WM 2014

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WM-Magazin Nummer 131 · 70. Jahrgang

7./8./9. Juni 2014

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Brazuca

Alter des ältesten Spielers

42 Jahre

Das Muster seiner Schleifen ist vom Amazonas inspiriert. Seine Farben sollen den brasilianischen Lebensstil wiedergeben. Sein Name bedeutet so viel wie Lebensfreude, Stolz und Herzlichkeit. Brazuca heißt der Ball, mit dem in Brasilien gespielt wird. Mehr als drei Viertel der brasilianischen Fußballfans sprachen sich für Brazuca aus. Ein echter Brasilianer!

Faryd Mondragon (Kolumbien) Alter des jüngsten Spielers

18 Jahre

Fabrice Olinga (Kamerun)

Durchschnittsalter des jüngsten und ältesten Teams

24,9 Jahre 28,4 Jahre 25,8 Jahre Ghana

Argentinien

Preis pro Ball

129,95

Deutschland zum Vergleich

Euro

Laufleistung eines Spielers pro Spiel

zirka

10 Kilometer

Kalorienverbrauch pro Spiel

850 bis 1 300 kcal

Gewicht

430

Durchschnittliche Herzfrequenz pro Minute

Gramm

160 bis 170 Schläge Durchschnittliche Anzahl der Länderspiele Algerien mit den wenigsten Spielen

26,2 Spiele 60,0 Spiele 41,6 Spiele

Bosnien mit den meisten Spielen Umfang

69

Deutschland zum Vergleich

cm

Die wertvollsten Fußball-Nationalmannschaften der Welt

Marktwert bei der Fußball-WM 2014, in Millionen Euro, Stand: 13. März 2014

Spanien

Rückprall aus zwei Metern Höhe

589,0

Frankreich

447,5

Brasilien

141

440,5

Argentinien

cm

423,5

Deutschland

400,0

England

387,5

Belgien

359,5

Italien

339,0

Portugal

Druckverlust

262,0

7%

Niederlande 197,0

Zeit der Zärtlichkeit Kurz vor der Fußball-WM schon mal ein Magazin über den Zauber Brasiliens und die schönste Nebensache der Welt

Fußball ist einfach: 22 Spieler, ein Feld, zwei Tore, ein Ball. Und ein paar überschaubare Regeln, die jeder versteht. Der Rest ist Interpretation. „Einige Leute halten Fußball für einen Kampf auf Leben und Tod“, sagt Bill Shankly. „Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es weit ernster ist.“ Im Fußballspiel stecke auch Zärtlichkeit, sagt Pelé.„Man muss den Ball so mit den Füßen streicheln, dass er im Netz des Gegners landet.“ Der eine Schotte, der andere Brasilianer, zwei Fußballer, zwei Philosophien, zwei Pole, zwischen denen sich das Theater entfaltet. Ballett, Komödie, Drama, große Oper, Farce. Das Ende ist, anders als im Theater, offen, das Stück wird immer neu inszeniert. Diesmal in Brasilien, dem dieses WM-Magazin gewidmet ist. Da freuen wir uns auf Zärtlichkeit mehr als auf den Kampf auf Leben und Tod. Wir feiern mit und leiden mit, ein Paradies für Emotionen, natürlich will jeder Sieger sein. Und am Ende Weltmeister!

AF P/NEL S ON ALM EID A

GRAFIK: ANJA KÜHL REDAKTION: THOMAS LEINKAUF

IM HEFT

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Ferne Welten In Tordesillas wurde 1494 die Neue Welt zwischen Spanien und Portugal aufgeteilt SEITE 11

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SEITE 9

Heiße Rhythmen Brasiliens populäre Musik ist immer wieder identitätsstiftend – ein Überblick

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Teure Frauen Die weiblichen Exportschlager des Landes – eine aktuelle Bestsellerliste

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SEITEN 6/7

Fette Spieße Beim Grillfest kommen bis zu 15 Sorten Fleisch auf den Teller – ein Speiseführer Seite 8

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Mythischer Ort Das Maracanã in Rio und seine Siege und Tragödien – ein Stadionbesuch

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Weiblicher Ball Der Anthropologe Roberto DaMatta kennt seine Landsleute – ein Gespräch

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SEITEN 2/3

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Kämpferische Tänze Brasilien ist ein Land voller Eigenheiten und Überraschungen – ein ABC

Dicke Backen Das Klischee vom Modelkörper der Brasilianer – eine Körpervermessung SEITE 12


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Berliner Zeitung · Nummer 131 · 7./8./9. Juni 2014

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WM-Magazin

R A C S D I E F L G Brasilien von A-Z

REAL. Bunte Banknoten mit exotischen Pflanzen und Tieren. Seit 1994 Brasiliens Währung. Schon die ersten portugiesischen Siedler verwendeten den portugiesischen Real als Zahlungsmittel. Das erste offizielle Geld mit dem Namen Real wurde jedoch 1654 von den Holländern eingeführt und gedruckt, während der Besetzung des Nordostens Brasiliens. 1790 wurde der Real offizielle brasilianische Währung. Sechs Mal wurde zwischen 1942 und 1994 die durch die Inflation abgewertete Währung durch eine höherwertige ersetzt. Seither sank die Inflation von monatlich 50 Prozent auf unter zwei Prozent im Jahresdurchschnitt. Momentan liegt sie bei etwa sechs Prozent.

BRASIL. Kein Zufall, dass ein Baum dem Land seinen Namen gab. Portugiesisch heißt er Pau-brasil. Brasa bedeutet „Glut“, das Adjektiv brasil„glutartig“. Das bezieht sich auf die Farbe des Holzes, das, wenn geschnitten, rot leuchtet und in Europa zum Färben von Stoffen benutzt wurde. Diese heute vom Aussterben bedrohte Baumart war zur Zeit der frühen Kolonisation in den Wäldern der Atlantikküste weit verbreitet. In den ersten dreißig Jahren der portugiesischen Kolonisation (1503–1533) war Brasilholz das einzige Produkt, das sowohl von der Kolonialmacht als auch von den Franzosen aus der Normandie genutzt wurde. Aufgrund der großen ökonomischen Bedeutung der Ressource wurde die Kolonie bald Terra do Brasil genannt und lieferte so dem Land den heutigen Namen. Pau-brasil ist seit 1978 der Nationalbaum des Landes und steht unter Naturschutz. Heute werden aus Brasilholz vor allem Bögen für Violinen hergestellt.

AMAZONAS. Führt so viel Wasser wie kein anderer Fluss. Der Name könnte auf das indianische Wort Amassona für Schiffszerstörer zurückgehen, mit dem die Indianer die im Unterlauf des Amazonas auftretenden Gezeitenwellen bezeichneten. In Brasilien meist mehrere Kilometer breit. Etwa 300 Kilometer südlich des Äquators durchquert er das im Westen von den Anden umrahmte, von tropischem Regenwald geprägte Amazonasbecken ostwärts bis zum Atlantik. Zwei Hauptarme durchströmen den 200 Kilometer breiten Mündungsbereich. Gibt Provinzen in Brasilien, Venezuela, Kolumbien, Ecuador und Peru den Namen.

SCOLARI. Seit 2012 Brasiliens Nationaltrainer, nach seinem Vornamen auch Felipão (Großer Felipe) genannt. Der Sohn einer aus Venedig stammenden italienischen Einwandererfamilie führte die Mannschaft schon einmal zum WM-Titel, 2002, als Brasilien in Yokohama mit zwei Toren von Ronaldo 2:0 gegen Deutschland gewann. Es war das erste Aufeinandertreffen der beiden Mannschaften in einem Endspiel. Trainierte später auch Portugal, aber da lief es gegen die Deutschen weniger gut. Der 65-Jährige wirkt ruhig und siegesgewiss. Im Confederations Cup vergangenes Jahr hat er immerhin Weltmeister Spanien mit 3:0 bezwungen.

CAPOEIRA. Es wird nicht nur Samba in Brasilien getanzt. Der Kampftanz Capoeira wurde schon während der Kolonialzeit von aus Afrika eingeschifften Sklaven praktiziert und dann weiterentwickelt. Seit den 1970er-Jahren entwickelten sich viele der heute charakteristischen Akrobatiken, wie hohe, gedrehte Sprünge oder Salti. Die Kampftechniken zeichnen sich durch extreme Flexibilität aus; es gibt viele Drehtritte, eingesprungene Tritte und Akrobatik. Dazu wird Musik gespielt, und es werden alte Sklavenlieder gesungen. Die Kämpfe finden in einer Roda (Kreis) von Capoeiristas und den Musikern statt. Immer zwei Capoeiristas kämpfen miteinander.

DERROTA NA FINAL. Finalniederlage, die Katastrophe schlechthin für einen Brasilianer. 1950 passierte sie Brasilien im eigenen Land, gegen Uruquay, das ganze Land erlitt ein nationales Trauma, von dem es sich nur langsam wieder erholte. In Brasilien sei es nichts wert, Zweiter zu werden, meinte später der Fußballer Zizinho aus der 1950er-Mannschaft, da scheide man besser auf dem Weg ins Endspiel aus. Seither passierte Brasilien nur noch eine Finalniederlage, 1998, als die Seleção in Frankreich 3:0 gegen den Gastgeber verlor. Insgesamt gab es fünf siegreiche Endspiele, Brasilien ist damit Rekordweltmeister, doch die Derrota na Final von 1950 gegen Uruquay bleibt unvergessen.

EDSON ARANTES DO NASCIMENTO. Bekannter als Pelé. Die Brasilianer geben ihren Fußballern oft Kosenamen, wie es zu diesem kam, und was der Name bedeutet, ist bis heute nicht ganz klar. Pelé ist der berühmteste unter Brasilien Fußballhelden. Schon mit 17 Jahren gewann er einen Weltmeistertitel, danach noch zwei weitere. Pelé schoss in seiner Karriere 1 281 Tore in 1 363 Spielen (Quote: 0,94), 77 allein für die Nationalmannschaft. Die Fifa ernannte ihn zum Weltfußballer des 20. Jahrhunderts. Später brachte es der heute 73-Jährige bis zum Sportminister.

GUARANI. Größtes indigenes Volk Brasiliens. Es war einst wie ein Fluss, der langsam seinem Lauf folgte, als ein gewaltiger Fels in den Strom gestürzt wurde, heißt es. Gemeint ist die Ankunft der Invasoren in Südamerika. Heute leben Guarani in Bolivien, Paraguay, Argentinien; etwa 50 000 in Brasilien. Insgesamt gibt es im Land 225 verschiedene indigene Völker, die 180 Sprachen sprechen.

ILHA DE MARAJO. Eine Insel, so groß wie die Schweiz. Liegt im Mündungsbereich des Amazonas im Norden des Landes. Auf ihr leben etwa 250 000 Menschen. Mitunter wird Marajó als größte Flussinsel der Erde betrachtet. Dem steht entgegen, dass die östlichen Teile der Insel auch das Meer berühren und die Insel von den Mündungsgebieten zweier Flüsse, Amazonas und Tocantins, begrenzt wird. Die Insel wird von 20 größeren Flüssen durchzogen.

FAVELA. Kein Ruhmesblatt. Die Bezeichnung für die Slums kommt von einer Kletterpflanze gleichen Namens. Ähnlich wie sie siedeln sich die Viertel in Rio De Janeiro an den Bergen an und „klettern diese hoch“. Die Behausungen bestehen anfangs aus Brettern, Blechkanistern und Palmwedeln, später bauen ihre Bewohner kleine Häuser.

J H HEXACAMPEAO. Auf die fünf folgt die sechs. Geht es nach den fußballverrückten Brasilianern, soll jetzt im eigenen Land der sechste Titel folgen. Das wäre ein neuer Rekord, auch den alten hält Brasilien. Der Hoffnungsträger heißt Neymar, Brasiliens neuer Stern am Fußballhimmel, der seit einiger Zeit an der Seite von Lionel Messi für Barcelona spielt. Die Fans sind ganz verzückt von seiner Art zu kicken.

LA LA LA. Shakiras WM-Song. Schon 2010 hatte die Pop-Ikone mit „Waka Waka“ zur WM einen Welthit gelandet. Als sie das neue Video vor ein paar Wochen vorstellte, wurde es am nächsten Tag sechs Millionen Mal geklickt. Ihr Lebensgefährte, der spanische Fußballer Gerard Piqué, spielt mit, Stars wie Kolumbiens Top-Stürmer Radamel Falcao und Argentiniens Weltfußballer Lionel Messi sind zu sehen. Der offizielle Song für die WM „We are one“ wird von Jennifer Lopez, Rapper Pitbull und der brasilianischen Sängerin Claudia Leitte gesungen.

JEITINHO. Die Kunst, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Jeitinho ist die Verniedlichungsform für Ausweg, und den gibt’s immer in Brasilien, wenn es darum geht, mit den Widrigkeiten des Alltags fertig zu werden. Das Überlisten von Bürokratie, Ämtern und Amtspersonen liegt den Brasilianern schon seit der Sklavenzeit im Blut. Damals schon haben sie es verstanden, sich mit ihrer Situation zu arrangieren und ihre Unterdrücker auszutricksen. Widerstände geschmeidig zu machen und so auf dem Spielfeld immer den richtigen Ausweg zu finden, ist zugleich brasilianische Fußballphilosophie.


WM 3

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WM-Magazin

WALD. Noch ein Superlativ: Der Amazonas-Regenwald bedeckt etwa fünf Prozent der Fläche der Erde und nahezu 40 Prozent der Fläche Südamerikas. Daneben gibt es den Atlantischen Regenwald, er erstreckt sich über eine etwa eine Million Quadratkilometer weite Fläche. Etwa 1 400 Fischarten, nahezu 520 Amphibienarten, bis zu 550 Reptilienarten, 1 000 Vogelarten und über 300 Säugetierarten des Regenwaldes sind bislang bekannt. Viele unentdeckte Arten gibt es noch, und es werden jedes Jahr sowohl neue Pflanzen- als auch Tierarten gefunden. In den letzten Jahrzehnten sind in Brasilien bereits etwa 20 Prozent der Regenwaldflächen für immer vernichtet worden. Abholzung und Brandrodung schreiten weiter rasant voran.

K N P O Q T U X Y

MANAUS. Heißester WM-Spielort. Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, umgeben von Dschungel. Wurde bekannt in den Zeiten des Kautschukbooms zwischen 1870 und 1910. Ein großes Opernhaus entstand, das bald inVergessenheit geriet und erst 1990 wiedereröffnet wurde. 30 Grad und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit sorgen für schweißtreibende Kicks.

KARNEVAL. Läuft wie beim Fußball, hinter dem Spektakel steckt System. Die Sambaschulen sind in vier Ligen aufgeteilt. Jedes Jahr steigt die mit der besten Punktzahl aus der Ersten Liga in die Grupo Especial auf. Karnevalssonntag und -montag treten jeweils sechs Sambaschulen auf. Jede dieser Escolas tanzt mit 3 000 bis 5 000 Teilnehmern an, aufgeteilt in bis zu 40 Gruppen mit fünf bis acht Festwagen, die jeweils genau 120 Minuten Zeit für ihre Parade bekommen. Für die Gewinner gibt’s Geld, aber wichtiger sind Ruhm und Ehre.

NIEMEYER. Der Architekt Brasílias. Oscar Niemeyer, geboren 1907, entwarf die Gebäude der Hauptstadt Brasiliens, die 1987 zum Weltkulturerbe ernannt wurden, und viele andere Häuser. Gilt als Wegbereiter der modernen brasilianischen Architektur. Er konzipierte mehr als 600 Gebäude. Zeit hatte er dafür genug, er wurde 104 Jahre alt. Niemeyer war lange Zeit Kommunist und blieb ein Leben lang Marxist und enger Freund Fidel Castros. Während der Militärdiktatur lebte er zeitweilig im Exil in Paris. Als er 2012 in Rio de Janeiro starb, gab es drei Tage lang Staatstrauer.

OS CANARINHOS. Die Kanarienvögel. Seit jeher heißt die Nationalmannschaft wegen der gelben Trikots so. Es gibt sogar die Fußballhymne „Voa, Canarinho, voa“ –„Flieg, Kanarienvogel, flieg“. Berühmt hat die Vögel ihr Gesang gemacht. Sie sind gesellige und friedliche Tiere.

UHRZEIT. Die Sonne geht später auf. In den WM-Spielorten sind das im Vergleich zu Deutschland fünf bis sechs Stunden. Wenn wir beim Anstoß um sechs oder neun Uhr abends den ersten Caipirinha nehmen, schwitzen die Spieler in der Mittags- oder Nachmittagssonne. Zwar ist Winter auf der Südhalbkugel, aber der Äquator nicht weit , sodass es warm wird. Dazu kommt die hohe Luftfeuchtigkeit der Tropen. Vorteil Brasilien, die Spieler sind das gewöhnt. Taktik der Europäer: Nicht um jeden Preis immer nur Tempofußball spielen.

V

PORTUGIESISCH. Spricht man in Südamerika nur in Brasilien. Portugal war Kolonialmacht von 1500 bis 1822. Das brasilianische Portugiesisch unterscheidet sich in der Aussprache und durch eine leicht abgewandelte Orthografie und Grammatik von der europäischen Variante. Portugiesisch ist alleinige Amtssprache und für mindestens 97 Prozent der Bevölkerung Muttersprache. Insgesamt werden in Brasilien 188 verschiedene Sprachen und Idiome gesprochen.

QUANTO CUSTA? Die Frage treibt viele Brasilianer um. Die Antwort: Die Fußball-WM kostet Brasilien elf Milliarden Euro. Viel zu viel, sagen sie, demonstrieren und streiken. Eigentlich geht’s dabei weniger gegen die WM, mehr gegen staatliche Misswirtschaft, verrottete Schulen und Krankenhäuser, extreme Ungleichheit, vor allem aber die Korruption. In den Jahren des Aufschwungs konnte der soziale Aufstieg vieler Millionen Brasilianer diese negativen Seiten überdecken. Doch seit 2012 wuchs die Wirtschaft kaum noch, das Geld verlor 6,5 Prozent an Wert. Der Boom ist vorbei.

EIN X- UND EIN O-BEIN. War das Geheimnis des brasilianischen Wunderstürmers Garrincha (der kleine Vogel), der Brasilien 1962 fast im Alleingang zum Titel führte. Sein Rückgrat war von Geburt an deformiert, sein linkes Bein sechs Zentimeter kürzer als das rechte, welches auf groteske Weise nach innen gedreht war. Man nannte ihn „O Anjo de Pernas Tortas“, Der Engel mit den gebrochenen Beinen. Für jeden Verteidiger unberechenbar. Soll schon mit zehn Jahren getrunken haben, um die Schmerzen zu lindern. Starb mit 49 verarmt an Leberzirrhose.

