California Dreams. San Francisco – ein Porträt

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SAN FRANCISCO EIN PORTRÄT

CALIFORNIA


HERAUSGEGEBEN VON DER KUNSTUND AUSSTELLUNGSHALLE DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND 12. September 2019 bis 12. Januar 2020 in der Bundeskunsthalle


CALIFORNIA SAN FRANCISCO EIN PORTR T DREAMS Ä


ABB. 1 Satellitenaufnahme von San Francisco, links im Bild der Golden Gate Park und die Golden Gate Bridge.



INHALT 8

Vorwort REIN WOLFS

10 Ein Gruß aus San Francisco

LAWRENCE RINDER

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12 California Dreams.

San Francisco – ein Porträt

SYLVIA S. KASPRYCKI UND HENRIETTE PLEIGER 18 Historischer Überblick

und Karte

GLOBALE TRÄUME UND INDIVIDUELLE HOFFNUNGEN

20 Einleitung 24 Die spanischen Missionen:

Kolonisierung im Namen der Religion SYLVIA S. KASPRYCKI

28 Die West Berkeley Shellmound-Kampagne

SYLVIA S. KASPRYCKI 30 Die Kolonie Ross:

Handel und interkulturelle Begegnung

ALEXEI A. ISTOMIN 34 Californios: Das mexikanische Kalifornien

SYLVIA S. KASPRYCKI 38 Achtung, Grenzkontrolle!

SYLVIA S. KASPRYCKI 40 Der Goldrausch:

Als die Welt nach Kalifornien kam HENRIETTE PLEIGER

42 San Francisco:

Eine auf Schiffen gebaute Stadt BRANDON TACHCO

44 Migration und Bewegung:

San Francisco als Ort der Sehnsucht und Stadt der Zuflucht

HENRIETTE PLEIGER 46 Deutsche Einwanderer in San Francisco

WILLIAM ISSEL 48 Levi Strauss, Unternehmer: Als Deutscher

geboren, zum Amerikaner geworden TRACEY PANEK

50 Die pazifische Einwanderung am

Golden Gate HENRIETTE PLEIGER


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ÜBERLEBENSTRÄUME UND DER AMERIKANISCHE MAINSTREAM

54 Einleitung 58 »Wie ein Phönix aus der Asche« :

San Francisco und das Erdbeben von 1906

SYLVIA S. KASPRYCKI 62 Raubbau an der Natur: Die Kehrseite der

progressiven Umweltpolitik Kaliforniens

HENRIETTE PLEIGER 64 Ishi, der »letzte Yahi«

68 Als der Orient zum neuen Westen

wurde: San Francisco zwischen zwei Weltausstellungen

CHRISTIAN FEEST 74 »Nur was wir tragen konnten«:

Die Internierung von Japanern und japanischstämmigen Amerikanern während des Zweiten Weltkriegs

SYLVIA S. KASPRYCKI

IRA JACKNIS

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GEGENKULTUREN UND VIRTUELLE TRÄUME

78 Einleitung 82 »Heilig! Heilig! Heilig!«:

San Franciscos ästhetische Magie DEVIN ZUBER

86 Die Bürgerrechtsbewegung

und die Black Panther Party LUTZ HIEBER UND GISELA THEISING

94 Alcatraz und die Indianer

CHRISTIAN FEEST 96 Repression und Befreiung:

Queer San Francisco

RAMON SILVESTRE 102 Silicon Valleys Schöpfungsmythen

JAN A. ENGLISH-LUECK

88 Meinungsfreiheit und Studentenrevolte

LUTZ HIEBER UND GISELA THEISING 90 Der »Summer of Love«

und die Hippiebewegung LUTZ HIEBER UND GISELA THEISING

108 112 114 126 127 128

Weiterführende Literatur Autorenverzeichnis Werkliste der Ausstellung Dank an die Leihgeber Bildnachweis Impressum


VORWORT Der Topos der Bescheidenheit, der Franz von Assisi, dem namensgebenden Stadtpatron zugeschrieben wird, mag auf den ersten Blick überhaupt nicht geeignet sein, um San Francisco ein Motto zu geben. Diese Stadt – und die gesamte Region der Bay Area – ist in vielerlei Hinsicht ein Ort der Extreme: der Superlative wie auch der Negativrekorde. Wenn wir heute auf die Schlagzeilen der Medien blicken, die über die Stadt an der Westküste der USA berichten, lesen wir zumeist Neuigkeiten aus dem Silicon Valley. Die südlich von San Francisco gelegene Region bestimmt als bedeutendster Standort der internationalen Hightechindustrie nicht nur das Geschick der Metropolenregion. Die beinahe ausnahmslos dort angesiedelten großen amerikanischen IT-Unternehmen sind mittlerweile maßgebliche Einflussgeber weltweiter Politik und reichen mit ihren Produkten rund um den Globus in nahezu jeden Haushalt. Die größte Dichte an Milliardären, die teuersten Wohnungen und Häuser, die höchsten Lebenshaltungskosten, aber auch sehr große Armut und unzählige Obdachlose – diese Meldungen dringen heute aus der Stadt, die den amerikanischen Traum auf ihre ganz eigene Art verkörpert. Als Stadt des Goldrausches zog San Francisco im 19. Jahrhundert europäische ebenso wie asiatische und lateinamerikanische Einwanderer mit der Hoffnung auf

