. Um das, was wohl in den meisten Fans vorgeht, richtig begreifen zu können, muss man vielleicht selbst einmal die Stimmung eines Stadions während eines Fußballspiels erlebt haben, selbst wenn man sich für das Spiel selber eigentlich gar nicht interessiert. In unserer Kultur ist es für die meisten Männer undenkbar, Gefühlen freien Lauf zu lassen. Seit Generationen gilt es, Emotionen zu kontrollieren und zu beherrschen. Doch Emotionen brauchen ein Ventil, um sich zu entladen. Genau das kann man im Stadion beobachten. Plötzlich fallen alle Hemmungen. Männer gehen aus sich heraus und singen, schreien ihren Frust, aber auch ihre Freude heraus, fallen sich in die Arme und küssen sich. Einige erlauben sich sogar zu weinen. Voraussetzung ist allerdings ein Gefühl von Geborgenheit in der Gemeinschaft. Das wiederum läßt sich durch die gemeinschaftlichen Rituale und Outfits erzielen.

Fangesang und Sport

{ Bereits in der griechischen Antike wurde während der sportlichen Wettkämpfe Musik gemacht. Allerdings läßt sich hierbei nicht erkennen, ob auch gesungen wurde, da auf den erhaltenen Darstellungen hauptsächlich Aulosbläser abgebildet sind. Was allerdings übermittelt wurde, ist, dass es auch damals schon Probleme mit Aggressivität und Gewalt in den Stadien gegeben haben muss. Meine eigenen, diesbezüglichen Befürchtungen decken sich allerdings nicht damit. Wider Erwarten traf ich bei meinen Befragungen auch direkt vor dem Spiel nie sturzbetrunkene oder pöbelnden Fans – im Unterschied zur Situation in der Strassenbahn. Leider sind keine historischen Fanmusiken überliefert. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts lässt sich in England, das als »Mutterland« der Fangesänge bezeichnet wird, das Eingreifen der Fußballfans durch rhythmisches Klatschen und Singen in das Spielgeschehen zurückverfolgen. Liverpool gilt als Ursprung der Fangesänge. Auch heute noch beeindrucken die englischen Fußball-Fans mit ihrem Sangesniveau. Als ›Urhymne‹ wird das Lied »You’ll never walk alone« von der Gruppe Gerry and the Pacemakers aufgeführt (Morris, Kopiez). Bei meiner Befragung der Freiburger Fans, wurde dieses Lied von vielen als absolutes Lieblings-, sogar »Gänsehaut«-Lied betitelt. Fangesänge sind heute eine multikulturelle Mixtur. Sie konnten in dieser Form nur entstehen, weil Medien und Verkehrswesen die Welt des 20. Jahrhunderts immer überschaubarer machen. Aus jedem Land wurde ein Stück hinzugefügt und so eingebracht, dass es sich den spezifischen Bedürfnissen der Fans in dem jeweiligen Land einfügt. So hören wir in den deutschen P Notenpapier_2006|


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Stadien Klatschrhythmen, die man eher aus den südamerikanischen Ländern gewohnt ist, kombiniert mit Melodien englischer oder deutscher Volkslieder. Daher ähneln sich auch die Fangesänge in allen Ländern sehr, aber sie sind, bis auf einige Ausnahmen, nicht genau identisch.

Die singenden Fans

{ Fans lernen die Gesänge und Rufe meist nach dem Prinzip »learning by doing«. Ausserdem üben Fans die Gesänge auf Auswärtsfahrten im Bus und später im gegnerischen Stadion, da dort die eigenen Gruppen kleiner sind und man dadurch die Texte besser verstehen kann. Eine weitere Quelle der Liedtexte ist die Zeitung der Fanclubs, »Fanblock«, die es vor den Spielen im Klubhaus der Fangemeinschaften gibt. Hier werden die neuen und teilweise auch komplexeren Liedtexte veröffentlicht, um sie auch den evtl. weniger engagierten Fans nahe zu bringen. Schliesslich lassen sich die Liedtexte auf den Homepages der Fanclubs herunterladen. Wenn man Fangesänge analysieren möchte, muss man sich erst einmal von der üblichen Vorstellung des Gesangs lösen. Fangesänge sind weit entfernt von kultiviert klingenden Chören und seien es auch Laienchöre. Sie dienen dazu, sich und andere anzustacheln und Emotionen zu verarbeiten. Der produzierte Ton ist eine Mischung aus Schrei und gesungenem Ton. Zur Erzeugung des Tons benötigt der singende Fan gehörig Kraft. Alle Muskeln des Körpers sind angespannt und arbeiten bei der Tonerzeugung mit. Während gewöhnlich beim Singen darauf geachtet wird, dass der Körper sehr locker ist und nur die zur Tonerzeugung nötigen Muskeln arbeiten, wie das Zwerchfell, die Muskulatur des Kehlkopfes und des Gaumens, weil sich nur so sich ein optimaler, voller, obertonreicher und daher weit tragender Ton erzeugen läßt, geht es im Stadion um Rauheit und Aggressivität. Der Gesang der Fans ist eher eine Mischung aus Schreien, um Stärke und Angriffslust zu demonstrieren, und Singen, um die Töne lauter und tragender zu gestalten. Dabei untergraben die Fans die Tragfähigkeit ihrer Stimmen dadurch, dass sie sämtliche Muskeln überspannen. Somit können die Klangräume nicht optimal genutzt werden. Trotzdem erzielen sie in der Masse eine beeindruckende Wirkung.

Die Technik des Fangesangs

{ Die Technik des Fangesangs unterscheidet sich in einigen grundlegenden Dingen vom kultivierten Gesang. Das auffallendste Kriterium ist die Stellung des Kehlkopfes und des weichen Gaumens. Im kultivierten Gesang wird durch die Anhebung des weichen Gaumens erreicht, dass sich der Kehlkopf absenkt, wodurch ein größerer Resonanzraum entsteht. Bei der Technik der Fangesänge verhält es sich genau umgekehrt. Durch die komplette Muskelanspannung wird der Kehlkopf sehr weit nach oben gedrückt und der P Notenpapier_2006|

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Gaumen nach unten gezogen. Er hebt sich nur minimal, da das Heben des Gaumensegels zur direkten Folge hätte, dass sich der Kehlkopf absenken muß. Dafür ist allerdings der Druck in der Luftröhre von unten auf die Stimmlippen zu hoch. Das heißt, dem Atemdruck müssen die Stimmlippen durch extreme Muskelanspannung entgegenwirken, damit ein Ton erzeugt werden kann und die Luft nicht schlagartig entweicht. Dies passiert dann, wenn die Muskeln der Stimmlippen dem Überdruck nicht mehr stand halten können. Doch in den meisten Fällen funktioniert die Balance zwischen extremen Druck von unten und äußerster Stimmlippenspannung von oben. In diesem Fall beginnen die Stimmlippen und der Kehlkopf sehr schnell zu schwingen, was zur Folge hat, dass die Töne höher klingen. Doch wie man nun erkennen kann, ist für diese Art von Geangstechnik ein großes Maß an Kraft erforderlich, da mehr Muskeln als erforderlich an der Erzeugung des Tons beteiligt sind. Bei Frauen funktioniert diese extreme Art des Singens übrigens nicht, da ihre Stimmlippen in der Regel weniger Muskelmasse besitzen. Dagegen wird im kultivierten Gesang mit dosierter Luftgebung gearbeitet. Es geht darum, den Druck in der Luftröhre auf die Stimmlippen von unten und den Gegendruck von oben so in Balance zu halten, dass die Stimmlippen noch optimal schwingen zu können. Stimmt die Balance, so kann man hören, wie die Stimme frei schwingt, durch das sogenannte natürliche ›Vibrato‹. Diese Technik ist viel ökonomischer und auch schonender für die Stimme, als der Fußballgesang. Durch die Überdrucktechnik unterliegen die Stimmlippen der Fans einer ständigen Reizung, da sie immer mit voller Kraft aufeinander schlagen. Die Folge ist, dass die Stimme heiser wird und stärker verschleißt. Und noch ein Problem wirft diese Überdrucktechnik auf: Das Produzieren tiefer Töne funktioniert durch den Überdruck nicht, da die Stimmlippen unter diesen Bedingungen nicht dazu gebracht werden können, langsamer zu schwingen, um so tiefe Töne erklingen zu lassen. Dazu müssten die Fans ihren Körper locker lassen, was wiederum mit der spannungsgeladenen Situation nicht zu vereinen ist. Im Grunde ist es auch erstaunlich, dass die Fans die Zeit des Spiels sowie vorher und nachher stimmlich so gut durchhalten, da sowohl der Körper als auch die Stimme einer ungeheueren konditionellen Belastung ausgesetzt ist.

Stimmlage und Tonumfang

{ Der Großteil der Männerstimmen besteht in unseren Breiten aus Baritonen, während der Anteil von Bässen und Tenören auch im Stadion nicht besonders hoch sein dürfte. Nicht ausgebildete Sänger singen meistens in der Bruststimme, da die den gewohnten Stimmklang enthält und sich am leichtesten steuern lässt. Zieht man diese Bruststimme allerdings immer weiter nach oben, da höhere Töne weiter tragen und lauter scheinen, kommt man irgendwann an den Punkt, an dem die Stimme bricht und in diesem Klang nicht weiter kann. Dann wechselt die Stimme ins Falsett, die reine Kopfstimme. Die allerdings ist sehr dünn und fast zart (sie wird häufig auch als Fistelstimme bezeichnet) und daher für den »Schlachtgesang« unbrauchbar. Dieser als Bruch beP Notenpapier_2006|


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zeichnete Klangraum liegt bei ausgebildeten Baritonen im Bereich von e bis f eventuell bei fis. Bei Laien liegt er oftmals darunter und kann nur mit äußerster Kraftanstrengung erreicht werden, wenn das Klangpotenzial bis aufs Letzte ausgereizt wird. Nun ist auch in den meisten Fußball-Gesängen der höchste Ton ein e, häufiger aber sogar noch f oder fis ist. Das ist außergewöhnlich hoch im Vergleich zu Laiensängern aus Kirchenchören, die bei dem Versuch in der kultivierten Bruststimme zu singen meist schon bei c oder d aussteigen. Es scheint, dass die Atmosphäre im Stadion und der Überschwang der Gefühle die Männer zu sängerischen Höchstleistungen bewegt! Hört man sich die Fangesänge einen nach dem anderen immer wieder an, so stellt man fest, dass die Tonart nicht gleich zu identifizieren ist, sondern es immer erst einige Takte dauert, bis sich der Gesang einheitlich einpendelt. Erst schwimmen die Sänger noch in undefinierbaren, verschiedenen Tonarten herum.

Die Lieder der Fans

{ Fußball- Fangesänge lassen sich in einzelne Stufen gliedern: ? Reine Klatschrhythmen, die meistens durch eine große Trommel angeführt und auch häufig mit Pfiffen untermalt werden ? Reine Sprechchöre ? Kombinierte Chöre, die sich aus Klatschen und Sprache zusammensetzten ? Kurzgesänge, die häufig nur die Namen der Spieler beinhalten oder den Namen des Vereins, aber trotzdem schon verschiedene Tonstufen umfassen und somit eine gemeinschaftliche Tonart erfordern ? Kurzgesänge mit Klatschrhythmen ? ›Richtige‹ Gesänge, meist mit bekannten Melodien, auf die neue Texte gedichtet wurden ? Gesänge, die sowohl mit Klatschrhythmen, als auch mit Sprechchören kombiniert werden Sieht man sich nun die Voraussetzungen der Stimmen an, dann darf das ideale Lied einen Umfang einer Sexte (a-fis´) aufweisen. Im Überblick fällt eine gewisse Regelmäßigkeit aller Lieder auf. Von 34 notierten Gesängen sind 22 acht Takte lang, neun bestehen aus vier Takten, eines aus 16 Takten und nur zwei fallen aus dem Rahmen und haben fünf bzw. sechs Takte. In der Regel stehen die Lieder in Dur, nur selten ist einmal ein Stück in moll darunter und im 4/4 Takt. Er kann leicht mitgeklatscht werden, was wiederum eine gute Auswirkung auf die Stimmung hat und es erleichtert das spontane Einsteigen in ein angestimmtes Lied. Doch sehen wir uns einmal eine Auswahl von Gesängen etwas genauer an. Der Spitzenreiter ist: ›Schallala‹. Es besteht aus acht Takten, der Tonumfang beträgt eine Septime, wobei der tiefste Ton, das g, ein eher unwichtiger Ton ist, der direkt vor dem P Notenpapier_2006|

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Kurzgesänge Fangesänge Höhepunkt des Liedes »Super SC Freiburg« erklingt. Lassen wir das g also außen vor,

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dann ergibt sich ein Umfang von a-f’, genau in der Optimallage der Fans. Ein wesentlicher Faktor ist, dass die Melodie sehr einfach zu merken und nicht sehr anspruchsvoll ist. Sie besteht zum größten Teil aus repitierten Tönen, in drei Phrasen zu zwei Takten, die jeweils den gleichen Rhythmus haben. Nur die letzte Phrase, mit der Huldigung des eigenen Vereins (»Super SC Freiburg«), hat einen auffälligeren Melodieverlauf. Der Text ist sehr einfach und schon nach einmaligem Hören mitzusingen, da er aus immer gleichen Silben besteht. Ebenso häufig erklingt »Ole ole ole, Sportclub Freiburg«. Auch dieses Stück besteht aus acht Takten, und der Tonumfang beträgt wiederum eine Sept. Der Rahmen ähnelt zwar dem vorherigen Lied, liegt aber einen halben Ton höher. Auch hier erklingt der tiefe Ton nur ganz kurz, und er erfüllt keine wirklich wichtige Funktion. Somit gliedert sich auch dieses Stück wieder in die Optimallage der Fans ein. Das Original stammt, laut Kopiez und Brink (S. 96), aus dem Refrain des italienischen Schlager L’amico è, gesungen von Dario Baldau Bembo und Catarina Caselli (1983). Das Lied »Auf geht’s, Freiburg schieß’ ein Tor!« besteht aus nur vier Takten und hat lediglich den Tonumfang einer Terz. Der Vorteil bei diesen sehr kurzen Gesängen ist, dass die Vorsingzeit, das heißt, die Zeit des Anstimmens bis zum Einsteigen der Fans sehr kurz ist. Das Lied wird schnell erfasst und die Strophe ist im Nu vorbei, so dass die Stimmung sehr rasch aufgebaut ist. Dagegen unterscheidet sich der Hit »Wenn wir auf der Nordtribüne stehn«, von den ersten drei Liedern durch seinen langen Text hat. Er ist nicht so leicht und schnell zu lernen wie die anderen Texte und viel schwerer zu verstehen. Doch trotzdem gliedert sich auch dieses Lied in das erarbeitete Schema ein. Es liegt in der »Schokoladenlage« der Fans. Zu seiner Besonderheit gehört, dass sich der Text auf eine ganz bestimmte Gruppe bezieht, nämlich auf die Fans der Nordtribüne. Komplexere Lieder brauchen etwas länger, bis sie in Schwung kommen und werden auch nicht ganz so häufig angestimmt wie die kürzeren Gesänge. »Wir sind nicht aus Zürich...« besteht zum Beispiel aus 16 Takten, wobei acht ein halb Takte mit Text unterlegt sind, während die letzten Takte die sehr beliebten Tonsilben »ol-e« bringen. Der Tonumfang beseht aus einer Quarte. Das Problem bei diesem Lied ist, dass die Fans merklich Schwierigkeiten haben, in Schwung zu kommen. Meistens steigen die übrigen Fans erst bei der Textzeile »wir sind aus Baden...« ein und sind von da ab mit Herz dabei. Im »ole«-Teil setzt auch die große Trommel wieder ein, und das Lied bekommt mehr Schwung und zieht nun auch die letzten noch nicht singenden Fans mit. Viele Lieder sind von der Melodie her seit langem bekannt und in den Stadien richtige Evergreens, die lediglich mit einem passenden Text ausgestattet wurden. So begegnen einem immer wieder bekannte Melodien wie zum Beispiel: »Immer Freiburg siegen seh’n«. Das Original stammt aus Rod Stewards »I am sailing«. Auf die Melodie von »Yellow submarin« (Beatles, 1966) funktionert das Lied »Ihr seid nur ein Karnevalsverein«. Dieser Text wurde zur Fastnachtszeit spontan von den Fans als Reaktion auf eine Guggenmusik im Stadion erfunden und sofort von allen übernommen. Das war möglich, da die Melodie allgemein bekannt ist, und der Text lediglich die ständige Wiederholung P Notenpapier_2006|


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des Wortes »Karnevalsverein« ist. So lassen sich spontane Reaktionen auf das Geschehen erzielen. Genau dies passierte auch bei dem Lied »Gar keine Haare«, das auf dem Hit »Guantaramera« basiert. Hier ergab sich die Situation, dass der SC Freiburg kurz vor Schluss den Sieg sicher hatte und nicht mehr viele spannende Aktionen auf dem Spielfeld passierten. Als ein Spieler der Gegenmannschaft das Freiburger Tor verpasste, erfanden die Freiburger dann spontan diesen Text (als Reaktion auf die kurzrasierten Haare des Spielers) und verbanden ihn mit der allen bekannten Melodie. Aber auch auf Stücke, die ursprünglich nicht als gesungene Stücke komponiert wurden, wird zurückgegriffen, oder auf Stücke aus der klassischen Literatur wie Edward Elgars »Stars and Circumstances«, das zu »We are following Freiburg« umfunktioniert wurde, oder dem überall sehr beliebten Triumphmarsch aus der Oper Aida von Giuseppe Verdi. Zusammenfassend lässt sich sagen, das Fußballgesänge eine wichtige Aufgabe in den Stadien haben. Sie dienen dazu, eine Mannschaft anzufeuern und zu unterstützen sowie ein Gemeinschaftsgefühl unter den Fans zu erzeugen. Daher wäre es als Folgeprojekt sicher auch noch interessant, die Wirkung der Gesänge auf die Spieler zu untersuchen. Die befragten Fußballfans beschrieben alle ein sehr großes Glücksgefühl, wenn sie in der Masse stehen und singen. Viele bezeichneten es als »Gänsehautgefühl« und erklärten, süchtig danach zu sein. Nach einem Spiel fühlten sie sich wieder fit für die Woche und, auch wenn die eigene Mannschaft verloren hat, trotzdem ausgeglichener als vorher. Daraus folgt, dass das intensive Mitsingen im Stadion die über die Woche angestauten Aggressionen tatsächlich abzubauen hilft. (Man beachte, dass die randalierenden Gruppen meistens nicht aktiv am Singgeschehen teilnehmen.) Eventuell hat dies auch etwas mit der besseren Sauerstoffversorgung des Blutes durch das zwangsläufig tiefere Atmen beim Singen beziehungsweise Schreien zu tun.

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x Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, dt., Frankfurt am Main 1981 x Berthold Happel: Der Ball als All – Mythos und Entzauberung des Fußballspiels, Münster 1996 x Reinhard Kopiez / Guido Brink: Fußball-Fangesänge – eine FANomenologie, Würzburg 1998 x Desmond Morris: »Die Stammesgesänge«, in: Ders.: Das Spiel, München / Zürich 1981 x Marc Rebstock / Jörg Saalmüller: Der 12. Mann – Die Fußballfans des SC Freiburg, Oberried 1996 p Annika Boehm-Kreutzer, Opernsängerin, studierte von 1998 bis 2004 an der Musikhochschule Freiburg.

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Soccer Ball by Nina Klotz

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+ Working between the Cracks Künstlerische Konzepte von Meredith Monk

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Ursula Benzing

{ Die New Yorker Performance-Künstlerin und Komponistin Meredith Monk agiert im Zwischenbereich zwischen Jazz, Modern Dance, Theater und Neuer Musik. Monk gehört zu den konsequentesten mix-media-Künstlerinnen der neueren Kunst. Sie hat eine eigene Technik von Stimmperformance kreiert. Ihre Stücke gehen aus von körperlicher Klangerfahrung und Bewegung. Auch in der Darstellung geht sie neue Wege mit den »visual rhymes«, ein auf Farb- und Bildmotive bezogenes, von der Poetik inspiriertes Gestaltungsverfahren, das Monk einsetzt, um mehrere Raum- und Zeitebenen überblenden zu können. Im Laufe ihres Lebens hat sie sowohl mit Jazzern, als auch mit Mitgliedern des Modern Dance Ensembles sowie »klassischen« Musikern zusammengearbeitet. Zu ihren Besonderheiten gehört der unkonventionelle Umgang mit der Singstimme.

Our Lady of Late – Music for voice and glass

{ Auf der Bühne sitzt eine Frau, ganz in Weiß gekleidet, vor einem kleinen Tisch. Auf dem Tisch steht ein mit Wasser gefülltes Weinglas. Während des gesamten Konzerts ändert die Künstlerin ihre Position nicht. Die einzige, fast rituell zelebrierte Bewegung besteht darin, dass sie immer wieder zwischen den einzelnen Nummern einen kleinen Schluck aus dem Wasserglas nimmt. Diese sichtbare Handlung der minimalistischen Choreografie ist zugleich Teil der akustischen Inszenierung ihrer Gesangs-Performance. Das Wasserglas begleitet ihre Stimme. Indem die Künstlerin mit einem nassen Finger um den Kelchrand ihres Glases streicht, erzeugt sie (nach dem Prinzip einer Glasharmonika) einen kristallinen Ton. Durch die kleinen Schlucke zwischendurch verändert sich die Tonhöhe in subtiler Weise. Our Lady of Late- Music for voice and glass: Unter diesem Titel sang Meredith Monk eines ihrer ersten Konzerte als Solistin im Januar 1973 in der Town Hall in New York City. Die Musik war ursprünglich für eine Performance des Tänzers William Dunas geschrieben worden und erklang in dieser Version bereits 1972. P Notenpapier_2006|

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Die Solo-Fassung von 1973 markierte den Beginn einer Reihe von Konzerten, die Monk als Solistin in den nachfolgenden Jahren immer wieder gab. Der Komponist Tom Johnson, der die Vorstellung im Januar 1973 besuchte, schrieb darüber in der New York City: »Meredith Monk’s ›Our Lady of Late‹ at Town Hall on January 11 was the closest thing to a perfect concert that I have heard for some time. She has as much control over her singing as she does over her dancing, and her music shows as much originality and genuine inspiration as her choreography« (Johnson, S. 59). Das Stück Our Lady of Late besteht aus vielen kleinen Abschnitten, die oft nur eine Minute dauern. Jeder Teil trägt einen bezeichnenden Titel, der seinen Charakter markiert. Einige genauere Erklärungen mögen dies verdeutlichen: ? Unison: es umspielen sich Glas- und Gesangston, sodass Schwebungen, Einklänge und mikrotonale Reibungen entstehen ? Knee: Gesang hoch und gepresst, auf die klingende Silbe »knee« ? Hey Rhythm: rhythmische »Heys« werden akzentuiert in patterns vorgetragen, die Stimme bewegt sich im Quintraum über dem Glas-Ton ? Sigh: Stimme mit viel Luft- und Atemgeräuschen, wie Schluchzen oder Jammern ? Slide: Stimme glissandiert auf und ab, auf Tonsilbe »ee-yay«

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Eine »Partiturseite« zu Slide aus Monks Notizen zeigt eine ungefähre Notation der Tonhöhen. Sie verdeutlicht anschaulich die Herangehensweise der Komponistin. Die Ausführung der Partie ist nicht dezidiert festgelegt, sondern bietet Raum zur freien Gestaltung. Dennoch ist der musikalische Verlauf nicht zufällig oder improvisiert, sondern durch den aufgrund der Vorgaben definierten Spielraum zentriert. Insgesamt dominiert in Our Lady of Late das durch die Kürze der Stücke und deren Farbenreichtum gewonnene Erlebnis. Monk selbst will die »weibliche Stimme in all ihren Gestalten« dargestellt wissen. Schließlich gilt ihr die Stimme als ein »Medium« (»vehicle«) für eine »seelische Reise« (»psychic journey«; in: Banes, S. 166). Die Komposition gibt ein faszinierendes Beispiel von der reichhaltigen Ausdrucksstärke der Singstimme, und sie zeigt zudem die große technische Perfektion und Wendigkeit, mit der Meredith Monk arbeitet.