Z

GUTSCH LEO

Die Botschaft des rechten Daumens

BLZ/ANDREAS LABES

D

schränkt sich auf Hallo, Bitte, Danke, Bier, gute Nacht, Hure und lecker. Natürlich wollte ich zu Oma und Tante nicht sagen: Gute Nacht, lecker Hure! Also hielt ich die Klappe, lächelte und stellte meinen rechten Daumen hoch. Der gehobene Daumen ist die wichtigste brasilianische Kommunikationsform und bedeutet: Alles okay. Jeder Brasilianer spricht ständig mit dieser Geste. Brasilien ist ein Daumenland. Falls man keinen Daumen hat, dann sollte man nach Argentinien umziehen. Dort ist der Mittelfinger wichtiger. Ein Freund, der seit einigen Jahren in Rio de Janeiro wohnt, erzählte mir, dass er die ersten Monate praktisch nur mit dem Daumen kommunizierte. Und durch die Aneinanderreihung der Namen brasilianischer Fußballer. Kaká, Pelé, Garrincha, Ronaldinho, Roberto Carlos, Dante, Zico, Dunga, Romario, Socrates … Damit komme man in Brasilien erstaunlich weit. Trotzdem ist es leider so: Wenn man eine Sprache nicht spricht, ist der gesamte zwi-

YELLOW BOURBON. Samtigweicher, milder Kaffee mit dem Geschmack von Schokolade. Typisch für die Bohnen aus dem Land. Vier Milliarden Kaffeebäume wachsen in Brasilien, das ist Weltrekord. Etwa ein Kilogramm Rohkaffee wirft ein Baum ab. Die Standardmarken gehen in Europas Supermärkte, die Edelmarken trinken die Brasilianer selbst. Der größte Teil der rund Drei-Millionen-Tonnen-Ernte wird ohnehin im eigenen Land verbraucht.

ZUCKERHUT. Eher ein Felsen als ein Berg. Albert Einstein, John F. Kennedy, Papst Johannes Paul II. und James Bond waren auf Rios 396 Meter hohem Wahrzeichen, das man seit über 100 Jahren mit der Seilbahn erreicht. Erklettert hat ihn erstmals das englische Kindermädchen Henrietta Carstairs, das war 1817. Die Aussicht von dort oben, unter anderem auf die Copacabana, soll umwerfend sein.

VIDA. Das Leben! Es kann schön sein oder trist, arm oder reich, anstrengend oder leicht – ein Brasilianer versucht, noch jeder Situation etwas abzugewinnen und dem Leben ein Schnippchen zu schlagen. Samba, Karneval und Sex stehen für Lebenslust, aber Vorsicht vor Klischees, das Leben hat auch andere Seiten! Die Schere zwischen arm und reich ist riesig, die Kriminalität hoch. Und 80 Prozent der Männer, die nicht geschäftlich in Brasilien sind, sollen laut Polizei klare sexuelle Absichten haben. Die Zuhälter stellen sich wie überall auf der Welt darauf ein, Prostitution ist gerade in den Metropolen weit verbreitet. Und die WM verheißt ein gutes Geschäft.

ie Frau, die ich mag, kommt aus Brasilien. Ihre Familie dort ist sehr groß. Immer, wenn ich denke, jetzt habe ich endlich alle Namen drauf, tauchen zwanzig neue Großonkel, Vetter oder HalbCousins auf. Es ist unmöglich, den Überblick zu behalten. Manchmal glaube ich, Brasilien besteht zur Hälfte nur aus der Familie meiner Frau. Im April flogen wir nach São Paulo, damit ich die Familie auch mal persönlich kennenlerne. Also den allerengsten Kreis. Wir hatten nur vier Wochen Zeit. Am Flughafen empfingen uns zwei freundliche alte Damen. Die Oma und die Tante meiner Frau. Sie sprachen Portugiesisch und waren etwas enttäuscht, als sie merkten, dass ich kein Portugiesisch sprach. Zuerst sprachen sie noch laut und langsam mit mir, vielleicht dachten sie, es sei ein akustisches Problem. Wir fuhren im Auto in die Innenstadt, und sie brüllten mich freundlich an, so wie man einen liebenswerten Dorftrottel anbrüllt. Gern hätte ich irgendwas geantwortet, aber mein portugiesischer Wortschatz be-

TUKAN. Majestätisch schön wie das Land. Der Riesentukan ist 60 Zentimeter lang, der Schnabel über 20 Zentimeter. Das Gefieder ist schwarz mit metallischem Schimmer, die Kehle ist weiß, der Schnabel gelb mit dunkler Spitze. Tukane sind Baumvögel, die nur selten auf den Boden kommen. Sie ernähren sich von Kleintieren, Eiern anderer Vögel und hauptsächlich von Früchten. Wo der Regenwald gefällt wird, sterben die Tukane aus.

schenmenschliche Austausch nur eine Folge von Vermutungen. Waren Oma und Tante also wirklich so wahnsinnig freundlich? Oder lächelten sie nur, während sie mir auf Portugiesisch sagten:„Dorftrottel, du gehst uns auf die Nerven mit deinem Daumen! Mein Gott, du bist wirklich strunzblöd, selbst ein Straßenhund spricht besser Portugiesisch.“ Ich bemühte mich, jeden Tag ein paar Wörter aufzuschnappen. Zum Beispiel „gostoso“. Das bedeutet „lecker“. Meine Sprachsituation verbesserte sich aber nur unwesentlich. Das Essen kam auf den Tisch, ich rief euphorisch: gostoso, gostoso!, selbst wenn jemand nur Leitungswasser eingoss. Anschließend unterhielten sich alle, und ich saß stumm daneben wie ein Geist. Manchmal strichen mir Oma und Tante zärtlich über den Kopf, so als wollten sie prüfen, ob ich noch da bin. Einmal kam auch einer der unzähligen Großonkel vorbei. Er umarmte mich herzlich wie einen alten Freund und fragte auf Englisch: Do you speak English? Und ich sagte, taumelnd vor Freude und Erlösung:

Zusammengestellt von Thomas Leinkauf, Zeichnungen von Steffi Reeg

Yes, I do! Und der Großonkel antwortete: Okay, I don’t. Sorry. Später fragte er meine Frau verwundert: Er spricht kein Portugiesisch? Und sie antwortete: Tja, Jochen ist Deutscher. Und der Großonkel sagte, noch immer verwundert: Kein Portugiesisch? Aber er ist doch mit dir verheiratet! Anscheinend gibt es in Brasilien die Vorstellung, dass sich eine Sprache durch Heirat automatisch auf den Partner überträgt. Oder durch regelmäßigen Sexualkontakt. Ähnlich wie Filzläuse übertragen werden können. Oder Herpes genitalis. Und ich finde diesen Gedanken sehr charmant. Mein Gott, wenn das möglich wäre, ich würde sogar Laotisch lernen oder einen fast ausgestorbenen Stammesdialekt, der nur noch von Anthropologen und einigen Kannibalen gesprochen wird. Letztlich hat mir dasWort„Caipirinha“ in Brasilien am meisten geholfen. Oma und Tante mixten wunderbare Caipirinhas. Vermutlich dachten sie: Die einzige Freude, die der arme Dorftrottel noch hat, ist Alkohol mit Zitrusfrüchten.


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WM-Magazin

Ball

Bei uns ist der

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om Fernsehen mag er sich nicht gerne interviewen lassen: „Deren Teams passen gar nicht in mein Büro“, sagt Roberto DaMatta zur Begrüßung. Das Dienstzimmer des Anthropologen an der renommierten Katholischen Universität von Rio de Janeiro ist tatsächlich winzig und obendrein fensterlos. Der 77-jährige Emeritus und Fußball-Enthusiast ist ein wunderbarer Redner, der seine Thesen und Theorien mit Anekdoten illustriert.

weiblich

Brasilien und Fußball, das ist eine ganz besondere Beziehung. Und wohl niemand kann sie besser beschreiben als der Anthropologe Roberto DaMatta

INTERVIEW: WOLFGANG KUNATH

Als das Maracanã-Stadion 1963 renoviert und das alte Tor ausgemustert wurde, nahm sich der frühere Torwart Moacir Barbosa die Torpfosten und verfeuerte sie auf seinem Grill. Später erzählte er, er habe sich vorgestellt, das gebratene Fleisch sei das Bein von Alcides Ghiggia – jenes uruguayischen Spielers, der bei derWM 1950 den Ball schoss, den Barbosa nicht gehalten hat. Wegen dieses Tores wurde Brasilien nicht Weltmeister. Sie sind Anthropologe – wie erklären Sie diesen Akt symbolischer Menschenfresserei? Ich hatte in den Achtzigern ein RadioProgramm zum Thema Fußball, da hat mir Barbosa das selber erzählt. Er hat noch ordentlich Whisky dazu getrunken – seine Art, dieses fatale Tor, sein Versagen, seine Schuld zu sublimieren … Es war eine nationale Tragödie damals. Vielleicht die größte nationale Tragödie Brasiliens überhaupt. Übrigens hieß das Tor, in dem Barbosa damals stand, noch bis vor zehn, zwanzig Jahren „Ghiggia-Tor“, so nannten es die Radioreporter, es war, glaube ich, das rechte von der Pressetribüne aus gesehen. Warum war 1950 so eine Tragödie? Fußball war das erste importierte Stück Alltagskultur, das Brasilien nicht nur übernahm, sondern perfektionierte. Es kam aus den Ländern, die man damals „zivilisiert“ nannte, aus unserem großen Vorbild Europa. Heute hätten solche Importe nicht mehr die gleiche Bedeutung , da sich die Niveaus der Länder, bei allen Differenzen, mehr angeglichen haben. Aber 1950 waren 80 Prozent der Brasilianer Analphabeten, die Kommunikation war miserabel, die Industrialisierung stand ganz am Anfang. Fußball und allgemein Sport, das war ein außerordentlich starkes Element der Modernität. Es war die englische Elite, die Fußball zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Brasilien gebracht hatte, wir haben uns ihn angeeignet, es darin zur Meisterschaft gebracht – und dann verliert unsere Mannschaft im Endspiel, elf Minuten vor Schluss, durch jenes Tor von Ghiggia! Brasilien hatte doch vorher 4:0 gegen Mexiko, 7:1 gegen Schweden, 6:1 gegen Spanien gewonnen. Eben. Brasilien hatte sich längst ein riesiges Prestige als Fußball-Nation erworben. Gehen wir mal von 1950 ein halbes Jahrhundert zurück:Wenn eine Kultur ein neues Element aufnimmt – das war in Brasilien mit dem Fußball nicht anders als bei einem Indianerstamm, der plötzlich ein Radio hat – dann wird dieses Neue angepasst, und dabei entsteht eine neue Dynamik. Der Fußball verließ also schnell die elitären Zirkel, der Amateursport professionalisierte sich, plötzlich gab es schwarze Spieler, wobei die Frage aufkam, ob man die zu den Tanzvergnügen der sozial elitären Clubs zulassen sollte, für die sie spielten … Solche Spannungen müssen doch eher ein Hindernis für den Erfolg gewesen sein. Ja, aber das war 1950 überwunden. Bei der ersten Weltmeisterschaft 1930 in Uruguay hatte Brasilien schlecht abgeschnitten, aber danach eigneten sich die Brasilianer Fußball-Technologie an, zum Beispiel Trainings-Techniken, und hinzu kam eine eigene Kreativität. Schon bei der WM 1938 waren die Brasilianer eine Sensation, weil sie ganz neue Spielformen erfunden hatten. Jedes Land, jede Kultur bildet ja eigene Körpertechniken aus, und wenn die Erfolg haben, tut das dem Selbstbewusstsein gut. Insofern zerstört der Fußball die klassischen Theorien vom Kulturimperialismus.

Warum hat sich Brasilien diesen ImportSport so schnell angeeignet? Vermutlich, weil zum Fußballspielen so viele Leute nötig sind. Beim Tennis genügen zwei, insofern kann das ein Elitesport bleiben. Ich denke mir, diese jungen Burschen aus der Oberschicht kamen in ihre Clubs, und wenn dann Spieler gefehlt haben, haben sie irgendjemanden aufgefordert, mal mitzuspielen, was weiß ich, vielleicht jemanden vom Reinigungspersonal. Wenn Sie ein Turnier veranstalten wollen, brauchen Sie mindestens drei Mannschaften. Also schon eine kleine Menschenmenge. Aber spielen muss man doch auch können, da kann man doch nicht einfach jemanden dazurufen. Fußball ist sowieso eine Technik, die schwer zu beherrschen ist, weil er eben mit dem Fuß gespielt wird. Insofern ist er sozial offener. Fußball hat ein athletisches und ein technisches Element, aber vor allem ist er außerordentlich unvorhersehbar, und genau deshalb ist er ein universaler Sport geworden. Lassen Sie den Weltbesten im Tennis gegen den Zehnten in der Rangliste spielen – der Champion gewinnt, kein Zweifel. Bei Sportarten, die mit der Hand ausgeübt werden, haben Sie eine viel höhere Präzision und Vorhersehbarkeit des Ausgangs. Aber warum spielen dann ausgerechnet die Brasilianer so gut? Im 19. Jahrhundert war ein Drittel der Bevölkerung von Rio de Janeiro schwarz. Das waren Sklaven, deren Kampfsportart Capoeira war, und dieser Kampftanz wird mit dem Füßen ausgeübt. Vielleicht liegt es an dieser speziellen Körperlichkeit, dass Fußball den sozialen Aufstieg schwarzer Underdogs ermöglicht, die dann Starspieler werden. Das begann in den Dreißigern, und das fällt bis heute auf. Brasilien war die einzige Nationalmannschaft, die 1958 in Schweden mit schwarzen Spielern antrat. Eine wunderbare Erfahrung. Und wenn Sie die Nationalmannschaft der Franzosen, die wie die Deutschen rassistisch sind oder noch rassistischer, von 1958 mit der von heute vergleichen – fantastisch!

Fußball war das erste importierte Stück Alltagskultur, das Brasilien nicht nur übernahm, sondern perfektionierte.

Bei einer Weltmeisterschaft wird der Kampf um das beste Spektakel noch ergänzt von den unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen, die das Spiel in den verschiedenen Ländern erfahren hat. Wunderbar!

Was ist Ursache, und was ist Wirkung? Gibt es mehr schwarze Spieler, weil die Welt besser geworden ist? Oder hat der Rassismus im Sport abgenommen, weil die Schwarzen besser spielen? Das Entscheidende ist das Talent. Als Besitzer eines Vereins können Sie es sich nicht leisten, einen Spieler aufs Feld zu stellen, der schlecht spielt, das gehört zur kapitalistischen Logik des Verhältnisses von Mittel und Zweck. Es ist ja kurios hier in Brasilien, aber woanders ist es auch nicht viel anders: Wenn eine Mannschaft dreimal hintereinander verliert, wird gleich der Trainer gefeuert oder die Mannschaft umgebaut. Was zählt, ist der Erfolg, das andere tritt in den Hintergrund. Das kann man übrigens auch sehr schön an der US-amerikanischen Musik sehen – die meisten großen Musiker waren schwarz: Louis Armstrong, Duke Ellington, Nat King Cole, Billie Holiday … Ist Talent ein antirassistisches Instrument? In diesen Teilen der Volkskultur zählt nur Talent, nicht Name, Herkunft, Familie, die Uni, auf der Sie waren. Und das wird beim Fußball in absoluter Transparenz vor aller Augen vorgeführt. Hitler ist bei den Olympischen Spielen 1936 aufgestanden und weggegangen, weil ein Schwarzer gesiegt und den Mythos des Ariertums zerstört hat! Insofern ist die Welt wirklich besser geworden. Talent zählt natürlich auch anderswo, aber im Fußball kann es besonders schnell zum Erfolg führen, da wird man in ein paar Monaten ein Star. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, hat der frühere deutsche Nationaltrainer Sepp Herberger gesagt. Was ist das für ein merkwürdiges Perpetuum mobile des ewigen Siegens und Verlierens? Das erste Element ist natürlich der Ball. Ein rundes Objekt, das sich unvorhersehbar

bewegt, von hohem Symbolismus, weil es mit der Weltkugel in ihrer Universalität und Unendlichkeit zu vergleichen ist. Der perfekte dreidimensionale Kreis. Dann haben wir die grundlegende Trennung zwischen den beiden Mannschaften ebenso wie die zwischen Verteidigung und Angriff, also den Wettkampf. Das ist ja eine Polarität, die der westlichen, jüdisch-christlichen Kultur zutiefst eingeschrieben ist. Aber nach dem Spiel tauschen die Spieler ihre Trikots. Die Feindschaft ist eng begrenzt, zunächst mal geografisch, eben durch das Spielfeld. Und die jeweils anderen werden zwar als Feinde gesehen, aber nur als Gelegenheitsfeinde, weil ja nach 90 Minuten alles vorbei ist. Das spannendste Element des Fußballs stammt aus der Tradition des Liberalismus, den die Engländer ja genauso erfunden haben wie den Fußball: Es ist dieses positive Paradox, dass im Fußball nicht immer derselbe gewinnen kann. Wenn das möglich wäre, wäre es aus mit dem Fußball. Er wäre sinnlos, weil es weder ein vor dem Spiel noch ein nach dem Spiel gäbe. Und warum gibt es dieses vorher und nachher? Weil sich alle an die Regeln halten. Das ist einer der wichtigsten Grundzüge aller demokratischen und liberalen Gesellschaften. Der Fußball als der Lehrmeister? Ja, doch, diese Eindeutigkeit und Klarheit und diese Unanfechtbarkeit der Regeln macht den Fußball wirklich zu einer wunderbaren Erziehungsinstanz. Man kann das Ergebnis nicht bestreiten, man kann nicht dagegen klagen und in die nächste Instanz gehen – verloren ist verloren. Und auch die zeitliche Dimension: Zweimal 45 Minuten, dann ist Schluss, dann muss der Verlierer den Verlust schlucken, er muss seine Frustration verarbeiten. Fußball ist eine Folge von wichtigen Lernprozessen, insofern spiegelt er die wichtigsten Elemente des realen Lebens wider. Bringt er das Leben ins Gleichgewicht? Ja, durch den zyklischen Charakter all dieser Meisterschaften. Und natürlich bringt er ein belebendes Element in die Lebensroutine der Massengesellschaften. Es gehört zum Eindrucksvollsten am Fußball, dass er immer die gleichen Grundvoraussetzungen hat und dennoch immer ein völlig anderes Spielspektakel auslöst. So wie Schach, wo auch nie eine Partie zweimal vorkommt. Das Verhältnis zwischen der

Struktur und dem Spielereignis führt zur Frage, was Siegen und Verlieren bedeutet. Es ist ja ein Sieg, der den Gegner nicht zerstört. Fußball ist kein Krieg – es ist ja auch kein Zufall, dass ihn ausgerechnet die Engländer erfunden haben. Europa ist der Kontinent, auf dem der Krieg erfunden wurde… Und ich ziehe es natürlich tausendmal vor, ein Fußballspiel zwischen Frankreich und Deutschland zu sehen statt einem Ersten Weltkrieg beizuwohnen. Diese Übertragung von Gegnerschaft und Rivalität in ein großes Sportspektakel ist doch eine wunderbare Sache. Die Strenge der Regeln und das Zufällige am Fußball – ist das nicht ein Widerspruch? Nicht, wenn Sie das Element des Individualismus und des Wettbewerbs mitbedenken. Die Demokratie hat doch die soziale Vorhersehbarkeit abgeschafft. Zu Zeiten der Aristokratie wurden Sie als Plebejer geboren und sie starben als Plebejer. Heute können Sie als Plebejer Steve Jobs werden. Oder Neymar. Oder Pelé, dessenVater Analphabet war. So etwas artikuliert der Fußball viel besser als Fabriken, Unternehmen oder der Markt, wo es Monopole gibt. Monopole sind undenkbar im Fußball, einfach weil jede Mannschaft mal verliert. Es gibt ja diese Verschwörungstheorien, dass Nike irgendwelche Mannschaften kauft. Völliger Unfug, denn wären sie gekauft, würden alle magischen, märchenhaften, mystischen Elemente des Fußballs zerstört. Die Fans heißen in Brasilien „torcedores“; was von „sich winden“, „sich krümmen“ kommt. Das deutet auf eine spezielle Beziehung zwischen Mannschaft und Anhängern hin. Es bezeichnet ein körperliches Verhältnis. Die ganze Spannung und Anspannung steckt in diesem Wort. Wenn das Spiel beginnt, dann liefert sich der Torcedor seiner Mannschaft mit Leib und Seele aus, nicht nur mit der Seele wie der „Fan“. Sagen Sie mal einem Flamenguista, also einem Anhänger des Vereins Flamenga, hör mal, das ist doch nur ein Spiel – in Brasilien ist es immer mehr als ein Spiel, Fußball hat magische Qualitäten. Heute vielleicht nicht mehr so sehr, denn heute exportiert Brasilien Soja, wir bauen Flugzeuge, es gibt jede Menge Autos und so weiter. Aber früher haben wir den Fußball gebraucht, um der Welt zu zeigen, dass wir die Besten sind. Wenigstens auf dem Gebiet. Das ist heute sicher ein bisschen passé, aber damals – wir hatten uns vor der Welt bewährt, wir hatten 1950 das größte Stadion der Welt gebaut!