REIN WOLFS INTENDANT, BUNDESKUNSTHALLE

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eine neue Existenz und Wohlstand an; im 20. Jahrhundert lockte San Francisco mit einem großen Freiheitsversprechen als Stadt der Bürgerrechts-, Studenten-, und Friedensbewegung, sowie zahlreicher emanzipatorischer Bewegungen, allen voran für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen. Das Lebensgefühl der späten 1960er bis frühen 1980er Jahre ist dort bis heute auf nostalgische Weise konserviert und Teil einer kollektiven Identität. San Francisco ist bis heute eine Stadt, die viele Menschen weltweit in ihr Herz geschlossen haben. Doch die Geschichte dieser Stadt hat auch eine dramatische Kehrseite: Die Ausrottung der indigenen Bevölkerungen im Zuge der europäischen Zuwanderung, die Ausgrenzung asiatischer und lateinamerikanischer Immigranten durch die weiße Oberschicht mittels Arbeitsverboten und der Verhinderung weiterer Einreisen sowie die systematische Diskriminierung und strukturelle Gewalt gegen Minderheiten, die die Proteste für Gleichbehandlung letztlich hervorgerufen haben. Erst diese dunklen Anteile der Geschichte ergeben ein schlüssiges Gesamtbild dieser kulturell besonders divers und progressiv erscheinenden Stadt. San Franciscos Geschichte und Gegenwart stehen in dieser Ausstellung auch sinnbildlich für das Thema globaler Migrationsbewegungen, ihrer Folgen und Chancen. Insbesondere in Rückschau auf unsere eigene europäische Geschichte, die von der nordamerikanischen spätestens seit den großen Migrationswellen ab dem 17. Jahrhundert nicht zu trennen ist, lohnt der Blick auf die Höhenflüge und Abgründe, auf die Beben und Bewegungen von San Francisco, der Stadt am Golden Gate. Für die Entwicklung dieser erzählerisch packenden wie wissenschaftlich tiefgründigen Konzeption danke ich den Kuratorinnen der Ausstellung, Sylvia S. Kasprycki und Henriette Pleiger. Während ihrer Recherche haben sie viele Gespräche mit Wissenschaftler(inne)n und Museumskurator(inn)en in Kalifornien geführt und trotz des vielleicht gewagten Blickes von außen viel Zuspruch und Unterstützung für das Konzept der Ausstellung und zahllose wichtige Anregungen erhalten. Ich möchte vor allem den über zwanzig Leihgebern aus den USA danken – aus San Francisco, Berkeley, Sacramento, San José, Seaside, Laguna Beach, Los Angeles und San Diego in Kalifornien sowie aus Tulsa, Oklahoma, und Washington, DC. Auch den Leihgebern aus Europa – aus London, Madrid, Sankt Petersburg, Zürich und mehreren deutschen Städten – gilt unser großer Dank. 9


EIN GRUSS AUS SAN FRANCISCO Ich kehre aus Europa nach San Francisco zurück und empfinde LAWRENCE RINDER DIREKTOR, BERKELEY die köstliche Fremdheit, mein Zuhause als etwas Neues zu erleben. ART MUSEUM & PACIFIC FILM ARCHIVE Schon während des Sinkflugs über die schneebedeckte Sierra Nevada und das grün-goldene Küstengebirge erscheinen Landschaft und Licht ganz anders: Die Erde ist auf andere Weise aufgebrochen (insbesondere der San-AndreasGraben ragt wie eine kühne Signatur heraus) – faltiger, abwechslungsreicher, rauer – während das Licht eine unverwechselbare Strahlkraft besitzt – durchtränkt, so scheint es, von einer mystischen Energie, die sich aus dem weiten Pazifik erhebt und sanft über die zerklüftete Küste hinaus ergießt, soweit das Auge reicht. Auf dem Heimweg vom Flughafen machen mich die verwahrlosten Waggons und Bahnhöfe betroffen. Überall Obdachlose, die in Zeltstädten entlang der Gleise und Straßen leben und im Zug schlafen. Wie befremdlich es ist, dass es sich eine so fabelhaft reiche Region nicht leisten kann – oder es sich nicht leisten möchte –, ihre Menschen in Würde unterzubringen. 10