The dancing voice »I think of my work as a big tree with two main branches. One main branch is the singing and it started from my solo work, exploring the human voice and all its possibilities … And then the other branch is the composite forms, which could be operas or musical theater pieces, or installations, or films.« (Monk, Frequently asked Questions).

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{ Seit Beginn ihrer Karriere in den 1960-er Jahren gehört die 1942 geborene Künstlerin Meredith Monk zu den spannendsten und schillerndsten Persönlichkeiten der modernen Musikszene. In der sogenannten Performance Art stellt sie regelmäßig neue Kompositionen in vielfältigen Bereichen vor. Sie entwirft ebenso Solo- und Ensemblewerke, Filme und Filmmusiken, wie Opern und Begleitmusiken zu Theaterstücken. Monks künstlerische Werke sind vor allem durch ein wesentliches Element geprägt: die menschliche (Sing-) Stimme in all ihren Schattierungen und Potenzialen. Meredith Monk gilt als absolute Pionierin auf dem Gebiet neuer, experimenteller Vokaltechniken. Die ästhetische Faszination für die expressiv-emotionalen Aspekte der menschlichen Stimme lässt sich zwar schon im frühen 20. Jahrhundert beobachten, wie das Beispiel von Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire zeigt, in dem bereits 1912 neuartige stimmliche Gestaltungsmethoden gefordert wurden. Doch waren dann vor allem die einschlägigen Stimmexperimente im Jazz und Neuer Musik der 1950-er und 60-er Jahre richtungsweisend für die weitere Entwicklung. Wie Luciano Berio in Sequenza III und Cathy Berberian in ihrem Cross-over von Jazz und modern music, loteten auch Komponisten wie Mauricio Kagel oder Luigi Nono die Möglichkeiten des klassischen Kunstgesangs bis ins Extrem aus und stellten in ihren Entwürfen radikal neue Ideen vor. Alle Komponierenden arbeiteten mit exzentrischen Stimmtechniken, die sich vom traditionellen Singen losgelöst hatten und gleichsam die Ränder des klassischen Gesangs präsentierten: Atmen, Keuchen, Lachen, Summen, Schreien und diverse Lauterzeugungen in allen Schattierungen und Tonfällen. Ein wesentliches Merkmal dieser neuen Stimmästhetik war die Emanzipation der Sprache von ihrer Funktion als Kommunikationsmittel zum musikalischem Material. Worte wurden entsemantisiert und dienten nicht mehr nur als Träger inhaltlicher Bedeutung, sondern die lautliche Hülle von Sprache galt nun selber als Musik. Meredith Monk gehört zusammen mit der Komponistin und Instrumentalistin Pauline Oliveros und Joan La Barbara zu den Künstlerinnen, die die Ausdehnung der stimmlichen Möglichkeiten dann in den 1970-er Jahren weiter vorangetrieben haben. Dabei entwickelte Monk allerdings einen eigenen, von amerikanischen und europäischen Vorbildern unbelasteten und neuartigen Stil. Losgelöst von der europäischen Neuen Musik, aber auch von den Zufallskonzepten John Cages verlegte sie schon vor dreißig Jahren ihren musikalischen Fokus vor allem auf die emotionale Qualität stimmlicher Äußerungen. Daher begann sie konsequent den sinnlichen Aspekt des Singens zu kultivieren. Die Künstlerin berichtet, wie ihr während des Übens im Jahr 1965 eine Art Erkenntnis (»revelation«) aufging, nämlich die Idee, dass zwischen Stimme und Körper eine unzertrennbare Verbundenheit herrsche, die es zu entdecken galt. »I realized the voice could have the same kind of flexibility and range that the body has and that you could find a language for the voice that had the same individuality as a dancer’s movement, that you could find a vocabulary that was actually built on your own voice« (Monk, in: Strickland, S. 93). Diese angestrebte Beweglichkeit der Stimme erlaubten ihr fortan, die Grenzen der Stimmgebung und den Klangreichtum weiter auszuforschen und ihre Stimme zu einem Instrument heranzubilden, mit dem sie eine Fülle von neuen Ausdrucksmöglichkeiten erschloss. Im Unterschied zu vielen zeitgenössischen Kolleginnen und KolleP Notenpapier_2006|

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gen arbeitet sie bis heute nur sehr sparsam mit Elektronik. Stattdessen konzentriert sie sich nach wie vor auf die natürliche Stimme. »Now after working all these years with the voice I’ve realized that the voice can do almost everything that electronics can do.« (Monk, in: Strickland, S. 93). Sie betont, dass sie nicht abhängig sein will von technischen Geräten, die im entscheidenden Moment möglicherweise den Dienst verweigern könnten. Ebenso schätzt sie die Möglichkeit, zu jeder Zeit und an jedem Ort der Welt mit ihrer Musik beginnen zu können. Ausgehend von der starken emotionalen Qualität des Singens verwundert es kaum, dass Monk in ihren Kompositionen weitgehend und bewusst auf eine semantische Ebene durch die Einbeziehung von Text verzichtet. Auch damit nimmt sie eine exponierte Stellung in der Entwicklung ein. In ihrer Musik liegt das Beredte allein in den Klängen. Tiefsinnige Worte gelten als »manipulierend«. Durch diese radikale Entsemantisierung führt sie in ihren »Sprachkompositionen« die Sprache selber gleichsam ad absurdum. Der Verzicht auf eine Wortsemantik öffnet den Raum zu einer Wahrnehmung des Gesangs als reinen Klang. Im Zusammenhang mit ihrer Musik wird dabei an mehreren Stellen von einem »vor-linguistischen« Zustand gesprochen. Als Sängerin geht sie davon aus, dass die Stimme an sich schon eine eigenständige Sprache artikuliert, die sich beim Singen auch ohne Worte verständlich machen kann. Durch ihre Unmittelbarkeit vermag die menschliche Stimme dies überzeugender zu bewirken als jedes Instrument. »I feel the voice has a much more intrinsic emotional quality than instruments. In a way, it’s abstract because I don’t use lyrics, but I try never to forget that it’s a human instrument.« ( Monk, in: Schaefer, S. 222). In ihren Notes on the Voice beschreibt Monk den Zusammenhang zwischen Stimme und Emotion als »a direct line«. Danach repräsentiert Stimme das gesamte Spektrum menschlicher Emotionen und Gefühle, für die uns die Worte fehlen. So liegt die Ausdruckskraft der Musik im Ansprechen einer Gefühlsebene, die durch die starke Subjektivität der singenden menschlichen Stimme vermittelt wird. Zwei Dinge sind für Meredith Monk also für das Singen entscheidend: die emotionale Qualität des Vortrags und das unauflösliche Verbundensein von Stimme und Körper: »The dancing voice. The voice as flexible as the spine. The voice as language.« (Monk, in: Banes, S. 166).

Meredith Monks »extended vocal technique«

{ Stimmtechnisch arbeitet die Künstlerin mit verschiedenen Ansätzen, deren Ausformung sie selbst als »extended vocal technique« bezeichnet. Sie benutzt als Ausgangspunkt den ungewöhnlich großen Ambitus ihrer eigenen Stimme. Extreme Höhen oder Tiefen werden gleichermaßen erschlossen und an den Rändern auch bewusst als quietschende oder knarrende Farben eingesetzt. Daneben arbeitet sie mit abrupten Stimmbandverschlüssen (»glottal stops«) und Register-Brüchen, wie sie zum Beispiel beim Jodeln benutzt werden. Verschiedene Arten von Vibrato, Tremoli und Triller werden ebenso verwendet wie das Einbeziehen von Luft- und Atemgeräuschen. Auch nutzt sie P Notenpapier_2006|


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gelegentlich Techniken des »Oberton-Singens«. Ein großer Teil ihres Gesangs besteht allerdings nach wie vor aus natürlich gesungenen Tönen. Dabei verwendet sie tonale, oft einfache Melodien, die »patternartig« wiederholt werden. Darüber hinaus verleiht sie ihrer Stimme häufig andere Farben und Charaktere und singt beispielsweise mit bewusst kindlicher, männlicher oder »alter« Stimme. Durch diese Vielfalt erschließen sich dem Hörer neue und ungeahnte Klangwelten. Oft fragt man sich mit Erstaunen, auf welche Art bestimmte Klangeffekte produziert wurden. Alles, was sie an sich selber erprobt hat, verlangt sie auch von ihren Ensemblemitgliedern. Sängerinnen und Sänger, die Monk für ihr Vokalensemble und ihre Produktionen auswählt, müssen in der Lage sein, die außergewöhnlichen Techniken zu erlernen. Vor allem sollten sie Spaß am Experiment haben. Wichtiger als eine klassische Ausbildung ist für Monk die Besonderheit, die jede einzelne Stimme mit sich bringt, wobei allerdings eine gewisse technische Flexibilität der Stimme unverzichtbar ist! Über ihre Ensemblemitglieder sagt sie: »They all have a fantastic technical base, but what I love about their singing is that when you hear them it’s not that you go, ›Opera singer!‹. It’s Andrea’s voice or Bob’s voice or Naaz’s voice. I don’t want them to sound like an imitation of my voice.« (Monk, in: Strickland, S. 97). Zur besonderen Performance gehört auch die Bereitschaft des Ensembles, sich auf neue Herangehensweisen einlassen zu können. Monk folgt einer Art »trial and error«-Prinzip, beginnt mit einer Idee, und im Vorgang des Ausprobierens und wieder Verwerfens entsteht das neue Werk auf einer gemeinschaftlichen Basis innerhalb der Gruppe. Das Unbekannte ist dabei ein Teil des ganzen Entstehungsprozesses. Dementsprechend existieren nur selten Noten von einzelnen Kompositionen. Die Musik wird (wie in Kulturen der mündlichen Überlieferung) gemeinsam gelernt und behalten, so dass es keiner Notation mehr bedarf. Dieser Lernprozess vollzieht sich auf einer unmittelbaren körperlichen Ebene, getragen durch die vitale Energie und die kinetische Kraft, die innerhalb der Gruppe wächst. Das einzige, was Monk gelegentlich notiert, ist eine Art »Fahrplan«, der den ungefähren Verlauf und die Gesangssilben festhält, aber keine genauen Tonhöhen markiert. Musikalisch arbeitet Monk häufig mit kleinen, sich wiederholenden Mustern. Sie legen eine klangliche Basis fest, über der sich die Gesangslinie frei entfalten kann. In Notes of the Voice beschreibt Monk das Zusammenspiel von Stimme und einem begleitenden Instrument so: »Working with a companion (the accompanying instrument: organ, piano, glass, etc.): repeated patterns or drone creating a carpet, a tapestry of sound for the voice to turn on, fly over, slide down, cling to, weave through.«(Monk, in: Banes, S. 166). Diese Struktur ist kennzeichnend für nahezu alle ihre Kompositionen. Dabei grenzt sich Monk vehement gegen den naheliegenden Vergleich zu Techniken der Minimalmusic ab. Die Wiederholungen in ihrer Musik dienten nicht dem perpetuierenden Selbstzweck, sondern sie unterstützen lediglich die solistische Linie, die bei Monk eben gerade nicht minimalistisch ausgeformt wird: »The repetition in Steve’s music (Steve Reich) seems to set up a long enough time base so that when things shift it becomes an event, whereas in my music I use instrumental repetition more as a carpet for the voice to fly off – to fly from and back onto.« (Monk, in: Strickland, S. 94). Die Stimme, solistisch oder im P Notenpapier_2006|

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Ensemble, steht demnach deutlich im Vordergrund und eine instrumentale Begleitung hat sich den Nuancen der vokalen Linie unterzuordnen.

Dolmen Music

{ Bei den archaisch anmutenden Klangentwicklungen in Dolmen Music (1981)

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offenbart sich noch eine ganz andere musikalische Inspirationsquelle – die Musik hat eine gewisse Affinität zum Kirchengesang. Monk bestreitet diesen Einfluss nicht, führt ihn allerdings nicht ausschließlich auf ihren religiösen Hintergrund zurück. Sie wurde jüdisch erzogen, in einer reformierten Weise, und sie ist vertraut mit der Musik, die im Tempel gesungen wurde. Allerdings sieht sie selber keine direkte Verbindung zwischen der kultischen Musik ihrer Kindheit und ihren eigenen Kompositionen. Woher die ganze Musik in ihr komme, wisse sie nicht. Die quasi religiöse Klangqualität von Dolmen Music entspringt vielmehr einem anderen Kontext. Sie ist inspiriert von den druidischen Menhirs, den archaischen, kultischen Felsformationen in der Bretagne. Monk spricht davon, dass die Felsen auf sie eine starke energetische Ausstrahlung gehabt hätten. Genau dies wollte sie in der Musik wiedergespiegeln: »I was thinking about Druids, the ancient people who had constructed this table. I was trying to make music which had a kind of primordial quality but also a futuristic quality at the same time.« (in: Strickland, S.98). Die Faszination des Schamanenhaften, Überdauernden und Geheimnisvollen fließt in die Musik ein durch langsam aufbauende Steigerungen und Überlagerungen in den Stimmen, die ein virtuoses und fast unheimliches Eigenleben zu entwickeln scheinen. Zum Teil wird die Musik durch Violoncello und Klavier unterstützt – dabei weben die Instrumente in einfachen Wiederholungen den »Klangteppich«, auf dem sich die Solostimmen entfalten können. In einer Aufführung von Dolmen Music bildeten die Interpreten eine Art »archaische Gemeinschaft« nach, indem sie – ähnlich der Anordnung der Felsen – im Kreis saßen. Alle waren in Schwarz und Weiß gekleidet, und sie schienen auf geheimnisvolle Art in einer nicht erkennbaren Sprache und wie spontan miteinander zu kommunizieren. Auch für diese Performance-Komposition gibt es keine partiturhafte Notenvorlage. »The heart of my work is singing«- diese Maxime gilt für alle Werke Monks, auch wenn der Gesang nie für sich allein steht. Immer spielt die theatralische und vor allem die körperliche Präsenz in der Performance eine mindestens ebenso bedeutende Rolle wie die klangliche.

Working between the Cracks

{ Aufgrund der Art ihrer musikalischen Stimm-Performance verwundert es nicht, dass Meredith Monk als zweiten wichtigen Zweig ihrer Arbeit das Theater nennt. Hier vermischen sich in ihren Werken Musik, Tanz, Lichtgestaltung und Szene zu einem »Gesamtkunstwerk«, in dem sich die verschiedenen Ebenen überlagern und gegenseitig P Notenpapier_2006|


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ergänzen. »Working between the cracks« – das bedeutet für Monk nicht nur die Aufhebung der Trennlinien zwischen den Künsten; sie verwirklicht durch ihre Kunst gleichzeitig auch die Idee eines schöpferischen, kreativen und unkonventionellen 7Arbeitens in den »Zwischenräumen« von Kunst, Realität und Leben.

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x Sally Banes: Terpsichore in Sneakers – Post-Modern Dance. Middletown: Wesley University Press, 1987 x Tom Johnson: The voice of new music – New York City 1972-1982. Eindhoven, Holland: Apollohuis, 1991 x Deborah Jowitt(Hg.): Meredith Monk. Baltimore + London: John Hopkins University Press, 1997 x Deborah Jowitt: Time and the dancing image. Berkeley + Los Angeles: University of California Press, 1988 x Meredith Monk: Frequently asked Questions. http://www.meredithmonk.org http://www.meredithmonk/faq/index.html, 2001 x Karin Pendle: Women and Music – A History. Bloomington: Indiana University Press, 1991 x John Schaefer: New Sounds: A Listener’s Guide To New Music. New York: Harper&Row, 1987 x Nancy Spector: Das Anti-Erzählerische – Meredith Monks Theater. Parkett 23, Zürich 1990 x Edward Strickland: American Composers – Dialogues on Contemporary Music. Bloomington: University of Indiana Press, 1991

p Ursula Benzing studierte von 1997 – 2002 Schulmusik mit Hauptfach Blockflöte und Gesang, Referendariat von 2003 – 2005, unterrichtet seit dem Schuljahr 2005 / 2006 am Melanchthon-Gymnasium Bretten.

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+ »Mit der Kehle über dem Vokal a anzuschlagen« Giulio Caccinis Le nuove musiche von 1602 im Selbstversuch

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{ Der Zufall kam mir zur Hilfe. Unzufrieden damit, Musik des 16. und 17. Jahrhunderts irgendwie »aus dem Gefühl heraus« zu interpretieren, hatte ich beschlossen, mich mit barocken Verzierungslehren zu befassen. Welchen Sinn haben Verzierungen? Waren sie dazu da, Zuhörer zu beeindrucken, indem man ihnen die technischen Fertigkeiten der Sänger demonstrierte? Eindeutig ja. Aber gibt es nicht noch eine andere Aufgabe? Da fiel mir ein Faksimile von Giulio Caccinis 1614 in Florenz gedruckter Sammlung Nuove musiche e nuova maniera di scriverle (Neue Musik und neue Notationsweise) in die Hände. Dass Giulio Caccini nicht nur Komponist, sondern auch Gesangsvirtuose und -lehrer war, bekräftigte meine Entscheidung, mich mit diesem Lehrwerk auseinanderzusetzen und es auf seine praktische Anwendbarkeit hin zu untersuchen.

Wer ist Caccini?

{ In der von Konkurrenz, Intrigen und Missgunst zerfessenen höfischen Gesellschaft um 1600 scheint Caccini den Typus des Wadenbeissers verkörpert zu haben. Als sein Kollege Jacopo Peri ihn nach Sängern fragte, die in seiner neuen Oper Euridice mitwirken sollten, verknüpfte Caccini die Unterstützung mit der Bedingung, dass er, Caccini, für seine Schüler auch gleich die Gesangspartien in Peris Stück beisteuern dürfte. Gleichzeitig komponierte er in grosser Eile ebenfalls eine Euridice und schaffte es, sein Stück sogar noch vor dem von Peri herauszubringen (Schmitz, S. 3). Giulio Caccini wurde vermutlich am 8. Oktober 1551 geboren und als Dreizehnjähriger an der Capella Giulia in Rom zum Knabensopran ausgebildet. Am Hof der Medici in Florenz erhielt er weiteren Unterricht in Gesang, Laute und Harfe. Caccini war ein gefragter Gesangsolist und bekam deshalb eine feste Anstellung in Florenz. Ab 1575 bildete er selber junge Sänger am Hof aus. Außerdem war er Mitglied verschiedener Gruppierungen von Musikern und Intellektuellen, die über ästhetische und aufführungspraktische Fragen in der Musik P Notenpapier_2006|

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debattierten. Nach internen Streitigkeiten und dem Tod seines Gönners verließ Caccini 1610 den Hof von Florenz. Sein letzter bekannter öffentlicher Auftritt war 1614, während eines Aufenthaltes in Pisa. Dort leitete er die kirchenmusikalischen Aktivitäten an St. Nicola. Im selben Jahr erschien der Traktat Nuove musiche e nuova maniera di scriverle als Fortsetzung der 1602 herausgegebenen Sammlung Nuove musiche. Giulio Caccini starb 1618 und wurde in der Florentiner Kirche S. Annunziata beigesetzt.

Die Neue Musik von 1602

{ Caccini begeisterten die zeitgenössischen Vorstellungen vom Gesang im antiken

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Theater. Techniken des überhöhten Sprechgesangs und auch Maskenspiel zur Kennzeichnung mythologischer Charaktere kannte man bereits aus der Tradition der Renaissance. Im Florenz des jungen 17. Jahrhunderts brachten die Komponisten diese Mischung zwischen Singen und Sprechen in eine Form, den sogenannten »monodischen« Stil, auch »stile recitativo« genannt. Der Text wurde nach der Sprechmelodie komponiert und sollte vom Sänger nach rhetorischen Kriterien in freiem Metrum vorgetragen werden. Dazu diente ein Bassfundament als klangliche Stütze. Es ersetzte den im 16. Jahrhundert üblichen polyphonen Tonsatz. Caccini komponierte nun in diesem »neuen Stil« 1602 eine Sammlung von Madrigalen, in denen die Technik des monodischen Stils mit der Kultur des virtuosen Gesangs verbunden war.

Aufführungspraktische Fragen

{ Die Madrigale und Arien in den Nuove musiche sind alle mit einer Solostimme und einem Begleitinstrument besetzt. Caccini bevorzugt hier die Chitarrone. Generell ist bemerkenswert, dass Caccini in der Vorrede viel öfter von dem berichtet, was schlecht ist und was gute Sänger nicht tun sollen, als konstruktive Hinweise zu geben. Er geht also offensichtlich davon aus, dass die Leser seiner Schrift nicht am Anfang ihrer Gesangsausbildung stehen und fehlende Hinweise und Erklärungen selbst hinzufügen. Das beste Beispiel hierfür sind vielleicht Hinweise zum Ausführen des Trillo bzw. des Gruppo. Wir erfahren nur, dass der Trillo »mit der Kehle über dem Vokal a anzuschlagen ist und in ähnlicher Weise der Gruppo«. Der Trillo/Gruppo könnte ein tremolierender Vorgang (wie unser heutiger Triller) sein oder vom Zwerchfell gebildet werden. Möglich sind auch gleichmäßig schnelle Stimmbandschlüsse (weiche Glottisschläge), was am ehesten nach Kehlschlag klingt, jedoch schwierig rhythmisch zu kontrollieren ist. Wichtig ist Caccini eine sichere Intonation und gute Atemarbeit. Um beides zu gewährleisten, empfiehlt er, die zu singenden Werke immer so zu transponieren, dass man sie »mit voller und natürlicher Stimme singen und das Falsett vermeiden kann.« Zur Frage des Vibratos äußert sich Caccini nicht explizit, dennoch lassen seine Anmerkungen einige interessante Rückschlüsse zu. Wenn man Caccinis Maxime mit »voller P Notenpapier_2006|


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und natürlicher Stimme zu singen« befolgt, so muss das (nach meiner Auffassung) zwangsläufig zur Ausbildung eines natürlichen Vibratos führen. Unverständlich ist deshalb die verbreitete Meinung, nach der in Renaissance- oder Barockmusik die natürliche Schwingung einer Stimme reduziert werden müsse oder gar ein vollständig vibratoloses Singen erforderlich sei. Betrachtet man, wie viele Stunden pro Tag die professionellen Sänger am Hof gesungen haben, dann scheint es aus physiologischen Gründen schwer möglich, dass Generationen von Sängern, um ein Vibrato zu verhindern, entweder mit zu viel Atemdruck oder (vor allem Frauen) mit zuviel Nebenluft gesungen haben. Beides hätte auf Dauer der Stimme geschadet. Greta Moens-Haenen unterscheidet zwischen »großem und hörbarem kontinuierlichem Vibrato«, »Naturvibrato« und »Verzierungsvibrato« (Moens-Haenen, Kap. 1). Diese Einteilung ist sinnvoll, um das Tremolo zu vermeiden. Stattdessen können so die Triller und Bebungen bewusst eingesetzt werden, um Dissonanzen oder wichtige Worte zu betonen. Das »Naturvibrato« aber ist ein gewollter Zustand, der sich bei richtigem Gebrauch der Stimme von allein einstellt. Wird es jedoch absichtlich erzeugt, so wirkt es für den Hörer als Tremolo.

Die Nuove Musiche als Verzierungslehre

{ »Drei Dinge muß derjenige wissen, welcher den schönen Sologesang mit Affekt praktiziert. Das sind der Affekt, seine Vielfalt und die Lässigkeit des Gesangs« (Caccini, Vorwort). Die Sprezzatura bezeichnet nicht allein eine lässige Haltung insgesamt, sondern auch die Manier, frei mit der Metrik umzugehen. Neben den verschiedenen Formen von Trillern (Trillo, Gruppo und Ribattuta di gola), Kaskaden und Passagen gehört die Esclamazione zu den wichtigsten Verzierungen. Auch sie wird als bekannt vorausgesetzt. Dem Notenbeispiel nach zu urteilen, ist ein laut angesetzter beziehungsweise durch einen Sprung nach oben angesetzter hoher Ton gemeint, der durch An- oder Abschwellen affektvoll gestaltet werden kann. Caccini ist sehr sparsam mit dem Gebrauch von Verzierungen. Er lehrt, dass man die Passagen nur bei weniger affektuosen Musikstücken und Schlusskadenzen, jedoch nicht bei kurzen Silben und Tanzkanzonetten einsetzen solle, denn diese sollten allein durch die Lebendigkeit des Gesangs wirken. Diese puristische Forderung ist aber, betrachtet man die vorausgegangene geniale Entwicklung des Kontrapunkts, nur sehr schwer einzuhalten. Auch Caccini benutzt öfters Koloraturen, die seiner eigenen Lehre widersprechen.