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Berliner Zeitung · Nummer 131 · 7./8./9. Juni 2014

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Opernhäuser? Es gibt Sessel, es gibt Kellner, man kann etwas essen, einen Whisky oder ein Bier trinken, es gibt Logen, genau wie in der Oper. Fußball ist heute etwas ganz anderes als früher, als man auf Zementtreppen stand. Ist die Fifa daran schuld? Natürlich nicht. Es ist das Fernsehen, das das Fußballschauen so verändert hat. Fernsehen liefert die Details in High Definition, all diese moderne Technik … Ich habe es am eigenen Leib erfahren, ich war im Stadion und habe aufs Replay gewartet, aber in der Realität kommt es natürlich nicht. Furchtbar, wenn man dran gewöhnt ist! Und zu Hause hat man den Kommentar, der ist wichtig. Heute im Stadion zu sitzen, das ist, als würde man griechische Tempel besichtigen, und keiner würde sie einem erklären! Also bleiben viele weg, und ganz andere Schichten kommen: die Opernhaus-Besucher. Was ist das Brasilianische an der brasilianischen Art, Fußball zu spielen? Zum Beispiel der Individualismus. Wir brauchen Jahre, um ein Minimum an Zusammenspiel zu schaffen. Und in Brasilien ist der Ball weiblich – a bola. Der Ball ist eine Frau. Würde das Freud interessieren? Freud wäre fasziniert! Ich lese ihn bis heute gerne, er konnte ja wunderbar schreiben, und ich frage mich immer, was er zu unserer heutigen Zeit sagen würde – wenn er mit diesem Computer hier in meinem Büro durch diese ganzen Porno-Sites surfen könnte! Hat er etwas zu Fußball oder Sport geschrieben? Nicht, dass ich wüsste. Aber zurück zum Ball: Im Englischen ist er männlich. Ich habe lange in den USA gelebt, da sagt man „he has no balls“, im maskulinen Sinn. Bei uns

ist der Ball weiblich, und diese besondere Liebesbeziehung scheint in der brasilianischen Art des Fußballspielens auf, dieses Dribbeln … Ein guter Spieler hat den Ball um sich, der Ball fühlt sich von ihm angezogen. Und das Tor? Das ist nicht nur der Moment der Penetration, sondern schlichtweg der Orgasmus. Freud wäre hellauf begeistert, so eng wie die Beziehung zwischen Fußball und Sexus ist! Das Spiel ist wie das erste Rendezvous, es ist schwierig, es klappt nicht, das Mädel will nicht, du kannst nicht, was weiß ich, man trennt sich, und dann beginnt es von Neuem. Und wenn endlich das Tor fällt, ist es wie ein gemeinsamer Orgasmus! Eine mystische Sache, ein wunderbarer Moment der Euphorie! Sie sagen, Fußball sei ein Lehrmeister der Demokratie. Aber er ist nicht bloß das, was auf dem Rasen vor sich geht. Sondern genauso Geschäft und Korruption, Macht und Hinterzimmer-Politik. Sicher. Aber das sind Dinge, die am Ende keine große Rolle spielen. Was interessiert, ist das Spiel. Das hat seine eigene Dimension. Wie wenn man ein Bild anschaut. Wenn Sie sich in der Münchener Pinakothek einen Rubens ansehen, ist doch völlig egal, ob er korrupt oder ein Weiberheld war. Das Bild hat seinen eigenen Plan, so wie das Fußballspiel auch. Wenn angepfiffen ist, gewinnt das Spiel seine Realität, die sich ablöst von den Sponsoren, den Geschäftemachern, den Funktionären. Dieser Gedanke ist jedenfalls meine Art, den Fußball von seinen Verunreinigungen zu befreien. Sie nennen Fußball und Kunst in einem Atemzug? Henry James hat gesagt, es sei nicht die Realität, die die Kunst schafft, sondern umgekehrt: die Kunst schaffe die Realität. Sie schafft den Sinn, die Werte, die Interessen. Ohne Fußball wäre unser Leben leerer. Bei einer Weltmeisterschaft wird dieser Kampf um das beste Spektakel noch ergänzt von den unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen, die das Spiel in den verschiedenen Ländern erfahren hat. Wunderbar! Bei Ihrem Enthusiasmus nehme ich an, Sie halten nicht viel von der These, Fußball sei Opium fürs Volk. Ein ganz alter Hut. Das Gegenteil trifft zu. Denn niemand transformiert einen frem-

den kulturellen Einfluss, an dem er kein Interesse hat. Der Fußball stieß damals auf ein riesiges Interesse der ganzen Gesellschaft. Der Kontrast zwischen dem Fußballspiel und dem politischen Spiel in Brasilien ist gigantisch: Politiker halten sich nicht an die Regeln, sie suchen immer ein Schlupfloch, weit entfernt von der Transparenz, in der ein Fußballspiel verläuft … Aber wenn der Fußball „einem Volk in Armut und ohne soziale Sichtbarkeit die Erfahrung von Erfolg und Sieg“ verschafft, wie Sie geschrieben haben – hat das nicht etwas von Droge? Sicherlich.

ACAD EM IA BRAS IL EIRA D E C I ENC I A S

Wenn wir schon bei Stadienbauten sind … Ja, heute schämt man sich ein bisschen als Brasilianer. Das Maracanã war 1950 rechtzeitig fertig … Aber damals gab es auch die Fifa von heute nicht, und Fußball war noch nicht so eine finanzielle Weltmacht wie heute, mit dieser Unternehmensstruktur. Trotzdem sind heute viele Brasilianer maßlos enttäuscht, dass die Stadien nicht fertig sind. Und hinzu kommt natürlich, dass diese Neubauten einen ganz anderen Charakter haben. Um neue Zuschauer anzuziehen, sind sie Opernhäuser geworden.

Die Könner kommen von der Straße, hier lernen die Brasilianer traditionell Fußballspielen. Davon erzählt auch dieses Wandbild in einer Favela von Rio de Janeiro.

Roberto DaMatta … … ist Anthropologe und mit 77 Jahren immer noch einer der einflussreichsten Sozialwissenschaftler Brasiliens. … hat in Harvard promoviert, sich in jungen Jahren ethnologischen Forschungen gewidmet und sich dann den Ritualen und Festen industrieller Gesellschaften zugewandt. … versucht zu entschlüsseln, was das speziell Brasilianische ausmacht – in zahlreichen Arbeiten über den Karneval, das Glücksspiel, die Machtstrukturen des Alltags, den Gegensatz zwischen Privat und Öffentlich , und vor allem über Brasiliens Nationalleidenschaft, den Fußball. … lebt in Rio de Janeiro.

Also doch Opium fürs Volk. Das ist so eine plumpe, schwere These, deshalb gefällt sie mir nicht. Sicherlich hat der Fußball etwas von Gift, von Opium, von Ablenkung von der Realität. Aber in bestimmten Situationen, wie jetzt bei der Weltmeisterschaft, führt diese Ablenkung und Zerstreuung dazu, dass sich die Brasilianer enger verbunden fühlen mit Brasilien, und ohne diese Verbundenheit kann man Brasilien nicht verändern.Wie beim Alkohol geht es um das rechte Maß. Wenn Brasilien Weltmeister wird, sind die Brasilianer stolzer auf ihr Land, und dann verändern und verbessern sie es. Das führt Fußball über das Opium hinaus. Dann wirkt er wie Medizin. Zurzeit fehlt die Vorfreude. 52 Prozent der Brasilianer sind laut Umfragen gegen die WM. Weshalb? Das hat mit der Regierung zu tun. Wissen Sie, wie viele Menschen finanziell direkt von ihr abhängen? 70 Millionen! Wissen Sie, wie viele Posten die Präsidentin bei Amtsantritt zu besetzen hatte? Über 25 000! Dieser Bursche von der Fifa, der Generalsekretär, hat in einem Interview gesagt, Brasilien sei ein Inferno, niemand sei zuständig, jeder schiebe die Schuld am Versagen bei den Stadien jemand anderem zu. Recht hat er. Warum ist das so? Weil Politik und Verwaltung vollkommen desinteressiert sind an der brasilianischen Gesellschaft. Das Schlimmste ist die Schießwut der Polizei. Wie wollen Sie denn eine demokratische Gesellschaft aufbauen, wenn niemand Vertrauen in die Polizei hat? Die Polizei müsste von Grund auf gesäubert werden. Aber das traut sich kein Politiker zu sagen.

Außer den Stadien – welches Erbe wird die WM Brasilien hinterlassen? Diese ganzen Versprechen, dass alles besser wird, die sind doch beschämend! Hier ein Millionär, dort ein Millionär – die dieses Milliardengeschäft unter sich ausgemacht haben, stecken alle unter einer Decke. Denen fehlt jedes Interesse, etwas für die Gesellschaft zu tun, die das schließlich bezahlt! Woran liegt es, dass die siebtgrößte Wirtschaftsmacht zwölf Stadien in sieben Jahren nicht fertigkriegt? Ja – ist es nicht beeindruckend, das Niveau unserer Inkompetenz? Mag sein, aber woran liegt es? An der Geschichte. Die Republik, die 1889 das Kaiserreich ablöste, ist bis heute nur eine Neuauflage der Monarchie. Die hohen Funktionsträger, die Politiker, die Senatoren sind Barone! Mit absurd hohen Gehältern und absurd großen Privilegien. Diejenigen, die die Regierungs- und Verwaltungsstruktur leiten und bestimmen, betrachten sich als Herren, als Besitzer dieser Struktur, und nicht als ihre Diener, wie das in Demokratien sein müsste. Und dann kommt diese Bürokratie hinzu, diese portugiesische Kultur der Bescheinigungen und Beglaubigungen für alles und jedes. Das kann noch heiter werden bei den Olympischen Spielen in zwei Jahren, da konzentrieren sich die ganzen Probleme in einer einzigen Stadt, und die ganze Welt schaut hin. Ich weiß, Sie sind kein Prophet, aber… … wer wird Weltmeister? Das wäre die zweite Frage. Wird es während der WM zu Protesten kommen? Ich erzähle Ihnen eine Geschichte: 1970 haben sich – ich glaube, es war in Algerien – exilierte Brasilianer zusammengesetzt, um die WM-Spiele anzuschauen, und sie hatten sich wegen der Militärregierung alle vorgenommen, nicht für Brasilien die Daumen zu halten. Aber als angepfiffen war, schrien alle für Brasilien! So kann es jetzt auch kommen. Aber wenn Brasilien gleich verliert, womöglich schon das erste Spiel, dann, denke ich, werden wir Probleme habe. Es ist nicht vorauszusehen, was passiert. Wird Brasilien Weltmeister? Ich hoffe es natürlich. Aber wir wissen es nicht. Und das ist das Faszinierende am Fußball. Das Unvorhersehbare.


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Einst war es das größte Stadion der Welt und offen für alle Brasilianer. Es erlebte große Momente und eine schmachvolle Niederlage. Heute ist es komplett erneuert, nur eine denkmalgeschütze Fassade erinnert noch an die alte Fußballwelt VON MATTI LIESKE

IMA G O

Maracanã

Brasilien seit 1930 regiert und die armen Schichten der Bevölkerung zunächst mit Sozialstaatspolitik auf seine Seite gebracht hatte, war abgetreten, und es herrschte die Illusion von mehr Demokratie und größerer politischer Freiheit. In den folgenden Jahren wurden neben der Fußball-WM große Projekte wie der Bau der neuen Hauptstadt Brasilia auf den Weg gebracht, bis der wirtschaftliche und politische Rückschlag einsetzte, der schließlich in den Sechzigerjahren in die Militärdiktatur mündete. Zu den Unterstützern dieses brutalen Regimes zählte ausgerechnet jener General Angelo Mendes de Moraes, der als Bürgermeister von Rio de Janeiro den Bau des Maracanã-Stadions maßgeblich mitgetragen hatte, und dessen Namen es bis 1963 trug, als man die Arena nach dem Journalisten Mario Filho benannte, dem Hauptinitiator des ambitionierten Projekts. De Moraes war es auch gewesen, der am 16. Juli 1950, dem Tag des entscheidenden Finalrundenspiels zwischen Brasilien und Uruguay, über die Stadionlautsprecher eine feurige Rede hielt und das Team des Gastgeberlandes als Weltmeister pries – vor dem Anpfiff der Partie wohlgemerkt. Errichtet hatte man die Arena auf dem Gelände eines ehemaligen Reitklubs – und ganz nebenbei schon seit 1946 diverse Favelas der Gegend dafür planiert. Zu Beginn des Jahres 1948 wurde der Grundstein gelegt, doch erst im August begannen die Bauarbeiten. Zunächst arbeiteten 1 500 Leute auf der Baustelle, später 5 000, am Ende waren es 10 000, unterstützt von Soldaten der nationalen Armee. 500 000 Säcke Zement, 50 000 Kubikmeter Sand, drei Millionen Ziegelsteine, 195 000 Nägel und 12 000 Tonnen Stahl wurden verbaut. Als die Arena, die der damalige Fifa-Präsident Jules Rimet mit dem Kolosseum verglich, schließlich fertig war, beherbergte sie nicht nur offiziell 183 354 Zuschauerplätze, sondern auch 56 Bars, 90 Zigarettenkioske, 45 Bonbonstände und 98 Toiletten. Nicht genug Toiletten, wie sich herausstellen sollte.

Das neue Maracanã 2013 unter Flutlicht.

I MAGO/ K I C K E R / ME TE LMAN N

Der Mythos des

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ls am 24. Juni 1950 die FußballMannschaften von Brasilien und Mexiko zum Eröffnungsspiel der Weltmeisterschaft auf den Rasen des Maracanã liefen, war das gigantische Stadion im Prinzip immer noch eine Baustelle. Vieles an der Infrastruktur der Arena in Rio de Janeiro war noch unfertig, die 160 000 Zuschauer mussten sich den Weg zu ihren Plätzen über Bauschutt und an Gerüsten sowie Zementsäcken vorbei bahnen. Kaum auszudenken, was in heutiger Zeit bei derartigen Verzögerungen schon im Vorfeld für eine Aufregung geherrscht hätte. Doch damals hatte die Welt andere Sorgen als den reibungslosen Ablauf eines Fußballturniers. Man war froh, zwölf Jahre nach der Weltmeisterschaft von 1938 in Frankreich und fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überhaupt wieder eine WM veranstalten zu können. Es konnte schließlich gespielt werden, das allein zählte, und als Brasilien gegen Mexiko 4:0 gewonnen hatte, waren alle Zweifel, die es im Land des Gastgebers vielleicht gegeben hatte, endgültig verflogen – natürlich auch die am Titelgewinn der Seleção. Das Maracanã, jenes riesige, für 200 000 Menschen konzipierte Stadion war das Herzstück der wegen der Weltlage ziemlich konkurrenzlosen brasilianischen Bewerbung gewesen, und es sollte Zeugnis ablegen von der Größe und der Bedeutung, die Brasilien nach eigener Einschätzung erlangt hatte, und von der allgegenwärtigen Aufbruchsstimmung. So ähnlich hatte sich die brasilianische Regierung mit dem damaligen Präsidenten Lula an der Spitze die Sache eigentlich auch gedacht, als man sich für das WM-Turnier 2014 bewarb. Die Parallelen zwischen damals und heute sind augenfällig. Auch 1950 hatte Brasilien einen wirtschaftlichen Boom erlebt, begünstigt durch den Krieg in Europa, der die Konjunktur in den südamerikanischen Ländern ankurbelte, höhere Preise für Rohstoffe und Lebensmittel brachte und auch die Produktion von Fertigwaren stimulierte, die in den kriegführenden Ländern drastisch zurückgegangen war. Der ebenso populistische wie autokratische Präsident Getulio Vargas, der

Brasiliens Fußballstar Garrincha 1965 bei einem Länderspiel im alten Maracanã

Die zersetzende Wirkung des Urins zahlloser Zuschauer soll ein Grund dafür gewesen sein, dass die Arena nach einigen Jahrzehnten immer baufälliger wurde und 1992 beim Einsturz einer Barriere drei Menschen ums Leben kamen. Daraufhin wurde die Zuschauerzahl begrenzt, Tribünen mussten abgestützt werden, bis das Stadion zunächst für die Panamerikanischen Spiele 2007 renoviert wurde. Klar war jedoch, dass das einstige Weltwunder, was Sicherheit, Komfort, Größe und Struktur betraf, längst nicht mehr den Anforderungen des zeitgenössischen Fußballs genügte. Zur WM 2014 wurde das Maracanã dann fast komplett neu gebaut, nur die denkmalgeschützte Fassade blieb erhalten. Für viele Brasilianer stellt die Verwandlung des Mythos’ Maracanã in eine funktionale, moderne und nüchterne Arena einen Frevel dar, einenVerrat an den Ideen, die 1950 der Errichtung der monströsen Arena zugrunde lagen. Doch sie spiegelt nur den Wandel des Fußballs auch in Brasilien wider. 1950 signalisierte allein schon das immense Fassungsvermögen, dass es ein Stadion für alle Brasilianer, für alle Cariocas, wie die Einwohner Rios genannt werden, für alle Bevölkerungsschichten sein sollte. Ein Symbol gelebter Demokratie, auch wenn der idealistische Mythos, dass die weitläufige Konstruktion der Arena allen Besuchern gleiche Sicht und gleichen Komfort gewähren sollte, nie der Wahrheit entsprach. Es gab Sitze, die bis zu 126 Meter vom Anstoßpunkt entfernt waren, andere, die sich auf Höhe des Spielfeldes befanden, sodass man praktisch nur die Beine der Spieler sah. Das waren die billigsten Plätze. Und es gab auch schon Logen für die Betuchten, 300 an der Zahl. Dennoch betrachteten die Brasilianer das neue Monument damals als Kultstätte eines Fußballs, der demVolk gehörte. Das neue, für umgerechnet 321 Millionen Euro umgebaute Maracanã mit seiner Kapazität von lediglich 70 000 Besuchern gilt vielen Brasilianern inzwischen als vom Weltverband Fifa aufgezwungenes Symbol der Kommerzialisierung.