Nach Verlassen des Zuges in Berkeley finde ich mich auf vertrauten Straßen wieder, wenngleich die Empfindung einer Neuentdeckung anhält. Ich kann die Neuheit der Dinge spüren, die Art und Weise, wie die Gebäude und Menschen nur leicht auf dem Boden ruhen, so als fehlten Geschichte, Absicht oder duende – Leidenschaft und Inspiration. Hier scheint es leiser zu sein, und die Formen wirken wie in ihren Molekülen aufgebläht, während sich die Geräusche in diesen größeren Maßstäben des Raumes verlieren. Es ist ein Gefühl des Friedens, aber auch der Leere. »Wir leben in einer Blase«, ist eine von den Menschen in der Bay Area häufig gebrauchte Wendung, um den wunderbaren, aber oft beunruhigenden Ausnahmezustand unserer kulturellen Erfahrung auszudrücken. Obwohl diese Phrase in erster Linie das Ausmaß andeuten soll, in dem sich die Wirtschaft und Politik der Bay Area vom Rest der Nation und tatsächlich von den Gemeinwesen nur jenseits der Hügel unterscheiden, spielt sie auch auf unser ungewöhnlich gemäßigtes Klima an, die exquisite natürliche Schönheit unserer Hügel, der Bucht und des Meeres und die Lebensqualität – manche sagen das »Europäischsein« – unserer Städte und Gemeinden. Diese Redewendung enthält jedoch zugleich die Andeutung der Vergänglichkeit und des unvermeidlichen Berstens. Der kraftvolle Geist der Bay Area ist ständig vom Verschwinden bedroht. Ob als Folge von Naturgewalten (ein katastrophales Erdbeben, steigende Meeresspiegel, Waldbrände) oder sozialen Umwälzungen (wie die technische Revolution und die damit einhergehende wirtschaftliche Ungleichheit), es ist wahrscheinlich, dass die Vitalität und der Charme, wie wir sie heute genießen, von kurzer Dauer sein werden. Die Bay Area bietet eine magische Umarmung an, die Generationen von Außenseitern und Ausgestoßenen das Gefühl gegeben hat, zu Hause zu sein: Kreativität, Leidenschaft und Unbekümmertheit blühten hier auf. Unsere Revolutionen im Denken, der Imagination und der Technologie haben die Welt verändert. Dennoch war vor kaum mehr als zweihundert Jahren dieses Land die Heimat eines ganz anderen Wunders: Die Coast Miwok und Ohlone lebten friedlich und in Harmonie mit der Natur und genossen den Reichtum und die Schönheit dieses Ortes auf eine Weise, die heute unvorstellbar ist. Ich hoffe, dass die Menschen, die nach uns kommen, Wege finden, um Stärke und Inspiration aus der verbliebenen Schönheit zu schöpfen. 11



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ABB. 3 Richard Diebenkorn (1922 – 1993), Uferdamm, 1957.

↗ ABB. 4 Carl Schlesinger (1825 – 1893), Auswanderer fahren an Bord, 1851.

anderer – wie es etwa die Geschichte der indigenen Bevölkerungen Kaliforniens oder die Schicksale der unzähligen gescheiterten Existenzen im Zuge des Goldrausches zeigen. San Franciscos Geschichte ist auch von Anfang an eine Geschichte stets neu ausgehandelter ethnischer, sozialer und ökonomischer Hierarchien. Naturgewalten und menschengemachte Umweltschäden stellen heute mehr denn je eine Bedrohung für die menschlichen Ambitionen dar. Aber unabhängig davon, ob die »kalifornischen Träume« und »Räusche« (nach Land, Gold, LSD oder Silicium) erfolgreich waren oder sich in Dystopien verwandelten, sie hatten und haben immer wieder globale Auswirkungen.

→ ABB. 5 Hung Liu (geb. 1948), Resident Alien, 1988. Das Gemälde war Teil einer aufsehenerregenden Installation der Künstlerin, in der sie die chinesische Einwanderung nach Kalifornien thematisierte, beginnend mit dem Goldrausch bis hin zu ihren eigenen Erfahrungen als Immigrantin.