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Das Madrigal »Dolcissimo sospiro« – ein Selbstversuch

{ Caccinis Madrigal liegt ein Gedicht von Ottavio Rinuccini zugrunde. Dolcissimo sospiro Ch’esci da quella bocca Ove d’amor ogni dolcezza fiocca; Deh, vieni a raddolcire L’amaro mio dolore. Ecco, ch’io t’apro il core, Ma, folle, a chi ridico il mio martire? Ad’un sospiro errante Che forse vola in sen ad’altro amante.

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Süßester Seufzer, Der du aus jenem Munde kommst, Woher alle Süße der Liebe strömt; Ach, komm und mildere Meinen bitteren Schmerz. Sieh da, ich öffne dir mein Herz, Aber, ich Tor, wem erzähle ich meine Pein? Einem herumirrenden Seufzer, Der vielleicht in das Herz eines anderen Liebenden fliegt.

Das Thema ist Liebespein. Durch die Aufforderung, den bitteren Schmerz des lyrischen Ichs zu mildern, wird die Situation des Leidens definiert. Das lyrische Ich wird sich seiner Einsamkeit bewusst. Bei der Wortwahl fällt die Häufung des Vokals o auf, kombiniert mit dem Vokal i. »Dolcissimo sospiro«, der Beginn der Dichtung, steht im Gedicht wie ein vorangestellter Ruf. Diese Zeile hat als einzige keinen Reimpartner. So steht es auch am Anfang der Komposition als Ausruf, der in langen aufsteigenden Notenwerten beginnt und auf dem Wort »sospiro« … Durch die Vokalkombination dieses Beginns entwickelt der Sänger beinahe zwangsläufig eine lyrische Grundstimmung. Ich habe zur Probe dieselbe Tonfolge auf die Worte »Cara, mia bella« gesungen und bemerkt, dass die breiten Vokale a und e freudiger und direkter klingen, als die schlanken Vokale o und i. Rinuccini führt durch die Vokalfarben in die klagende Stimmung ein. Caccini unterstützt dieses Konzept durch die »seufzenden« Figuren beim Wort »sospiro«. Ich beginne den ersten Ton laut mit anschließendem Decrescendo, also in einer von Caccini empfohlenen Exklamation, um ihn wenig später in eine weitere Exklamation auf dem Spitzenton d” zu führen. Wieder decrescendierend singe ich die Seufzerfigur bis zum ersten Einschnitt am Ende des Wortes »sospiro«. Beim Probieren der gegenteiligen Ausführung der Exklamation, nämlich crescendierend nach dem Ansatz stellt sich ein interessanter Effekt ein. Die Stimme verliert dadurch an Schwingung, wird also »gerade«. Möglicherweise ist passiert, was Caccini vor allem bei Sopranen widerstrebte: Die Stimme klang »scharf und unerträglich«. Da Caccini empfiehlt, den Einsatz der Exklamationen zu variieren, würde diese Art zu dem Wort »amaro« in Takt elf passen. Allerdings dauert dieser Ton eine ganze und eine übergebundene halbe Note. Caccini empfiehlt ausdrücklich auf ganzen Noten anstatt einer Exklamation eine »messa di voce« (Schwellton) einzusetzen. Am überzeugendsten scheint mir eine kombinierte Ausführung, also ein Piano-Ansatz auf »amaro«, wobei der Schwellton bis zum Schluss P Notenpapier_2006|


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des Wortes »mio« dauert. Wenn diese Passage sehr dicht und vibratoarm gesungen wird, wirkt der Schmerz des »dolore«-Seufzer umso stärker. Betrachtet man die Fortführung des Anfangseufzers, bemerkt man, dass Caccini eine kleine »kontrapunktische Reminiszenz« verarbeitet hat. In Takt vier beginnt der Sänger den Text »ove amor« (»ove« bedeutet »dove«, also wo) in folgendem Rhythmus. Dieses Motiv sequenziert der Generalbass sofort. Danach mündet der Gesang in eine lautmalerische »Ribattuta di gola«, die sich dann in Sechzehnteln fortbewegt, danach noch eine ganze Note auf dem Ton a’ verharrt, bevor die Schlusssilbe des Wortes »fiocca« erreicht ist. Üblicherweise hätte ich auf der ganzen Note einen Gruppo oder eine Passage verziert. Nach der Lektüre des Traktats scheint mir eine »Messa di voce« der naheliegendste Affekt zu sein. Nach dem Schmerzseufzer folgt der Satz »Ecco ch’io t’apro il core«. Ich führe die Seufzer crescendierend aus, um die Exklamation im nächsten Takt decrescendierend zu singen. So hört man die Verzweiflung des Liebenden und die darauf folgende Hoffnungslosigkeit. »Ma, folle a chi ridico il mio martiro« beginnt mit einer ganzen Note auf demselben Ton in C-Dur. Vor der Wiederholung von »ma« (»aber«) schreibt Caccini die einzige Pause, eine halbe Pause, in diesem Stück. In den folgenden Phrasen bis zum Schluss fällt auf, dass im Gegensatz zur ersten Hälfte sämtliche Schlusssilben verkürzt werden. Vergleicht man die Notenwerte der letzten Silben so findet man ganze Noten bei den Worten sospiro, fiocca, dolore, core (beide Male), während martiro, errante, und amante (außer im Schlussakkord) zwar jeweils auf der zweiten Silbe (Takt 18, 19, 21, 23, 25) lange Notenwerte aufweisen, die Schlusssilben jedoch immer in Viertelnoten komponiert wurden. Dies ergibt natürlicherweise eine Temposteigerung, da nach kadenzierenden Takten sofort weitergesungen werden soll. Caccini hat also die »sprezzatura« quasi mitkomponiert.

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In der Frage der Stimmbehandlung fällt auf, dass bei diesem Madrigal, die Stimme schlank geführt werden muss. Der Sänger dieser Musik sollte immer koloraturbereit sein, das bedeutet, die Stimme im Klangkern, aber flexibel auf einer guten Stützbasis zu führen. Die Gefahr, diese Einstellung zu verlieren, besteht vor allem während der zahlreichen ausgehaltenen Töne. Deswegen ist es sinnvoll, den Rat Caccinis zu befolgen, jeden langen Ton mit einer »Messa di voce« oder einer »Exklamation« zu versehen. Man wird dadurch gezwungen, die Stimme zu führen und nicht durch Anstreben eines zu großen Klanges unflexibel zu werden. Falsch wäre allerdings, die Stimme nur auf den Klangkern zu reduzieren, da die Exklamation einen vollen Forteklang benötigt, der nur mit Unterstützung des Körperklangs erreicht werden kann. Abschließend ist festzustellen, dass das Madrigal »Dolcissimo sospiro« jene Ziele, die Caccini in seinem Vorwort formuliert größtenteils erfüllt. Der Text kann verständlich gesungen werden. Wichtige Worte werden ausgeziert oder wiederholt und somit betont. Es ist durchaus anspruchsvoll zu singen und birgt einige technische Schwierigkeiten. Natürlich habe ich immer wieder Caccinis Texte zu Hilfe genommen, aber schlussendlich wurde mir bewusst, dass ich aus der Musik viel mehr Nutzen ziehen konnte. Offensichtlich demonstrierte Caccini das Erklärte, und der Schüler lernte durch Imitation. Dies macht es uns heute wohl auch so schwer zu entscheiden, welche Singart denn nun die »richtige« ist für die Musik des 16. und 17. Jahrhunderts.

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x Bötticher, Jörg-Andreas: »Singend denken« – und denkend singen? Zur Wechselbeziehung barocker Vokal- und Instrumentalpraxis, in: Reidemeister, P. (Hrsg.): Basler Jahrbuch für historische Aufführungspraxis XXVI 2002, Winterthur, 2003 x Caccini, Giulio: Le nuove musiche 1602 und Nuove musiche e nuova maniera di scriverle Florenz,1614 ; Nachdruck 1998. Alle deutschen Zitate stammen von Frauke Schmitz. x Fenlon, Iain: Giulio Romolo Caccini; aus: Sadie, S. (Hrsg.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians Vol. 4, 2. Auflage, 2001, S. 769 – 777 x Moens-Haenen, Greta: Das Vibrato in der Musik des Barock; 1988, Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz x Potter, John: Vocal authority, 1998, Cambridge University Press x Schmitz, Frauke: Giulio Caccini, Nuove musiche (1602 / 1614); Pfaffenweiler, 1995

p Silke Schwarz Sängerin, studierte von 1999 bis 2005 an der Musikhochschule Freiburg. Sie erhielt bereits mehrere Auszeichnungen, darunter den Europäischen Kulturförderpreis.

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Artwork: Wolfgang Bl端ggel

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+ Space-Notation Luciano Berio Sequenza I

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{ Luciano Berios Stück Sequenza I für Soloflöte von 1958 existiert in zwei verschiedenen Notationen. In der ersten Ausgabe (Editioni Suvini Zerboni Milano; S. 5531 Z) hat Berio die Musik in sogenannter »Space-Notation« komponiert, während die zweite Ausgabe (Universal Edition Wien; UE 19957) traditionell in rhythmisch exakten Werten notiert ist. Als Flötistin stehe ich also vor der Wahl, zwischen zwei sehr unterschiedlichen »Spielanleitungen« für ein und dasselbe Stück entscheiden zu müssen. Warum hat der Komponist das gemacht? Und was unterscheidet die beiden Notationen? Zunächst wählte Berio eine offene Aufzeichnungsweise, die den Interpreten gewisse rhetorische Freiheiten erlaubt. Sie sind wichtig in Bezug auf das Konzept, mit verschiedenen Gestaltungselementen die Illusion einer Mehrstimmigkeit zu suggerieren. Berio betrat damit 1958 Neuland. Offenbar fand der Komponist dann allerdings doch, dass die Interpretationen von Sequenza, die er mit verfolgen konnte, zu wenig seinen Intentionen entsprachen. Deshalb entschied er sich für eine zweite, rhythmisch exakt festgelegte Version des Stücks, damit die Kluft zwischen seiner Klangidee und den Ausführungen der Flötisten geringer würde. Indessen steht dahinter ein generelles Problem der Transformation von verschriftlichter Musik in Klang.

Sequenza I

{ »Ich möchte, dass Du mir ein ein kleines Flötensolo komponierst«, bat der Flötist Severino Gazzelloni den damals dreiunddreissigjährigen Komponisten. Es sollte zu einem Konzert mit zeitgenössischen Stücken von Togni, Messiaen und Boulez passen. Luciano Berio nahm die Herausforderung an und widmete Gazzeloni das 1958 in Darmstadt uraufgeführte Stück Sequenza. Das Flötenstück bildet den Beginn einer ganzen Serie von Sequenzas (I-XIII; 1958-1995), in denen jeweils ein Instrument (einschliesslich Stimme) im Mittelpunkt steht. In Sequenza I besteht die Herausforderung darin, auf der GrundP Notenpapier_2006|

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lage dodekaphoner und partiell serieller Strukturen, die Partitur für das einstimmige Instrument Flöte so zu entwerfen, als würden mehrere Stimmen gleichzeitig ablaufen. Der Titel Sequenza soll betonen, dass es sich in erster Linie um eine Folge (= Sequenz) harmonischer Felder handelt, der alle anderen musikalischen Funktionen untergeordnet sind. Die zeitlichen, die sich auf die Tonhöhe beziehenden, die dynamischen und die morphologischen (form- und gestaltbildende) Dimensionen sind durch drei Spannungsgrade charakterisiert: ? Der Grad der höchsten Spannung in der zeitlichen Dimension herrscht in den Momenten mit der größten Schnelligkeit der Artikulation beziehungsweise in den Momenten mit der längsten Dauer eines Tones. ? Der mittlere Spannungsgrad ist immer durch eine neutrale Verteilung zwischen ziemlich langen Werten und ziemlich schnellen Artikulationen ausgezeichnet. ? Der kleinste Spannungsgrad wird durch die Stille oder die Tendenz zur Stille bestimmt.

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Die Tonhöhendimension hat ihre maximale Spannung, wenn die Noten sich schnell über das gesamte Register verteilen oder Intervalle großer Spreizung dominieren beziehungsweise extreme Register gewählt werden. Daraus ergeben sich auch die anderen beiden Grade. Der maximale dynamische Spannungsgrad findet in Momenten der größten klanglichen Intensität und des größten dynamischen Kontrastes statt. Als morphologische Dimension gilt die Verbindung der drei anderen. Sie dient als eine Art rhetorisches Werkzeug, das den Grad der akustischen Transformation in Bezug auf ein Modell definiert. In Sequenza I ist es die Erfahrung mit dem historischen Hörbild einer Flöte (als Modell) und ihre Differenz. Der maximale Grad ist hier erreicht, wenn das typische Hörideal, der schöne, kultivierte Ton, modifiziert wird durch Flatterzunge, Klappengeräusche oder Doppeltöne. Wenn in der Ausführung die zeitlichen Beziehungen gewissenhaft respektiert werden, dann hat man manchmal tatsächlich den Eindruck, wenn auch nicht einer Polyphonie, so doch einer Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Das Stück wird durch eine Koexistenz zweier verschiedener, scheinbar gegensätzlicher Anlagen entwickelt. Auf der einen Seite überzeugt die unmittelbare, theatralische und schon fast aggressive Dimension, auf der anderen Seite bleiben isolierte, absolute Gesten. Pausen werden benutzt, um die verschiedenen Teile zu trennen, um etwas rhetorisch hervorzuheben oder einfach als Möglichkeit einer natürlichen Atmung. Über die Dynamik werden gleiche Charaktere gezeichnet oder Echos provoziert. Außerdem dient sie auch für gezielte Überraschungseffekte. Mit schnellen Oktavwechseln, dem Anspielen entfernter Oktaven entsteht eine Art Räumlichkeit, in der verschiedene Klangpunkte miteinander in Aktion zu treten scheinen. Trotzdem wirkt das Stück nie »zerstückelt« oder »auseinander gerissen«. Aufgrund der symmetrischen Verwendung von Dynamik, Dauern und der Gruppierungen der Intervalle gibt es so etwas wie regelmässige Phrasen. Mit Hilfe von Zeichen werden bestimmte Assoziationen erreicht, wie Ähnlichkeit oder Kontrast, Wiederholung oder Variation, oder auch die Bestätigung oder Negation von Symmetrie. Selbst wenn beim Zuhören der Eindruck eines freien Kontinuums entsteht, so sind doch konkrete Orientierungspunkte vorhanden. P Notenpapier_2006|


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Zwischen Komponierenden und Interpreten

{ Nicht immer lässt sich bei einer Komposition die Absicht des Autors eindeutig erkennen. Zwischen der Intention, ihrer Fixierung in Noten und der klanglichen Umsetzung des Notierten bleiben nicht zu schliessende Spielräume. Die Hermeneutik (=Lehre von der Sinnerfassung von Aussagen) geht sogar auch bei mehr oder weniger eindeutig erkennbaren Intentionen davon aus, dass die Interpretation sich unbedingt vom Sinnhorizont des Autors lösen müsse (vgl. Danuser, Sp. 1053-1069). Dem Komponisten bleiben zur Sicherung einer angemessenen Vortragsweise folgende Massnahmen: ? die genaue Vortragsbezeichnung ? die mündlich oder schriftlich praktizierte Vortragslehre ? die Realisierung mustergültiger Aufführungen und ? die Fixierung auktorialer, das heisst vom Komponisten gesteuerter Reproduktionen auf Tonträgern. Dem gegenüber steht der von der Autorintention abweichende rezeptions- und interpretationshistorische Wandlungsprozess. Gemeint ist, dass das Stück sich mit jeder Aufführung ändert und damit möglicherweise sich auch positiv weiterentwickelt. Gerade das macht die Lebendigkeit von Musik aus. Die im Text notierte Struktur eines musikalischen Kunstwerks weist meist solch einen Reichtum an Beziehungen auf, dass es nicht möglich ist, eine einzige, ästhetisch perfekte Fassung davon darzustellen. Es können immer nur verschiedene einzelne Aspekte eines Werks berücksichtigt werden. Dies zeigt sich am Zwiespalt zwischen der Forderung nach der Deutlichkeit im Detail einerseits und andererseits dem Verlangen nach einem »grossen Bogen«, einem Zusammenhang der Formteile. In Berios Sequenza I verschärft sich das Problem deswegen, weil Interpreten bestimmte Entscheidungen selber treffen können. Die absolute Autorität der Autorenintention ist damit bereits ein Stück weit gelockert. Um so verantwortungsvoller muss nun allerdings auch damit umgegangen werden, dass die vagen Grenzen zwischen Freiheiten im begrenzten Spielraum und willkürlicher Interpretation respektiert bleiben.

Space-Notation

{ Da das Stück extrem virtuos ist, hat Berio sich bei der Komposition für eine »Space-Notation« entschieden. Er sah darin die Möglichkeit einer Notation, die dem Interpreten (mehr psychologisch als musikalisch) einen gewissen Spielraum lässt, das Stück seinen musikalischen Fähigkeiten anzupassen. Diese neue Art der Notation hat zur Bekanntheit des Stücks Ende der fünfziger Jahre wesentlich beigetragen. Während traditionelle Notationsformen die einzelnen Parameter von Metrik und Tondauern genau festschreiben, handelt es sich hier um eine Notation in optisch definierten Abständen. Die Dauer eines bestimmten Zeitraums (hier: 70 Schläge pro Minute) wird P Notenpapier_2006|

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durch kleine senkrechte Kommata umgrenzt und dient als konstanter Puls. Eine feststehende Metrik und ausgeschriebene Notenwerte existieren nicht. Das heisst, die optische Verteilung der Noten zeigt den auszuführenden zeitlichen Abstand innerhalb des vorgeschriebenen Zeitraums (»Space«) an. Sind die Noten mit einem Balken verbunden, so sind sie quasi tenuto (gehalten) zu spielen. Stehen sie einzeln, jeweils mit »Fähnchen«, so sind sie kurz zu spielen, je nach Art der vorgegebenen Artikulation. Die Dauer der unter Fermaten stehenden Töne wird nicht vorgeschrieben, die kleinen Noten sollen so schnell wie möglich ausgeführt werden. Die in Sequenza verwendete Space-Notation löste heftige Diskussionen über die darin enthaltene immanente Aleatorik (»Zufälligkeit«) aus. Wenn nämlich zu der »freien« Notationsweise noch die »freie« Spielweise der Interpreten hinzukommt, wie ungenaue Pausen oder willkürliche Agogik, so fürchtete man, wird es mit einer textgetreuen Interpretation schwierig. Skeptiker wie Pierre Boulez fragten daher, ob diese Schreibweise nicht zu sehr zwischen Zufall und Konstruktion »wackele«. Auch Berio machte die Erfahrung, dass die Interpretation nach seiner Vorstellungen nur dann gewährleistet war, wenn Komponist und Interpret das Stück gemeinsam einstudierten. In seiner zweiten Ausgabe fixierte Berio daher den Notentext metrisch genau. Anstelle eines definierten Zeitraums (70 Impulse pro Minute), bestimmt die Dauer einer Viertelnote (Viertel = 70) das Tempo. Daraus folgt, dass auch die einzelnen Notenwerte jetzt metrisch exakt notiert werden. Das heisst, anstelle »längerer« oder »kürzerer« Werte, die aus dem Zusammenhang heraus interpretiert werden müssen, stehen nun rhythmisch festgelegte Achtel, Sechzehntel, Triolen oder Quintolen. Ob beabsichtigt oder nicht: es ändert sich damit der gesamte Charakter des Stücks.

Ausblick

{ Es nicht ganz unproblematisch, die beiden Ausgaben zu vergleichen. So ist zum Beispiel nicht klar, wo bei der Space-Notation die »Eins« des »Taktes« oder besser des Spaces zu setzen ist. Bedeutet »auf den Puls«, wenn die Noten in einem Abstand von ca. einem Milimeter zum Komma stehen? Auf den ersten Blick scheinen die beiden Ausgaben sich in ihrem Notenbild recht ähnlich zu sein. Vergleicht man dann kritischer, so zeigen sich doch einige Unterschiede. Die in den beiden Ausgaben manchmal leicht verschiedene Dynamik ist hierbei unter dem Aspekt der Relativität vernachlässigbar. Erstaunlicherweise lassen sich durch die Space Notation mehr Nuancen ausmachen, die rhythmisch ausgeschrieben so gar nicht notierbar sind. Das betrifft vor allem den sprachlichen Gestus des Stücks. Mit dem genauen Ausrechnen der rhythmischen Wertigkeit wird der sprachähnliche Gestus mehr zerstört als gefördert. Trotzdem gehören die zwei Fassungen zu den besonders reizvollen Aspekten des Stücks. Nach der vergleichenden Gegenüberstellung und meiner eigenen Erfahrung damit kann ich jedem Flötisten nur empfehlen, sich beide Ausgaben anzuschauen, aber letztendlich aus der Erstfassung zu spielen. Durch das Lesen der rhythmisierten Fassung P Notenpapier_2006|


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wird man gezwungen, sich die Erstfassung auch wirklich genau zu erschließen. Und wenn man dies gewissenhaft tut, dann hat man sich ein nicht einfaches, aber dafür meisterhaftes Stück der Flötensololiteratur angeeignet.

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x Luciano Berio und Rosanna Dalmonte: Entretiens avec Rosanna Dalmonte, Lattes, Paris 1983. x Hermann Danuser: Art. »Interpretation«, in: MGG2, hg.v. Ludwig Finscher, Sachteil Bd. 4, Kassel etc. 1996, Sp.1053 – 1069. x Francesca Magnani: La Sequenza I de Berio dans les poétiques musicales des années 50, in: Analyse musicale 14, 1989, S. 74-81. x Joachim Noller: Art. »Luciano Berio«, in: Komponisten der Gegenwart, hg. v. Hanns-Werner Heister / Walter-Wolfgang Sparrer, München 1992 ff., 26. Nlfg., 10/03. x Circles, Sequenza I, Sequenza III, Sequenza V, Wergo Schallplatten: Mainz 1991 (CD). x Donaueschinger Musiktage1996, Col legno Musikproduktion: München 1997 (CD). x Peter-Lukas Graf: Werke für Flöte solo, Claves Records: 3600 Thun/ Schweiz 1989. x Olivier Mille: ein Film von Olivier Mille, Artline Orig.- Prod.; Südwestfunk: Baden-Baden 1993 (Video).

p Carolin Fütterer Flötistin, studierte von 1998 bis 2004 Orchestermusik an der Musikhochschule Freiburg.

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+ Offene und geschlossene Konzepte

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{ Klangereignisse, die mit einer Intention hervorgebracht werden, können in Konzepten (Partituren, graphischen Notationen, verbalen Anleitungen) beschrieben werden. Je nach dem Grad ihrer Eindeutigkeit lassen sich offene oder geschlossene Konzepte unterscheiden. Auf der linken Seite: Beispiel für ein offenes Konzept. Der Anleitung oben rechts entsprechend werden die Elemente A-B-C immer wieder neu kombiniert und interpretiert. Zur besseren Handhabung: Felder entlang der durchgezogenen Ränder ausschneiden, am schraffierten Rand zusammenheften und entlang der gestrichelten Linien schneiden. Dem gegenübergestellt ist ein Beispiel für ein geschlossenes Konzept (Text unten), das keinerlei Interpretationsfreiheit zuläßt. Der Text über das Werk ist das Werk selbst und muß weder erläutert noch erschlossen werden. Beide Stücke wurden im Rahmen der Veranstaltung »Experimentelles Komponieren für Schüler« 2005 aufgeführt.