Andererseits sind natürlich nicht die neuen Stadien dafür verantwortlich, dass die ärmeren Bevölkerungsschichten nicht mehr wie früher für ein paar Reales ins Stadion gehen können, dass die fröhliche Stimmung, die von den Musikkapellen und Rhythmusgruppen verbreitet wurde, das Zünden von Knallkörpern und Pyrotechnik, wie es lange Zeit Usus war, der Vergangenheit angehören. Wie auch in Europa ist der Fußball in Brasilien teuer geworden, die Eintrittspreise sind drastisch gestiegen, das war auch im alten Maracanã schon so und das Stadion selbst bei Stadtderbys wie Flamengo gegen Fluminense oft trostlos leer. Gestiegen ist vor allem auch die Gewalt, die aggressive Rivalität zwischen den Fangruppen, die Wut auch auf die Spieler, wenn ihre Leistungen nicht den Erwartungen entsprechen. Das für die WMSpiele auf Drängen der Fifa ausgesetzte Alkoholverbot in den Stadien hat Untersuchungen der Regierung zufolge die Situation verbessert, dennoch wäre ein offenes, weitläufiges, aber auch sperriges und nach heutigen Maßstäben unkomfortables Stadion wie das alte Maracanã bei aller Nostalgie nicht mehr zeitgemäß gewesen. Der Slogan, dass das Land keine Stadien brauche, sondern mehr Geld für Bildung und Gesundheitswesen, wäre 1950 zumindest in seinem ersten Teil auf breites Unverständnis gestoßen. Natürlich braucht ein Land, in dem der Fußball eine derart große Rolle spielt, angemessene Stadien, und das größte Stadion der Welt war 1950 gerade angemessen genug. Nicht zuletzt, weil es damit auch das Centenario in Montevideo, der Hauptstadt des Nachbarn und großen Rivalen Uruguay, in den Schatten stellte, wo 1930 das erste WMFinale stattgefunden hatte. Insgesamt wurden für die WM 1950 aber längst nicht so viele Arenen errichtet wie für das Turnier 2014, was schon allein daran lag, dass damals nur 13 Länder am Start waren und nicht, wie diesmal, 32 Mannschaften. Gespielt wurde in sechs statt heute zwölf Arenen, in Rio, São Paulo, Belo Horizonte, Curitiba, Porto Alegre und Recife. Komplett neu errichtet wurde neben dem Maracanã nur das

Estádio Independéncia in Belo Horizonte, das mit einer Kapazität von 25 000 Zuschauern deutlich bescheidener ausgefallen war als das Prunkstück in Rio de Janeiro. Und die Sache ließ sich gut an für Brasilien bei der Weltmeisterschaft von 1950. Nach dem Auftakterfolg über Mexiko gab es im Maracanã noch ein 2:0 gegen Jugoslawien, ein 7:1 gegen Schweden und ein 6:1 gegen Spanien, es waren Zelebrationen der brasilianischen Spielkunst. Doch ausgerechnet der lästige Nachbar Uruguay sorgte schließlich für den Schatten, der bis heute über der Arena schwebt – jenes Ereignis, das die anderen Südamerikaner boshaft „Maracanazo“ nannten, ein Begriff, der sich inzwischen als „Maracanaço“ auch in Brasilien etabliert hat. Die Seleção fühlte sich unschlagbar in dieser Arena, der kleine Lapsus eines 2:2 gegen die Schweiz in der Vorrunde hatte sich ja in São Paulo ereignet. Wie sollte ein Gegner dem Orkan, den 200 000 Zuschauer mit ihren Stimmen und ihren Blas- und Trommelorchestern entfachten, gewachsen sein. Und am 16. Juli waren sogar mehr als 200 000 Menschen im Maracanã, 173 850 zahlende, dazu rund 30 000 geladene Gäste oder Leute, die ein Schlupfloch gefunden hatten. Doch die Uruguayer, angeführt vom bärbeißigen Spielführer Obdulio Varela, zu dessen Prinzipien es gehörte, nie einem Schiedsrichter die Hand zu geben, ließen sich nicht einschüchtern. Sie gewannen nach 0:1-Rückstand mit 2:1 und wurden Weltmeister. Der Siegtorschütze Alcides Ghiggia pflegte später zu sagen, nur drei Menschen hätten das Maracanã mit einer einzigen Bewegung zum Schweigen gebracht: Frank Sinatra, der Papst und er selbst. Ghiggia war allerdings der einzige von ihnen, der den Fuß benutzte. Danach hat das Maracanã noch viele große Momente erlebt, große Spiele und große Spieler, von Pelé über Zico und Sócrates bis zu Romário, Ronaldo und Neymar. Vor einem Jahr gewann die Seleção hier mit einem 3:0 gegen Spanien den Confederations Cup. Doch nichts hat die Menschen so bewegt wie das Spiel gegen Uruguay am 16. Juli 1950. Und sollte 64 Jahre später Brasilien hier erneut um den WM-Titel spielen, wäre eines gewiss: Mag auch vom alten Maracanã nicht mehr viel übrig sein, der Schatten von 1950, der ist immer noch da.

Museum

Ein Glasturm im Inneren zeigt die Historie des Stadions.

Sonnenkollektoren

Das Dach

Gesamtkapazität 78 838 Sitzplätze

Innenring

hat 47 350 Quadratmeter. Es bietet auf allen Plätzen Schutz vor Regen, und das Regenwasser kann zur weiteren Nutzung aufgefangen werden. Membrankonstruktion aus Glasfaser und Teflon

Neue Balustrade

69

er Met

340 Rollen Rasen jeweils 1,20 Meter breit und 18 Meter lang

mit zwei Metern Höhe. Der Rasen wurde um 1,40 Meter abgesenkt, um eine bessere Sicht zu gewährleisten.

Renovierungskosten

316 Millionen Euro

Spielfeld (Naturrasen)

105 m x 68 m

22 Renovierungszeit

35 cm

6 cm Abstand zwischen den Stühlen

22 Monate

321

Die Rampe ermöglicht den Zugang zu den fünf Ebenen.

Überwachungskameras

396

44 cm

Parkplätze

14 000

Reflektoren

396

Die Stühle haben die Grundfarben Blau, Gelb und Weiß. Über das Stadion verstreut, ergeben sie ein Mosaik.

Aufzüge

17

Rolltreppen

12

Ehrentribühnen

76

Plätze für behinderte Menschen mit Begleitung

1 695

Vier neue Rampen Innenausbau

Der Servicebereich wurde mit 60 Bars, Restaurants und sanitären Anlagen erweitert.

auf Nord- und Südseite mit jeweils 8 Metern Breite ermöglichen eine schnelle Evakuierung (in nicht mehr als 8 Minuten).

G RAF IK: ISABE LL A G AL ANT Y

Toiletten


6

Berliner Zeitung · Nummer 131 · 7./8./9. Juni 2014

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WM-Magazin

Einst war es das größte Stadion der Welt und offen für alle Brasilianer. Es erlebte große Momente und eine schmachvolle Niederlage. Heute ist es komplett erneuert, nur eine denkmalgeschütze Fassade erinnert noch an die alte Fußballwelt VON MATTI LIESKE

IMA G O

Maracanã

Brasilien seit 1930 regiert und die armen Schichten der Bevölkerung zunächst mit Sozialstaatspolitik auf seine Seite gebracht hatte, war abgetreten, und es herrschte die Illusion von mehr Demokratie und größerer politischer Freiheit. In den folgenden Jahren wurden neben der Fußball-WM große Projekte wie der Bau der neuen Hauptstadt Brasilia auf den Weg gebracht, bis der wirtschaftliche und politische Rückschlag einsetzte, der schließlich in den Sechzigerjahren in die Militärdiktatur mündete. Zu den Unterstützern dieses brutalen Regimes zählte ausgerechnet jener General Angelo Mendes de Moraes, der als Bürgermeister von Rio de Janeiro den Bau des Maracanã-Stadions maßgeblich mitgetragen hatte, und dessen Namen es bis 1963 trug, als man die Arena nach dem Journalisten Mario Filho benannte, dem Hauptinitiator des ambitionierten Projekts. De Moraes war es auch gewesen, der am 16. Juli 1950, dem Tag des entscheidenden Finalrundenspiels zwischen Brasilien und Uruguay, über die Stadionlautsprecher eine feurige Rede hielt und das Team des Gastgeberlandes als Weltmeister pries – vor dem Anpfiff der Partie wohlgemerkt. Errichtet hatte man die Arena auf dem Gelände eines ehemaligen Reitklubs – und ganz nebenbei schon seit 1946 diverse Favelas der Gegend dafür planiert. Zu Beginn des Jahres 1948 wurde der Grundstein gelegt, doch erst im August begannen die Bauarbeiten. Zunächst arbeiteten 1 500 Leute auf der Baustelle, später 5 000, am Ende waren es 10 000, unterstützt von Soldaten der nationalen Armee. 500 000 Säcke Zement, 50 000 Kubikmeter Sand, drei Millionen Ziegelsteine, 195 000 Nägel und 12 000 Tonnen Stahl wurden verbaut. Als die Arena, die der damalige Fifa-Präsident Jules Rimet mit dem Kolosseum verglich, schließlich fertig war, beherbergte sie nicht nur offiziell 183 354 Zuschauerplätze, sondern auch 56 Bars, 90 Zigarettenkioske, 45 Bonbonstände und 98 Toiletten. Nicht genug Toiletten, wie sich herausstellen sollte.

Das neue Maracanã 2013 unter Flutlicht.

I MAGO/ K I C K E R / ME TE LMAN N

Der Mythos des

A

ls am 24. Juni 1950 die FußballMannschaften von Brasilien und Mexiko zum Eröffnungsspiel der Weltmeisterschaft auf den Rasen des Maracanã liefen, war das gigantische Stadion im Prinzip immer noch eine Baustelle. Vieles an der Infrastruktur der Arena in Rio de Janeiro war noch unfertig, die 160 000 Zuschauer mussten sich den Weg zu ihren Plätzen über Bauschutt und an Gerüsten sowie Zementsäcken vorbei bahnen. Kaum auszudenken, was in heutiger Zeit bei derartigen Verzögerungen schon im Vorfeld für eine Aufregung geherrscht hätte. Doch damals hatte die Welt andere Sorgen als den reibungslosen Ablauf eines Fußballturniers. Man war froh, zwölf Jahre nach der Weltmeisterschaft von 1938 in Frankreich und fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überhaupt wieder eine WM veranstalten zu können. Es konnte schließlich gespielt werden, das allein zählte, und als Brasilien gegen Mexiko 4:0 gewonnen hatte, waren alle Zweifel, die es im Land des Gastgebers vielleicht gegeben hatte, endgültig verflogen – natürlich auch die am Titelgewinn der Seleção. Das Maracanã, jenes riesige, für 200 000 Menschen konzipierte Stadion war das Herzstück der wegen der Weltlage ziemlich konkurrenzlosen brasilianischen Bewerbung gewesen, und es sollte Zeugnis ablegen von der Größe und der Bedeutung, die Brasilien nach eigener Einschätzung erlangt hatte, und von der allgegenwärtigen Aufbruchsstimmung. So ähnlich hatte sich die brasilianische Regierung mit dem damaligen Präsidenten Lula an der Spitze die Sache eigentlich auch gedacht, als man sich für das WM-Turnier 2014 bewarb. Die Parallelen zwischen damals und heute sind augenfällig. Auch 1950 hatte Brasilien einen wirtschaftlichen Boom erlebt, begünstigt durch den Krieg in Europa, der die Konjunktur in den südamerikanischen Ländern ankurbelte, höhere Preise für Rohstoffe und Lebensmittel brachte und auch die Produktion von Fertigwaren stimulierte, die in den kriegführenden Ländern drastisch zurückgegangen war. Der ebenso populistische wie autokratische Präsident Getulio Vargas, der

Brasiliens Fußballstar Garrincha 1965 bei einem Länderspiel im alten Maracanã

Die zersetzende Wirkung des Urins zahlloser Zuschauer soll ein Grund dafür gewesen sein, dass die Arena nach einigen Jahrzehnten immer baufälliger wurde und 1992 beim Einsturz einer Barriere drei Menschen ums Leben kamen. Daraufhin wurde die Zuschauerzahl begrenzt, Tribünen mussten abgestützt werden, bis das Stadion zunächst für die Panamerikanischen Spiele 2007 renoviert wurde. Klar war jedoch, dass das einstige Weltwunder, was Sicherheit, Komfort, Größe und Struktur betraf, längst nicht mehr den Anforderungen des zeitgenössischen Fußballs genügte. Zur WM 2014 wurde das Maracanã dann fast komplett neu gebaut, nur die denkmalgeschützte Fassade blieb erhalten. Für viele Brasilianer stellt die Verwandlung des Mythos’ Maracanã in eine funktionale, moderne und nüchterne Arena einen Frevel dar, einenVerrat an den Ideen, die 1950 der Errichtung der monströsen Arena zugrunde lagen. Doch sie spiegelt nur den Wandel des Fußballs auch in Brasilien wider. 1950 signalisierte allein schon das immense Fassungsvermögen, dass es ein Stadion für alle Brasilianer, für alle Cariocas, wie die Einwohner Rios genannt werden, für alle Bevölkerungsschichten sein sollte. Ein Symbol gelebter Demokratie, auch wenn der idealistische Mythos, dass die weitläufige Konstruktion der Arena allen Besuchern gleiche Sicht und gleichen Komfort gewähren sollte, nie der Wahrheit entsprach. Es gab Sitze, die bis zu 126 Meter vom Anstoßpunkt entfernt waren, andere, die sich auf Höhe des Spielfeldes befanden, sodass man praktisch nur die Beine der Spieler sah. Das waren die billigsten Plätze. Und es gab auch schon Logen für die Betuchten, 300 an der Zahl. Dennoch betrachteten die Brasilianer das neue Monument damals als Kultstätte eines Fußballs, der demVolk gehörte. Das neue, für umgerechnet 321 Millionen Euro umgebaute Maracanã mit seiner Kapazität von lediglich 70 000 Besuchern gilt vielen Brasilianern inzwischen als vom Weltverband Fifa aufgezwungenes Symbol der Kommerzialisierung.

Andererseits sind natürlich nicht die neuen Stadien dafür verantwortlich, dass die ärmeren Bevölkerungsschichten nicht mehr wie früher für ein paar Reales ins Stadion gehen können, dass die fröhliche Stimmung, die von den Musikkapellen und Rhythmusgruppen verbreitet wurde, das Zünden von Knallkörpern und Pyrotechnik, wie es lange Zeit Usus war, der Vergangenheit angehören. Wie auch in Europa ist der Fußball in Brasilien teuer geworden, die Eintrittspreise sind drastisch gestiegen, das war auch im alten Maracanã schon so und das Stadion selbst bei Stadtderbys wie Flamengo gegen Fluminense oft trostlos leer. Gestiegen ist vor allem auch die Gewalt, die aggressive Rivalität zwischen den Fangruppen, die Wut auch auf die Spieler, wenn ihre Leistungen nicht den Erwartungen entsprechen. Das für die WMSpiele auf Drängen der Fifa ausgesetzte Alkoholverbot in den Stadien hat Untersuchungen der Regierung zufolge die Situation verbessert, dennoch wäre ein offenes, weitläufiges, aber auch sperriges und nach heutigen Maßstäben unkomfortables Stadion wie das alte Maracanã bei aller Nostalgie nicht mehr zeitgemäß gewesen. Der Slogan, dass das Land keine Stadien brauche, sondern mehr Geld für Bildung und Gesundheitswesen, wäre 1950 zumindest in seinem ersten Teil auf breites Unverständnis gestoßen. Natürlich braucht ein Land, in dem der Fußball eine derart große Rolle spielt, angemessene Stadien, und das größte Stadion der Welt war 1950 gerade angemessen genug. Nicht zuletzt, weil es damit auch das Centenario in Montevideo, der Hauptstadt des Nachbarn und großen Rivalen Uruguay, in den Schatten stellte, wo 1930 das erste WMFinale stattgefunden hatte. Insgesamt wurden für die WM 1950 aber längst nicht so viele Arenen errichtet wie für das Turnier 2014, was schon allein daran lag, dass damals nur 13 Länder am Start waren und nicht, wie diesmal, 32 Mannschaften. Gespielt wurde in sechs statt heute zwölf Arenen, in Rio, São Paulo, Belo Horizonte, Curitiba, Porto Alegre und Recife. Komplett neu errichtet wurde neben dem Maracanã nur das

Estádio Independéncia in Belo Horizonte, das mit einer Kapazität von 25 000 Zuschauern deutlich bescheidener ausgefallen war als das Prunkstück in Rio de Janeiro. Und die Sache ließ sich gut an für Brasilien bei der Weltmeisterschaft von 1950. Nach dem Auftakterfolg über Mexiko gab es im Maracanã noch ein 2:0 gegen Jugoslawien, ein 7:1 gegen Schweden und ein 6:1 gegen Spanien, es waren Zelebrationen der brasilianischen Spielkunst. Doch ausgerechnet der lästige Nachbar Uruguay sorgte schließlich für den Schatten, der bis heute über der Arena schwebt – jenes Ereignis, das die anderen Südamerikaner boshaft „Maracanazo“ nannten, ein Begriff, der sich inzwischen als „Maracanaço“ auch in Brasilien etabliert hat. Die Seleção fühlte sich unschlagbar in dieser Arena, der kleine Lapsus eines 2:2 gegen die Schweiz in der Vorrunde hatte sich ja in São Paulo ereignet. Wie sollte ein Gegner dem Orkan, den 200 000 Zuschauer mit ihren Stimmen und ihren Blas- und Trommelorchestern entfachten, gewachsen sein. Und am 16. Juli waren sogar mehr als 200 000 Menschen im Maracanã, 173 850 zahlende, dazu rund 30 000 geladene Gäste oder Leute, die ein Schlupfloch gefunden hatten. Doch die Uruguayer, angeführt vom bärbeißigen Spielführer Obdulio Varela, zu dessen Prinzipien es gehörte, nie einem Schiedsrichter die Hand zu geben, ließen sich nicht einschüchtern. Sie gewannen nach 0:1-Rückstand mit 2:1 und wurden Weltmeister. Der Siegtorschütze Alcides Ghiggia pflegte später zu sagen, nur drei Menschen hätten das Maracanã mit einer einzigen Bewegung zum Schweigen gebracht: Frank Sinatra, der Papst und er selbst. Ghiggia war allerdings der einzige von ihnen, der den Fuß benutzte. Danach hat das Maracanã noch viele große Momente erlebt, große Spiele und große Spieler, von Pelé über Zico und Sócrates bis zu Romário, Ronaldo und Neymar. Vor einem Jahr gewann die Seleção hier mit einem 3:0 gegen Spanien den Confederations Cup. Doch nichts hat die Menschen so bewegt wie das Spiel gegen Uruguay am 16. Juli 1950. Und sollte 64 Jahre später Brasilien hier erneut um den WM-Titel spielen, wäre eines gewiss: Mag auch vom alten Maracanã nicht mehr viel übrig sein, der Schatten von 1950, der ist immer noch da.