Die Ausstellung und dieses Buch widmen sich in drei großen Abschnitten den Träumen und Realitäten der Menschen in der San Francisco Bay Area in Vergangenheit und Gegenwart. Der erste Abschnitt, »Globale Träume und individuelle Hoffnungen«, erzählt von der



ABB. 6 Doug Hall (geb. 1944), Chrysopylae: Ein Videoporträt der Golden Gate Bridge und der riesigen Containerschiffe, die unter ihr auf dem Weg nach und von San Francisco passieren, 2012. Chrysopylae ist der griechische Name für »Goldenes Tor«. John C. Fremont hatte dem Eingang zur Bucht von San Francisco 1846 die Bezeichnung »Golden Gate« gegeben. Halls Arbeit entstand zum 75. Jubiläum der Brücke.

europäischen Entdeckung und Eroberung Kaliforniens seit dem 16. Jahrhundert und vom Wettstreit der Kolonialmächte (England, Spanien und Russland) und der späteren Nationalstaaten (USA und Mexiko) um Kontrolle über die scheinbar grenzenlosen Ressourcen des Landes, die für seine indigenen Bewohner erzwungene Missionierung, wirtschaftliche Ausbeutung, Verdrängung und Tod bedeuteten. Der Fund von Gold lockte ab 1849 Hunderttausende Glücksritter aber auch gewitzte Unternehmer nach Kalifornien und ließ San Francisco in Rekordzeit zur wirtschaftlichen und kulturellen Metropole heranwachsen.

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Der zweite Teil, »Überlebensträume und der amerikanische Mainstream«, beschreibt den Wiederaufbau der Stadt nach den verheerenden Zerstörungen durch das Erdbeben von 1906 und verfolgt ihre Geschichte zwischen den beiden Weltausstellungen von 1915 und 1939, in denen San Francisco sich den Weltkriegen und dazwischenliegenden Depressionsjahren zum Trotz glanzvoll in Szene setzte. Die 1937 errichtete Golden Gate Bridge wurde zum Symbol des ungebrochenen Fortschrittsglaubens und zum Wahrzeichen der Stadt. Das Schicksal von Ishi, dem »letzten Yahi«, erinnert an die Enteignung und Vertreibung der indigenen Bevölkerungen, steht aber auch sinnbildlich für ihren Überlebenswillen und ihre kulturelle Selbstbehauptung. Die Internierung von 120.000 japanischstämmigen Amerikanern während des Zweiten Weltkriegs zählt zu den weniger bekannten Kapiteln der US-Geschichte. Die revolutionären gesellschaftlichen Umwälzungen, politischen Bewegungen und technologischen Innovationen, die im 20. und 21. Jahrhundert von San Francisco ausgingen, sind Thema des dritten und letzten Abschnitts, »Gegenkulturen und virtuelle


Träume.« Der radikale Bruch der Beat-Poeten mit den gesellschaftlichen Normen der 1950er Jahre ebnete den Weg für die folgenden Jahrzehnte, in denen Studentenproteste und die Hippiebewegung globale Strahlkraft erzielten, während Afroamerikaner, indianische Aktivisten und die LGBTQ-Bewegung erfolgreich die Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe ethnischer Minderheiten und sozialer Randgruppen einforderten. Das Milliardengeschäft mit den virtuellen Träumen, das Silicon Valley zu einem neuen Einwanderungsmagneten gemacht hat, schließt den Bogen der Ausstellung. San Francisco ist auch heute eine Stadt mit großer Anziehungskraft und setzt nach wie vor progressive Impulse zum Beispiel hinsichtlich emanzipatorischer oder ökologischer Gesellschaftsfragen. Sie war und bleibt Sehnsuchtsort – für Kreative, Andersdenkende und all diejenigen, die ihre Träume von einem besseren Leben dort zu verwirklich hoffen – und bietet als »Sanctuary City« auch illegalen Migranten einen Zufluchtsort. Und dennoch ist San Francisco – wie viele andere Städte weltweit – ein Ort, dessen pluralistische Identität bis heute stetig neu verhandelt werden muss.

Wir danken all unseren Gesprächspartnern, Ideenund Leihgebern, die uns seit 2015 bei der Konzeption und Realisierung dieser Ausstellung unterstützt haben, sehr herzlich. Leider können wir hier nur einige von ihnen stellvertretend nennen: Emma Acker, Anamarie Alongi, Neil Benezra, Gina Bardi, Christian Berg, Carolyn Brucken, Susan Buchanan, Ann Burroughs, Jerry Cimino, Kathleen Correia, Ashleigh Crocker, Kristie DaFoe, Jill d’Alessandro, Jan English-Lueck, Annie Farrar, Christian Feest, Erin Garcia, Corrina Gould, Kristen Hayashi, Lutz Hieber, Max Hollein, Aliyeva Ilgama, William Issel, Alexei Istomin, Ira Jacknis, Christina Johnson, Sarah Kmosena, Julia Kupina, Kent Lightfoot, Jayne Manuel, Malcolm Margolin, Wendy Maruyama, Cheryl Maslin, Lauren Menzies, Dawn Minegar, Sebastian Nelson, Rory Padeken, Tracey Panek, Ben Porter, (die viel zu früh verstorbene) Louise Pubols, Lawrence Rinder, Matthew Robb, Beatriz Robledo, Nadia Schneider Willen, Scott Shields, Marie Silva, Ramon Silvestre, Nancy Arms Simon, Mona Suhrbier, Brandon Tachco, Wendy Teeter, Coleen Terry, Gisela Theising, Ksenia Vozdigan, Malcolm Warner, Linda Waterfield, Maggie Wetherbee, Pam Wong, Linda Yamane und Devin Zuber.