Werkeinführung für einen Sprecher

{ Dieses Werk ist eine reine Sprachkomposition, die aus zwei Teilen, zweimal drei Sätzen und zweimal zweiundsechzig Wörtern besteht. Der Text stammt vom Komponisten und enthält das Werk selbst sowie dessen formale und inhaltliche Beschreibung; darüber hinaus einige Angaben über Vortragston, Artikulation, Sprechtempo und Lautstärke. Der Vortragston sollte sachlich, die Artikulation verständlich, das Sprechtempo gemäßigt und die Lautstärke die einer gewöhnlichen Unterhaltung sein. Der Titel des Werkes »Werkeinführung« erscheint an zwei Stellen in der Partitur: einmal etwa in der Mitte und einmal am Ende. Form und Inhalt sind vollkommen identisch. Das Werk ist selbstbezüglich und somit völlig autonom, gleichzeitig jedoch programmatisch, da es eine außermusikalische Idee zum Inhalt hat: die Werkeinführung. Aus Symmetriegründen mußten vierzehn Wörter nachträglich eingefügt werden, die jetzt eine Art Coda bilden. p Sven Hinz studiert seit dem Wintersemester 2000/01 an der Musikhochschule Freiburg Schulmusik.

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+ Zwischen »Fairy-tale« und »War requiem« Edward Elgars Cellokonzert – ein Interpretationsvergleich

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»The Violoncello Concerto is a fairy-tale, full of (…) humour.« »Such a concerto of isolation, loneliness, farewell even, as had never been written.«

{ Gegensätzlicher kann Edward Elgars Cellokonzert kaum charakterisiert werden. Das erste Zitat stammt von Donald F. Tovey aus den 1930-er Jahren (Tovey, S. 143), das zweite von Jerrold N. Moore aus den 80-er Jahren (Moore, S. 741). Wie ist es möglich, dass der eine Märchen voller Humor, der andere den höchsten Ausdruck von Einsamkeit hört? Lässt sich diese Frage analytisch klären? Und wie verhalten sich die Interpretinnen und Interpreten? Dazu habe ich vier Aufnahmen untersucht: 1.) eine Einspielung von 1928 unter der Leitung des Komponisten mit Beatrice Harrison, Cello, und dem New Symphony Orchestra; 2.) eine Aufnahme von 1945 mit Pablo Casals und dem BBC Symphony Orchestra unter Sir Adrian Boult sowie zwei Aufnahmen mit Jacqueline du Pré, von 1965 mit dem London Symphony Orchestra unter Sir John Barbirolli (3) und von 1970 mit dem Philadelphia Orchestra unter Daniel Barenboim (4). Welche Variante wählen die drei Interpreten, die humorvolle oder die melancholische? Und mit welchen Mitteln arbeiten sie den jeweiligen Grundcharakter heraus? Hierbei erhält die erste Aufnahme von 1928 einen hohen Stellenwert, weil der Komponist sie selber dirigiert. Harrison wurde von Elgar ausdrücklich als »his chosen soloist« bezeichnet.

Aspekte für die Grundstimmung des Cellokonzertes

{ Das Cellokonzert op. 85 gehört zu den Stücken, die Elgar in den Jahren 1918 und 1919 in einem idyllisch gelegenen Sommerhaus bei Brinkwells in Sussex komponierte. Das Stück besteht aus vier Sätzen: 1. Adagio – Moderato (e-moll); 2. Lento – Allegro molto (G-Dur); 3. Adagio (B-Dur) und 4. Allegro (e-moll). Sie sind auf mehreren Ebenen miteinander verknüpft. So geht der erste Satz unittelbar in den zweiten über, während der dritte und vierte Satz harmonisch mit einander verbunden sind. Ausserdem enthält die Coda des vierten eine Reminiszenz an den dritten Satz. Darüber hinaus hängen die Themen aller Sätze in Gestus und Struktur eng miteinander zusammen. Als Bindeglied P Notenpapier_2006|

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dient die rezitativische Einleitung des ersten Satzes. Sie ist nicht nur die Quelle melodischen Materials, sondern sie taucht auch an mehreren Stellen des Konzertes mehr oder weniger wörtlich wieder auf, so zu Beginn des zweiten und an Anfang und Ende des vierten Satzes. Zwei kompositorische Aspekte entscheiden den Grundcharakter von Elgars Cellokonzert: das Spielen mit traditionellen Konventionen, das sich besonders in den rezitativischen Partien zeigt, und die Interpretation der langsameren Sätze und Passagen.

Spiel oder Scheitern – die Einleitungen der ersten beiden Sätze

{ Schon in der rezitativischen Einleitung des ersten Satzes zeigt sich das für das

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ganze Werk typische Muster getäuschter Hörerwartungen. Die ersten Takte – vier mit nobilmente und largamente bezeichnete Akkorde des Solocellos im fortissimo – versprechen ein repräsentatives Stück. Jedoch sinkt die Cellolinie in nur vier Takten vom selbstgewissen fortissimo ins piano und rutscht dabei unaufhaltsam ins tiefe Register ab.Danach beschleunigt sich zwar das Tempo. Doch auch die schnelle Bewegung gerät sofort wieder ins Stocken. Dieses Prinzip, nämlich einem vielversprechenden Gestus etwas ›Enttäuschendes‹ folgen zu lassen, lässt sich nun in zwei Richtungen interpretieren. Einerseits dahingehend, dass Elgar mit den Erwartungen seiner Zuhörer spielt, um in eine unerwartete Richtung einzulenken – eine humorvolle Variante. Andererseits kann man dieses Muster auch als Resignation auffassen: Der Versuch, das Konzert mit einem strahlenden, emphatischen ersten Satz zu beginnen, scheitert kläglich – eine tragische Variante. Die Interpretation der rezitativischen Einleitung als Spiel oder Scheitern wirkt sich dann auch auf den Charakter des folgenden lyrisch-schlichten Moderatothemas aus. Die vier untersuchten Aufnahmen unterscheiden sich deutlich in der Gestaltung des vom Adagio scheinbar zu einem schnellen Satz strebenden Sechzehntelaufgangs und in der Charakterisierung des Moderatothemas. Beatrice Harrison (1) etwa suggeriert einen Übergang in einen schnellen Kopfsatz. Dagegen hat Casals (2) offenbar das deutlich spürbare Bedürfnis, aus Elgars Vorgaben, etwas machen’ zu müssen. »Gute Musik ist nie eintönig. Wenn sie eintönig klingt, ist es unser eigener Fehler«, so Casals, »weil wir sie nicht spielen, wie sie gespielt werden sollte« (zit. n. Blum 1981, S. 34). Er formuliert daher das Moderatothema als gewichtiges Hauptthema und durchbricht den monotonen Fluss durch unvorhersehbare Unregelmäßigkeit, indem er mal auf den einen, mal auf den anderen Ton des Sequenzmodells hinspielt. Außerdem senkt er das Tempo ab (Casal: MM = 49; Harrison: MM = 55). Dadurch fokussiert sich die Aufmerksamkeit auf den Einsatz des Cellos als eigentliche ›Hauptsache‹ des ersten Satzes. Sein Thema soll sanft »niedergeh[n] wie ein Blatt, welches im Herbst von einem Baume fällt« (zit. n. Blum, S. 51f.). Wirkt das Moderatothema bei Harrison unauffällig schlicht, so als sollte der Hörer, dessen Erwartung von etwas Großartigem im Rezitativ genährt worden war, sozusagen auf den Arm genommen werden, so erhält es bei Casals die Rolle eines echten P Notenpapier_2006|


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Hauptthemas. Es strahlt aber nicht den in den Anfangstakten versprochenen Triumph sondern eher herbstliche Einsamkeit aus. Casals Ansatz wirkt wie ein resigniertes Eingeständnis, dass Elgar die Erwartung des triumphalen Anfangsgestus zwar erfüllen konnte, es jedoch nicht wollte. Jacqueline du Pré (3, 4) lässt die Erwartung erst gar nicht aufkommen. Sie spielt die Sechzehntel von Anfang an sehr langsam, was bewirkt, dass sich hier schon eine gewisse Hoffnungslosigkeit ausbreitet. Diese resignierende Stimmung behält du Pré auch im (nicht ganz so phantasievoll wie in der Casals-Aufnahme gestalteten) Moderatothema bei. Ähnliche Beobachtungen gelten für die rezitativische Einleitung des zweiten Satzes. Harrison und Elgar spielen mit getäuschten Erwartungen, Casals und du Pré verleihen dem Anfang eine resignative Grundstimmung von Aufbruch und Scheitern. Entsprechend wirkt der Hauptteil des zweiten Satzes, ein von kurzen cantabile-Passagen durchsetztes perpetuum mobile, bei Harrison wie ein spielerisches In-Fahrt-Kommen, bei Casals und du Pré nervös dahinhuschend.

Schlicht oder schmerzvoll-pathetisch – die langsamen Partien

{ Die unterschiedliche Gestaltung der langsameren Partien des Konzertes wirkt sich vor allem auf die Wahrnehmung der letzten beiden Sätze aus. Bei Casals und noch mehr bei du Pré lässt sich eine emotionale Aufladung der langsameren Teile des Konzertes feststellen, wodurch sich das Hauptgewicht von den lebendigen schnelleren (bei Harrison) zu den melancholischen langsameren Teilen verlagert. Das Adagio, ein »Lied ohne Worte« des Solocellos, zurückhaltend begleitet von Streichern und Klarinetten, beginnt mit drei aufwärts führenden, fragenden Motiven, sinkt dann im 7. Takt zurück in eine synkopische Bewegung des Orchesters, über der sich eine Cellokantilene entwickelt. Diese wird zweimal wiederholt: zunächst fast identisch (ab Takt 27), aber einen Halbton tiefer. Die dritte ›Strophe‹ (Takte 45 bis 53) ist bis zur Unkenntlichkeit gekürzt, so dass fast nur der Beginn wiederzuerkennen ist. Der Schlusstakt dieser letzten Strophe wird mit dem Wiederaufgreifen der Fragemotive des Beginns verschränkt. In keiner der vier untersuchten Aufnahmen weichen die Interpreten wesentlich vom Notentext ab. Und doch wirken sie grundsätzlich verschieden. Harrison singt ein trauriges, aber schlichtes Lied. Bei Casals und du Pré (1965) geht die Schlichtheit zunehmend zugunsten ergreifender Leidenschaftlichkeit verloren. Wie stark dieser Stimmungswechsel wirkt, zeigt ein Vergleich der extremsten Aufnahmen, von Harrison 1928 und du Pré 1970. Harrison lässt die Werkstruktur klar hervortreten. Sie grenzt die einzelnen ›Strophen‹ deutlich voneinander ab und auch die einzelnen Phrasen sind gemäß ihrer motivischen Struktur klar untergliedert. Dabei behält sie durchgehend eine einheitliche Klangfarbe und Tongebung bei. Außerdem schlägt sie ein flüssiges Tempo an (Takte 1-7 im Durchschnitt Achtel = MM 46; du Pré: MM 32), welches sie in der zweiten ›Strophe‹ (molto stringendo) auf fast das dreifache steigert (Takt 34: MM = 124; du Pré MM 60), so dass der ganze Satz als Einheit überblickt werden kann. Ein völlig anderes Verhältnis P Notenpapier_2006|

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zwischen Detail und Ganzem wählt du Pré 1970. Sie schöpft ihr ganzes reichhaltiges Arsenal an Ausdrucksmitteln aus: Vibrato und Klangfarbe variiert sie auf engstem Raum, prägend ist aber besonders ihre Agogik. Während Harrison das Grundtempo vor allem auf höherer Ebene extrem variiert, macht sich bei du Pré eine phantasievolle Zeitgestaltung vor allem unterhalb der Taktebene bemerkbar. Der Zeitpunkt des jeweils nächsten Tones ist kaum vorherzusehen, scheint im Rückblick trotzdem immer zur genau richtigen Zeit gekommen zu sein. Du Pré nutzt die agogischen Spielräume bis an die Grenzen aus. Das Zusammenspiel der verschiedenen Ausdrucksparameter (Vibrato, Tongebung, Agogik u.ä.) ist bei du Pré so komplex, dass kein Ton dem anderen, kein Takt dem folgenden gleicht. Der Hörer wird von ihr in den einzelnen Augenblick hineingesogen und verliert die Distanz, die im Gegensatz dazu bei Harrison die formale Struktur so klar hervortreten lässt. Jacqueline du Pré macht jedes kleine Motiv, ja fast jeden einzelnen Ton zu einem aufregenden Erlebnis. Der Hörer wird zwar dadurch vom Blick aufs Ganze abgelenkt – aber ohne dass der Satz dadurch auseinanderfallen würde. Er wird zusammengehalten von einer einheitlichen Stimmung. Denn alle Vielgestaltigkeit in du Prés Spiel ist nicht Selbstzweck sondern dient dem Ausdruck eines ergreifenden Schmerzes. Die emotionale Aufladung langsamer Passagen wirkt sich besonders stark auf die Wahrnehmung des vierten Satzes aus. Dieses Allegro weist einige für Finalsätze typische Merkmale auf: Sonatenform mit Rondoelementen, ein schwungvolles Hauptthema, ein sich immer weiter steigerndes Modulationstempo und eine triumphale Schlussgeste. Ebenfalls nicht ungewöhnlich für einen Schlusssatz sind Reminiszenzen an vorangehende Sätze. Allerdings erscheint der Rückblick auf den dritten Satz (Takt 281-331) in der Coda, die sich stetig bis zum Lento in Takt 325 verlangsamt, mit einer dem dritten Satz entsprechenden Länge ungewöhnlich ausgreifend. Harrison spielt diese Passage zwar sehr leidenschaftlich (viele Portamenti, ausdrucksvolles Vibrato), aber die drängende Unruhe des Allegros bleibt im Bewusstsein des Zuhörers präsent, so dass in der kurzen Stretta (Takt 336-352 Allegro molto) diese wieder aufgreifen und in eine triumphale Schlussgeste umgeformt wird. Der Rückblick wirkt bei ihr wie eine vorübergehende ›Episode‹. Casals und du Pré verleihen dieser Passage durch Vielgestaltigkeit im Detail ein ungleich größeres Gewicht. Schon allein durch das langsamere Tempo (Harrison: Viertel = MM 91-35, Casals MM = 59-33, du Pré MM = 62-23 bzw. 56-19) verschwindet allmählich die Erinnerung an den bewegten Hauptteil, der Episodencharakter geht verloren. Die Stretta ist dann zu kurz, um die resignative Stimmung wieder aufzuhellen. Sie wirkt eher wie ein letztes verzweifelt-trotziges Aufbäumen. Die gedrückte Stimmung bleibt beim Hörer haften und überschattet das ganze Konzert, das im Rückblick Einsamkeit und Depression auszudrücken scheint.

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Autorenintention und Wende der Rezeption von Elgars Cellokonzert

{ Elgar und Harrison betonen die leichtere, humorvolle, die anderen drei Beispiele dagegen die melancholische, tragische Seite des Cellokonzertes betonen. Faszinierend ist, dass der Notentext beide Interpretationsrichtungen zuzulässt. Nur die Tempoangaben widersprechen der tragischen Interpretation. Offensichtlich hat sich die Interpretation von Elgars Cellokonzert zwischen 1928 und 1945 von der humorvollen zur tragischen Version geändert. Zwar ist die Basis von nur vier Aufnahmen keineswegs genügend repräsentativ, um diese Vermutung auf ein sicheres Fundament zu stellen. Jedoch scheint sie sich in den Entwicklungstendenzen der musikwissenschaftlichen Literatur über Elgars Cellokonzert zu bestätigen. Die fast ausschließlich angelsächsische Elgar-Forschung ist überwiegend biographisch orientiert. Das Hauptinteresse der Biographen Elgars liegt in der Darstellung seines Charakters, von dem die Musik nicht zu trennen sei. Analytische Betrachtungen begnügen sich daher meistens damit, biographische Bezüge herzustellen. Überliefert ist Elgars Bemerkung, das Cellokonzert spiegele »A man’s attitude to life« wider. Obwohl Elgars Lebenseinstellung als äußerst zwiespältig zwischen »he was so thin-skinned and so vulnerable« und »jocular gusto« (McVeagh) beschrieben wird, erhält das Cellokonzert einseitig depressive Attribute wie »war requiem« ( McVeagh S. 121), »world of loneliness« (Moore, S. 741) oder »Elgar’s final comment on the agony of the war and of himself« (Anderson, S. 359). Die zitierten Aussagen entstammen alle der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, während in der Vorkriegszeit die humorvollen Charakteristika überwiegen wie Toveys »a fairy-tale, full […] of meditative and intimate passages; full also of humour, which, in the second movement and finale, rises nearer to the surface than Elgar usually permits« (Tovey, S. 143). Die Indizien sprechen dafür, dass Elgar die humorvolle Interpretation seines Cellokonzertes intendierte. Sowohl der Notentext (die sich in den angegebenen Metronomzahlen manifestierenden Tempoangaben) als auch die – wenn auch sehr spärlich – überlieferten Aussagen Elgars und die in diesem Fall wichtigste Quelle für die Suche nach der Autorenintention, die Aufnahme mit Beatrice Harrison unter der Leitung von Elgar selbst, weisen in diese Richtung. Würde nun einer Beurteilung der untersuchten Aufnahmen einzig und allein das Kriterium zugrunde gelegt werden, das im 20. Jahrhundert oft dogmatisch gefordert wurde, der Interpret habe die Werkidee des Komponisten wiederzugeben und nichts anderes, so müsste man die Aufnahmen von Casals und du Pré, die zu den einflussreichsten Interpreten des 20. Jahrhunderts zählen, als die Autorintention verfehlend verurteilen. Hermann Danuser und Hermann Gottschewski, die sich intensiv mit der Analyse performativer Interpretationen beschäfti-

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gen, schlagen eine andere Beurteilung vor und nennen als das wichtigste Kriterium für die künstlerische Qualität eines Interpretationskunstwerks »seine innere Stimmigkeit«. Sie »definiert sich allein aus den auf der Schallplatte festgehaltenen Strukturen« (Gottschewski 1996, S. 20). Legt man diesen Maßstab zugrunde, muss man den vermeintlichen Verstoß gegen die Autorenintention akzeptieren. Durch Casals entstand ein ergreifendes ›neuen‹ Elgar-Cellokonzert, dessen ausdruckshaften Intensität du Pré noch steigerte.

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x Baldock, Robert: Pablo Casals. Das Leben des legendären Cellovirtuosen, München 1994. x Blum, David: Pablo Casals und die Kunst der Interpretation, Wilhelmshaven 1981. x Danuser, Hermann: Artikel Interpretation, in: MGG2, hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil Bd. 4, Kassel und Stuttgart 1996, Sp. 1053-1069. x Gottschewski, Hermann: Die Interpretation als Kunstwerk. Musikalische Zeitgestaltung und ihre Analyse am Beispiel von Welte-Mignon-Klavieraufnahmen aus dem Jahre 1905, Laaber 1996.

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x McVeagh, Diana: Artikel Elgar, in: The new Grove dictionary of music and musicians, hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 8, London 2001, S. 115-137 x Tovey, Donald Francis: Essays in Musical Analysis, Bd. 2: Concertos and Choral Works, Oxford 1989 (erste Auflage 1935-1939).

p Peter Hajek studierte von 1999 bis 2004 Schulmusik, mit Hauptfach Cello.

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+ Konzertsäle – Klangräume Wiener Klassik und Öffentlichkeit

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Simone Kathrin Mayer

{ Ludwig van Beethovens Sinfonien gehören für uns selbstverständlich zum Kernrepertoire »klassischer« Konzertreihen. Ihr adäquater Aufführungsort ist traditionell das Konzerthaus, dessen architektonische und akustische Gestaltung im Dienst der Musik steht. Konzertsäle sind öffentliche Räume. Sie geben Aufschluss darüber, wie musikalische Öffentlichkeit gestaltet wird und welche Rolle die Musik in der Öffentlichkeit spielt. Zu Beethovens Zeit gibt es in der Stadt Wien allerdings noch gar kein Gebäude, das eigens für Sinfoniekonzerte gedacht oder sogar dafür konstruiert worden wäre. Der repräsentative Konzertsaal der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien wird erst 1831 gebaut, vier Jahre nach Beethovens Tod. Wie funktioniert dann musikalische Öffentlichkeit zur Zeit der Wiener Klassik? Die uns vertraute Art und Weise öffentlicher Konzertveranstaltungen entwickelt sich um 1800 überhaupt erst. Zu den Begleiterscheinungen gehört, dass die mitwirkenden Orchester noch keineswegs den heutigen professionellen Sinfonieorchestern entsprechen. Beethoven spielt dabei insofern eine wichtige Rolle, weil er mit seinem Wirken in dieser Entwicklung eine neue Dimension öffnet. Raum hat neben architektonischer und akustischer auch eine soziale sowie als Klangraum innerhalb der Komposition eine musikästhetische Bedeutung.

Musik und öffentlicher Raum

{ Der Begriff der Öffentlichkeit ist stets eng verknüpft mit dem der allgemeinen Gesellschaft. Öffentlichkeit beinhaltet, dass Menschen eines gemeinsamen Lebensraumes an dem teilnehmen, was ihre Mitmenschen tun und lassen, dass sie interagieren und kommunizieren. Jede Aktion und Kommunikation findet an einem Ort statt, und sobald sie öffentlich ist, also viele Personen erreichen soll, stellt sich die Frage nach einem geeigneten Raum, etwa einem Marktplatz oder einem großen Innenraum. Solche Plätze sind konkreter öffentlicher Raum. Die neu entstehenden Konzertsäle gehören dazu. P Notenpapier_2006|

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Bevor sie gebaut wurden, hatte sich indessen das öffentliche Konzert bereits etabliert. Konzerte wurden zunächst als Privatinitiativen organisiert. Im Laufe des 18. Jahrhunderts bildeten sich in fast allen europäischen Metropolen Vereine zur Veranstaltung von Konzerten. Sie funktionierten meist nach dem Prinzip der Subskription. Interessierte Musikliebhaber trugen sich in eine Liste ein und verpflichteten sich zur Zahlung einer bestimmten Summe. Sobald genügend Geld vorhanden war, konnte ein Konzert stattfinden. Mit dem wachsenden Publikum mussten auch größere Räume angemietet werden, was wiederum auf die Stärke der beteiligten Orchester zurück wirkte. Vor allem gegen Ende des 18. Jahrhunderts wuchsen die Orchester, die für sinfonische Konzerte benutzt wurden, allmählich an. Doch die Aufführungen mit so großen Orchestern litten ständig an Platz- und Geldproblemen. Man »durfte nicht wählerisch sein, sondern hatte sich mit einem wenig geeigneten Raume zu begnügen« (Schreiber, S. 203).

Wie Status versus Können

{ Wer spielte in den Orchestern, die etwa Beethovens Sinfonien uraufführten? Wie

war die musikalische Bildung und über welche instrumentalen Fertigkeit verfügte man? Nach Stefan Weinzierl gab es im zeitgenössischen Wien drei Typen von feststehenden professionellen Orchestern, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aktiv waren.