Museum

Ein Glasturm im Inneren zeigt die Historie des Stadions.

Sonnenkollektoren

Das Dach

Gesamtkapazität 78 838 Sitzplätze

Innenring

hat 47 350 Quadratmeter. Es bietet auf allen Plätzen Schutz vor Regen, und das Regenwasser kann zur weiteren Nutzung aufgefangen werden. Membrankonstruktion aus Glasfaser und Teflon

Neue Balustrade

69

er Met

340 Rollen Rasen jeweils 1,20 Meter breit und 18 Meter lang

mit zwei Metern Höhe. Der Rasen wurde um 1,40 Meter abgesenkt, um eine bessere Sicht zu gewährleisten.

Renovierungskosten

316 Millionen Euro

Spielfeld (Naturrasen)

105 m x 68 m

22 Renovierungszeit

35 cm

6 cm Abstand zwischen den Stühlen

22 Monate

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Die Rampe ermöglicht den Zugang zu den fünf Ebenen.

Überwachungskameras

396

44 cm

Parkplätze

14 000

Reflektoren

396

Die Stühle haben die Grundfarben Blau, Gelb und Weiß. Über das Stadion verstreut, ergeben sie ein Mosaik.

Aufzüge

17

Rolltreppen

12

Ehrentribühnen

76

Plätze für behinderte Menschen mit Begleitung

1 695

Vier neue Rampen Innenausbau

Der Servicebereich wurde mit 60 Bars, Restaurants und sanitären Anlagen erweitert.

auf Nord- und Südseite mit jeweils 8 Metern Breite ermöglichen eine schnelle Evakuierung (in nicht mehr als 8 Minuten).

G RAF IK: ISABE LL A G AL ANT Y

Toiletten


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Berliner Zeitung · Nummer 131 · 7./8./9. Juni 2014

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WM-Magazin

AUFGETISCHT

LAIF/FA BIO CU T T ICA, G ET T Y IM AG ES/IST O CKP H O T O , W IESE G ENU SS

I NA ST EI NER

TINA HÜTTL WAR IN DER VILLA RODIZIO

Und zum Schluss das Herz vom Huhn

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FriedrichLudwdigJahn-Sportpark

Brasilianische Männer sind treu, sagen die brasilianischen Frauen. Vor allem, wenn es um den Lieblings-Fußballclub und die bevorzugte Biermarke geht.

Kiloweise Bohnen und Katzenspießchen Der Gipfel der Kulinarik in Brasilien aber ist das Grillen. Beim Churrasco kommen bis zu 15 Sorten Fleisch auf den Teller V O N U W E L. L E E M A N

Feijoada brasileira

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ermutlich habe ich die gleichen Vorurteile gegenüber der brasilianischen Küche wie die Brasilianer gegenüber dem deutschen Fußball: zu grob, zu uninspiriert, zu wenig verspielt – aber effizient. Gehe ich brasilianisch essen, was ich nur selten tue, dann bin ich danach vor allem eins: pappsatt. Das Nationalgericht, die Feijoada, hätten die Portugiesen meiner Meinung nach nicht exportieren dürfen. Doch die ehemaligen Kolonialherren haben für ihre Untertanen und Sklaven vor allem herangeschifft, was sich in großen Mengen beschaffen ließ und gut haltbar war: schwarze Bohnen, Reis, Maniok und Bacalhau, also Stockfisch. Noch immer ist ein beträchtlicher Teil brasilianischer Gerichte portugiesisch beeinflusst und kommt nicht ohne diese Zutaten aus – auch wenn es im fünftgrößten Land dieser Welt inzwischen alles gibt, und man ohnehin nie nur von einer brasilianischen Küche sprechen kann. Nur scheint das noch nicht ganz bis nach Berlin durchgedrungen zu sein. Viele brasilianische Restaurants gibt es sowieso nicht. Sucht man sie im Internet, findet man vor allem Büfetts mit Feijoada und viel Frittiertem sowie Fleischspieß-Läden mit Groupon-Deals, in denen zwei Personen zum Preis von einer essen dürfen, so viel sie nur können. Mich erinnert das an die seit den Achtzigerjahren in Brasilien sehr beliebten Selbstbedienungsrestaurants, in denen der Gast am Ende nach Gewicht bezahlt, was er verzehrt hat. Und zwar nicht in Gramm, nein: in Kilo! Trotzdem wollte ich Ihnen zum Start der Weltmeisterschaft ein brasilianisches Restaurant in Berlin empfehlen. Letzte Woche landete ich also in der Villa Rodizio in Prenzlauer Berg, einer Churrascaria, deren Besuch mich ein klein wenig Überwindung kostete, weil auch hier vehement um All-you-can-eat-Esser geworben wird. Doch immerhin funktioniert es. Die Villa Rodizio, die in einem wunderschönen Jugendstil-Brauereiensemble untergebracht ist, ist fast immer ausgebucht, obwohl mehrere Busladungen Leute reinpassen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass das Büfett hier mit Sicherheit nicht vom Vortag ist. Ehrlich gesagt, war ich überrascht von der Auswahl und Qualität: Es gab allein um die zehn verschiedenen Salate, von Rucola-Tomate über Caesar Salad bis zum mediterranen Kartoffelsalat. Das ist nun nicht sehr brasilianisch, was mich aber nicht störte, weil zum Beispiel der italo-amerikanische Caesar Salad wirklich gelungen war: frisch, mit knackigem Römersalat, Croûtons und einem gekonnt aufgeschlagenen Dressing aus Ei, Olivenöl, Zitrone und Mayonnaise. Ebenso angetan war ich von den Beilagen. Ob nun die gebackenen Rosmarin-Kartoffeln, mexikanischer Reis und Quesadillas oder auch die frittierten Kartoffelspalten, sie alle schmeckten. Richtig brasilianisch ist in der Villa vor allem eins: das Rodizio, was übersetzt „das sich Drehende“ heißt. Gemeint sind zehn verschiedene Arten Grillfleisch, die am Spieß zum Tisch gebracht und abgeschnitten werden. Ein Cortador erledigt das. Ich habe gelernt: bei jeder Fleischsorte mit einer anderen Technik. Was kann ich darüber sagen? Ich aß viel Fleisch. Zuerst Pute im Speckmantel, Chorizo und gut gewürztes Hühnchen, alles sehr saftig. Dann Spareribs mit einer Ketchup-Honig-Glasur. Nur das Lamm und die Rinderhüfte waren etwas trocken, das Kassler dann wieder gelungen, und Huhn und Hühnerherz ein kleiner feiner Abschluss. Am Ende war ich satt, aber nicht pappsatt und, obwohl ich es nicht gern zugebe, irgendwie glücklich. Das lag auch an der großen Cocktailkarte mit verschiedensten Caipirinhas und Mojitos. Natürlich lief irgendwann auch noch Samba. Dabei dachte ich, dass auch der deutsche Fußball nicht mehr das ist, was er einmal war. Er ist nun internationaler, verspielter und leichter. Vermutlich trifft das auch auf die brasilianische Küche zu.

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PRENZLAUER BERG

Eberswalder Str.

B ERL IN ER ZE IT U NG/ PAUL U S PO NIZ AK

VILLA RODIZIO Milastraße 2, 10437 Berlin, Tel. 440 46 90. Di–Sa ab 18, So ab 17 Uhr geöffnet. Montag Ruhetag.

Schönes Haus, aber eher nichts für Vegetarier. Rodizio und Büfett kosten hier 24,90, nur Büffet 12,90 Euro.

s ist nicht hundertprozentig bewiesen, dass das Übergewicht, mit dem Herthas brasilianischer Mittelfeldspieler Ronny jedes Jahr nach der Sommerpause den Trainingsplatz betritt, vom Nationalgericht seiner Heimat, Feijoada, einem gehaltvollen Bohneneintopf mit Fleisch, herrührt. Belegt ist jedoch, dass er schon im November 2010, als er nach längerer Pause mal wieder in der Startelf stand, postulierte: „Ich verzichte nicht auf meine schwarzen Bohnen, esse aber viel bewusster.“ Damit steht er nicht allein. Schon von seinem Vorgänger im Berliner Trikot, Marcelo dos Santos, den alle nur Marcelinho nennen, wurde kolportiert, dass ihm sein Clan aus Brasilien kiloweise schwarze Bohnen mitbrachte, worüber sich Gegenspieler gern lustig machten. Nicht nur Marcelinho wusste, dass vor der Feijoada gut ein Caipirinha eingenommen werden kann: Nationalgericht und Nationalgetränk glücklich vereint. Gemixt wird der „Caipi“ aus Cachaça, einer rumähnlichen Spirituose aus Zuckerrohrsaft, sowie Limette, Rohrzucker und zerstoßenem Eis. Hierzulande trat er Anfang der Neunzigerjahre seinen Siegeszug an und steht seitdem für Samba, Party, gute Laune – ideal also als Feierdrink in heißen WM-Nächten. Rund 30 000 Brennereien produzieren das Zuckerrohr-Destillat in Brasilien, Deutschland gilt als größter Importeur. Das Volumen, das alljährlich in Flaschen abgefüllt wird, wird auf über eine Milliarde Liter geschätzt. Denn Cachaça findet nicht nur zum Mixen der Caipirinha Verwendung, sondern für diverse Longdrinks, zum Beispiel mit Cola. Hochwertige, teils mehrere Jahre in Holzfässern gelagerte Destillate, wie sie das deutschstämmige Unternehmen Weber Haus brennt, werden gerne wie Whisky pur getrunken. Aromatisiert, etwa mit Ananas, Kokos oder Banane, ist der zumeist mehrfach destillierte Brand ebenfalls im Angebot. Doch auch Alkoholfreies aus Brasilien könnte diesen Sommer dank Fußball hierzulande zum Trend werden. Etwa Guarana Antarctica, eine dort äußerst beliebte koffeinhaltige Limonade. „Und noch dazu einer der Sponsoren der Seleção, der brasilianischen Fußball-Nationalmannschaft“, sagt Christian Wurm, Geschäftsführer von Succos do Brasil in Neuss (www.succos.de), einem auf brasilianische Lebensmittel und Getränke spezialisierten Unternehmen. Natürlich wird die stimulierende Guaraná-Limo auch gerne mit Cachaça gemischt, das ist dann ein Brasilian Libre. Weniger authentisch, aber nichtsdestotrotz vor allem bei grillenden WM-Männerunden sehr beliebt, so Wurm, sei brasilianisches Bier. Auch da gibt es ein Antarctica, das vor allem im Süden des Landes, etwa in São Paulo, getrunken wird, während Brahma seine Fans eher in Rio hat und Skol im Norden getrunken wird. Beliebt sind auch Spezialitäten wie das Xingu Black. Wie der Name vermuten lässt, handelt es sich um ein fast schwarzes, kräftig schmeckendes Bier, das nach einem Fluss im Amazonasgebiet benannt ist und aus Getreide und Maniok gebrannt wird. „Brasilianische Männer sind bei ihrem Lieblingsbier genau so eigen wie bei ihrem Lieblings-Fußballverein. Sie trinken immer nur dieselbe Marke“, sagt Josie Franke, brasilianischstämmige Küchenchefin im Schöneberger Restaurant Sudaka (www.sudaka.de). Eine wahrscheinlich gottgegebene Paarung ist die von Bier und Grillgut. Grillen, Churrasco genannt, vom zischenden Geräusch, das das ins

Zutaten für 10 Eintopf-Portionen: 1,5 kg schwarze oder braune Bohnen, 500 g Suppenfleisch, 1–2 Schweinszungen, 500 g Schweinelende, 500 g Kasseler, 1 Schweineohr, 1 Schweinsfuß, 1 Schweineschwänzchen, 200 g Räucherspeck, 750 g Rauchenden, Olivenöl, 6 Zwiebeln, 10 Knoblauchzehen, 1 Orange, 2–3 Lorbeerblätter, gemahlener Kreuzkümmel, frisches Koriandergrün, Meersalz, Pfeffer Tag 1: Die Bohnen waschen und über Nacht in Wasser einweichen. Die Fleischstücke in einer Marinade aus Weinessig, zerdrückten Knoblauchzehen, Salz und Pfeffer einlegen. Tag 2: In einem großen Topf 2 feingehackte Zwiebeln in Öl bräunen. Dann die Bohnen mit dem Einweichwasser dazugeben. 1–2 Stunden köcheln lassen. Die restlichen Zwiebeln in Ringe schneiden und in einem weiteren Topf mit Öl anbraten, dann Knoblauch und Lorbeerblätter hinzugeben. Danach das marinierte Fleisch in diesem Topf anbraten, jeweils in etwa 10-minütigem Abstand die einzelnen Sorten hinzufügen (Reihenfolge siehe Aufzählung oben). Insgesamt dauert das ca. 1,5 Stunden. Das Fleisch soll weich sein, aber nicht zerfallen. Nun das Fleisch mit den Bohnen mischen, Würstchen und Gewürze sowie eine geschälte Orange hinzugeben. Das Ganze soll jetzt noch einmal 1,5–2 Stunden köcheln. Zum Schluss mit Salz und Pfeffer abschmecken. Die Feijoada wird mit geröstetem Maniokmehl, Reis, Grünkohl und scharfer Pfeffersoße serviert.

Coxinha de galinha (Hühnerkeulchen) Rezept von Josie Franke, Küchenchefin im Sudaka, Berlin-Schöneberg Zutaten Teig: 600 ml Hühnersud, 100 ml Öl, 600 g Mehl, Öl zum Frittieren Füllung: 1 ganzes Huhn ohne Haut, 2 Zwiebeln, 50 ml Hühnersud, 1 Bund Petersilie, 100 g Palmherzen, 1 EL Butter, 2 Tomaten, Salz, Pfeffer Zubereitung Füllung: Huhn in einem großen Topf mit Wasser 1,5 Stunden kochen. Aus dem Sud nehmen und beiseite stellen. Hühnersud ebenfalls beiseite stellen. Das Hühnerfleisch von den Knochen lösen und in kleine Stücke zerpflücken. Zwiebeln, Petersilie und Palmherzen fein hacken. Die Butter in einem Topf zerlassen. Zwiebeln darin leicht anschwitzen. Die Tomaten und das Hühnerfleisch dazugeben und alles gut vermengen. Danach die Palmherzen dazugeben und eine Suppenkelle vom Sud. Mit Salz und Pfeffer würzen. Teig: Restlichen Sud und Öl im Topf erhitzen. Das Mehl dazugeben. Sobald das Wasser kocht, tüchtig rühren, bis der Teig sich vom Topfboden löst. Den Teig auf eine glatte Oberfläche geben und ihn leicht ausrollen. Aus kleinen Portionen Teigtaschen formen, einen Löffel Füllung hineingeben und sorgfältig verschließen. Danach werden sie zu Keulchen geformt, die im heißen Öl ausgebacken werden. Kurz auf Küchenkrepp abtropfen lassen.