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CALIFORNIA DREAMS SAN FRANCISCO – EIN PORTRÄT

HISTORISCHER ÜBERBLICK UND KARTE Die Geschichte der Stadt San Francisco im Überblick

CA. 8000 V. CHR. Früheste archäologische Nachweise indigener Bevölkerung. Vor dem Eintreffen der Europäer leben bis zu 300.000 Menschen in bis zu 70 verschiedenen indigenen Stämmen in Kalifornien. Damit war Kalifornien eine der kulturell und linguistisch vielfältigsten Regionen der Welt 1542 Der spanische Kapitän Juan Rodríguez Cabrillo erkundet die kalifornische Küste, entdeckt jedoch noch nicht die Bucht von San Francisco 1565 Spanische Händler landen zufällig mit Manila- Galeonen in Kalifornien, an Bord befinden sich auch Filipinos 1579 Francis Drake landet mit der Golden Hind in Kalifornien und beansprucht einen Teil der Küste für England 1602 Sebastián Vizcaíno erforscht und kartiert die kalifornische Küste für Spanien 1776 Das Presidio von San Francisco wird als nördlichster Militärstützpunkt des Vizekönigreichs Neuspanien errichtet. Unter der Leitung des Franziskaners Junípero Serra entsteht zudem die Mission San Francisco de Asís (Mission Dolores) als sechste von insgesamt 21 zwischen 1769 und 1823 gegründeten Missionsstationen entlang des Camino Real 1812 Die russische Siedlung Ross entsteht in Nordkalifornien

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1821 Kalifornien wird nach der Unabhängigkeit Mexikos von Spanien mexikanische Provinz 1846 Beginn des MexikanischAmerikanischen Kriegs 1847 Der noch zu Mexiko zählende Ort Yerba Buena – die Keimzelle der heutigen Downtown – wird in »San Francisco« umbenannt. Einwohner: ca. 1.000 24. JANUAR 1848 Erster Goldfund durch James W. Marshall nahe einem Sägewerk von Johann August Sutter am American River, 130 km nordöstlich von San Francisco 2. FEBRUAR 1848 Gemäß des Vertrags von Guadalupe Hidalgo geht Kalifornien von Mexiko an die USA und wird 1850 zum 31. Bundesstaat 1849 Beginn des Goldrausches (bis 1854) und einer massiven Einwanderungswelle aus aller Welt 1850 San Francisco hat auf dem Höhepunkt des Goldrausches bereits ca. 25.000 Einwohner 1869 Vollendung der transkontinentalen Eisenbahnlinie zwischen New York und San Francisco 1870 San Francisco wächst zur Metropole heran, Einwohner: ca. 150.000 1873 Die Kabelstraßenbahn geht in Betrieb. Levi Strauss patentiert zusammen mit Jacob Davis die erste Blue Jeans 1882 Der »Chinese Exclusion Act« (Gesetz zum Ausschluss der Chinesen) tritt in Kraft 1900 Einwohner San Franciscos: ca. 350.000, rund ein Viertel davon sind deutschsprachige

Einwanderer. In ganz Kalifornien leben gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur noch ca. 30.000 Menschen indigener Abstammung 18. APRIL 1906 Das große Erdbeben 1915 Erste Weltausstellung in San Francisco, die »Panama-Pacific International Exposition«, anlässlich der Fertigstellung des Panamakanals 28. MAI 1937 Eröffnung der Golden Gate Bridge 1942 Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor. Deportierung aller japanischstämmigen Amerikaner in Internierungslager 1953 Der City Lights Bookstore eröffnet und wird zu einem Zentrum der Beat-Generation 1966 Gründung der Black Panther Party in Oakland 1967 Human Be-Ins im Golden Gate Park eröffnen den »Summer of Love« 1969 Besetzung der ehemaligen Gefängnisinsel Alcatraz durch indianische Aktivisten 1972 Erste San Francisco PrideParade der LGBTQ-Bewegung 1976 Der »Apple I« Personal Computer geht in den Verkauf. Die Region zwischen Palo Alto und San José südlich von San Francisco wird bald als Silicon Valley bekannt 27. NOVEMBER 1978 Attentat auf Harvey Milk, den ersten offen schwulen Stadtrat im Stadtparlament San Franciscos 1989 San Francisco wird eine »Stadt der Zuflucht« (Sanctuary City) für illegale Immigranten 2018 San Francisco hat über 880.000 Einwohner. In der gesamten Region der Bay Area leben in naher Zukunft acht Millionen Menschen