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? Die kaiserliche Hofkapelle. Sie hatte seit dem Amtsantritt Maria Theresias nur noch liturgische Funktionen zu erfüllen und spielte im öffentlichen Musikleben der Stadt keine Rolle. Die Hofkapelle bildete allerdings den Kernbestand für das Orchester der Tonkünstlersozietät, des ersten dauerhaften Konzertinstituts in Wien. ? Die Theaterorchester, das heißt die Orchester der beiden Hoftheater und die Orchester der drei privaten, vorstädtischen Theater. Sie waren die wichtigsten professionellen Ensembles im öffentlichen Konzertleben Wiens und bestritten neben ihrer Funktion bei Schauspiel, Singspiel, Oper und Ballett auch alle Konzerte, die innerhalb der Theatergebäude stattfanden. Darüber hinaus wurden sie für Konzerte außerhalb der Theater verpflichtet, zum Teil als komplettes Ensemble, zum Teil nur für diejenigen Partien, für die keine Dilettanten zur Verfügung standen. ? Die fürstlichen Privatkapellen. Obwohl die Institution der fürstlichen Privatkapelle bereits Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung verlor, spielte insbesondere die Kapelle des Fürsten Lobkowitz noch bis 1810 eine wichtige Rolle für das symphonische Schaffen Beethovens (Weinzierl, S. 114). Die wichtigste Rolle spielten in Beethovens Aufführungen allerdings nach wie vor die in sogenannten Liebhaberorchestern organisierten Laien oder Dilettanten. Bis weit in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurden die meisten öffentlichen Konzerte wenn nicht ausschließlich, so doch unter entschiedenem Mitwirken von Dilettanten bestritten. Erst um 1840 waren Aufführungen mit gemischten Orchestern, die, wie in Liebhaberorchestern üblich, gar nicht oder kaum geprobt hatten, obsolet. Die gestiegeP Notenpapier_2006|


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nen technischen Ansprüche wie in Beethovens Sinfonien machten auch professionellen Musikern zu schaffen. Selbst Berufsmusiker waren zum Teil überfordert. Bei einem Konzert im Wiener Redoutensaal 1814, in dem Beethoven seine 7. und 8. Sinfonie und Wellingtons Sieg dirigierte, waren nur sieben der 18 ersten Violinen und sechs der zweiten professionelle Musiker. Und noch die erste Aufführung der 9. Sinfonie im Kärntnertortheater 1824 fand unter Mitwirkung zahlreicher Amateure der Gesellschaft der Musikfreunde in Chor und Orchester statt. Sie spielten aus Manuskripten und nach zwei Proben. Neben der mangelnden Vorbereitung der Hobbymusiker verschärfte sich der Konflikt zu den Berufsmusikern außerdem durch die Tatsache, dass die sozial oft höhergestellten Dilettanten »stets die ›erste Stimme‹ innehielten« (Schreiber, S. 59). Es ist schwierig sich vorzustellen, wieviel von der Absicht der Werke unter solchen Bedingungen noch beim Publikum ankommen konnte.

ener Konzert und Publikum

{ Im Prinzip waren die Konzerte der Laienorchester eine Form gemeinsamen Musi-

zierens, zu der nach und nach auch Publikum zugelassen wurde. Passiv zu sein, war in ihren Konzerten eigentlich nicht erwünscht. Das veranschaulichen die Statuten der 1805 in Warschau gegründeten Musikalischen Gesellschaft. Danach werden ausschließlich aktive Mitglied aufgenommen. »Wer auf gebührende Einladung des ersten Vorstehers in den Konzerten nicht musiciren oder singen will, der giebt eben dadurch zu erkennen, dass er aus der Gesellschaft austritt.« Der Kommentar der Redakteure der Allgemeinen Musikalischen Zeitung dazu lautet: »Streng, aber weise« (AMZ, in: Preußner, S. 40). Bei den Besuchern überwog der gesellige Anlass, und der soziale Prestigegewinn, den die Unterstützung der meist mit wohltätigen Zwecken verbundenen Konzertveranstaltungen mit sich brachte, war oft wichtiger als der Musikgenuß selbst. Der Anspruch, die dargebotenen Werke perfekt ausgeführt zu hören, war also nicht unbedingt vorhanden. Auf der anderen Seite wurde indessen schon in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts der Ablauf der Konzerte bemängelt. Man wünschte mehr Konzentration des Publikums auf die Musik und forderte eine dementsprechende Programmgestaltung. Als im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Besucherzahlen aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Krise so stark zurückgingen, dass kaum mehr Subskriptionskonzerte zustande kamen und reisende Virtuosen vor fast leeren Bänken spielen mussten, sann man über Neuerungen nach. Zwei Entscheidungen veränderten die Situation. Auf der einen Seite wurde der Musikbetrieb professionalisiert, indem öffentlich finanzierte Berufsorchester gebildet wurden. Auf der anderen Seite rückten die pädagogischen Potentiale der Musik in den Vordergrund. Durch den Umgang mit Musik sollten Bildung, Humanität und Volkswohl gefördert werden. Mit der Umwandlung der zahlreichen Musikschulen in Konservatorien wurde die Brücke von der Idee der musikalischen Volksbildung zum professionalisierten Musikbetrieb geschlagen. Am Ende dieses Wandels steht das fast ausschließlich vom Staat getragene Konzert, wie wir es heute kennen. P Notenpapier_2006|

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Beethovens Wiener Konzerträume

{ Aufführungen von Beethovens sinfonischer Musik fanden in sehr unterschiedlichen Räumlichkeiten statt. Die jeweiligen Auswahlgründe waren vielfältig: ? Der Raum mußte Platz für alle Aufführenden bieten und aus ökonomischen Gründen noch für möglichst viele Zuhörer. ? Er sollte von den höheren (zahlungskräftigen) Schichten sozial akzeptiert sein, damit auch die »vornehmen« Leute dem Konzert nicht fernblieben. ? Es musste eine Erlaubnis für das Konzert eingeholt werden. ? Saalmiete und Heizungskosten (die Beheizbarkeit überhaupt) mußten berücksichtigt werden. ? Manche Räume wurden in akustischer Hinsicht zwar bevorzugt, doch es finden sich keine Belege, dass dieses Kriterium jemals den Ausschlag für die Wahl eines Konzertraum gab.

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Vor allem im 18. Jahrhundert spielten fürstliche Privatpalais eine wichtige Rolle. Man denke etwa an Haydn, dem im Schloß Esterháza ein eigener Musiksaal für seine Kapelle zur Verfügung stand. Im Hinblick auf Beethoven sind das Palais Lobkowitz, das Palais des Fürsten Lichnowsky und die Residenz des Erzherzogs Rudolf als Proben- und Aufführungsstätten von einiger Bedeutung, ebenso das Haus des Bankiers von Würth. Indessen verloren die privaten Konzertstätten im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gänzlich an Bedeutung. Im Jahr 1807 fand die letzte belegte Aufführung einer Beethoven-Sinfonie in einem Privatpalais statt. Stattdessen lässt sich eine deutliche Verschiebung um das Jahr 1810 hin zu den größeren öffentlichen Repräsentations- und Festsälen. So fanden bis einschließlich 1810/11 dreizehn Konzerte in den Theatern, acht in öffentlichen Sälen, sechs in Privatpalais und vier in Gasthäusern statt. Dagegen sind es von 1811 bis 1827 acht Sinfonieaufführungen in den Theatern, 53 in öffentlichen Sälen, kein einziges mehr in den Privatpalais und elf in den Gasthäusern belegt (vgl. Weinzierl). In öffentlichen Sälen erklangen 1807 zum ersten Mal eine Sinfonie von Beethoven. Doch schon sechs Jahre später, 1813, übernehmen die öffentlichen Säle hier eine Vorreiterrolle. Der anfangs sehr hohe Anteil der Theater fällt nie ganz weg, was wahrscheinlich daran liegt, dass an den Theatern die Berufsmusiker angestellt waren, die zur Aufführung der Sinfonien immer dringender benötigt wurden. Doch mit Aufkommen der öffentlichen und der Gasthaussäle als Konzertstätten mussten die Theater Aufführungen an diese abtreten, im folgenden rangierten sie etwa gleichbedeutend mit den Gasthäusern.

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Klangräume

{ Dass Orchesterstärken den architektonischen und akustischen Gegebenheiten der Aufführungsräume angepasst werden mussten, ist keine Entdeckung der Wiener Klassik, sondern war auch vorher schon bekannt. Mich interessierte, ob und inwieweit auch kompositionsästhetische Entscheidungen räumlich gedacht sind. Aufschlussreich ist, welche grosse Rolle eine räumliche Metaphorik in den Beschreibungen spielt. In einem fiktiven Dialog über die 7. Sinfonie schildert die Figur Faustin eine Hochzeit. An einer Stelle heißt es: »Im Trio aber, da sitzt der Bräutigam selig neben der Holden, die ihm nun für ewig angehört, gleichsam im Nebenkabinett, und durch die oft geöffnete Thüre dringt der Lärm der Gesellschaft herein und übertönt die leisen Liebesworte.« Dazu meint ein weiterer Dialogpartner: »Ja, [...] und wie soll denn in dem (zweifelsohne kleinen) Nebenkabinet [sic] Platz sein für das ungeheure Fortissimo, wo die Violinen unter stetem Paukendonner ihr bisher unausgesetzt ausgehaltenes A an die Trompeten abgeben?« (Ambros, in: Lomnäs/Strauß, II, S. 72 f). Mit der Musik wird hier erstens eine konkrete Räumlichkeit, nämlich das »Nebenkabinett« assoziiert, zweitens kommt die Vorstellung zum Ausdruck, dass ein lauter Klang Platz brauche. Tatsächlich ist die Verbindung von zeitlichen mit räumlichen Phänomenen für uns oft selbstverständlich. So übt der Anfang der 4. Sinfonie durchaus einen Einfluss auf das subjektive Raumempfinden eines Hörers aus. Mit dem ersten Takt wird ein Klangraum skizziert, indem der Ton B über fünf Oktavlagen verteilt ist. Gerade durch das Fehlen eines identifizierbaren musikalischen Inhalts ist im ersten Takt keine Orientierung möglich. In den Takten 2 bis 5 bleiben die Konturen vor allem harmonisch verschwommen, doch es gibt eine musikalische Linie, deren satzartiger Aufbau mit dem Ohr verfolgt werden kann. Hier zieht die Linie die Aufmerksamkeit auf sich. Deshalb ist auch ihre räumliche Wirkung begrenzt. Dagegen hat Takt 6 hat eine starke Wirkung auf das Raumgefühl, man empfindet eine deutliche Erweiterung des Klangraumes, eine Aufhellung, als betrete man ein anderes Zimmer. Hier zählt die Beobachtung, dass in der Musik Raumgefühl mit Stimmung zusammenhängt. Wir ordnen Räumen bestimmte Stimmungen zu und auch umgekehrt manche Stimmungen einer gewissen Umgebung. Dabei kann einer bestimmten Stimmung nur eine begrenzte Auswahl an Räumen zugeordnet werden. Das langsame Tempo begünstigt beim Hörer die Vorstellung von einer Räumlichkeit, abweichend von der objektiven, in der er sich befindet. Dabei kommt bei lauten Klängen und großem Tonabstand innerhalb eines Klanges das Empfinden von großem Raum auf. Eine weitere Charakterisierung der vermittelten Räumlichkeit findet über die Gefühlsebene statt, die bestimmten Stimmungen bestimmte Räume zuordnet. Hier ist allerdings auch eine Konzentration auf die Musik und ihre Klangentfaltung, also ein aktives Zuhören gefordert.

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Die Etablierung der klassischen Musik

{ Für die ernste Musik bedeutete die musikalische Professionalisierung vordergrün-

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dig einen Publikumsverlust. Zugleich war sie aber ästhetisch auch ein Befreiungsschlag. Dem Zwang enthoben, allen verständlich zu sein, konnte Musik nun allein ihren inneren Gesetzen folgend ganz neue Bahnen einschlagen. Immer häufiger wurden vollständige Werke (anstelle einzelner Sätze) aufgeführt. Das verbliebene Publikum wollte die Kunstwerke begreifen. Wiederholte Aufführungen ermöglichten ein (Wieder-) Kennen der oft komplexen Werke. Kürzere Konzertprogramme sicherten eine durchgängige Konzentration des Hörers. Die Musikverlage druckten erstmals Werkausgaben statt bunter Sammlungen. Mit Taschenpartituren gerüstete Kenner erschienen im Publikum und forderten von den Interpreten Werktreue und angemessene Interpretation. Es entstand auf diese Weise eine Kunstmusikgemeinde, die sich zunehmend von der Masse der Liebhaber abgrenzte (vgl. Neitzert, S. 91). An die Stelle einer symmetrischen Kommunikation zwischen Publikum und Musiker, wie in den Musikgesellschaften und Liebhaberorchestern, tritt nun eine Ungleichheit. Das Konzert ist eine Darbietung geworden, bei der die Musik allein im Mittelpunkt steht. Die Errichtung prunkvoller Konzertsäle ist ein weiterer Hinweis auf die neue Stellung der Musik und ebenso ihre Verdunklung. All diese Tendenzen machen den Hörer zum passiven Konsumenten von Musik, der seine Rolle als kritische Instanz im kommunikativen Prozess verloren hat. Mit der im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzogenen Befreiung der Musik aus dem Korsett der Allgemeinverständlichkeit emanzipieren sich alle musikalischen Parameter: Die Dynamik verselbständigt sich, wofür gerade Beethovens Werke überall Beispiele liefern, es können Passagen allein aus rhythmischen Motiven entstehen, der Sinn für Klangfarben verfeinert sich maßgeblich. Um im Konzert verschiedene persönliche Interpretationen auszuschalten, etabliert sich der Taktstockdirigent. An der Entwicklung dieser Figur läßt sich der Wandel in der Musikauffassung auch gut mitvollziehen. Im 19. Jahrhundert muß der Dirigent die vielfach verfeinerten Spielanweisungen überblicken und die für den Einzelspieler allein schon wegen der Orchestermasse und Lautstärke undurchschaubaren musikalischen Konstrukte koordinieren, wozu auch erstmals eine entsprechende Probentechnik benötigt wird. Den ständig gewachsenen Anforderungen an den Orchestermusiker begegnete man im 19. Jahrhundert mit zunehmender Ächtung der Dilettanten in den Orchestern bei gleichzeitig besserer Ausbildung für Berufsmusiker. Bis jedoch genügend Berufsmusiker für alle Orchester vorhanden waren, mischten die Amateure noch lange mit.

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x Bonnie und Erling Lomnäs, Dietmar Strauß (Hrsg.): Auf der Suche nach der poetischen Zeit – Der Prager Davidsbund, 2 Bde, Saarbrücken 1999 x Adam Carse: The Orchestra from Beethoven to Berlioz. New York, 1949 x Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuauflage der 5. Auflage, Frankfurt am Main 1990. x Lutz Neitzert: Die Geburt der Moderne, der Bürger und die Tonkunst. Stuttgart 1990. x Eberhard Preußner: Die bürgerliche Musikkultur. 2. Auflage, Kassel und Basel, 1954. x Charles Rosen: Der klassische Stil. 3. Auflage, Kassel, Basel, London, New York und Prag, 1999. x Ottmar Schreiber: Orchester und Orchesterpraxis in Deutschland zwischen 1780 und 1850. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1938, Hildesheim und New York, 1978. x Stefan Weinzierl: Beethovens Konzerträume: Raumakustik und symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen Konzertwesen, Frankfurt am Main, 2002. Artwork: Nina Klotz

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p Simone Kathrin Mayer studierte von 1999 bis 2004 an der Musikhochschule Freiburg Schulmusik mit Hauptfach Klavier. Ihre Abschlussarbeit wurde im Juni 2005 mit dem Helene-Rosenberg-Preis ausgezeichnet.

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+ Die Stimme aus dem Untergrund Das Phänomen der russischen Rockmusik

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{ »Ein Freund besuchte mich und fragte, ob ich die neue Sensation gehört hätte, die Beatles. Er schaltete ein Tonband an, die Aufnahme einer BBC-Radiosendung. Es war himmlisch. Ich fühlte mich gesegnet und unbesiegbar. Alle Depressionen und Ängste der letzten Jahre verschwanden. Ich verstand, dass alles, was nicht Beatles war, eigentlich Unterdrückung war,« berichtete Kolya Vasin über das Frühjahr 1964. Rockmusik wurde von Anfang an von der Regierung als eine dem sozialistischen Staat feindlich gesinnte Bewegung eingestuft. Daher entwickelte sie sich in der Sowjetunion vor einem gänzlich anderen Hintergrund, als es in Westeuropa, in den USA und England der Fall war. Paradoxerweise brachten die schwierigen Bedingungen aber auch positive Effekte mit sich: nur so konnte ein solch einmaliges Phänomen entstehen, wie der sowjetische RockmusikUntergrund. Er aktivierte und vereinigte den nonkonformistischen Teil der Jugend in sich. In den frühen 80-er Jahren – auch die Jahre des »späten Stillstands« und der »Stagnation« in der Gesellschaft und Politik genannt – spielte die Rockmusik eine besonders große und positive soziokulturelle Rolle. Für Millionen von Menschen trugen ihre Songs seltene, kostbare und ersehnte Worte der Wahrheit in sich.

Was versteht man unter »Rock« in Russland?

{ Die russischen Rockjournalisten belegten den Begriff mit so verschieden Ausdrükken wie »Musik der Jugend«, »Stil des Lebens«, »Lärm und Krach«, »geistiges AIDS« (so nannten einige sowjetische Schriftsteller die Rockmusik; damit kritisierten sie den angeblich demoralisierenden und zerstörerischen Effekt dieser Musik auf die sowjetische Jugend) oder »demokratischste aller Künste«. Sie verstanden Rock als soziales Phänomen, als die zeitgenössische Form der Folklore, als ideologische Diversion und schließlich im typisch russischen Verständnis als das böse Schicksal, das auf das Volk und seine Kultur wartet. Letzteres bedarf einer Erklärung. In der russischen Sprache hat das Wort P Notenpapier_2006|

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»Rock« neben der Musikrichtung auch die Wortbedeutung »Schicksal« und »bedrückende Vorahnung«. Unter den russischen Philosophen des Mystizismus und den Dichtern des Symbolismus Anfang des 20. Jahrhunderts war das Wort »Rock« in dieser seiner ursprünglichen Bedeutung sehr beliebt. Auf diese Weise ergibt sich aus dem spezifischen Kontext ein besonderer Anknüpfungspunkt an eine bestimmte Phase in der kutlurellen Geschichte, der nicht direkt von der Musik ausgeht, sondern über die Wortbedeutung assoziiert wird. Die Rockmusiker in der Sowjetunion betrachteten diese Musik tatsächlich als ihr »Schicksal«. In den Texten ihrer Lieder sprachen sie das Thema des »RockSchicksals« oft an und beschrieben, was man als Dichter und Musiker in Russland für ein schwieriges, nicht selten gefährliches Leben hatte.

Die Anfänge

{ Der Rock’n’Roll erlebte Anfang der 50-er Jahre in Amerika und bald darauf in

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Europa seinen Durchbruch. Dies war die Zeit einer harten Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA. Im Bewusstsein der sowjetischen Bürger war zu diesem Zeitpunkt die Idee vom neuen Feind, dem amerikanischen Imperialismus, schon fest verankert. Sogenannte »Verehrung des Westens« galt als Vergehen und war strafbar. Offenes Interesse an allem Westlichen – sei es Musik, Literatur, Malerei oder Mode – war nicht ungefährlich und auch in praktischer Hinsicht nicht einfach, denn alle offiziellen Wege für das Eindringen von Information aus dem Westen in die Sowjetunion waren verschlossen. Jedoch existierte trotz dieser Abschottung eine kleine Gruppe Jugendlicher in der UdSSR, die alles Amerikanische verehrte, insbesondere den Jazz. Sie kleideten sich mit ›Stil‹, weswegen man ihnen auch den vom englischen Wort »style« abgeleiteten Namen »Stiliagi« gab. Die Stiliagi waren eine skandalöse, ausgeflippte Jugendkulturszene der fünfziger Jahre, die ersten Anhänger exotischer Musik und eines alternativen Stils. Insgesamt war die Gruppe der Stiliagi eher klein und exklusiv. Von den Menschen auf der Strasse wurden sie nicht besonders wohlwollend angesehen. Artemy Troitsky, ein bekannter russischer Rockjournalist, interviewte 1988 den ehemaligen ›Stiliaga‹ Alexey Kozlov, der später der Kopf der populären Funk- und New Wave-Gruppe Arsenal werden sollte. Hier ein Ausschnitt aus dem Interview mit A. Kozlov: »Die Leute reagierten immer sehr stark auf uns, vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln (…) Wann immer ich die Straßenbahn betrat, fingen die Leute zu diskutieren und zu fluchen an: ›Uh, angezogen wie ein Pfau!‹ oder: Junger Mann, schämen Sie sich nicht, wie ein Papagei herumzulaufen? (…) Ich lief immer rot an.« Die sowjetische Gesellschaft jener Zeiten war monolithisch und konnte daher keine Ausnahme wie die Stiliagi in ihren Reihen dulden, die sich vom gewöhnlichen grauen sowjetischen Leben abhoben und als erste provokative Gruppe überdrehter Jugendlicher bezeichnet werden könnten. Die Stiliagi hatten eigentlich keine Gemeinsamkeiten mit der Rockmusikbewegung: sie hörten altmodische Jazzmusik, und ihre Idole waren Louis Armstrong, Duke Ellington und vor allem Glenn Miller. Jedoch kann man in diesem P Notenpapier_2006|


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Phänomen den ersten Versuch erkennen, eine eigenständige Jugend-Subkultur zu begründen. Der Rock’n’Roll erreichte die sowjetische Jugend erst in den Jahren des »Krustschower Tauwetters« ab 1957. (Unter Krustschow lockerte sich die äusserst gespannte politische Situation der Ära Stalin, auch die Beziehungen zu den USA verbesserten sich in dieser Zeit). Damals erlebte die Hauptstadt Moskau ein »Internationales Festival der Jugend und der Studenten«. Jazzmusiker, Beatnik-Poeten, moderne Künstler strömten ins Land. Die Einwohner von Moskau sahen zum ersten Mal echte, lebende junge »Fremdlinge«. Sie trugen Jeans, hatten einen aufsehenerregenden Haarschnitt und tanzten Rock’n’Roll. In der Anfangszeit war Rock’n’Roll nur den Kindern einflussreicher Beamter, Offiziere und Professoren zugänglich, der sogenannten »goldenen Jugend«. Aber relativ schnell verbreitete sich der neue Stil auch unter den Massen, zuerst in den großen Städten der Sowjetunion, anschließend in der Provinz. Man muss anmerken, dass sowohl die Stiliagi- als auch die Rock’n’Roll-Bewegung in der Sowjetunion nicht lange andauerten und nie die Mehrheit, sondern eher kleinere Jugendkreise ansprachen. Der Großteil der sowjetischen Jugend jener Jahre war von patriotischem Enthusiasmus erfüllt, angeregt durch Yuri Gagarins Weltall-Flug und durch die Kubanische Revolution. »Dekadent«, »cool« oder »anders« zu sein war unter den meisten Jugendlichen nicht angesagt. Man gab sich romantisch, fleißig und wissensdurstig und wollte der Gesellschaft von Nutzen sein. Es herrschte unter ihnen also ein Gefühl von Einheit mit der Mehrheit der Gesellschaft und die Hoffnung, schon bald die versprochene Ära des Kommunismus zu erreichen. Der Twist gewann 1960 international große Beliebtheit und konnte sich in der sowjetischen Gesellschaft fest etablieren. Junge russische Musiker übernahmen den Twist-Stil in eigene Kompositionen, und die im ganzen Land bekannten sowjetischen Hits der damaligen Jahre basierten auf den Twist-Rhythmen. Die Versuche der staatlichen Organe, eine Kampagne gegen den Twist zu starten und als Alternative zu den westlichen Tänzen neue »sozialstische« Tanzformen einzuführen (die hauptsächlich auf den Volkstänzen derjenigen Völker beruhten, die zur UdSSR gehörten), schlugen fehl.

»Beatlemania« und der Aufstieg der Rockmusik in der UdSSR

{ Die »Beatlemania« überrollte Osteuropa und die UdSSR im Frühjahr 1964. Die Beatles wurden zur Inspirationsquelle für viele führende sowjetische Rock-Musiker und spielten bei der Entstehungsgeschichte der sowjetischen Rockmusik eine einzigartige Rolle. Nicht nur Kolya Vasin, der Kopf einer Untergrundbewegung von Beatles-Fans in den 60-er Jahren, fühlte sich durch diese Musik »gesegnet und unbesiegbar«. Millionen junger Sowjetbürger sangen die Lieder der Beatles, die sie von ausländischen Rundfunkübertragungen auf Tonband aufnahmen oder auf dem Schwarzmarkt ersteigerten. Die neue musikalische Sprache regte die Menschen nicht nur zum Zuhören an, sondern dazu, sich mit den neuen Mitteln dieser Musik selbst auszudrücken. Viele wollten diese Musik natürlich nur imitieren, um ihre Neuartigkeit nachzuempfinden, für einige Musiker aber P Notenpapier_2006|

Musik Labels: Yaroslawa Storchak / Internet

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bedeutete die neue Musik noch viel mehr: Zum ersten Mal bekam die russische Jugend den Impuls zu individuellem, unabhängigem künstlerischem Ausdruck. Die Beatles brachten der Sowjetunion viel mehr als nur tanzbare Musik: Ihre Lieder waren »seelische Nahrung« für viele Jugendliche. In der sowjetischen Rockmusik-Szene zeichnete sich dadurch ein neuer Weg ab. Die einheimische Rockmusik wurde immer mehr zur sozialen Kraft, die von der sowjetischen Regierung nicht länger ignoriert werden konnte. In der zweiten Hälfte der 60-er Jahre fasste die Rockmusik-Gemeinde in der sozialistischen Gesellschaft immer mehr Fuß und nahm allmählich politische Dimensionen an.