Feuer tropfende Fett macht, ist für alle Brasilianer, die es sich leisten können, ein Volkssport. An langen Spießen über dem Feuer gegartes Fleisch in rauen Mengen ist ein absolutes Muss. Gegrillt wird nicht nur privat, vorzugsweise an den traumhaften Stränden, sondern auch in eigens darauf spezialisierten Restaurants, den Churrascarias. Bis zu 15 Sorten Fleisch, neben verschiedenen Stücken vom Rind etwa auch Lamm und Hühnchen, schneidet der Churrasquiero, der Grillmeister, mit dem Säbel direkt vom Spieß auf den Teller des Gastes. Das Ganze ist ebenso sehr Nahrungsaufnahme wie Gemeinschaftserlebnis. Vor einem Match greift der brasilianische Fußballfan ebenfalls gern zum Grillgut statt zur Bratwurst. „Vor den Stadien werden an der Straße kleine Spieße mit Fleisch und Gemüse gegrillt, wir nennen die traditionellen Fußballsnacks nur ‚Katzenspießchen‘“, sagt Josie Franke und lächelt süffisant. Ein anderer beliebter Imbiss seien die „Coxinhas de galinha“, mit Hühnerfleisch gefüllte und wie Hühnerkeulen geformte Teigtaschen. Ursprünglich stammt das Churrasco aus Südbrasilien, wo die Gauchos ihre riesigen Rinderherden durch die Pampa treiben. „In Nordbrasilien wird sehr viel mit Kokosmilch und Kürbis gekocht, auch Fisch und Garnelen sind sehr beliebt“, erzählt die Köchin, die seit zweieinhalb Jahren in Deutschland lebt. Ihr Lieblingsessen zu Hause im Süden Brasiliens war im Übrigen gefüllte Ente mit Kartoffeln. Im Süden in der Serra Gaucha, rund um das Städtchen Bento Conçalves, befindet sich auch die Wiege des brasilianischen Weinbaus. Vor allem italienische Einwanderer waren es, die hier Ende des 19. Jahrhunderts imVal dosVinhedos denWeinbau kultivierten, nachdem bereits die Portugiesen im 16. Jahrhundert die ersten Rebstöcke mitgebracht hatten. Auf den Weingütern wird deshalb noch eine traditionelle Cucina italiana gepflegt, wie man sie in Italien kaum noch findet. „Als vor etwa zehn bis 15 Jahren immer mehr hochwertige ausländische Weine in Brasilien importiert wurden, mussten wir uns etwas einfallen lassen, um mithalten zu können“, sagt Marcia Amaral, Exportdirektorin bei Lidio Carraro (www.lidiocarraro.com). Das Boutique-Weingut produziert den Faces, den „Official licensed Wine of 2014 FIFA World Cup“. Ganz im Sinne von „Elf Freunde müsst ihr sein“ hat die junge Winemakerin Monica Rosetti für ihren Faces in Rot eine Cuvée von elf Rebsorten aus unterschiedlichen Lagen der Serra Gaúcha kreiert – überwiegend Cabernet Sauvignon und Merlot, aber auch Nebbiolo, Tannat, Pinot Noir und Touriga Nacional. Der Blend soll für die vielen Gesichter Brasiliens stehen. Auch ein Faces weiß und ein Rosé sind zu haben, in Deutschland über Wine and Food Concept (www.wineandfoodconcept.de) in Berlin. Gefeiert werden dann die Siege der Seleçao vermutlich mit einem Espumante, einem prickelnden Schaumwein, etwa einem Dádivas Brut von Carraro, einem Casa Valduga Moscatel oder einem Miolo Cuvée Tradition. Viele dieser Schäumer machen sich richtig gut im Glas. Schwieriger wird es hingegen beim Nachtisch-Angebot: „Unsere Desserts wie die Schokoladencreme mit Walnüssen sind extrem süß“, sagt Josie Franke. Kein Wunder, es ist immer dasselbe drin, im Norden wie im Süden: Milchmädchen – gezuckerte Kondensmilch. Zumindest das ist eine gewöhnungsbedürftige Besonderheit der brasilianischen Küche.


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Berliner Zeitung · Nummer 131 · 7./8./9. Juni 2014

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WM-Magazin

WARENKUNDE MAXIM LEO PROBIERT

BL Z/M I KE F R Ö H L I NG

Der Bündchen-Index Engelsgleich, gesund gebräunt und immer mit dem richtigen Hüftschwung: Von diesen sechs Brasilianerinnen schwärmt die Welt VON ALEX BOHN

Die nackte Brust

G

ottgleiche Fußballspieler sind nur ein Exportschlager aus Brasilien. Auch die unzähligen überirdischen Schönheiten des Landes werden gerühmt, eigentlich schon seit Beginn der Sechzigerjahre, als der Song „Girl from Ipanema“ den richtigen schwärmerischen Tonfall vorgab („Wenn sie geht, ist das wie eine Samba, die so entspannt schwingt und sich so sanft wiegt, dass jeder, an dem sie vorbeikommt, ‚Ah!‘ macht.“). Die Brasilianerinnen, die sich heute meist sehr erfolgreich auf dem internationalen Markt behaupten, lassen sich allerdings nicht so einfach auf einen Nenner bringen. Die sechs wichtigsten Damen des Moments auf einen Blick:

E

s war nicht meine Idee, das möchte ich hier gleich mal sagen. Ich habe mich nur nicht genug gewehrt, als wir neulich im Kollegenkreis zusammen saßen und das Brasilien-Magazin besprachen. Beim Tagesordnungspunkt „Brazilian Waxing“ fragte meine Ressortleiterin nach Freiwilligen. Als sich niemand meldete sagte sie: „Dann macht das Leo.“ Ich wendete ein, ob es nicht viel naheliegender wäre, wenn eine Frau über das Thema schriebe. „Genau deshalb sollst du es ja machen“, sagte meine Ressortleiterin, die anderen Kolleginnen grinsten schadenfroh. So bin ich eine Woche später in einem Haarentfernungsstudio in BerlinMitte gelandet, zum Brust-Waxing. Dana nahm mich in Empfang, eine zierliche Frau mit blondierter Dauerwelle. Dass sie so überhaupt nicht brasilianisch aussah, lag vor allem daran, dass Dana aus Königs-Wusterhausen kommt, wie sie später offenbarte. Das Handwerk aber hat sie von einer echten Brasilianerin gelernt. „Dein erstes Mal?“, fragte sie. „Merkt man das?“ „Na ja, du hast erstaunlich lange Haare auf der Brust. Und du wirkst sehr nervös.“ Dana ging weg und kam mit einem Töpfchen wieder, in dem heißes Wachs vor sich hinköchelte. „Stört es dich, wenn eine Praktikantin zuguckt?“ Noch

1. Giselle Bündchen Ende der Neunzigerjahre erledigte diese Frau eigenhändig und im Handumdrehen den Heroin-Chic, den Models wie die Britin Kate Moss verkörperten. Gisele Bündchen, die eigentlich Volleyball-Nationalspielerin werden wollte, baggerte ihn einfach aus dem Weg. Plötzlich erinnerte sich die Modebranche daran, dass natürliche Bräune und ein gesunder Körper irgendwie doch ganz attraktiv waren. Auch für das herrschende Schönheitsideal war es gut, dass Mama Bündchen, deren Familie vor sechs Generationen von Deutschland nach Brasilien gezogen war, ihr Kind zum Model-Contest geschickt hatte. Mit knapp 34 Jahren ist Gisele Bündchen heute das am besten verdienende Model der Welt. Unterwegs hat sie Leonardo DiCaprio abserviert und ist nun mit dem NFL-Quarterback Tom Brady verheiratet. Sie steht nicht nur auf der Milliardärsliste des Forbes-Magazins, mit dem Bündchen-Index ist außerdem ein Aktienindex nach ihr benannt. Er bündelt die vielen Firmen, mit denen sie Geschäfte macht, und sein Kurs liegt im Schnitt höher als der Dow-Jones-Index. 2. Alice Dellal Um Konventionen schert sich die gebürtige Brasilianerin Alice Dellal nicht. Jedenfalls bemüht das Model sich nicht, hübsch und gefällig auszusehen, um es auf möglichst viele Titelseiten zu schaffen. Das hat sie auch gar nicht nötig, denn als einer der Erbinnen des Immobilientycoons Jack Dellal muss sie sich um Geld nicht sorgen. Außerdem machen der 26-Jährigen Größen wie der Designer Karl Lagerfeld und der Fotograf Mario Testino ohnehin den Hof. Dass sie sich seit Jahren die Haare auf der linken Seite raspelkurz rasiert, während sie rechts überschulterlang sind, macht sie anscheinend nur noch attraktiver. Passend zum Haarschnitt spielt sie in der Frauen-Punkband Thrush Metal. Ihre Geschwister, die Luxus-Schuhdesignerin Charlotte Dellal und Alex Dellal, der die renommierte Londoner Galerie 20 Hoxton Square betreibt, sind imVergleich zu ihr fast ein bisschen fad.

4. Alessandra Ambrosio Für ein Model muss ein Vertrag mit der amerikanischen Unterwäschefirma Victoria’s Secret wie ein Ritterschlag wirken. Er ist lukrativ und erlaubt ihr, sich in einer pompös inszenierten Schau in einem Hauch von Nichts der geneigten Öffentlichkeit und potenziellen Werbekunden zu zeigen. Außerdem gilt sie fortan als einer der „Engel“ der Marke. Dass, wer einer so segensreichen Aufgabe nachgeht, die Neider nicht lang suchen muss, musste Alessandra Ambrosio im Jahr 2008 feststellen. Als sie es wagte, ihrem Job als „Engel“ bereits vier Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes wieder nachzugehen, schimpfte sie zwar keiner laut „Rabenmutter“, aber dass sie bereits wieder in tipptopp schlanker Modelform war, das nahm ihr die Welt übel. Dabei waren es am Ende vielleicht doch wirklich schlicht ihre guten Modelgene. Sechs Jahre später hat Frau Ambrosio nämlich bereits zwei Kinder, immer noch die gleichen Traummaße und lässt sich besonders gern dann fotografieren, wenn sie gerade genüsslich zwei Kugeln Eis vertilgt. Oder zu vertilgen vorgibt. Engelsgleich, versteht sich. 5. Lea T. Diese Brasilianerin erblickte das Licht der Welt als Brasilianer. Ihr Vater, der berühmte Fußballspieler Toninho Cerezo, taufte sie auf den Namen Leandro. Vor vier Jahren entschied Leandro, sich in Lea umzubenennen und endlich zu zeigen, als was er sich sah: als Frau. Und eine wunderschöne noch dazu. Dazu riet ihm kein anderer als Riccardo Tisci, der Modedesigner der italienischen Marke Givenchy. Dann buchte er Lea T. als Model für die Herbst/Winter-Kampagne – als erstes offiziell transsexuelles Model aller Zeiten. In diesem Frühling fotografierte der amerikanische Fotograf Bruce Weber Lea T. erneut – diesmal für die Kampagne des New Yorker Luxus-Kaufhauses Barneys. Toninho Cerezo allerdings ist von der Aufmerksamkeit, die seiner mittlerweile 33-jährigen Tochter zuteilwird, nicht begeistert. Über die Hormonbehandlungen, für die Lea T. sich entschieden hat, um eine Frau werden zu können, spricht er mit ihr nicht. Bleibt zu hoffen, dass sich nicht erst transsexuelle Fußballspieler outen müssen, bis er seinen Sohn Leandro als Lea anerkennt. 6.Thairine Garcia Der NewYorker Designer Marc Jacobs wollte, dass sie auf einer seiner Schauen läuft, als sie noch ein Kind war – gerade mal dreizehn Jahre alt. Jetzt, drei Jahre später, darf sie auch offiziell auf den Laufsteg und ist bereits ein Profi – es gibt nur wenige einschlägige Modemagazine, auf deren Cover sie noch nicht zu sehen war. Besonders gepriesen wird diese Brasilianerin nicht etwa für Klischees wie ein feuriges Auftreten, auch nicht für eine eher üppige Figur. „Präsenz“ sagt man der jungen Dame nach. Ob sie damit so erfolgreich wird, wie es Gisele Bündchen ist, bleibt abzuwarten. In der Zwischenzeit kann man ihre Metamorphosen auf ihrem Twitter-Account mitverfolgen. Dort verrät sie nicht, ob sie sich selbst oder den Sinn des Lebens gefunden hat, dafür aber umso lieber, welche Haarfarbe sie aktuell hat. Rot, Weißblond und Brünett gab es schon. Nun ist seit ein paar Tagen Rot das neue Brünett. IAFP, IMAGO (5)

Haare sind ein Teil der Persönlichkeit. In Berlin sind die Frauen viel offener als in Brasilien. Sie trauen sich, ihr Haar kurz zu tragen, ihr Gesicht und ihren Nacken zu zeigen. Ich kann hier viel kreativer arbeiten. So schön die Brasilianerinnen sind, sie wollen ihr Haar

DIE SCHEREN VON RAPHAEL SOUTO

Beruf: Friseur, Alter: 38, kommt aus: Belo Horizonte, in Berlin seit: März, lebt in: Friedrichshain Zeit am Platz: pro Schnitt eine Stunde.

Ein Töpfchen heißes Wachs mit Honig

bevor ich etwas sagen konnte, goss Dana eine ordentliche Portion Wachs auf meine rechte Brustwarze. Das Wachs sah aus wie flüssiger Bernstein, war warm und roch nach Honig. „Kann jetzt gleich ein bisschen ziepen“, sagte Dana, wartete ein paar Momente und riss den erstarrten Wachslappen mit einem Ruck weg. Ein spitzer Schmerz durchzuckte meinen Körper. Die Praktikantin sah mich mitleidig an. So arbeitete sich Dana langsam vor, bis sie zur Brustfurche kam, dem am dichtesten bewachsenen Bereich, dem Tal der Wolle. Nachdem das Tal komplett mit Wachs geflutet war, meinte Dana, ich müsse nun recht tapfer sein. „Alte Haare tun am meis ten weh“, sagte sie und riss den Wachslappen nach oben. Diesmal entfuhr mir ein Schrei, ich versuchte mir vorzustellen, wie so eine Intimenthaarung wohl sein muss. Zum Beispiel die „Brazilian Hollywood Man“, die eine stolze Urwaldschlange ratzfatz zur Nacktschnecke macht. Als Dana fertig war, sah ich im Spiegel eine gerötete Kinderbrust. Und was soll ich sagen, ich hatte plötzlich große Sehnsucht nach einer Königs-Wusterhausener Kiefernschonung.

immer gleich: lang und gewellt, wie Gisele Bündchen, langweilig, nach einem Jahr in meiner Heimat Belo Horizonte bin ich wieder zurück nach Berlin.

MEIN PLATZ

BL Z/ BE NJA MIN PRITZ KU LE IT ( 2)

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as für einen Maler der Pinsel ist, sind für mich meine Scheren. Scharf müssen sie sein, damit ich schnell arbeiten und saubere Linien schneiden kann. Ich kaufe sie in Japan, sie sind aus dem gleichen Stahl gefertigt wie die Schwerter der Samurai.

GE TTY I MAGE S / I S TOC K P H OTO

3. Marta Vieira da Silva Diese Brasilianerin tut sich nicht vornehmlich durch ihr Aussehen hervor, sondern durch ihr Talent. Sie spielt Fußball, und zwar so gut, dass Pelé, die lebende Fußballlegende, sie als „Pelé con faldas“ – Pelé im Rock – bezeichnet. Gelernt hat sie auf der Straße, dort setzte sie sich gegen Jungs durch, die doppelt so breit waren wie sie. Eine professionelle Ausbildung erhielt Marta Vieira da Silva erst mit vierzehn Jahren – denn sie musste sich auch gegenüber ihren Eltern behaupten, die sie nicht als Profi-Fußballerin sehen wollten, sondern als Frau mit einem konventionelleren Beruf. Inzwischen dürften sie stolz sein, denn die 28-Jährige, von allen nur kurz Marta genannt, wurde bereits zum fünften Mal zur Weltfußballerin gewählt, ohne dabei auch nur einen Millimeter Weiblichkeit einzubüßen. Sie findet ein gesundes Maß an weiblicher Eitelkeit„notwendig“ und mag sich besonders gern im Abendkleid.

Niemand hat verstanden, warum ich nicht zur WM geblieben bin. „Du verpasst eine große Party“, hat meine Mutter gesagt. Die Party ist mir nicht so wichtig. Viele Menschen sind in letzter Zeit aufgewacht, sie haben gemerkt, dass man statt Stadien Krankenhäuser und Schulen hätte bauen sollen. Ich hoffe, dass ihr politisches Bewusstsein auch nach der WM bleibt. Protokoll: Anne Lena Mösken


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WM-Magazin

LÄNDERKUNDE

LESELEDER

VON MATHIAS SCHNITZLER

VON UNSERER MANNSCHAFT

Berti und die Möhre

Wo kommt man eigentlich unter, wenn man authentisch und aufregend aus Brasilien berichten und nicht nur die üblichen Kollegen an der Hotelbar treffen will? Der Journalist Adrian Geiges hat bereits in China und Russland gelebt und ist nun ins heiße Herz von Rio gezogen: in eine Favela. Das ist nämlich sehr viel günstiger, und man ist im Brennpunkt des Geschehens. Seit dem Ende der Sklaverei siedeln die armen Menschen aus den ländlichen Gebieten am Rande der großen Städte. Aus Platzmangel klettern ihre Hütten oft an den Berghängen hoch, deshalb heißen die Siedlungen Favelas, nach der brasilianischen Kletterpflanze. Bei uns übersetzt man „Favela“ oft mit Slum oder Ghetto. Das ist mal richtig und mal falsch. Favelas standen jahrzehntelang außerhalb des Gesetzes, drinnen regierten die Drogengangs mit Hilfe von Kindersoldaten. Das ist noch immer so, es gibt aber immer mehr von der Polizei kontrollierte Viertel. In beiden Welten trifft Adrian Geiges die Helden seines Buches „Brasilien brennt“: Jugendliche, Cops, Sozialarbeiter, einen weiblichen Drogenboss und allerlei Kleinunternehmer.

Noch ist ja Zeit, ein bisschen gepflegtes Viertelwissen ins Hirn zu versenken, in jenen Teil, in dem alles aus der aktuellen Gala wie Pattex kleben bleibt und die Große Geschichte der Philosophie keinen Haftgrund findet. Es ist natürlich – würden Männer jetzt sagen, wenn sie wer gefragt hätte – Teil des Problems, wenn Frauen, die nichts davon verstehen, Fußball ins Unterhaltungsfach ziehen wollen. Andererseits macht es ihnen dieses Buch leicht, denn es ist voller drolliger, leicht zu merkender Anekdoten. Für jede Spielminute eine, und auch für die Nachspielzeit und die Hymne davor. Endlich verstehen, warum es keine größere Freude unter der Sonne gibt, als die Italiener verlieren zu sehen? Aufgeklärt werden, ob es früher mehr Sex vor dem Spiel gab? (Anscheinend.) Erfahren, was Materazzi zu Zidane gesagt hat? Bittesehr. Antwort gibt es auch auf drängende Fragen wie: Warum hat Rijkaard Völler bespuckt, und was erklärt das über die aggressionsabbauende Wirkung des Rotzens? Und: Was sagte Berti Vogts, als er in einem „Tatort“ mitspielen durfte? Nun: „Gib dem Kaninchen eine Möhre extra. Es hat uns das Leben gerettet.“ (cab.)

JOAO P AGLIO NE

Das heiße Herz von Rio

Geballte Schlagkraft: Die Rainhas do Norte transformieren Trommelrhythmen aus Brasiliens Nordosten.

Das beste Spiel aller Zeiten. Hrsg. von Markus Büsges, Oliver Gehrs, Fons Hickmann. Kein & Aber, Zürich/Berlin 2014. 240 S., 16,90 Euro.

DPA

Adrian Geiges: Brasilien brennt. Reportagen aus einem Land im Aufbruch Quadriga, Köln 2014. 288 S., 19,99 Euro.

Pionier des Tropicalismo: Gilberto Gil, der später sogar Kulturminister wurde.