OREGON

Berkeley

San Francisco

Oakland

SAN FRANCISCO BAY AREA Palo Alto

y lle Va on lic Si

San José

Fort Ross

Sacramento Coloma

San Francisco San José

NEVADA

Monterey

KALIFORNIEN

Santa Barbara Los Angeles

Pazifik

ABB. 7 Karte Kaliforniens mit einem vergrößerten Ausschnitt der San Francisco Bay Area. Mit San Francisco, San José, Monterey (Carmel), Santa Barbara, Los Angeles (San Gabriel) und San Diego sind entlang der Pazifikküste sechs der insgesamt 21 spanischen Missionsstationen des Camino Real eingezeichnet, die zwischen 1769 und 1823 gegründet wurden. Fort Ross markiert die ehemalige russische Kolonie des frühen 19. Jahrhunderts. Mit Coloma ist der Ort des ersten Goldfundes von 1848 gekennzeichnet. Im Ausschnitt ist neben den Großstädten der Bay Area auch die Region des heutigen Silicon Valley hervorgehoben.

San Diego

M E X I KO

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→ ABB. 8 Gabriel Harrison (1818 – 1902), Neuigkeiten aus Kalifornien, um 1850.



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GLOBALE TRÄUME UND INDIVIDUELLE HOFFNUNGEN 22


K W

alifornien – ein klimatisch besonders begünstigter Ort – war die Heimat von über 70 indigenen Völkern, die als Fischer, Jäger und Sammler von den reichen natürlichen Ressourcen des Landes lebten. Im Zuge der europäischen Entdeckungsreisen des 16. Jahrhunderts wurde nach ersten Landungen das Territorium nominell sowohl für die spanische wie auch die englische Krone beansprucht. Die oft in Nebel getauchte Bucht des heutigen San Francisco wurde allerdings erst im 18. Jahrhundert entdeckt. Die 1776 unter der Herrschaft des Vizekönigreichs Neuspanien gegründete Mission San Francisco de Asís, der zu ihrem Schutz eingerichtete militärische Stützpunkt (Presidio) sowie der kleine Hafenort Yerba Buena bildeten die Keimzelle des heutigen San Francisco. Weiter nördlich an der Pazifikküste errichteten 1812 russische Pelzhändler die Kolonie Ross als den südlichsten Außenposten ihrer Besitzungen in Nordamerika. Der Mexikanische Unabhängigkeitskrieg setzte 1821 der spanischen Kolonialherrschaft ein Ende und machte Kalifornien zur mexikanischen Provinz, bis es 1848 nach dem Sieg der USA im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg – nur wenige Tage nach dem ersten Goldfund – den Vereinigten Staaten zufiel. Für die indigenen Bewohner Kaliforniens bedeuteten diese kolonial- und nationalstaatlichen Machtkämpfe erzwungene Missionierung, wirtschaftliche Ausbeutung, den Verlust ihrer Landbasis und Tod durch eingeschleppte Krankheiten und willkürliche Verfolgung. Waren es bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich imperiale Visionen, die Kaliforniens Geschicke zu lenken versuchten, so lockte der Goldrausch ab 1849 weltweite Migrationsströme ungeahnten Ausmaßes an das Golden Gate. Hunderttausende Menschen kamen auf der Suche nach einem besseren Leben, nach Gold und Reichtum oder neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten ins Land, und San Francisco wuchs in Rekordzeit zu einer Metropole heran. Einwanderer aus Europa und Asien prägten das Bild der Stadt, deren kulturelle Vielfalt allerdings nicht über die ethnischen und sozialen Hierarchien hinwegtäuschen darf, die von Anfang an herrschten. Bereits in den 1850er Jahren befanden sich 80 Prozent des Sach- und Grundbesitzes in San Francisco in der Hand von weniger als fünf Prozent seiner weißen Bevölkerung.