Die sowjetische Rockmusikszene der Siebziger Jahre

{ Die russische Gesellschaft nahm die westliche Pop-Kultur viel langsamer auf,

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als die dem Westen benachbarten sozialistischen Staaten. Die Gründe dafür lagen zum einen in der weiten geographischen Entfernung Russlands von Westeuropa, zum anderen in der sozialistischen Ideologie der Partei, die die sowjetische Gesellschaft vor dem »zersetzenden Einfluss« des Westens »schützen« sollte. Die westliche Rock- und Popmusik drang währenddessen auf anderen Kanälen in die sowjetische Kultur. Die Jugendlichen fanden eine neue Ideologie und einen neuen Stil, mit dem sie sich identifizieren konnten: die Hippiebewegung. Ende der Sechziger Jahre tauchten in der Sowjetunion die ersten überzeugten Hippies auf. Das Aussehen der Hippies wirkte auf die sowjetischen Beamten abschreckend, aber was sie am meisten beunruhigte, war nicht das äußere Erscheinungsbild. Hinter den Hippies und ihrer Musik stand eine politisch aktive Jugendbewegung, die sich gegen Krieg und Gewalt, insbesondere gegen den Vietnamkrieg richtete. Daher lag in dieser neuen Bewegung eine ungemein stärkere Bedrohung für die sowjetische Ideologie, als es in Zeiten der Beatlemania der Fall war. Trotz all der mit der Hippie-Bewegung verbundenen Ereignisse hatte die Rockmusik in der ersten Hälfte der 70er Jahre mit den begleitenden Phänomenen nur wenig Einfluss auf die sowjetische Gesellschaft. Die relative Isolation vom Westen und die aus der Stalin-Ära überkommene Vorsicht verzögerten die Entwicklung der Rockmusik in den meisten sowjetischen Republiken. Gelegentlich drang die Pop-Kultur westlichen Stils in die Fernseh- und Radioprogramme vor, im öffentlichen Leben dominierte jedoch hauptsächlich die traditionelle sowjetische Kultur. Die einheimischen Bands spielten fast alle angloamerikanische Rockmusik; dabei wurde kopiert, ohne zu verstehen, was man sang. Jedoch entsprach dies den Erwartungen des Publikums. Die erste russisch singende Leningrader Band »Nomads« wurde oft ausgepfiffen und blieb ohne Erfolg. Die russische Sprache galt als ein Symbol für das Einverständnis mit den herrschenden Wertsystemen, die der Rockmusik abgeneigt waren. Die ersten russischen Rocksongs unterschieden sich inhaltlich nicht von den anspruchslosen Popliedern jener Tage. Ein Höhepunkt des landesweiten Aufstiegs der Rockmusik war in den Jahren 1970 – 1972 erreicht. Mit dem Auftauchen von Underground-Rockgruppen wie »Aquarium« und »Zoopark« bildete sich vor allem in Leningrad allmählich eine Jugend-Subkultur. Der P Notenpapier_2006|


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Sinn dieser Subkultur bestand in der Erschaffung einer eigenen Welt, die sich von ihrer Umgebung abgrenzte und durch den Rückzug aus der Gesellschaft gekennzeichnet war. Dieser Rückzug bedeutete jedoch nicht, dass die Rockmusiker auf die politischen Geschehnisse nicht reagierten. Im Gegenteil: Sie reagierten darauf mit ihrem bewusst oppositionellen Lebensstil und mit ihrer Musik. Für die Gründer dieser UntergrundBewegung waren die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, gemeinsame Interessen und ähnlicher Lebensstil von größter Wichtigkeit. Rockmusik war die sie alle einende Leidenschaft. In der zweiten Hälfte der 70-er Jahre erreichte die »Disco-Welle« die Sowjetunion. Zuerst waren die Kulturbeamten gegenüber der neuen »Musik-Ware« feindlich gesinnt. Jedoch verstanden sie bald, dass die Disco-Musik aus ideologischer Sicht nicht so »gefährlich« war wie die Rockmusik. Das Image und der Sound der »Discomania« gefielen den sowjetischen Kulturbeamten. Diskotheken sollten als effektive Möglichkeit zur massenhaften Unterhaltung junger Menschen dienen; dabei sollte die Jugend der geeigneten politischen und ideologischen Beeinflussung unterzogen werden. Die Discomusik wurde von den Kulturpolitikern als Mittel benutzt, Jugendliche von ihrer Begeisterung für die Rockmusik abzulenken. Ihre Freizeit sollte in den von städtischen Parteikomitees eingerichteten Discotheken kontrolliert und unter Aufsicht gestaltet werden sollte. Die Disco eroberte allmählich die Köpfe vieler sowjetischer Jugendlicher, die sich gleichsam im »Disco-Fieber« befanden.

57 Die »heldenhaften« Jahre: sowjetische Rockmusik nach 1980

{ Die 80-er Jahre wurden aufgrund der rasanten Entwicklung innerhalb der Rockmusik oft als ihre »heldenhaften« bezeichnet. Die Lage der Untergrund-Rockszene veränderte sich zunehmend: Sie war längst keine kleine, eher isolierte Gruppe von Gleichgesinnten und Eingeweihten mehr, sondern unter den jungen Menschen sehr populär geworden und vereinte nun hunderte und tausende Jugendlicher. Diese große Popularität ist der Tatsache zuzuschreiben, dass die Rockgruppen nicht mehr ausländische Stars kopierten, sondern ihren eigenen Stil entwickelten und ihre eigenen Lieder schrieben. Und was noch wichtiger war, sie fingen an, in ihren Liedern Fragen und Probleme anzusprechen, die junge Menschen bewegten. Die Texte dieser Rockbands waren wesentlich aktueller und »schärfer«, als diejenigen der vom Staat unterstützten sogenannten »VIAs« (vokal-instrumentale Ensembles, s.u.). Die neue Bandgeneration sang über das Leben in der Sowjetunion. Die Rock-Subkultur der 80-er Jahre wurde differenzierter und vielfältiger. Die wichtigste Veränderung war die schnelle geographische und gesellschaftliche Ausbreitung der Rockmusik, in die nun große Jugendmassen verschiedenen Alters und sozialer Herkunft miteinbezogen wurden. Während die Subkultur früherer Jahre hauptsächlich aus Studenten und Intellektuellen bestand, kamen nun Schüler und Mitglieder der Arbeiterjugend dazu. Die Rockmusik-Szene wuchs von einer isolierten und elitären zur P Notenpapier_2006|


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Massenbewegung heran. Das gewaltige Ausmass der Subkultur Mitte der Achtziger Jahre führte dazu, dass sie sich nicht mehr in den Untergrund drängen ließ. Man konnte sie nicht länger ignorieren. Nun erfuhren von ihr sogar Menschen, die nie damit in Berührung gekommen waren. Der Untergrund-Rock stieg aus den Kellern und Wohnungen auf und verlagerte sein Wirken in Sportstadien. Für die Verbreitung der Rock-Kultur wurden die Massenmedien – Presse, Radio und Fernsehen – immer wichtiger. Diese benutzten nun die von ihnen jahrzehntelang vernachlässigte Rock-Kultur als einen »Rammbock« und »Mauerbrecher«, der die Bastionen des alten Regimes niederreissen und der Gesellschaft neue Wege bahnen sollte. Für die »Perestroika-Kultur« war vor allem die Informationsflut in den Medien typisch: Alles, was früher mit Verboten belegt war, wurde nun als Sensation dargeboten. Gleichzeitig mit der Anerkennung der Rockmusik vollzog sich auch die Legalisierung anderer, früher verbotener Kulturformen (wie zum Beispiel der Liedermacher- oder Bardenkultur von Vladimir Vysotski, Literatur von Dissidenten wie Solschenizyn, Kultfilme von Tarkowski). Anfang der 80-er Jahre verbreitete sich die Rock-Kultur auch in weit entfernten Städten Russlands wie Swerdlowsk und Nowosibirsk, sodass dort eigenständige Rockmusik-Szenen entstanden. Es entwickelte sich gleichsam eine »Sibirische Rock-Schule«. Die Repräsentanten dieser »Schule« setzten sich von den Großstadt-Rockmusikern, die in ihrer Musik eher westlich orientiert waren, ab. Der Ursprung dieser Rockmusikrichtung und Poesie lag in den Besonderheiten, die das Leben in Sibirien vom Stadtleben unterschieden. Eine wichtige Entwicklung war die Verarbeitung folkloristischer Elemente in den Texten dortiger Rockgruppen und die damit verbundene Hinwendung vieler Rockmusiker zu mündlichen Volkstraditionen. Darum begann man in diesem Zusammenhang von »echter«, »typisch russischer« Rockmusik zu sprechen. Diese Gruppen begannen auch russische Musikinstrumente wie Baian (Ziehharmonika) und das Zupfinstrument Balalaika in ihren Werken einzusetzen und den Stil der traditionellen Tschastuschka (kurze vierzeilige Volkslieder, meistens mit witziger oder ironischer Konnotation) zu übernehmen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Einfluss der westlichen Musikkultur auf diejenige des Sozialismus und der wechselseitige Austausch wurden durch den ideologischen Faktor massiv behindert. Es war in der Sowjetunion ausreichend, eine künstlerische Richtung aus ideologischer Sicht als »nicht vertrauenswürdig« und verdächtig zu bezeichnen, um sie zum feindlichen Element zu erklären und sie öffentlicher Verfolgung auszusetzen. Die alternative Jugendkultur wurde nach den Verordnungen der Partei und Regierung allerdings nie ausdrücklich verboten: Ihr wurde lediglich die Unterstützung versagt und der Nährboden entzogen. Erst mit den politischen Veränderungen Ende der 80-er Jahre konnte die Rockmusik-Bewegung sich allmählich offizielle Anerkennung erkämpfen.

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Die praktische Seite des Musikmachens: Leben als Rockmusiker in Russland

{ Die inoffizielle Rockmusikbewegung entwickelte sich abseits vom öffentlichen gesellschaftlichen Leben im sowjetischen Russland und war einer »verschleierten, doppelzüngigen« Behandlung durch die Regierung ausgesetzt: Sie wurde je nach Situation einmal verfolgt, einmal mit völliger Gleichgültigkeit behandelt und in die Isolation getrieben. Diese Tatsachen prägten die russische Rockmusik entscheidend. Die Rockmusik existierte jedoch nie als ein in seiner eigenen Welt abgeschlossenes und von der Öffentlichkeit abgetrenntes Phänomen, sondern war immer eine Reaktion auf das Zeitgeschehen und die jeweilige politische Situation.

»VIAs« versus Rockmusik im Untergrund

{ Die ersten offiziellen Rockgruppen wurden 1966 im Auftrag des Kultusministeriums gegründet. Da man aus ideologischen Gründen die Worte ›Rock‹ und ›Beat‹ aber möglichst vermeiden wollten, nannte man solche Gruppen ›VIAs‹‚ nach der russischen Abkürzung für »vokal-instrumentale Ensembles«. Die Förderung dieser Ensembles war eine Reaktion der sowjetischen Regierung auf das Eindringen von westlicher Rock- und Popmusik. Es war den Beamten unmöglich, den Jugendlichen die Beschäftigung mit BeatMusik zu verbieten, darum suchten die kommunistischen Führungskräfte nach einer der Staatsdoktrin kompatiblen Lösung. Eine solche Lösung schienen die VIAs zu sein. Diese Ensembles sollten ein »akzeptables Gesicht« der sowjetischen Rockmusik darstellen und junge Menschen vom rebellischen und provokanten Rockmusikstil des russischen Rockuntergrunds ablenken. Artemy Troitsky beschreibt die VIAs als »disziplinierte oder, um ehrlich zu sein: kastrierte« Version der Rockmusik-Gruppen. Diejenigen Musiker, die bereit waren, ihren Haarschnitt zu kürzen, ihren Dezibel-Pegel zu senken und ihr Repertoire von den als besonders provokant empfundenen westlichen Songs zu »säubern«, konnten die Gunst und Unterstützung der Regierung genießen. Ihnen wurde ermöglicht, nationale Konzert-Tourneen zu veranstalten, in diversen Radio- und Fernsehprogrammen aufzutreten und bei der sowjetischen Monopol-Firma »Melodiya« Aufnahmen zu machen. All diese Privilegien blieben den inoffiziellen Rockgruppen verwehrt. Die VIA-Musiker sollten ein makelloses Bild lebensfroher und munterer sowjetischer Menschen abgeben und ein »gesundes« Äußeres mit temperament- und gefühlvollem Sound verbinden. Im Repertoire der VIAs überwogen Lieder mit folgender Thematik: romantische Liebe, melodramatische Leidenschaften und Pseudopatriotismus. Während es den Untergrund-Rockgruppen um eine persönliche schöpferische Herangehensweise an die Musik ging, spiegelten die Lieder der VIAs keinen persönlichen Stil der einen oder anderen Popgruppe wider, sie konnten im Prinzip von beliebigen Musikern vorgetragen werden. Die »Muster«-VIAs schwächten die Entwicklung der UntergrundRockmusik und entzogen der inoffiziellen Rockszene Energie und Talente (denn viele inoffizielle Rockbands wurden aufgelöst, um sich einem VIA anzuschließen). Andererseits P Notenpapier_2006|

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Disco auf dem Campus Lenino bei Moskau, Designfestival MIRICAL 2003

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trugen die VIAs auf dem Weg der sowjetischen Kulturrevolution ihren Teil bei, indem sie die Akzeptanz der Rockmusik in der Bevölkerung vermehrten. Bei einem großen Teil der Jugendlichen waren sie tatsächlich sehr populär.

Festivals und Rock-Clubs maßen ungewöhnliche Möglichkeiten sich zu Proben und Konzerten zu versammeln, etwa in verschiedenen Jugendvereinen und -zentren (auch »Kulturpaläste« genannt). Die »Kulturpaläste« wurden auf Anordnung der Regierung noch während der Stalin-Ära mit dem Ziel gebaut, die Jugend außerschulisch zu beschäftigen. Daher gab es in jeder Stadt mindestens einen Kultur- oder Jugendpalast. Hier konnten die Jugendlichen an den vielfältigsten Arbeitsgruppen (von der Basketball- bis zur Strick-AG) teilnehmen. Solche Zentren wurden zur Herberge für viele Rockgruppen, die unter dem Vorwand, einer Beatmusik-AG anzugehören, dort ungehindert proben konnten. Eine besonders konspirative Atmosphäre herrschte dagegen bei der Durchführung von Untergrund-Konzerten und Partys in Privatwohnungen, welche den Namen Kwartirniki erhielten (vom russischen Wort für ›Wohnung‹). Aufgrund des offiziellen Verbotes waren Kwartirniki stets ein Abenteuer. Hier konnte man die eigenartigsten und originellsten Gestalten des RockUntergrunds treffen, und Bands, über deren Existenz die ansonsten allwissenden Behörden nur vage Vermutungen anstellen konnten. Trotz der Existenz solcher Nischen litt die Arbeit der inoffiziellen Rockgruppen unter den ihnen durch ihr Schattendasein auferlegten Problemen: Sie waren zerstreut und hatten wenig Austauschmöglichkeiten mit anderen Bands. Auch konnten sie sich gegen Verfolgungen durch die städtischen Beamten nicht wehren. Eine weitere Möglichkeit für die inoffiziellen Rockgruppen sich zu treffen, ihr Können zu zeigen und neue Verbindungen zu knüpfen war die Durchführung von Festivals. Die Festivals gewannen große Bedeutung, weil sie die Rockgruppen, die nicht vom Staat unterstützt wurden, zusammenbrachten und die inoffizielle Rockmusik-Szene vernetzten. Einigen Rockgruppen ermöglichten solche Veranstaltungen den Durchbruch, indem sie nach Jahren der Untergrund-Existenz endlich mit ihren Auftritten ans Licht der Öffentlichkeit treten konnten. Festivals beförderten also die öffentliche Anerkennung einiger Rockgruppen, denen ansonsten keinerlei »Promotion« möglich war. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Vernetzung und Legalisierung des Wirkens der inoffiziellen Rockgruppen war die Gründung der sogenannten »Rock-Clubs« in grossen Städten wie Leningrad, Moskau, Swerdlowsk u.a. Unter einem Rock-Club verstand man eine offizielle Organisation, die die inoffiziellen Rockgruppen in sich vereinte und so den Rockmusikern und Fans die Möglichkeiten eröffnete, Kontakte anzuknüpfen, mit anderen Gruppen zusammen aufzutreten und Informationen auszutauschen.

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Fotografie: Wolfgang Blüggel

{ Die inoffiziellen Rockbands in ganz Russland fanden verschiedene, alle gleicher-

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Das Instrumentarium – Magizdat und Samizdat

{ Ohne die Medien Rundfunk, Schallplatte und Fernsehen ist die Rockmusik

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bekanntlich undenkbar, denn gerade dadurch bekam diese Musik die Chance, weltweit verbreitet zu werden. Den russischen Underground-Rockmusikern und -Rockgruppen blieben die offiziellen Wege des Aufzeichnens der eigenen Musik und ihrer Verbreitung verwehrt. Auch die Anschaffung benötigter Musikinstrumente sowie westlicher Schallplatten bereiteten den Untergrund-Rockmusiker in Russland bis in die 80-er Jahre größte Schwierigkeiten. Aufgrund dieser Verhältnisse entwickelten sich in Russland einige interessante Besonderheiten. Bezüglich der materiellen Ausstattung blieb die Situation katastrophal. Es gab nur eine altmodische russische Ausrüstung und qualitativ billige Instrumente. Aber selbst diese waren Mangelware. Zwar wurde 1966 in Moskau ein Musikgeschäft eröffnet, das elektrische Gitarren aus Westdeutschland anbot. Die Instrumente waren aber innerhalb einer halben Stunde ausverkauft. Am nächsten Tag wurden die gleichen Gitarren für den doppelten Preis auf dem Schwarzmarkt verkauft. Einige innovative Moskauer Jugendliche entdeckten, dass man mit Hilfe einiger Bauteile eines gewöhnlichen Telephonapparats eine akustische Gitarre zu einer elektrischen umbauen konnte. Daraufhin erschütterte Moskau eine Welle des Vandalismus, als hunderte junger Menschen öffentliche Telephone zerstörten, um die kostbaren Elektroteile zu ergattern. Die unbefriedigte Nachfrage der Rockmusiker nach technischer Ausrüstung und der Rockfans nach Aufnahmealben schufen eine Marktlücke, in der eine Untergrundindustrie und ein Schwarzmarkt von ungekannten Ausmaßen heranwuchsen. Kleinkriminelle, bekannt als Fartsovshchiki, kauften und verkauften begehrte westliche Waren wie Alben, Instrumente und modische Kleider. Dadurch konnten sie am Schwarzmarkt märchenhafte Summen einstreichen. Fartsovshchiki waren der sowjetischen Regierung und der Bevölkerung ein Dorn im Auge. Da es aber damals keine andere Möglichkeit gab, an westliche Produkte und Musikproduktionen heranzukommen, schufen gerade sie die einzige Verbindungslinie zwischen der westlichen und der sowjetischen Jugend. In den frühen 80-er Jahren tauchte ein neues Phänomen auf, das wahrscheinlich eine der wichtigsten Stufen in der Entwicklung der russischen Rockmusik darstellt: »hausgemachte« Alben. Dies waren Kassetten und Tonbänder, die mit Photos und Texten über die jeweilige Gruppe ergänzt wurden. Man bemühte sich dabei, die Alben nach allen Regeln der westlichen Muster zu gestalten (inklusive der ©- und ®-Symbole). Solche Alben bildeten die Grundlage für die sogenannte »Kassettenrekorder-Kultur« (Magnitofonaia kultura oder Magizdat: ›mag‹ kommt vom Wort für ›Tonband‹; ›Izdat‹ stammt von dem Wort ›drucken‹ oder ›veröffentlichen‹). Hausgemachte Alben veränderten bald den Kurs des russischen Rock und eröffneten sowohl den Musiker als auch den Fans eine neue Welt. Von nun konnten die Gruppen ihre Musik verbreiten, ohne die Schwierigkeiten der Organisation eines Konzertes auf sich nehmen zu müssen. In den Jahren 1982 bis 1983 ergriff das Aufnahmefieber alle Rockzentren. Viele Rockgruppen hatten die Hoffnung auf das Monopolaufnahmestudio »Melodiya« aufgegeben und bevorzugten P Notenpapier_2006|


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nun diese einfachere Methode der Verbreitung ihrer Musik. Es entwickelte sich eine regelrechte Heimindustrie für das Aufnehmen und Vervielfältigen von Bändern. Ein weiteres Phänomen der Untergrund-Rockbewegung war der Rock-Samizdat (›Izdat‹ – ›drucken‹ oder ›veröffentlichen‹; ›sam‹ bedeutet ›selbst‹): das heisst eine ganze Reihe von »Verlagen«, organisiert in Eigeninitiative der Rockmusiker und Fans. Diese »Verlage« gaben selbstgemachte Rockzeitschriften heraus, die diverse Artikel über Untergrund-Rockmusik, Mitteilungen über die Geschehnisse in der Untergrund-Rockszene, Interviews, Aufsätze, Stellungnahmen zur politischen Situation in Russland u.a. enthielten. Solche maschinengetippten Magazine wurden von Rockmusik-Gemeinden in mehreren Städten Russlands herausgegeben und waren nicht-kommerzieller Art.

Rock-Poesie in Russland

{ Die zweite Dimension der Rockmusik, die Dichtung, spielt im russischen Rock eine außerordentlich große Rolle und kann für das Verständnis nicht außer Acht gelassen werden. Die Gründe hierfür mögen zum einen in der Erkenntnis der russischen Musiker liegen, dass sie zunächst den westlichen Musikstil nur »borgten« und dass sie darüber hinaus technisch meist weniger virtuos waren. Zum anderen hatte die Beschäftigung mit Poesie in Russland eine lange Tradition und war unter sowjetischen Bürgern sehr populär (die bekanntesten Dichter trugen ihre Werke oft in ausverkauften Fußballstadien vor!) Daher legten die russischen Rockmusiker besonderen Wert auf den Text ihrer Lieder und verstanden sich in erster Linie als Vermittler einer Idee, einer Botschaft; die kommerzielle Produktion profitabler Tanzmusik stand für sie nie im Vordergrund. Heute spricht man von der russischsprachigen Rock-Poesie als von einem ausgeformten eigenen Genre. Die Texte der russischen Rockmusik standen in direktem Bezug zur dichterischen Tradition Russlands und setzten diese in Wortschatz und Stil fort. Russische Dichter des Symbolismus (Ende des 19. Jahrhunderts – erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) waren in Russland die ersten, die vom Synkretismus der Künste sprachen. Poeten wie Anna Achmatova, Marina Zvetaeva, Vladimir Majakowski und Sergej Esenin trugen ihre Werke in »singender Deklamation« vor. In ihren Auftritten verbanden sie Wort und Musik mit szenischen und Show-Elementen. Diese Vortragsweise beförderte die Entstehung einer neuen Liedermacher- oder Bardenkultur entscheidend. In den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts wuchs in Russland eine neue Generation intellektueller Dichter heran, die ihre Werke gesungen und mit Gitarrenbegleitung vortrugen. Zu diesen »Barden« gehörten beispielsweise Bulat Okudzhava und Vladimir Vysotski. Vladimir Vysotski und seine Poesie übten einen großen Einfluss auf die Rockmusiker der 70-er und 80-er Jahre aus, für die Vysotski gleichsam zum Vorbild und »Lehrer« wurde. Viele Rockmusiker zeigten tiefe Bewunderung für Vysotski als einem Poeten und Repräsentanten einer zum sozialistischen Realismus alternativen Kultur. Sie übernahmen seine dichterische Tradition und vereinigten sie mit dem energischen und kraftvollen P Notenpapier_2006|

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Stil der westlichen Rockmusik. Daher tauften führende Rockmusikkritiker und Journalisten den neuentstandenen Stil »Barden-Rock«. Die Rockmusiker, die diesen Musikstil vertraten, wurden entsprechend »Rock-Barden« genannt. Troitsky schreibt: »Der Einfluss der literarisch hochwertigen Poesie, insbesondere der Barden-Lieder, auf die russische Rockmusik in ihrer Blütezeit (ab dem Ende der 70er Jahre), ist vielleicht nicht weniger wichtig, als der Einfluss des afrikanischen Blues-Stils – auf die amerikanische Rockmusik« (Troitsky 1990, S. 52). Die Rockmusiker in Russland betrachteten sich selbst nicht nur als Künstler im Allgemeinen, sie verstanden sich als Poeten. Rockmusik war Poesie. Die lyrische Qualität der Texte wurde zum maßgeblichen Kriterium, an dem sich die Musiker beziehungsweise ihre Musik messen ließen. Rockmusik wurde als eine eigene Kunstform aufgefasst, und ein echter Rocker mußte nicht nur ein guter Musiker, sondern in erster Linie ein guter Dichter sein. In russischer Rockmusik ist eine bestimmte Vorstellung von Wahrheit (und zwar von ihrer besonderen Form: Istina) verbreitet. Istina bedeutet im russischen Verständnis eine einzigartige »höhere« oder »wahrhaftigste« Wahrheit, und unterscheidet sich dadurch von Prawda, der »gewöhnlichen« Wahrheit. Die Rockmusiker in Russland beschrieben ihre Musik oft als Ausdruck der Istina. Rockmusiker sprachen immer wieder von der »großen Lüge« der sowjetischen Gesellschaft und von der Schwierigkeit, in dieser Gesellschaft ehrlich zu sein. Die Rockmusik war für die Rockmusiker inmitten des als machthungrig und heuchlerisch empfundenen sozialistischen Systems eine Insel der Wahrheit, ihrer Wahrheit, der sie in ihrer Musik Ausdruck gaben. Istina hatte somit eine größere Authentizität als die Realität des alltäglichen Lebens und die Politik des Staates. Dieser Istina wollten die Rockmusiker dienen und sie den Menschen durch ihre Musik verkünden.