Die Pathologie des Sports Einige Leute hielten Fußball für einen Kampf auf Leben und Tod, sagte einst der legendäre Trainer vom FC Liverpool Bill Shankly. Und führte weiter aus: „Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es weit ernster ist.“Shankly hätte das Buch „Der schwarze Sohn Gottes“, herausgegeben von Luiz Ruffato, dem zur Zeit heißesten Autor Brasiliens, gefallen. Denn die 16 Fußballgeschichten aus dem Land des fünfmaligen Weltmeisters handeln zwar auch von den Träumen und Hoffnungen, die sich mit dem „futebol“ verbinden. Zumeist aber erzählen die Stories von Überraschungen, Ungerechtigkeiten und Unglücken, also vom Leben selbst. Die Erzählungen sind weniger für die Leser von kicker und Sport Bild geeignet, sondern richten ihren Blick auf die sozialen und pathologischen Aspekte des Fußballs. Warum die Brasilianer dieses Spiel mehr lieben als jedes andere Volk und trotzdem gegen die WM protestieren, hier erfährt man die Gründe dafür. Das Schönste an diesem Buch: Die Hälfte der Geschichten stammt von Autorinnen. Luiz Ruffato (Hg.): Der schwarze Sohn Gottes. 16 Fußballgeschichten aus Brasilien Assoziation A, Berlin 2013. 184 S., 16 Euro.

Die Zeit der Eroberer Anlässlich der WM erscheinen zahllose Bücher über Brasilien, darunter viele Abstauber. Will man sich kompakt und trotzdem kompetent informieren, ist man bei der „Kleinen Geschichte Brasiliens“ exzellent aufgehoben. Die Lateinamerika-Historiker Stefan Rinke und Frederik Schulz bieten auf 230 Seiten fundierte Informationen, die man trotzdem gerne liest. Die Darstellung beginnt nicht mit der Ankunft der europäischen Eroberer, sondern mit der indigenen Besiedlung. So soll es sein. Die Zeit der portugiesischen Kolonialherrschaft wird ebenso beleuchtet wie das Kaiserreich, das Ende der Sklaverei und die Erste Republik. Brasiliens Aufstieg zur Handelsmacht wird unterbrochen von der Militärdiktatur, danach kehrt man zur Demokratie zurück und feiert sich mit Präsident Lula und Nachfolgerin Dilma selbst als eine der größten Volkswirtschaften der Erde. Warum in Brasilien trotzdem weltweit die größte soziale Ungleichheit und extreme Korruption herrscht, erklären die Autoren natürlich auch. Stefan Rinke und Frederik Schulze: Kleine Geschichte Brasiliens C. H. Beck, München 2013. 232 S., 12,95 Euro.

Kannibalen der Tropen

Samba und Rap, Sex und Sozialkritik: Brasiliens Popmusik ist identitätsstiftend

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VON MARKUS SCHNEIDER

ie üblich wird man auch zur Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien offiziell eher wenig einheimische Musik hören. Was sonst vor allem sportpolitisch rüde ist, muss man besonders diesmal auch ästhetisch bedauern. Die Musik Brasiliens ist popkulturell so einflussreich und offen, wie sie den Alltag und das Leben prägt. Den Stellenwert von Popmusik für die brasilianische Identität konnte man zum Beispiel erkennen, als der Tropicalismo-Pionier Gilberto Gil in den Jahren von 2003 bis 2008 als Kulturminister wirkte. Schwer vorstellbar, dass man hierzulande so jemanden wie Udo Lindenberg als kulturverantwortlichen Staatsminister besetzte. Ein Unterschied besteht natürlich in der auch internationalen Bedeutung, die Gil und Mitstreiter wie Caetano Veloso, Tom Zé oder Gal Costa besitzen. Ihre Musik entstand aus, gegen und für die sogenannte Musica Popular Brasileira. Die beruht wesentlich auf dem Samba, einem hybriden afrobrasilianischen Stil, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „kulturkannibalistisches“ (so die gängige Metapher) Gemisch wuchs – aus indigener Percussion, afrikanischen Rhythmen und europäischen Einflüssen wie dem portugiesischen Fado mit seiner Saudade genannten spezifischen Melancholie. In den Dreißigerjahren stieg der Samba aus den Armenvierteln der ehemaligen Sklaven in den Mainstream auf. Er wurde zum nationalen Soundtrack und prägt die brasilianische Musik bis heute – wobei er zugleich die rassistisch geprägte Klassenstruktur verschleierte und zum Mythos der farbenblinden Kultur beitrug. Er fand als Tanz früh in den Westen und als Stil in den Jazz, woher er umgekehrt als sachte Brise des Bossa Nova Ende der Fünfziger durch das urbane Rio wehte. Die Tropicalistas aus dem afrikanisch geprägten Bahia im Nordosten reagierten auf diese Friedfertigkeit mit pychedelischen Gitarren und experimentellen Produktionen, sie holten hippiesk gegenkulturelle und sozialkritische Texte in die Musik. Nach wie eindrucksvoll kann man das auf der namensgebenden Sammlung „Tropicalia ou Panis et circensis“ von 1969 hören. Als Bewegung im engeren Sinn blieb der Tropicalismo von eher kurzer Dauer – nicht zuletzt, weil die Militärregierung, die eine gefälligere Variante der Musica Popular Brasileiro (MPB) als nationale Mittelschichtsmusik förderte,Veloso und Gil 1968 für ein halbes Jahr inhaftierte und dann ins Londoner Exil zwang. Wie man jedoch am ungebrochen Ruhm der Tropicalistas erkennen kann, die über Fans wie David Byrne, Arto Lindsay oder Beck auch in den westlichen Pop gelangten, beeinflussten sie wesentlich die Entwicklung der sogenannten Musica Popular Brasileira. Die kann man sich als weitläufigen, offenen SingerSongwriter-Pop vorstellen, der die produktiven Altmeister wie Sergio Mendes ebenso fasst wie zum Beispiel Claudia Leitte, die derzeit die offizielle Fifa-Hymne „We Are One“ von Pitbull und Jennifer Lopez als einheimisches Feigenblatt begleiten darf. Sie steht wie die in Brasilien nicht weniger erfolgreiche Ivete Sangalo für den wogend-rappelnden Axé, der den Samba mit Reggae und Merengue und einheimischen Mustern zum Beispiel aus dem seltsam polkanahen Frevo mischt. Dabei tummeln sich in den brasilianischen Top Ten natürlich wie überall auf der Welt internationale Stars wie Pharrell Williams, Katy Perry oder Lorde, bei denen sich der

MPB-Mainstream bedient. Umgekehrt aber gedeihen auch starke Genreszenen: vom Metal, wo man mit den Altmeistern Sepultura eine international erfolgreiche Band kennt, bis hin zu Club-Djs, von der Polit-HipHop-Szene São Paulos mit jungen Größen wie Criolo und Emicida bis hin zum Raverock wie von den auch hier bekannten CSS. So bemerkt der Brasilienkenner und Musik-Bereichsleiter des Berliner Hauses der Kulturen, Detlef Diederichsen – der zur WM als „Copa da Cultura 2.0“ ein breites Programm brasilianischer Musik vorstellt – eine Welle von Bands wie Graveola, die sich musikalisch und ideologisch an der tropicalistischen Psychedelik orientieren. Im wesentlichen entwickeln sich dabei, wie Daniel Haaksman, Berliner DJ, Produzent und Brasilienspezialist, kürzlich schrieb, Underground-Trends regional und, nicht zuletzt wegen des enormen sozialen Gefälles auf den Straßen, anhand von flink gebrannten CDs, abseits von Hitparaden und Musikindustrie. So wie der recht junge Tecno Brega, dessen billige Sounds aus kantigen Rhythmen und käsigen Achtziger-Synthies aus den schwarz geprägten Favelas des Nordostens in den Mainstream fanden und zum Beispiel in Gaby Amarantos einen Star mit eigener TV-Show hervorbringen konnte. Haaksman wiederum war es, der mit den Compilations seines Labels Man Recordings vor zehn Jahren die Welt auf den Baile Funk oder Funk Carioca hinwies. In Brasilien mittlerweile nur Funk genannt, entstand der Clubsound in den späten Achtzigern in den Favelas von Rio, um im letzten Jahrzehnt auch durch DJs wie Diplo und globalistische Popper wie M.I.A in den westlichen Clubs anzukommen. Ein brutzelnd zappelnder, dabei preisgünstig reduzierter elektronischer Mix aus Samba und den Raps und bouncenden, streng synthetischen Beats des Miami Bass, funktioniert er in den westlichen Clubs sozusagen als vitalistisches Gegenkonzept zum Techno-Minimalismus. Wie der fern verwandte HipHop stößt der Funk dabei auch auf Widerstand aus den Mittelschichten – auch dank Texten, die zunächst noch sozialkritisch, später vor allem prall von Sex und Gewalt berichteten. Die populärste aktuelle Spielart heißt Funk ostentacao, in der nach Gangsta-HipHop-Art die Freuden des Luxuskonsums gefeiert werden. Sie wucherte zunächst vor allem in Konzerten und den überaus populären sozialen Netzwerken, bis im letzten Jahr MC Daleste, eine der Größen des Genres, bei einer Schießerei ums Leben kam. Der zur Schau gestellte Konsum erinnert natürlich an die soziale Ungleichheit im Land. Weshalb es nicht weiter verwunderlich ist, dass MC Guime, der reichste Star des Genres, gerade die inoffizielle Gegenhymne zur WM produziert hat. Allerdings hat er sich nicht nur den fußballerischen Hoffnungsträger Neymar sondern auch den Conscious-Rapper Emicida auf sein „Pais de Futbol“ geholt. Der wiederum – er tritt übrigens wie Altstar Sergio Mendes und Graveola im Haus der Kulturen auf – öffnet sich wie andere erfolgreiche Rapper schon länger der Samba- und MPB-Tradition. Copa da Cultura 2.0 vom 12. 6. bis zum 13. 7. im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10. Konzerte u. a. mit Fumaça Preta (28. 6.), Rainhas do Norte (13. 7.), Graveola (9. 7.) und Sergio Mendes (5. 7.). Informationen unter www.hkw.de

Der Ball und die Seele Eine Fußball-Weltmeisterschaft bietet dem interessierten Deutschen die Möglichkeit, in recht kurzer Zeit recht viel Bier zu trinken und im Chor mit anderen Menschen Dinge zu rufen, die er sonst nicht mal denken würde. Das Ganze nennt man dann hierzulande Sommermärchen. Eine Fußball-Weltmeisterschaft bietet aber auch die Chance, fremde Länder und Kulturen kennenzulernen. Oft ist es sogar so, dass die Mentalität eines Volkes den Charakter des Spiels bestimmt. Oft übrigens auch nicht. Horst Evers, einer der größten Menschendeuter unserer Zeit, ist auch ein toller Fußballsoziologe. Es genügt, ein wenig in seinem Buch zu blättern, um zu verstehen, dass der Fußball eine Miniatur der nationalen Seele ist. Zuweilen schleicht sich bei Evers das eine oder andere Klischee ein, was aber nicht wie bei weniger begabten Autoren zu Langeweile führt, sondern fast immer in tiefer Weisheit endet. So schreibt er zum Beispiel: „Es heißt, Brasilianer würden schon mit dem Ball am Fuß geboren, was das Leben für die brasilianischen Mütter, zumindest bei der Geburt, nicht gerade einfacher macht.“ (leo.) Horst Evers, Vom Mentalen her quasi Weltmeister, Rowohlt-Verlag, Reinbek 2014, 272 S., 18,95 Euro.

Wie Pelé Pelé wurde Anfang der Sechziger gab es in Brasilien zwei große Fußballer. Der eine hieß Pelé, der andere Garrincha. Sie kamen beide aus armen Verhältnissen. Der eine setzte sich nach seiner Zeit beim FC Santos und einem Zwischenspiel bei Cosmos New York noch einmal auf die Schulbank und studierte danach. Begann eine zweite Karriere als Botschafter des Fußballs, Werbefigur, Sportminister. Blieb ein Star und wurde reich. Der andere starb mit 49 arm und einsam an Leberzirrhose. Es sind die zwei Wege, die ein brasilianischer Aufsteiger zu dieser Zeit gehen konnte. Pelé erzählt in diesem Buch von seinem Weg. Am interessantesten aber sind die Passagen, in denen wir vor großen Spielen der Nationalmannschaft praktisch mit in der Kabine sitzen, 1958, 1962, 1970 – Pelé erzählt, wie es kam, dass Brasilien immer wieder Weltmeister wurde. Erinnerungen an eine Zeit, als Fußballübertragungen noch schwarz-weiß waren und wir das Genie aus dem fernen Land mit großen Augen bestaunten. (tl.) Pelé, mit Brian Winter: Pelé. Warum Fußball? Hannibal-Verlag, Höfen 2014. 271 S., 19,99 Euro.


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Berliner Zeitung · Nummer 131 · 7./8./9. Juni 2014

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WM-Magazin

IM RÜCKBLICK NOTIERT VON ARNO WIDMANN

7. Juni 1934

IMAGO

Dritter: 1930 fand die erste Fußballweltmeisterschaft statt. Deutschland sollte der Austragungsort sein. Lehnte ab, auch die Teilnahme. 1934 war es in Italien dabei. Es wurde – mit einem 3:2 gegen Österreich – Dritter. Weltmeister wurde Italien. Der Duce hatte es befohlen. Im Halbfinale verhinderte der schwedische Schiedsrichter ein Tor gegen Italien, indem er den Ball vor dem Österreicher Zischek wegköpfte. Dafür durfte er auch das Finale pfeifen, Mussolini bekam seine Sieger. So schön beschrieb das einmal Christian Eichler in der FAZ.

B I B LI OTE C A UN I V E RSITARIA E STE NSE

So sehen Sieger aus: die italienische Mannschaft des Jahres 1934.

Am 7. Juni 1494 wird der Vertrag von Tordesillas unterschrieben. Spanien und Portugal teilen sich die Welt auf. Die bekannte und die unbekannte. Für einen Augenbick nur. In dem entsteht Brasilien. VON ARNO WIDMANN

Was hat mit alledem der Papst zu tun? Er teilte eine Welt auf, die ihm noch weniger gehörte als den Seemächten Spanien und Portugal. Er war ein Mittler, ein Mister 5 Prozent. Die päpstliche Autorität sollte dem Vertrag die höheren Weihen geben. So liest man es oft in den Büchern. Aber kein Vertrag in der Weltgeschichte galt darum länger, weil ein Papst ihn abgesegnet hatte. Es ging bei dieser Weltaufteilung noch um etwas anderes. Etwas, das den Papst unmittelbar einschloss: Er übertrug die Missionsarbeit den staatlichen Gewalten. Es waren ja nicht nur neue, der Bibel unbekannte Territorien, sondern auch neue Menschen entdeckt worden. Es gab eine umfangreiche Debatte darüber, wie man sie in die Weltgeschichte, die ja auch als Heilsgeschichte begriffen wurde, einordnen konnte. Solange man felsenfest davon ausging, dass es sich bei den entdeckten Territorien um Gegenden handelte, die dem indischen Subkontinent zuzuordnen waren, war das unproblematisch. Man konnte anknüpfen an das legendäre asiatische Reich des christlichen Priesterkönigs Johannes. Das wurde schwierig, als die wirkliche Geografie des Westindien genannten Amerika immer klarere Konturen annahm. Die Mission war die ständige Begleiterin der Kolonisation. Sie machte aus der Unterwerfung unter die Kolonialmächte eine unter den Willen des einzig wahren Gottes. In

WE LTFUS S B ALLAR C H I V

Wir sind die Könige der Welt!

den Kolonien waren geistliches und weltliches Schwert eines: das des Königs. Man könnte sagen: in den Kolonien trainierte der Absolutismus schon einmal. Allerdings der König war fern. In Wahrheit regierte hier der Vizekönig. Doch zurück zum Vertrag. Er ist auch ein Musterbeispiel dafür, wie Diplomatie funktioniert. Man einigt sich, lässt aber an wesentlichen Stellen offen, worüber. Zum Beispiel heißt es im Vertrag – man kann ihn im Internet einsehen und nachlesen – 360 Leguas westlich der Kapverdischen Inseln. Aber er lässt offen, ob man das von der östlichsten oder der westlichsten Insel aus berechnet. Immerhin 290 Kilometer Unterschied. Die Maßeinheit des Vertrags ist die Legua. Aber nirgends ist sie definiert. Spanische und portugiesische Legua sind unterschiedlich lang. Die Kunst der Diplomatie besteht ja nicht in der Lösung von Konflikten sondern in deren – so heißt es – Beilegung. 1529 wurde zwar der Vertrag noch nicht beigelegt, aber doch die auf unserer Karte eingetragene Trennlinie wieder einmal verschoben. Die neue Linie verlief 297,5 Leguas – ich habe mir den Vertrag von Saragossa nicht angesehen, weiß also nicht, ob man diesmal Leguas definierte – östlich der Molukken. Es war ein kurzer Augenblick der Weltgeschichte, in dem sich das Schicksal des späteren Brasiliens entschied. Wäre es bei der Grenzziehung von 1493 geblieben, in Brasilien spräche man heute nicht nur Spanisch, Brasilien hätte auch eine völlig andere Geschichte gehabt als das Land sie hatte. Die frühe Schwächung Portugals hat Brasilien im 17. Jahrhundert zum Beispiel einen mehr als dreißigjährigen Krieg mit den Niederlanden beschert, die immer wieder versuchten, sich einen Happen aus dem riesigen Land herauszubeißen. Gleichzeitig entstanden Territorien, auf denen geflohene Sklaven sich eigene befreite Gebiete schufen. Die wurden ebenso wieder vertrieben wie die Niederländer. Während im frühen 19. Jahrhundert die spanischen Kolonien, die Schwächung des Mutterlandes durch die Napoleonischen Kriege ausnutzten, um sich von Spanien und der spanischen Krone zu lösen. Simón Bolívar und José San Martín waren mehr oder weniger republikanische Militärs, für die der Kampf gegen die Kolonialmacht ein Kampf gegen die Monarchie war. Ganz anders die Lage in Brasilien. Als die napoleonischen Truppen in Spanien einmarschierten, floh der gesamte portugiesische Hof, einschließlich der Staatskasse, im November 1807 von Lissabon nach Rio de Janeiro. Nun war Brasilien keine Kolonie mehr, sondern Bestandteil des Mutterlandes. Den Engländern, die die Flucht des Hofes unterstützt hatten, wurden die Häfen geöffnet. Es gab Zollvergünstigungen, und es gab Zuzug von Intellektuellen und Künstlern. Der neue Hof machte Staat. Nach der Niederlage Napoleons kehrt der König – widerstrebend und darum erst 1821 – zurück nach Portugal. Als die Ständevertretung in Lissabon fordert, Brasilien wieder zur Kolonie zu erklären, setzt sich der Sohn des portugiesischen Königs an die Spitze der brasilianischen Unabhängigkeitsbewegung und ruft am 12. Oktober 1822 das Kaiserreich Brasilien aus. Wir haben uns weit vom Vertrag von Tordesillas entfernt, aber wir sehen auch, wie sehr er, obgleich nichts als das Ergebnis einer Konstellation der Kräfte, die es nur für einen kurzen Augenblick gab, doch Jahrhunderte bestimmte. Formal wurde der Vertrag übrigens erst 1750 durch den Vertrag von Madrid aufgehoben. Giovanni Borgia freilich, dem zuliebe sein Vater Spanien 1493 einen so dicken Batzen einer damals nur virtuellen Welt zusprach, hatte schon 1496 Spanien wieder verlassen müssen. Ob das auch eine Reaktion auf den Vertrag von Tordesillas und die Einbußen, die er Spanien brachte, war, weiß ich nicht. Sicher dagegen ist, dass Giovanni Borgia in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1497 in Rom ermordet wurde. Niemand weiß von wem. Es kommen einfach zu viele infrage. Immer wieder kommen Staaten und ihre Lenker auf die Idee sich mit der Konkurrenz zu einigen und den Globus unter sich aufzuteilen. Geklappt hat das noch nie. Die Geschichte des Vertrages von Tordesillas ist eines der Beispiele solcher gescheiterten Ambitionen. Immerhin hat er Brasilien und die Samba ermöglicht. Ähnliches kann man von kaum einem anderen dieser Großprojekte sagen.