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GLOBALE TRÄUME UND INDIVIDUELLE HOFFNUNGEN

DIE SPANISCHEN MISSIONEN : KOLONISIERUNG IM NAMEN DER RELIGION Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bestanden die Gebietsansprüche des Königreichs Neuspanien an der Westküste Nordamerikas nur auf dem Papier. Erst die Nachrichten über das Vordringen der Russen von Sibirien nach Alaska veranlassten die Spanier zur tatsächlichen Besitzergreifung, in deren Rahmen dem Werk der Bekehrung der indigenen Völker eine zentrale Bedeutung zukam. Anders als etwa in Zentralmexiko, wo es lediglich darum ging, bei bäuerlichen Bevölkerungen, die über weite Gebiete dieselbe Sprache sprachen, das »Heidentum« durch die christliche Lehre zu ersetzen, mussten die in

SYLVIA S. KASPRYCKI

Kleinstgruppen lebenden indigenen Jäger, Sammler und Fischer der Pazifikküste – Angehörige unterschiedlicher Sprachfamilien – zuallererst in sesshafte Gemeinschaften umgewandelt werden. Grundlage für die von den Jesuiten auf der Halbinsel Niederkalifornien begonnene und nach deren Vertreibung im Jahr 1767 von den Franziskanern fortgesetzte Missionierung war die »Reduktion«, die Verpflanzung der verstreut lebenden Indianer als Neophyten in eine Missionsstation, wo sie unter militärischer Kontrolle und mit physischer Gewalt umerzogen werden sollten und auf den Feldern der Mission Zwangsarbeit zu leisten hatten. Neben den Stationen befand sich üblicherweise ein Militärposten zur Sicherung der Mission und der staatlichen Souveränität, der in seiner Versorgung weitgehend von der Mission abhängig war. Unter der Leitung von Pater Junípero Serra, der 2015 von Papst Franziskus heiliggesprochen wurde, errichteten die Franziskaner ab 1769 von San Diego ausgehend


entlang des Camino Real 21 Missionen auf dem Gebiet des heutigen Kalifornien. San Francisco de Asís (Mission Dolores) entstand im Jahr 1776 als sechste Station neben einer größeren Garnison (Presidio). Als sich der deutsche Naturforscher und Dichter Adelbert von Chamisso im Oktober 1816 in San Francisco aufhielt, fand er die Mission in einem »beklagenswerten« Zustand vor. »Die fromme Absicht … der Bekehrung der heidnischen Völker« sei »zweckwidrig

begonnen und schlecht vollführt« worden. »Die Verachtung, die die Missionare gegen die Völker hegen, an die sie gesandt sind, scheint uns bei ihrem frommen Geschäft ein unglücklicher Umstand zu sein.« Die Zöglinge stammten aus oft traditionell verfeindeten Völkern unterschiedlicher Sprachzugehörigkeit. Ihre Bekehrung erfolgte über Dolmetscher, ihre Unterrichtung bestand aus Auswendiglernen und vermittelte keine Bildung. Aus ihrem Umerziehungslager blickten die getauften

← ABB. 9 Oriana Weatherbee Day (1838 – 1886), Mission San Francisco de Asís, 1877 – 1884. Oriana Weatherbee Days romantisierender Blick auf das geschäftige Treiben rund um die Mission Dolores entstand zu einer Zeit, als die Stadtgrenze von San Francisco bereits an die ursprünglich weit außerhalb liegende Mission herangerückt war. Ihre Rolle als wirtschaftliches Zentrum mit ausgedehnten Ländereien, Viehherden und Handwerksbetrieben hatte die Mission längst verloren. Die indigenen Bewohner, die sich ohne Eigentumsrechte in ihrer Nähe niedergelassen hatten, wurden von der Stadtentwicklung allmählich verdrängt. Mission Dolores ist das heute älteste Gebäude in San Francisco, welches das Erdbeben von 1906 weitgehend unbeschädigt überlebt hat.

ABB. 10 Louis Choris (1795 – 1828), Spiel der Einwohner von Kalifornien, 1822. Als Expeditionsmaler der russischen Weltumseglung unter Otto von Kotzebue besuchte Choris 1816 gemeinsam mit Adelbert von Chamisso die Mission San Francisco de Asís, wo sie die Indianer am Fest des Heiligen Franziskus beim Glücksspiel antrafen, das ebenso wie traditionelle Tänze und das Schwitzbad von den Missionaren toleriert wurde. Jeweils einer der Spieler warf ein Bündel von Stäbchen in die Höhe, während sein Gegenüber erraten musste, ob ihre Zahl gerade oder ungerade war. Man spielte um Muschelgeld; der Einsatz der von den Missionaren ausgegebenen Kleidung war verboten.