Im Rückblick von heute

{ Der Konflikt zwischen der Jugend-Kultur und dem sowjetischen Staat war von Anfang an vorprogrammiert und im sozialistischen System selbst begründet. Das Sowjetsystem fußte auf dem staatlichen Monopolanspruch in allen kulturellen und sozialen Belangen. Dieser konnte keine spontan hervorgebrachte und andersdenkende Kultur neben sich dulden. Die Haltung der Regierung zur Jugend-Kultur und ihrer Musik war oft von »Doppelgleisigkeit« und »Doppelzüngigkeit« geprägt. Der sozialistische Staat war unfähig, mit sozialen und kulturellen Abweichungen umzugehen, erhielt aber den Schein einer planvoll durchorganisierten sozialistischen Kultur aufrecht. Hinter dieser Fassade gab es für die Jugendlichen durchaus Möglichkeiten, ihre eigene Kultur zu entwickeln und sich selbst zu behaupten. Der Staat seinerseits war aus taktischen Gründen gezwungen, inoffizielle Jugend-Kulturen bis zu einem gewissen Grad zu dulden, um den Eindruck, alles unter Kontrolle zu haben, nicht zu gefährden. Somit konnten in der sowjetischen Gesellschaft jugendkulturelle und musikalische Stile wie die der Hippies und später der Punks existieren, solange durch sie die Allmacht der Partei nicht ernsthaft in Frage gestellt wurde. P Notenpapier_2006|


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Für viele Rockmusiker wurde gerade der Zwang zur Konspiration zum zusätzlichen Ansporn, sich der Rockmusik zu widmen: sie erfüllte ihr Leben mit den Gefühlen von Romantik und Gefahr, von Furchtlosigkeit, Unbestechlichkeit und dem Gefühl der Freiheit. Der Rockmusiker jener Jahre verstand sich als Held, der selbstlos bereit war, sich für die Rockmusik, für seine Freunde und für sein Volk einzusetzen. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte der 80-er Jahre, in der Ära der Perestroika also, erhielt die Rockmusik endlich ihre offizielle Existenzberechtigung. Die Rockmusik verwandelte sich von einer halblegalen zur modernen und begehrten Musik. Durch die revolutionierten Rahmenbedingungen aber vollzogen sich in ihr allmählich tiefgreifende Veränderungen. Konterkultur und Untergrund verschwanden, weil sie als oppositionelle Bewegung zur Bekämpfung des »Feindes« nicht mehr gebraucht wurden. Die Rebellion gegen das staatliche System hatte ihre Attraktivität verloren, der Rückzug aus der Gesellschaft demonstrierte nicht mehr Protest, sondern war jedermanns private Angelegenheit und erregte kein öffentliches Aufsehen mehr. Die Thematik der Rocklieder veränderte sich wesentlich: die Rocktexte büßten nach und nach ihre Schärfe und Widerständigkeit ein, sie wurden milder und anspruchsloser. Heute wird russische Untergrund-Rockmusik vergangener stürmischer Jahre zur Geschichte. Ihre musikalischen und poetischen Traditionen jedoch haben eine Grundlage für kommende Generationen von Rockmusikern und neuen Musikrichtungen geschaffen. Der Prozess geht weiter.Auch heute entstehen immer wieder Gruppen, mit denen sich die Jugend identifizieren kann. Die Rockmusik stiftete den russischen Jugendlichen großen Zusammenhalt. Sie war immer ein Barometer für die Stimmungen des Volkes und scheute nicht davor zurück, unter allen Bedingungen ehrlich zu bleiben, sie hielt den Menschen in Russland solch kostbare Werte wie Wahrheit und Freiheit vor Augen.

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x Texte zum Weiterlesen gibt es nur spärlich, die meisten Informationen sind auf Russisch im Internet veröffentlicht. x Troitsky, Artemy: Rock in Russland. Rock und Subkultur in der UdSSR. Wien: Hannibal-Verlag, 1989. x Cushman, Thomas: Notes from Underground. Rock Music Counterculture in Russia. New York: State University of New York Press, Albany, 1995.

p Yaroslava Storchak studiert seit dem WS 1999/2000 Schulmusik mit Hauptfach Klavier.

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+ Mondrian und Musik Wechselströme zwischen den Künsten

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{ »Immer mehr drängen sich mir Parallelen zwischen Musik und bildender Kunst auf. Doch will keine Analyse gelingen« (Paul Klee 1905). Paul Klee wusste, wovon er sprach, wenn es um die Wechselströme zwischen Musik und Malerei geht, weil er als ausgezeichneter Geiger und praktizierender Maler in beiden Disziplinen zu Hause war. Seine Notiz verrät, dass er Verbindungslinien zwischen den Künsten wahrnahm, jedoch sah er sich außerstande, sie rational zu bestimmen und zu systematisieren. Zu vielfältig waren die Phänomene und zu unbefriedigend die wissenschaftliche Suche nach Analogien. Bis heute sind wir auf diesem Gebiet kaum einen Schritt weitergekommen. Staunend blickt man umher, wieviel Kunst entsteht, wenn sich die Künste berühren, und doch befindet man sich in einem Niemandsland, einer nicht definierten Zone zwischen den Einzeldisziplinen, in der es Menschen, Ideen, Kunstwerke gibt, aber keine empirisch konstruierbaren Brücken von einem Ufer zum anderen. Auf komplexe Weise sind die Künste miteinander verwoben. Manche Fäden kann man verfolgen, andere verschwinden auf dem Weg oder sind nur intuitiv begreifbar. Am Beispiel der sogenannten neoplastizistische Malerei des holländischen Künstlers Piet Mondrian (1872-1944), in die einerseits musikalische Vorstellungen einflossen und die andererseits wiederum zu »musikalischen Reaktionen« führte, können verschiedene Aspekte dieser komplexen Beziehung nachvollzogen werden. Wie werden Elemente aus einer Kunst durch kreative Prozesse modifiziert und in ein anderes Medium integriert? Die übersichtliche, ökonomische Kunst Mondrians – heute flächendeckend bekannt durch das Logo der Studio-Line von L’Oréal – integriert erstaunlicherweise Elemente der damaligen Unterhaltungs- und Tanzmusik, ist also inspiriert vom Jazz. Mondrians Affinität zu dieser rhythmus- und geräuschbetonten Musik spiegelt sich sowohl in den Titeln des Spätwerks wider (Fox Trot, Victory Boogie-Woogie usw.) als auch in der Art, wenige Bildelemente gleichsam »rhythmisch« miteinander in Beziehung zu setzen. Er entwickelte ein strenges ästhetisches Konzept, das das dynamische Gleichgewicht von P Notenpapier_2006|

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Gegensätzen ins Zentrum stellt und in Verbindung mit dem Gedankengut der Theosophie wegweisend für die junge holländische Kunstbewegung wurde. Mondrians Bilder haben besonders unter holländischen Komponisten zu ganz unterschiedlichen musikalischen Reaktionen und Umsetzungen geführt – von der meditativen, horizontal-vertikalen Klavierkomposition Proeven van Stijlkunst (1916) seines Zeitgenossen Jakob van Domselaer bis zu eher assoziativen Transferverfahren im Werk des Musiktheaterkomponisten Louis Andriessen können Mondrians Spuren in Tönen aufgenommen werden. Doch lässt sich auch bestimmen, ob es eine adäquate musikalische Reaktion auf Mondrians Kunst gibt? Kann man Mondrian hören? Und wenn ja: Wie klingt er?

Abstraktion als Weg zu einer Malerei des Geistigen

{ In seiner Zeit galt Piet Mondrian als einer der entschlossensten Verfechter

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konsequent abstrakter Malerei. Am bekanntesten sind sicher die nach 1921 entstandenen Werke, so etwa die zahlreichen Bilder mit dem Titel Komposition mit Rot, Gelb und Blau. Die horizontale und vertikale Linie emanzipiert sich als autonomes Gestaltungselement, gleichzeitig wird das farbliche Spektrum weiter auf seine Ursprünge zurückgeführt, bis nur noch viereckige Farbflächen in den Primärfarben Rot, Gelb und Blau sowie in den Nicht-Farben Weiß und Grau Verwendung finden. Diese wenigen Elemente bestimmen von nun an Mondrians Oeuvre, werden in unzähligen Variationen durchgespielt und prägen bis heute das unverwechselbare Profil des Künstlers. Seine Bilder erwecken den Anschein einer genau berechneten Anlage. Die Bildaufteilung wirkt klar und mathematisch. Skizzen belegen jedoch, dass Mondrian die Proportionen seiner Bilder nicht berechnete, sondern intuitiv entwickelte. Dabei wurden Symmetrien vermieden, wenn auch gelegentlich mit visuellen Erwartungen gespielt wird. Die Balance, die trotz der eigentlich asymmetrischen Anlage von den Kompositionen ausgeht, ist eine qualitative, keine, die durch quantitative Berechnung entstanden ist. Ein weiteres Merkmal von Mondrians Malerei besteht darin, dass seine Bilder nach außen »offen« sind. Sie wirken wie Ausschnitte, die über den Bildrand hinausdrängen und sich mit dem Raum verbinden. Das brachte Mondrian in die Nähe der Architektur, denn der sein Bild umgebende Raum wird durch die Malerei gleichsam mitgestaltet.

Der »Priester im Dienst an der weißen Fläche« – Kunst und Theosophie

{ Neben den schwarzen Linien im rechten Winkel gehörten Farbflächen in den Primärfarben Rot, Gelb und Blau sowie den Nicht-Farben Weiß und Grau zu den Gestaltungselementen der Pariser Jahre (1919-1938). Sie dienten als elementare Sprachmittel eines komprimierten künstlerischen Ausdrucks, dem der Neuen Gestaltung (Nieuwe Beelding) oder des Neoplastizismus, der alle figurativen Momente vermied und in totaler Abstraktion das Essentielle der Erscheinungsformen objektiv zu gestalten P Notenpapier_2006|


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suchte. Willkür und Zufall sollten aus der Kunst entfernt und »Raum für das Göttliche« geschaffen werden, indem »man nicht die Dinge darstellt«, sondern ihre innere Konstruktion durchschaut In der konsequenten Abstraktion des Neoplastizismus vereinen sich Kunsttheorie und Ideologie zu einer Art Pseudo-Religion mit idealistischem Sendungsbewusstsein. Mondrian selbst stammte aus einem religiösen Elternhaus und war von väterlicher Seite her stark kalvinistisch geprägt. Lange Zeit spielte er mit dem Gedanken, die Priesterlaufbahn einzuschlagen, und auch nachdem er sich für die Kunst entschieden hatte, beschäftigte er sich mit theosophischen Schriften, trat 1909 in die Niederländische Theosophische Gesellschaft ein und liebte zeitlebens Spekulationen und ausschweifende Gedankenspiele. Dabei wurden besonders die Schriften des Theosophen M.H.J. Schoenmaekers bestimmend für die Theoriebildung der De Stijl-Bewegung, indem die in ihnen entwickelten Ideen den philosophischen Hintergrund zu der bislang noch überwiegend spekulativen De Stijl-Theorie boten. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Mondrians Kunsttheorie (die zumindest in diesen Jahren immer auch die Theorie der De Stijl-Gruppe insgesamt war) durchzogen ist von einem religiös oder mystisch besetzten Vokabular wie etwa Reinheit, Klarheit, Erkenntnis, Gleichgewicht mit dem Geistigen, dem Universalen etc. Dieses Universale, nach dem Religion sucht und fragt, soll in der Kunst visualisiert werden, damit im ästhetischem Erleben eine geistige Erhöhung stattfinden kann, wie man sie sich sonst von der Meditation, dem Gebet oder Gottesdienst erwartet.

Bach, Schoenmaekers und die Kreuzfigur

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Auf den theosophischen Hintergrund im Werk Mondrians greift der holländische Komponist Louis Andriessen in seinem Musiktheater »De Materie zurück«. Im De Stijl (1984/85) betitelten dritten Teil nähert er sich Leben, Werk und Ästhetik Mondrians in assoziativer Weise, stellt unterschiedliche Aspekte heraus und bringt sie in einer Musiktheaterszene montageartig zusammen. Bei seiner Auseinandersetzung mit Mondrian dauerte es nicht lange, bis Andriessen auf die Schriften Schoenmaekers stieß, und er erkannte den prägenden Einfluss, den der Theosoph auf das Denken und nachweisbar auf den literarischen Stil des Malers ausübte. Er entschloss sich, einen Text aus Schoenmaekers Schrift »Beginselen der beeldende Wiskunde« (Prinzipien einer bildenden Mathematik) für De Stijl zu verwenden. Dieser handelt von der sogenannten Kreuzfigur als der vollendeten geometrischen Figur, die zugleich Grundlage für Mondrians bildnerisches Werk werden sollte. Diese Kreuzform, bei Schoenmaekers auch »T-Form« genannt, da sich Horizontale und Vertikale nicht kreuzen, sondern nur berühren, diente als Symbol der Vollkommenheit. Andriessen wollte nicht allein den metaphysischen Text vertonen, sondern auch die T-Form musikalisch abbilden. Seine erste Idee führte zu einer der berühmtesten KreuzP Notenpapier_2006|

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figuren in der europäischen Musikgeschichte, nämlich zum B-A-C-H-Motiv. Verbindet man die nach Tonhöhe angeordneten Noten miteinander, entsteht ein Kreuz. Das Kreuz erschien Andriessen im Zusammenhang mit Mondrian auch deshalb als geeignet, weil es auf seinen religiösen Hintergrund verweist. Um jedoch der Schoenmaekerschen T-Figur gerecht zu werden, suchte er nach einer ähnlichen musikalischen Figur, die eine repetierende Note beinhalten musste, um das Kreuzen der Linien zu vermeiden. Er kam auf folgendes Motiv:

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Für musikalisch interessanter als sein eigenes Motiv hielt er allerdings Bachs Kreuzfigur, und so finden beide Kreuzformen in der Komposition Verwendung. Auch mit anderen Kompositionsprinzipien verweist Andriessen auf den Schöpfer der musikalischen Kreuzfigur. Er verfährt über weite Strecken frei oder aber streng imitatorisch, schiebt sogar eine groteske Fuge ein, die sich aus dem Diskobass heraus entwickelt und im Grunde ein strenger Kanon ist, in dem sich die Stimmeinsätze je einen Halbton von as nach h hocharbeiten. Damit verweist Andriessen nicht nur zurück in den Barock, sondern auch in die 20er Jahre, die zu porträtieren er sich zum Ziel gemacht hat.

Was ist Rhythmus?

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Bevor man sich auf die Spur rhythmischer Phänomene in der Malerei begibt, ist zu klären, was Rhythmus überhaupt meint. Während lange die platonische Definition vom Rhythmus als Ordnung der Bewegung oder der Zeit (in Abgrenzung zu Harmonie als Ordnung der Töne) präsent war, wird heute alles unter den Terminus subsumiert, »was irgendwie mit der Struktur oder dem Ablauf der musikalischen Zeit, oft auch, was mit Bild- und Raumbewegungen zu tun hat« (Seidel, MGG 8, Sp. 257). Rhythmus ist keine spezifisch musikalische Qualität. So sprechen wir etwa vom Tagesrhythmus und meinen damit die bestimmte Abfolge von Ereignissen, die unserem Tag eine (möglichst adäquate) Ordnung verleiht. Wir staunen über den Rhythmus einer Großstadt, brauchen den Rhythmus der Jahreszeiten und kennen Menschen, die Rhythmus im Blut haben. Der Terminus Rhythmus ist allgegenwärtig, man meint zu wissen, was er aussagt, und doch

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bleiben Definitionen ungriffig, unvollständig oder unverständlich. Musik als »Zeitkunst« kommt ohne eine Strukturierung der Klangereignisse in der Zeit nicht aus. Daher hat in der Musikgeschichte die Rhythmus-Theorie eine lange Tradition. Je nach Blickwinkel des Forschers unterscheiden sich die Methoden dabei erheblich und tragen eher zur Komplexität des Themas bei als Lösungen zu liefern. Neben dem Versuch, Klangereignisse in ihrer Interaktion mit metrischen Gegebenheiten mathematisch aufzuschlüsseln und so den rhythmischen Wert eines Tones zu bestimmen, geht etwa Jaques-Dalcroze, der »Urvater« der Rhythmik, von Bewegung und dem unmittelbaren Erleben von Rhythmus durch den Körper aus und macht Rhythmus zu einer Sache persönlicher, in erster Linie rein subjektiver Erfahrung. Von kognitionswissenschaftlicher Seite aus werden die Verarbeitungsprozesse im Gehirn untersucht und zum Ausgangspunkt einer Rhythmusdefinition herangezogen, während sich Künstler aller Art zwar vielleicht unwissenschaftlich, doch meist effizient über die Wirkung des Phänomens Rhythmus Gedanken machen und ihre Ergebnisse kompositorisch erproben. Von Rhythmus kann nur gesprochen werden, wo es Kontraste gibt. Eine monochrome Fläche hat ebensowenig rhythmische Qualität wie ein einzelner, unendlich fortgesetzter Ton. Erst wenn sich ein zweiter, von dem ersten unterschiedener Ton oder eine Pause als »Nicht-Ereignis« anschließt, ist aus der Beziehung der Ereignisse (und »Nicht-Ereignisse«) zueinander ein rhythmisches Verhältnis zu erschließen. Diese Ereignisse benötigen einen Raum, in dem sie stattfinden können. Dabei ist es unwesentlich, ob es sich um einen architektonischen Raum oder, wie in der Musik, um einen Klang-Zeit-Raum handelt. Im Bild gibt die Größe der Leinwand einen Raum vor, in dem Bildelemente angeordnet und zueinander in Beziehung gebracht werden. Anders als bei einem Musikstück, das sich dem Hörer nur nach und nach zugänglich macht, kann der Betrachter das Gemälde in seinem Gesamteindruck auf einen Blick erfassen und auf sich wirken lassen. In abstrakter Malerei ist es ihm zudem in erhöhtem Maße freigestellt, ob oder wo er einen Anfang oder ein Ende erkennt. Der Blick kann frei von oben nach unten oder von einer Seite zur nächsten wandern, von innen nach außen, in Kreisen oder Geraden – man kann ein Bild »lesen« und seinen Verlauf in der (Betrachtungs-) Zeit frei bestimmen, während man als Hörer von Musik die Dinge auf sich zukommen lassen und sich damit abfinden muss, dass man das Ende eines Stücks ebensowenig voraussehen wie sich den Anfang bis zum Schluss merken kann. Dennoch ist man heute vorsichtig geworden, Musik als Zeitund Malerei als Raumkunst zu bezeichnen, wie es in Anlehnung an Lessings Abhandlung Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie lange Zeit üblich war. Immer mehr setzt sich die Vorstellung durch, die Kategorien Raum und Zeit als zwei Wahrnehmungsweisen desselben Phänomens zu begreifen, die einander ergänzen, aber nicht hermetisch trennbar sind. Wie nah unsere intuitive Wahrnehmung dieser Vorstellung ist, zeigt sich im natürlichen Sprachgebrauch: Das Adjektiv lang etwa kann räumlich (eine lange Linie) wie zeitlich (ein langer Tag) verwendet werden, und oft fließen die Kategorien sogar ineinander.

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»Fox Trot« und Modernes Lebensgefühl

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In Mondrians bildnerischem Denken ist Rhythmus das wesentliche Element, durch das der Künstler seine Komposition subjektivieren kann, denn nach Mondrian wird nur durch die Realisation eines dynamischen Rhythmus’ ein Werk zum Kunstwerk und sein Schöpfer zum Medium absoluter Wirklichkeit. »Der Rhythmus von Farb- und Maßverhältnissen (in genauer Proportion und im Gleichgewicht) bringt das Absolute in der Relativität von Zeit und Raum zur Erscheinung« (Mondrian, in: Jaffé, S. 40). Anders ausgedrückt: Es gibt nur wenige Gestaltungsmittel, mit denen der abstrakte Künstler umgehen soll, und der Rhythmus, d. h. hier die geschickte Anordnung der Teile zueinander, das wechselseitige Gleichgewicht von Farben und Maßen, entscheidet über den Wert der Komposition und gibt ihr die individuelle, besondere Note ihres Schöpfers. Rhythmus ist bei Mondrian schon früh Programm. Die gleichgewichtige Kombination der Bildelemente tritt sozusagen an die Stelle des Gegenstands und ersetzt Achsensymmetrie und Perspektive. Schon die Pier und Ozean-Bilder um 1914/15 mit ihren sich verdichtenden oder entzerrenden Plus-Minus-Zeichen wirken wie eine stenographische Aufschlüsselung der Wellenbewegung in rhythmische Symbole. Durch die gebrochenen Linien wird Bewegung für das linear voranschreitende Auge klar erfassbar. Tatsächlich wäre sogar an eine musikalische Realisation der Bilder im Sinne später entstandener graphischer Notationsformen in der Musik zu denken, obwohl Mondrian sicher weit davon entfernt war, seine Bilder als Partituren zu verstehen. Dass es sich bei einigen seiner Kompositionen aber um ins Visuelle überführte Musik handelt, belegt die Schilderung von W.F.A. Roëll, einem Korrespondenten der Zeitung Het Vaderland, der Mondrian 1920 während der Arbeit an einem bislang nicht identifizierten Foxtrottbild besuchte: Mitten im Atelier ist auf der Staffelei eine quadratische Leinwand befestigt, die der Maler gerade in Arbeit hat. Sie ist in rechteckige Blöcke aufgeteilt, die mit den Hauptfarben Rot, Blau und Schwarz ausgefüllt sind. Sie stellt nichts dar. Es ist keine Regelmäßigkeit in der Figur zu entdecken. Trotzdem herrscht ein nicht unangenehmes Gleichgewicht – sagt der Maler – und während er dies sagt, dreht er die Leinwand rasch um, damit sie die richtige Position erhält… Während ich in einem eckigen Korbsessel mein erstes Staunen verarbeite, enthüllt der Maler den Namen seiner Schöpfung: Foxtrot. Sie enthält das gleiche modern-rhythmische Lebensgefühl und das regelmäßige Vor- und Zurücktreten… der Maler erklärt mir bald kurz und deutlich, wie er vom Foxtrot zu seiner Ab- oder Umbildung gekommen ist und wie die irdische (reale) Vorstellung auf geheimnisvolle Weise gänzlich verschwunden ist (zit. n. Maur, S. 403).

Mondrians Bilder der zwanziger Jahre sind dynamisch ausbalanciert, aber im Rhythmus weitaus getragener, weniger »schnell« als die späten New Yorker Werke. Ihre besondere Qualität besteht darin, dass sich ihr Rhythmus in den Raum fortzusetzen scheint. Ein Bild wie Komposition in Rot, Gelb und Blau von 1927 gibt scheinbar den Blick auf leP Notenpapier_2006|


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diglich einen Ausschnitt frei, der nach außen offen ist und ins Unendliche weitergedacht werden kann. Das Bild an der weißen Wand wird als Fenster ins Universum zum Initiator eines Imaginationsprozesses, in dem die Grenze zwischen Bild und Raum, zwischen sichtbarer und unsichtbarer Wirklichkeit verwischt. Es geht also nicht nur um Rhythmus im Bild, sondern auch um Rhythmus außerhalb des Bildes. In seinem New Yorker Atelier schließlich wurde der Raum selbst zur Bildfläche, Lebensraum zum Kunstwerk. Vergrößerte Farbflächen in Rot, Gelb und Blau waren über die weißen Atelierwände verteilt und wurden von Mondrian immer wieder nach Belieben neu angeordnet. So erschuf er unablässig neue visuelle Rhythmen um sich herum und realisierte, zumindest in dieser Hinsicht, die Vereinigung von Kunst und Leben, um die es ihm zeitlebens gegangen war. Diese Kunst hatte keine Bilder im konventionellen Sinn mehr nötig. Ihr Rhythmus war vollends in das Leben eingegangen und mit ihm verschmolzen. Es gab einen Rhythmus ohne Bild.

Wie klingt Mondrian?

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Am Anfang meiner Beschäftigung mit dem Thema stieß ich auf eine alte Kassette, betitelt Mondrian’s Music, die laut Computer im Kunsthistorischen Seminar lagern sollte. Es dauerte ziemlich lange, bis sie gefunden wurde, nachdem man etwas ratlos zwischen den Bücherregalen umher gelaufen war und die Studierenden befragte, ob sie von dem Tonband schon mal etwas gehört hätten. Eine Studentin reagierte spontan: »Mondrian’s Music? Gibt’s so was wirklich? Das stell’ ich mir ja total spannend vor: horizontal, vertikal, horizontal, vertikal…« Wie klingt Mondrian? Endlich in Besitz der Kassette, hörte ich mich 30 Minuten durch wilden Boogie-Woogie und frühen Big Band Sound, bevor die ätherischen Klavierklänge der Proeven van Stijlkunst mich sacht einhüllten. Von da an wollte ich einem Geheimnis auf die Spur kommen, das unenthüllbar bleibt: Wie wird aus einer ausgelassenen Tanzmusik – mit einem Gemälde als Zwischeninstanz – eine meditative Akkordstudie? Natürlich ist eine solche Frage unzulässig. Es war nie Domselaers Absicht, Mondrians Beeinflussung durch den Jazz in seine Komposition miteinzubeziehen, schon gar nicht wollte er ein musikalisch inspiriertes Werk »zurückübersetzen«. Was sollte es auch für einen künstlerischen Nutzen haben, ein Bild zu komponieren oder eine Komposition zu malen? Ein solches Verhalten entspränge – wenn nicht der Suche nach dem Urprinzip des Seins wie bei Mondrian selbst – allenfalls fotografischer Neugierde, im Grunde einer Abbildungsästhetik, die sich nun nicht mehr auf Natur, sondern eben auf eine andere Kunst bezieht. Viel spannender und aufschlussreicher ist doch, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen ein einziges Kunstprodukt Anreiz geben kann. Jedes Kunstwerk wird irgendwann in die Welt »entlassen« und ist von da an frei verfügbar, um zu neuer kreativer Auseinandersetzung anzuregen oder herangezogen zu werden. Was letztendlich dabei heraus kommt, obliegt keinen apriorischen Gesetzmäßigkeiten, sondern der Person, die darauf reagiert: ihrem Naturell, ihrem künstlerischen P Notenpapier_2006|

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Selbstverständnis, ihrem Wissen um den Kontext der Vorlage, ihrer Absicht, ihrem Können, ihrem Ideenreichtum, ihrem persönlichen Kontext. Über den »Wert« des Kunstwerks entscheidet nicht die mehr oder weniger gelungene Bezugnahme auf einen gattungsfremden Gegenstand. Das Wissen um eine solche Bezugnahme kann die Rezeption um eine Ebene erweitern, dennoch bleibt ein Bild ein Bild, eine Komposition eine Komposition. Im Mondrian-Gedächtnisjahr 1994 fanden besonders in Holland zahlreiche Ausstellungen und auch Konzerte statt. Der Pianist Marcel Worms studierte zu diesem Anlass ein Solo-Programm ein, das er unter dem Titel Pictures at a Mondrian Exhibition bei Emergo Classics (Holland) einspielte. Neben jazzigen Kompositionen von u.a. Schulhoff und Tansman sind mehrere aktuelle Auftragskompositionen zu hören, die auf konkrete Bilder Bezug nehmen. Sie machen noch einmal mehr deutlich, dass Mondrian sehr unterschiedlich klingen kann, und dass die mannigfaltigen Wechselströme zwischen Musik, Bild und wieder Musik sich, wenn überhaupt, so nur mit größter Mühe in systematische Bahnen eindämmen lassen. Wie klingt Mondrian in mir? Wie würde ich an ein Bild wie Komposition mit Rot, Gelb und Blau herangehen? Plötzlich stehe ich zwischen den Ufern und beginne, meine eigenen Fäden zu spinnen.

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74 x De la Motte-Haber, Helga. Musik und bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur Klangskulptur, Laaber: Laaber 1990. x Jaffé, Hans L.C.: Mondrian und De Stijl. Schauberg, Köln: DuMont 1967. x Maur, Karin v. (Hrsg.): Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München: Prestel-Verlag 1985 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Staatsgalerie Stg., 6. Juli-22. Sept. 1985) x Wismer, Beat: Mondrians ästhetische Utopie, CH-Baden: LIT-Verlag Lars Müller 1985.

p Anne Dorothea Kütemeier, geb. Pardall studierte von 1997 bis 2002 Schulmusik mit Hauptfach Klavier. Das Studienjahr 2001 verbrachte sie in Amsterdam.

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+ Das Oratorium »Golgotha« von Frank Martin Archaisierendes und Modernes in einer Passion des 20. Jahrhunderts

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Georg Hage

{ »Golgotha« lernte ich kennen und schätzen,

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als ich zu zwei Aufführungen des Oratoriums am 3. und 4. April 2004 in der Freiburger Christuskirche für die Ausführung des Orgelparts engagiert wurde. Eine Aufführung in der Bielefelder Rudolf-Oetker-Halle nur eine Woche zuvor vermochte mich, der ich das Rembrandt: »Die drei Kreuze« Werk erstmals hörte, kaum zu berühren, doch während der Probenarbeit begann mich die Musik mehr und mehr zu beschäftigen. Die Reaktionen des Freiburger Publikums waren hingegen bemerkenswert: Emotional bewegt verharrte eine Reihe von Zuhörern noch minutenlang schweigend auf ihren Plätzen, der außergewöhnlichen Passion nachsinnend. Was ist der Grund dafür, begann ich mich zu fragen. Wie vermag diese »neue Vision der Leiden und des Sieges Jesu Christi«, dieses große, aber nicht pompöse und in seiner Haltung einfache und bescheidene Werk des 20. Jahrhunderts eine solche Wirkung zu erzeugen? Frank Martin (1890 – 1974) galt zu Lebzeiten als »ein Außenseiter der neuen Musik« (Billeter 1970). Mittlerweile, dreißig Jahre nach seinem Ableben, scheint es, dass seine Musik die Aussicht hat ein neues Publikum zu erreichen und zu ergreifen. Doch was trägt zu diesem Personalstil bei und welche Aspekte spielen dabei eine Rolle? Ein Kritiker der Uraufführung von »Golgotha« im April 1949 berichtet: »Um der Thematik einen angemessenen, würdevollen und erhebenden Eindruck zu verleihen, hat Frank Martin sein ›Libretto‹ selbst verfasst, äußerst dicht, knapp und direkt. Seine musikalische Sprache ist hier außerordentlich vielfältig. Die verschiedensten und gegensätzlichsten Elemente finden sich vereinigt: Da trifft die gregorianische Psalmodie auf das Arioso mit obligatem Soloinstrument, der kontrapunktische Satz steht neben der Homofonie nach Art Palestrinas und die Schönbergsche Zwölftontechnik neben perfekten Konsonanzen und dem Volkslied entlehnten Rhythmen und Melodien« (Tappolet 1949, S.262 f.). Die ersten Eindrücke von verschiedenen Zeitzeugen geben dazu Anlass, das Oratorium »Golgotha« von Frank Martin näher zu beleuchten. P Notenpapier_2006|


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Frank Martins künstlerische Entwicklung und sein religiöser Hintergrund

{ Ausgehend von seiner klassischen musikalischen Ausbildung und zunächst von der Bachschen Harmonik gefesselt, erweiterte sich Frank Martins stilistischer Horizont sukzessive. Seine Begegnung mit den französischen Impressionisten, Experimente auf rhythmischem Gebiet sowie die partielle Integration der Zwölftontechnik führten schließlich zu der für seinen Stil der Reife charakteristischen erweiterten Tonalität, die in seinem Kammeroratorium »Le Vin Herbé« seine erste charakteristische Ausprägung fand und die in »Golgotha« zur Hervorhebung besonderer Textinhalte um Passagen äußerster harmonischer Einfachheit bereichert ist. Parallel zu diesem stilistischen Werdegang steht Martins ebenso individuell geprägte religiöse Entwicklung. Als Reaktion auf sein familiäres Umfeld hatte er sich zunächst von den erfahrenen Traditionen und Einflüssen im elterlichen Pfarrhaus distanzieren müssen. Schließlich erschien es ihm aber eine innere Notwendigkeit, seinen Glauben musikalisch auszudrücken – ein universaler Glaube, gegründet auf die christliche Lehre, aber nicht auf eine Konfession festgelegt. So komponierte er sein eigenes Glaubensbekenntnis, auch wenn er es im Grunde für vermessen und unangebracht hielt, eine Vertonung des Passionsgeschehens zu wagen. Insofern ist »Golgotha« eine »Summe« (Meylan, S. 280) von Glaubensinhalten und -aussagen, die in komprimierter Form zu einer Textvorlage von hoher literarischer Qualität und höchster Aktualität zusammengestellt sind.

77 Die Texte und ihre Zusammenstellung

{ Wie die Arbeit im Detail zeigt, ist die Textvorlage zu »Golgotha« aus bestimmten Texten der Evangelien sowie ausgewählten nichtevangelischen Textstellen zusammengesetzt, die in ihrer Ganzheit vor allem verschiedene Gegensätze (Tag – Nacht, Licht – Schatten, Schuld – Unschuld, Himmel – Erde, menschlich – göttlich, Grab – Sieg) zum Ausdruck bringen. Stets steht der Mensch Jesus im Zentrum des Geschehens, und wie ein roter Faden spannt sich durch alle Texte inhaltlich der Gedanke der Erlösung: Christi Opfertod und seine Auferstehung sind die Voraussetzung für das Heil der erlösungsbedürftigen Menschheit. Diese Aussage ist die befreiende und frohe Botschaft der gesamten Textvorlage, gleichzeitig Zeichen für die »gläubig christozentrische Haltung des Komponisten« (Fischer, S. 126) und damit Frank Martins eigenes Bekenntnis. Durch Eingangschor, Intermedium und Schlusschor ist das Werk formal gegliedert. Durch seine zweiteilige Anlage trennt es klar die Vorboten zur Leidensgeschichte (Jesu Einzug in Jerusalem, seine Verurteilung der Pharisäer, das letzte Abendmahl mit der Ankündigung des Verrats durch Judas sowie der Verrat selbst im Garten Gethsemane, Nr. I-V) von der eigentlichen Passion (Jesu Prozess vor dem Hohen Priester, seine Verurteilung durch Pilatus und sein Tod am Kreuz, Nr. VI-X) – wie Bach in der Matthäus-Passion. Den Platz, den Bach Arien und Chorälen zuweist, nehmen bei Frank Martin die so genannten Meditationen ein, die die einzelnen Szenen der Passion-Jesu-Darstellung, die für sich dramatisch gestaltet sind, und die verschiedenen Haltungen Christi reflektieren und P Notenpapier_2006|


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kommentieren. Wodurch sich die textliche Konzeption von »Golgotha«, bei aller Nähe in formaler Hinsicht, jedoch nicht nur von Bachs Passionen, sondern von der gesamten Tradition der Passionsvertonung deutlich unterscheidet, ist die Einbeziehung des Osterereignisses, in dem nicht zuletzt die bejahende Glaubensaussage Martins und seine gesamten Lobpreisungen zum Ausdruck gebracht sind. Die Textvorlage kann man als eine Art Collage bezeichnen, als Montage in ihrem positivsten Sinne. Die engagiert gestaltete Dramaturgie lässt die zusammengestellte Vorlage als literarisches Kunstwerk erscheinen. Besonders auffällig ist die außerordentliche emotionale Beteiligtheit des Komponisten.

Die musikalische Realisierung

{ Eine Passion zu schreiben fand Martin zunächst »anmaßend«. Doch dann erhielt er

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durch Rembrandts Kupferstich Die drei Kreuze eine neue Inspiration. Hier war das christliche Heilsgeschehen konzentriert auf den Punkt gebracht. Berührt und ergriffen von dem »seltsame{n} weiße{n} Licht, das senkrecht auf eine düstere Welt fällt« (in: Halbreich, S. 27), sah er den Hell-dunkel-Kontrast als Gegensatz von Licht und Finsternis. Dieses Prinzip übertrug er nun auf die textliche und die musikalische Ebene seiner Komposition. Der Gegensatz prägt auch die formale Anlage sowie das Klangkonzept des Werkes. Neben der profilierten Vox Christi, deren herausragende Stellung dem Baritonsolisten zugewiesen ist, treten die übrigen Partien in den – dunklen – Hintergrund. Um die zentrale Stellung der Christuspartie weiterhin nicht zu gefährden, entschied sich Frank Martin für eine entpersonalisierte Evangelistenpartie und verteilte die Erzählung auf verschiedene Solisten und den Chor, je nach spezifischer Aussage und Kontext. Wird die Handlung schnell vorangetrieben und zeigt sie dramatische Elemente, berichtet eine Solostimme, die für den Moment unmittelbar an der Szene teilzuhaben scheint; an Stellen mit eher deskriptivem Charakter abseits von dramatischer Handlung singt hingegen der Chor. Dieser repräsentiert außerdem die Volksmenge, übernimmt also zusätzlich die Funktion der so genannten Turba, und ist im Eingangs- und Schlusschor sowie in einigen der Meditationen beschäftigt – in letzteren in der Rolle der Gemeinschaft der Glaubenden (vgl. Meester 1993, S. 135). Die abwechslungs- und kontrastreiche Rollenverteilung trägt entscheidend zur dramatischen Wirkung des Werkes bei. Gegenüber dem Vokalpart ist die Rolle des Orchesters – einem großen Orchesterapparat mit sinfonischem Streichersatz, doppelt besetzten Holzbläsern, vollem Blechbläsersatz und Schlagwerk, erweitert um Klavier und Orgel – im Wesentlichen auf die instrumentale Begleitung beschränkt. Rein instrumentale Sätze enthält »Golgotha« nicht, allein zur Eröffnung des zweiten Teils findet sich (zu Beginn von Nummer VI) eine längere instrumentale Einleitung. In jedem Fall trägt die farblich differenzierte Instrumentation maßgeblich zu dynamischen Effekten bei. Den ersten Satz kann man als Mikrokosmos des ganzen Werkes bezeichnen. Hier finden sich die wichtigsten Parameter der Tonalität, der Satzweise, der Melodik, Harmonik und der kontrastreichen Klangregister. Charakteristisch sind stilistische Anklänge an andere P Notenpapier_2006|


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Vorbilder (wie Bach) und Epochen (Mittelalter) ebenso wie moderne experimentelle rhythmische Kontrapunktik, Zwölftontechnik und Jazzelemente. Martin verarbeitet die heteronomen archaisierenden und modernen Elemente zu einer Synthese, die seine genuine Tonsprache prägt.

Beispiel: Der Aspekt der Rhythmik vor dem Hohen Priester). Im »heftigen Rhythmus einer Tokkata« (Halbreich, S. 32) beginnt die Szene Jesu vor dem Hohen Priester, deren Orchesterbegleitung mit durchgehenden Achtelläufen zunächst den Satz bestimmt. Die erzählende Rolle kommt den Chortenören und -bässen zu und wechselt nach der kontrastierenden Passage der Jesusworte (T. 104 ff.: »Tu l’as dit…«), die vorübergehend das »Allegro con fuoco« beruhigt, zum Solotenor (T. 137 ff.: »A ces mots…«). Die unruhige Begleitung wird wieder aufgegriffen. Der erneute Tumult des Volkes mit Steigerungswirkung bis zum Fortissimo bricht unvermittelt ab, und in starkem Kontrast schließt sich die Meditation im Pianissimo-Choralklang (T. 267 ff.) an. Unmittelbar ins Auge fällt die Vielzahl der Taktwechsel: Zweier- und Dreiermetren wechseln ununterbrochen ab, »was den unsteten Effekt großer Fünfer- und Siebenertakte bewirkt und durch die Klangfarben, besonders der Blechbläser, verschärft wird.« (Brandt, S. 102) Prinzipiell handelt es sich hier insofern um eine Variante musikalischer Prosodie. Man könnte in den Taktwechseln Anklänge an die perfekte und imperfekte Mensurierung der Ars nova sehen, verknüpft mit Martins Erkenntnissen aus der Beschäftigung mit der bulgarischen Folklore und dem rumänischen Volkslied. Die colla voce geführten Blechblasinstrumente, zunächst im vollen Hörnersatz, abgelöst von den Posaunen (T. 9 ff.) und gesteigert durch die Trompeten (T. 23 ff.), »fügen dem Ganzen eine herb archaische und durchaus mittelalterliche Tönung hinzu« (Halbreich, S. 32).

Ein unerwartetes Ende

{ Zurück zur eingangs aufgeworfenen Frage nach der Wirkung von »Golgotha«: Wodurch überzeugt Frank Martins Werk? Meines Erachtens spielen bei der Rezeption zwei Komponenten eine wichtige Rolle. Zum einen wird dem Publikum in der Tat ein vollendetes Drama vor Augen geführt, das Passionsgeschehen emotionsgeladen, voller Liebe und voller Hass, und aus verschiedenen Sichtweisen mit aller Härte und Brutalität schonungslos dargestellt – unmittelbare Betroffenheit stellt sich ein: »Wie konnten Menschen dich richten mit solcher Härte, solchem Hass, einen Tod dir bereiten, so schändlich und grausam?« (vgl. Meditation in Nr. VII.) Andererseits aber nimmt das Passionsoratorium ein gänzlich unerwartetes Ende. Nicht stille Trauer oder mitleidsvolle Beweinung der Kreuzigung beschließt das Werk, sondern die Einbeziehung der österlichen Auferstehung, der Jubel über Jesu Sieg, der Triumph des Lebens über den Tod. Daraus P Notenpapier_2006|

Artwork: Matthias Wieber

{ Exemplarisch herausgegriffen sei der siebte Satz: Jésus devant le Sanhédrin (Jesus

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wächst die Erkenntnis: Die Leidensgeschichte war lediglich Durchgangsstation auf dem Weg zum Osterereignis, die Passion die andere, aber notwendige Seite des Heilsgeschehens. Zu guter Letzt hat Christus die gesamte menschliche Schuld auf sich und damit alle Last von mir selbst genommen; auf unverhoffte und unbegreifliche Weise bin ich befreit: »Christus starb für uns, in Christ ward uns geschenkt das Leben.« (vgl. Nr. I.) »Martin konnte gar nicht den Tod Jesu abgelöst sehen von seiner Auferstehung, beides gehörte für ihn zusammen wie Sündhaftigkeit und Hoffnung auf Erbarmen« (Brandt, S. 107). Diese Sichtweise spiegelt sich in »Golgotha« unbedingt wider, ohne dass das Werk in irgendeiner Weise auf äußerliche Effekte zielt oder plakativ wirkt. Es ist ein authentisches und persönliches Zeugnis, eine Musik, die von Herzen kommt und zu Herzen geht. »So besorgt er sonst auf seine Empfindungen bedacht und um Zurückhaltung bemüht war, hat in diesem Werk sein großes Herz geöffnet.« (Tappolet 1949, S. 263) Die große Außenwirkung ist dem Komponisten selbst nicht verborgen geblieben. »So passiert es, dass ein Werk, welches man für sich selbst und ohne sich darum zu sorgen, was man davon denken oder darüber schreiben könnte, geschrieben hat, genau das Werk ist, das nicht nur das Publikum, sondern auch die Musiker und selbst jene erreicht, deren Urteil man fürchten könnte. Nicht nur einmal konnte ich diese Erfahrung machen.« Welch großen Stellenwert Frank Martin selbst seiner Komposition zumaß, zeigt nicht nur ihr langer Entstehungszeitraum von drei Jahren, sondern nicht zuletzt Martins rückblikkende Erinnerung an die Kompositionszeit: »>Golgotha< stellte für mich ein einzigartiges Ereignis in meinem Leben als Komponist dar. Die lange Zeitspanne, die der Ausarbeitung dieses Oratoriums gewidmet war, lebt für uns beide, für meine Frau wie für mich, in der Erinnerung fort als eine gesegnete Zeit, als eine Karwoche, die fast drei Jahre gedauert hat.« (in: Maria Martin, S. 77 f.) L

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Billeter, Bernhard: Frank Martin. Ein Außenseiter der neuen Musik, Frauenfeld/Stuttgart: Huber 1970

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Brandt, Regina: Religiöse Grundzüge im Werk von Frank Martin, Regensburg: Bosse 1992

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Halbreich, Harry: Entstehung von »Golgotha«; Frank Martin kommentiert »Golgotha«; Kurze Analyse der Partitur, im Beiheft zur CD-Einspielung: Frank Martin: Golgotha/Messe pour double chœur a cappella, Erato 2292-45779-2 (1992), S. 25 – 34

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Lütteken, Laurenz: Martin, Frank, in: Finscher, Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil Bd. 11, 2., neubearb. Ausg., 1999 ff., Kassel: Bärenreiter 2004, Spalte 1169 – 1175

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Martin, Maria: (Hrsg.): A propos de…, commentaires de Frank Martin sur ses oeuvres, Neuchâtel: La Baconnière 1984, S. 79 – 88

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Melroy, Mardia: Frank Martin’s »Golgotha«, D. M. A. dissertation, University of Illinois at Urbana-Champaign 1988

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Tappolet, Willy: Golgotha. Oratorio de Frank Martin, in: SMZ 89 (1949), S. 262 – 263

p Georg Hage studiert nach dem Abschluss in Schulmusik 2004 an der Musikhochschule Freiburg Kirchennmusik A und Gesang.

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Redaktion und Konzept Janina Klassen (V.i.S.d.P.) notenpapier@mh-freiburg.de AutorInnen Annika Boehm-Kreutzer Ursula Benzing Silke Schwarz Carolin Fütterer Sven Hinz Peter Hajek Simone Kathrin Mayer Yaroslava Storchak Anne Dorothea Kütemeier Georg Hage

Herausgeberin Hochschule für Musik Freiburg i.Br. Schwarzwaldstraße 141 D-79102 Freiburg i.Br. notenpapier@mh-freiburg.de www.mh-freiburg.de/notenpapier Telefon (0761) 3 19 15- 0 Telefax (0761) 3 19 15 -42

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P Alle Angaben im NOTENPAPIER erfolgen nach bestem Wissen und Gewissen, für die Richtigkeit wird keine Gewähr übernommen. Vervielfältigungen durch Kopieren, Abfotografieren und Nachdrucken sowie Datenträgerauswertungen sind nur mit Genehmigung der Redaktion erlaubt. Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos, Dias, CDs, Filme u.a. wird nicht gehaftet. Manuskriptänderungen und Kürzungen behält sich die Redaktion vor. Bei Nichtleistung ohne Verschulden der Redaktion oder einer Störung des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegenüber dem Verlag oder der Redaktion. Gerichtsstand ist Freiburg i.Br.


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