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ABB. 11 Federkopfschmuck aus gespaltenen Krähen- und Elsterfedern, wahrscheinlich Coast Miwok, um 1820. Die Verwendung solcher Kopfschmucke ist im frühen 19. Jahrhundert durch Bilder aus den Missionen von San José und San Francisco belegt. Bei anderen, im Landesinneren lebenden Völkern waren sie Teil der Ausrüstung von Heilern oder Darstellern übernatürlicher Wesen und fanden auch bei Trauertänzen Verwendung.

Indianer »mit vergeblicher Sehnsucht hinfort nach ihren heimatlichen Bergen zurück«; jeder Versuch zu fliehen wurde drastisch bestraft. »Die Indianer sterben in den Missionen aus, in furchtbar zunehmendem Verhältnis«, berichtet Chamisso. »St. Francisco zählt bei Tausend Indianer, die Zahl der Toten überstieg im vorigen Jahr 300.« Neben mangelnder medizinischer Versorgung, Syphilis und Masernepidemien waren dafür auch die sanitären Zustände in den vollgepferchten Baracken verantwortlich. Für jeden Toten rekrutierten die Missionare Nachschub aus immer weiter entfernten Gebieten.

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Nach der Unabhängigkeit Mexikos von Spanien wurden die Missionen 1833 säkularisiert. Ihre indigenen Bewohner blieben meist ohne eigenes Land zurück oder wurden von der rasch anwachsenden weißen Bevölkerung verdrängt. Die unter dem Missionseinfluss stark veränderten traditionellen Gemeinschaften im Umfeld von San Francisco gerieten aus dem Blickfeld des öffentlichen Interesses und wurden im Gegensatz etwa zu den Kashia Pomo der russischen Kolonie Ross, von denen nur wenige zum orthodoxen Christentum übertraten, auch später von der Bundesregierung der Vereinigten Staaten nicht als Indianer anerkannt und kämpfen bis heute um die damit verbundenen gesetzlichen Rechte. Die alten Missionsstationen zählen heute zu den ältesten erhaltenen Gebäuden Kaliforniens und stellen als wichtiger Bestandteil des Kulturerbes nicht zuletzt eine Attraktion für Touristen dar. Für die Nachkommen der ehemals dort Missionierten sind sie aber Denkmäler einer Geschichte der Enteignung und Entrechtung, deren Folgen bis heute schmerzlich spürbar sind.

ABB. 12 Halskette aus Muschelschalenperlen mit Anhängern aus Seeohrschalen, Ohlone, um 1820. Die irisierenden Schalen des Seeohrs (Haliotis oder Abalonen) waren im Küstenland von Kalifornien ein beliebtes Material zur Verzierung von Geschenkkörben, aber auch zur Herstellung von Halsketten, wie sie die Männer der Ohlone bei Tänzen trugen.


ABB. 13 Mit Federn und Meeresschneckenschalen verzierter Zeremonialkorb der Ohlone-Künstlerin Linda Yamane, 2012. Seit dreißig Jahren widmet sich die Ohlone-Künstlerin und Historikerin Linda Yamane der Erforschung und Wiederbelebung der Mythologie, Gesänge und Handwerkstechniken ihrer Vorfahren. Als Korbflechterin hat sie inzwischen Meisterschaft erlangt und gibt ihr Wissen in Workshops und Seminaren weiter. In ihrem traditionell gefertigten Korb ersetzen gefärbte Hühnerfedern die früher verwendeten roten Federn des Eichelspechts; er wird von 1.018 handgeformten Perlen aus Meeresschneckenschalen geschmückt und entstand durch insgesamt 12.310 Stiche aus 110 Weidenruten und etwa 274 Metern Flechtmaterial aus Segge.

von Versklavung und kulturellem Genozid. Die indigene Empörung fand auch in anderen Teilen der Bevölkerung Unterstützung, gleichzeitig spaltete die Propaganda des Vatikans für den ersten »hispanischen Heiligen« nicht nur indigene Traditionalisten und Katholiken, sondern schürte auch die Konkurrenz zwischen Indigenen und Latinos, deren Gemeinschaften historisch eng miteinander verbunden sind.

ABB. 14 Protest gegen die Heiligsprechung von Junípero Serra vor der Mission Dolores, San Francisco, 2. Mai 2015. Die Ankündigung der Heiligsprechung von Junípero Serra löste bei vielen Nachfahren der ehemals missionierten indigenen Bevölkerungen Entsetzen, Wut und Trauer und eine Welle von weit über Kalifornien hinausgehenden Protesten aus. Heiligsprechung für Serra, so der Tenor der am 2. Mai 2015 in San Francisco stattgefundenen Demonstration, bedeute die Sanktionierung

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