Streitkräfte: In Bukarest wird der Verein Steaua (Stern) am 7. Juni 1947 als Fußballclub der rumänischen Armee gegründet. Zwischen 1985 und 1990 gehörte Steaua zu den europäischen Spitzenvereinen. Den größten internationalen Erfolg feierte Steaua Bukarest 1986, als die Mannschaft im Finale des damaligen Europapokals der Landesmeister den favorisierten FC Barcelona in Sevilla 2:0 nach Elfmeterschießen besiegte. Anschließend gewann sie den europäischen Supercup. 1988 erreichte sie das Halbfinale. Ein Jahr später stand Steaua wieder im Finale, unterlag dem AC Mailand aber mit 0:4.

Der rote Stern im Wappen ist das Erkennungszeichen von Steaua Bukarest.

7. Juni 2014 WM in Bamberg: Eine Fußball-Weltmeisterschaft der besonderen Art veranstaltet die Mediengruppe Oberfranken mit ihren Zeitungen Fränkischer Tag, Bayerische Rundschau und Coburger Tageblatt zusammen mit dem Fußball-Regionalligisten FC Eintracht Bamberg 2010 und dem Bayerischen Fußball-Verband am Sonnabend, dem 7. Juni, in Bamberg. Für Kinder im Alter von acht bis zehn Jahren (E-Jugend) findet ein überregionales Fußballturnier statt, bei dem der offizielle Spielplan der Fußball-Weltmeisterschaft von Kindern nach- – oder besser – vorgespielt wird.

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ir machen uns heute lustig über Leute, die mit Grundstücken auf dem Mars spekulieren wollen. Dazu ist zu sagen, Bekanntes kann man berechnen. Spekulieren kann man nur mit Unbekanntem. Das gilt für Himmel und Hölle, das gilt für den Mars, und das galt für Amerika. Bitte sehen Sie sich die oben abgedruckte Karte an. Denken Sie sich den Grünstich bitte einfach weg. Das Original hat ihn nicht. Er ist eine künstlerische Zutat, dieser Weltmeisterschaftsausgabe des Magazins zuliebe. Sie müssen sich allerdings auch etwas hinzudenken. Die Karte, wie wir sie abdrucken ist nur ein Ausschnitt. Auf dem Original geht der Pazifik noch wesentlich weiter. Nur so hat die Karte ja auch Sinn. Sie soll schließlich die Welt aufteilen. Sie sehen die beschriftete Linie links im Bild? Können Sie die Inschrift lesen? Sie lautet: „Este e o marco dantre Castella y Portugall“. Diese Markierung trennt also den überseeischen Besitz Kastiliens von dem Portugals. Die Karte stammt aus dem Jahre 1502, sie wurde, so ist auf der Rückseite zu lesen, „geschaffen, um zu den neu gefundenen Inseln Indiens zu segeln“. Nachher ist man schlauer, und jedes Schulkind weiß heute, dass es bis Indien auf diesem Weg erheblich länger dauert. Damals war man gerade bis Amerika gekommen. Dass es sich dabei um einen Doppelkontinent handelte, ahnte der unbekannte Zeichner dieser in der heute noch existierenden Bibliothek der Este, der Herzöge von Modena, aufbewahrten Karte nicht. Noch ein paar Jahre weiter von dieser Erkenntnis entfernt waren die Herren, die 1494 den berühmt-berüchtigten Vertrag von Tordesillas aushandelten und unterzeichneten. An diesen Vertrag soll hier erinnert werden. Man sagt gerne von ihm, er sei das Muster eines Vertrages zulasten Dritter. Das ist natürlich nur dann wahr, wenn man verdrängt, dass jeder Vertrag ein Vertrag zulasten Dritter ist. Aber wer einen Blick auf die Karte wirft, der fragt sich, wie Spanien und Portugal nur glauben konnten, die Welt unter sich aufteilen zu können. Die gerade erst erwachenden Niederlande standen doch schon in den Startlöchern, und England segelte seinem goldenen Zeitalter entgegen. Ganz abgesehen davon, dass das osmanische Reich noch immer eine Großmacht war. Der Vertrag von Tordesillas war, wie solche Verträge fast immer, eine Korrektur. Im Frühjahr des vorangegangenen Jahres hatte Papst Alexander VI. die Welt noch ganz anders aufgeteilt. Der Borgia-Papst hatte es geschafft, seinen Sohn Giovanni Borgia nach Spanien zu verheiraten und ihn so das Herzogtum Gandia in Besitz nehmen zu lassen. Dafür zog der Papst in der Bulle „Inter Caetera“ eine für die spanische Krone sehr vorteilhafte Linie. Sie verlief 100 Leguas westlich der Kapverdischen Inseln in Nord-Süd-Richtung von Pol zu Pol durch den Atlantischen Ozean. Alles, was westlich von ihr an entdeckten oder noch zu entdeckenden Territorien lag, sollte Spanien gehören. Das rief die Portugiesen auf den Plan. König João II. protestierte. Es wurden neue Verhandlungen angesetzt. Die fanden in einem gerade erst neu erbauten Haus – das gibt es leider nicht mehr – im westspanischen Tordesillas statt. Der Ort liegt am Douro und so konnte der portugiesische Verhandlungsführer Duarte Pacheco Pereira an den Portweinhügeln entlang zu denVerhandlungen fahren. Am 7. Juni 1494 gab es ein neues Ergebnis. Das lautete: Die Grenzlinie verläuft 370 Leguas westlich der Kapverdischen Inseln. Also etwa auf 46 Grad 30 Minuten westlicher Länge. So fiel das erst im Jahre 1500 von Pedro Alvares Cabral entdeckte Brasilien der portgiesischen Krone zu. Darum spricht man noch heute dort Portugiesisch und nicht wie auf dem Rest des Kontinents Spanisch. Schon damals aber hatte man den Verdacht, dass die Portgiesen doch schon eine Ahnung hatten von der Ausbuchtung des südamerikanischen Kontinents und darum so schnell und energisch intervenierten. Duarte Pacheco Pereira (um 1469–1533) war die ideale Besetzung als einer der Unterhändler. Er war der erste Geograf, dem es gelang, die Gradeinteilung der Meridianbogen annähernd korrekt (Wikipedia) zu berechnen. Außerdem war er ein sehr energischer Herr, dem es dann auch später gelang, Portugal Besitz in Indien zu verschaffen.

Weltkarte von 1502, Pergament, 2,20 mal 1,05 Meter. Sie ist ein Geschenk des „agente informador“ an den Herzog Hercules d’Este.

7. Juni 1947

Stabile Flugeigenschaften: Brazuca, der offizielle Ball zur WM.

Und am 7. Juni 1982 in der Berliner Zeitung Brasilien Weltmeister: Der Fußball- Fan in Spanien verfolgt zwei Wochen vor Beginn der „Mundial-82“ mit großem Interesse die von der Presse aufgeworfene Frage: Wer wird Weltmeister? Angestachelt wird diese Diskussion noch durch Meldungen, wonach ein italienischer Computer den Weltmeister und auch die Plazierung bis Rang 4 „ausgerechnet“ habe. Wollte man diesem Wunderwerk der Technik glauben, so lautete das Endspiel: Brasilien gegen Spanien 2:1. Den Kampf um den 3. Platz würde die BRD mit 1:0 gegen Argentinien gewinnen. Im Halbfinale schließlich spuckte der Computer ein 1:0 Spaniens gegen die BRD aus und nannte sogar den Torschützen: Lopez Ufarte.


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WM-Magazin

LIEBESFRAGEN

Etliche Redakteurinnen der Berliner Zeitung erleben ihre Männer bei einer WM völlig anders als im normalen Leben. Die Männer sind plötzlich begeisterungsfähig, emotional ansprechbar und haben glänzende Augen. Deshalb die Frage der Redakteurinnen: Ist es bescheuert, auf einen Fußball eifersüchtig zu sein?

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chaut man sich Bilder von Demos, etwa jenen der Dienstleistungsgewerkschaft, an, oder vom Straßenwahlkampf der Parteien, sieht man immer das Gleiche. Eine etwas schale Fröhlichkeit oder gleich bleierne Langeweile. Wie anders dagegen Bilder von Fußballfans! Im Leiden verzerrte Gesichter, ekstatisches Jubeln, grimmiges Brüllen, als müsse man seinen Weiler vor einer Horde Wikinger schützen. Während es doch bei den Demos oder dem Wahlkampf um etwas geht – müssten die Emotionen da nicht umgekehrt verteilt sein? Aber gerade, weil es bei den erstgenannten Ereignissen um etwas geht, sie also einem Zweck dienen, sind die Ausführenden nur Diener der Sache, sie sind nicht mit ihren Gefühlen beteiligt. Bilder wie vom Fußball kennen wir sonst nur von religiösen Prozessionen in Ländern, wo noch geglaubt wird, dort staunen die Menschen, strahlen, sind ergriffen. Niemand ist ergriffen von der Frage, ob Angela Merkel oder ein Bürokrat der SPD dem Land vorsitzt, aber viele geraten völlig aus dem Häuschen, wenn es darum geht, ob nun Grün-Gelb, Blau, Rot oder doch, endlich mal wieder, Schwarz-Weiß Weltmeister wird. Der Kulturhistoriker Johan Huizinga, Niederländer, also noch nie Fußballweltmeister, stellte dem Zweckmenschen Homo faber den Homo ludens entgegen, den spielenden Menschen. Betreten wir das Spielfeld, stoßen wir in die Welt des Ausnahmezustands vor. Hier verschwenden wir uns, die Komplexität der Welt löst sich auf und wird zur Frage von Sieg oder Niederlage, Tor oder Nicht-Tor. Nur ein Spiel? Gerade darauf kommt es an: Robert Pfaller, österreichischer Philosoph, niemals Weltmeister, erklärt, dass gerade die durchschaute Illusion des Spiels Exzess und Gebanntheit auslöse. Wir fiebern, wir brüllen die Leinwand an, wir sind abergläubisch. Laufen wir brüllend durch die Straßen, halb laufend, halb hüpfend, weil unsere Rente erhöht wurde? Unsterblich sind wir nur im Spiel für einen Moment. Wer nicht spielt, hat nicht gelebt – darauf kann man eifersüchtig sein. Aber das Spiel kann man nicht spielen, nur wer mit heiligem Ernst den Fernseher anschaltet, wird mit Ekstase belohnt. Die Liebe stellt Sie vor schwierige Fragen? Malte Welding gibt Ihnen eine Antwort. Schreiben Sie an: liebe@berliner-zeitung.de

AFP / C H R I S TOP H E S I MON

Ist es bescheuert, auf einen Fußball eifersüchtig zu sein?

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enn die Statistik wirklich stimmt, dass 90 Prozent der Brasilianerinnen unzufrieden sind mit ihrem Aussehen, dann gehört Flávia Pullig zu den anderen zehn Prozent. „Ich hatte nie Probleme mit meinem Selbstvertrauen, ich fand mich immer schön, so wie ich bin“, sagt sie, „es ist doch wunderbar, wenn man Kurven hat, die man zeigen kann!“ Mit ihren barocken Formen hofft sie, künftig sogar ihr Geld zu verdienen. Denn Pullig, die in einer Autovertretung als Buchhalterin arbeitet, hat vor Kurzem den Wettbewerb „A gordinha mais bela do Brasil“ gewonnen, auf Deutsch: Brasiliens schönstes Dickerchen. Und das, hofft sie, ist ihr Sprungbrett in eine Karriere als Plus-Size-Model. Flávia Pulligs 92 Kilogramm verteilen sich auf 1,67 Meter Größe. Wenn man ihr Gewicht durch das Quadrat der Körpergröße dividiert, kommt man auf einen Body-Mass-Index von 33. Alles über 30 nennt die Weltgesundheitsorganisation „fettleibig“. Also eine Körperverfassung, die eher die Zugehörigkeit zu den 90 Prozent der unzufriedenen Frauen nahelegen würde. Die 28-Jährige beteuert, für sie sei die Körperfülle nur mit einem einzigen Nachteil verbunden: der Schwierigkeit, nicht nur passende, sondern vor allem flotte, jugendliche Kleidung zu finden. „Das hört eigentlich bei Größe 40 schon auf“, klagt sie, „auch wenn es in den vergangenen Jahren deutlich besser geworden ist.“ Die brasilianische Bekleidungsindustrie hat sich auf die neuen Körpermaße eingestellt. Bikinis in Größe 34 oder 36? In Rio de Janeiro verkaufen die sich nur noch in den eleganten Boutiquen von Leblon oder Ipanema gut, den Reichen-Vierteln, wo man auf den Straßen und an den Stränden deutlich weniger Dicke und dafür mehr Sportive sieht, egal welches Geschlechts. Aber in den Läden und Kaufhäusern, in denen die untere Mittelschicht kauft, sind die kleinen Größen Ladenhüter. Die frühere 40 ist heute eine 38, was ehemals 42 war, ist zu 40 geworden. Und so weiter: Die Menschen werden immer dicker, die Zahlen immer gnädiger. Brasilien, das Land der schönsten Frauen der Welt – das ist ein Klischee, das nirgendwo eitler und emsiger nachgeplappert wird als in Brasilien. Die dazugehörigen Männer-Fantasien – die der Frauen sehen nicht viel anders aus – beschwören den perfekten Körper herauf. Wobei Perfektion natürlich ein Ideal ist, oder in diesem Fall auch zwei: Weiß, groß, mager, blond, mit glattem Haar und großem Busen – das wäre das Gisele-Bündchen-Ideal. Kleiner, vollschlank, dunkelhäutig, schwarzhaarig, lockig und vor allem mit großem Po, so sähe das Konkurrenz-Ideal aus. Das Problem ist bloß: Wenn die Brasilianerinnen in den Spiegel schauen, stimmen Realität und Ideal nur selten überein. Die meisten sehen eben nicht aus wie das viel besungene „Girl From Ipanema“. 50,8 Prozent der Brasilianer haben Übergewicht, also einen Body-Mass-Index von über 25, wobei die Frauen mit 47,4 Prozent immerhin besser abschneiden als die Männer, von denen 54,7 Prozent zu viel auf den Rippen haben. Und 17,5 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer sind „obesos“, fettleibig, liegen also über der 30er-Marke. Die Gründe sind mehr oder weniger dieselben wie überall auf der Welt: falsche Ernährung und zu wenig Bewegung. Immerhin gibt es zwei gute Nachrichten: Erstmals seit acht Jahren sind diese Zahlen nicht höher als die des Vorjahrs; die Brasilianer haben also immerhin aufgehört, immer dicker zu werden. Die zweite gute Nachricht ist nur relativ gut: Die Nachbarn sind noch dicker. In Argentinien ist jeder fünfte Erwachsene fettleibig, in Chile jeder vierte, in Mexiko jeder dritte. Dass die

Über die Hälfte der Brasilianer ist übergewichtig. Die gute Nachricht: Bei den Nachbarn, etwa Chile oder Argentinien, ist es noch schlimmer.

Die Dicken erobern das Land

Das Bild vom Modelkörper der Brasilianer ist ein Klischee. Falsche Ernährung und zu wenig Bewegung machen Fettleibigkeit zum Massenphänomen VON WOLFGANG KUNATH dicken Brasilianer mehr Verblüffung auslö- keit abzusprechen, das bedeutet fast schon sen, liegt wohl daran, dass Dicksein ganz zu sagen, dass sie schlampig sei. Und so und gar nicht zu den Vorstellungen von kommt es, dass Brasilien heute weltweit Brasilien und seinem Körperkult passt. der drittgrößte Markt für Kosmetik und HyMit dem Vorurteil, Bragieneartikel ist, nur übersiliens Frauen seien die troffen von den USA und schönsten der Welt, geht Japan. Etwa 18,4 Milliarein zweites Hand in Hand: den Euro gaben die Brasidass Brasiliens Frauen die lianer 2013 für Puder, Paseitelsten der Welt seien. ten und Pomaden aus, Wobei weniger der Superzwölf Prozent mehr als im lativ interessant ist als Jahr davor. Und die zweite vielmehr der Begriff der Branche, die von der EitelEitelkeit, und wie er verkeit lebt, ist die plastische wendet wird. Die katholiChirurgie. Die meisten sche Kirche, der ja die Brasilianer finden nichts meisten Brasilianer angedabei, die Natur nicht nur hören, lehrt zwar, dass die mit Kosmetik zu korrigieBrasiliens schönstes Eitelkeit zu den Hauptren, sondern auch mit Dickerchen – das ist Flávia sünden gehört. Aber Pullig. Sie arbeitet dem Skalpell. schon die Kolonialherren in einer Autovertretung Schönheitsoperatiosagten sich, südlich des und war schon immer nen sind Eingriffe von hoÄquators gebe es keine stolz auf ihre Kurven. hem Sozialprestige, die Sünde. Heute ist Eitelkeit deshalb kaum nach Disin Brasilien eher eine Tukretion verlangen. gend als eine Sünde. Wenn man einer Frau „Waaaas, du hast neue Brustimplantate, bescheinigt, sie sei eitel, dann macht man zeig doch mal!“ – so beschreibt der in Rio ihr ein Kompliment. Ihr dagegen die Eitel- de Janeiro praktizierende SchönheitschiFI L I P E ME N EG OY

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MALTE WELDING ANTWORTET

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rurg Volney Pitombo den typischen Umgang seiner Kundinnen mit dem Thema. 905 000 Operationen hat der Verband der Fachärzte 2011 registriert; neuere Zahlen liegen nicht vor. Mit 4,6 Schönheitschirurgien pro 1 000 Menschen liegt Brasilien weltweit an der Spitze, in den USA sind es 3,5, in Deutschland 2,3. Und wenige Branchen sind so dynamisch gewachsen. Von 2007 bis 2011 haben die Schönheitschirurgen die Zahl ihrer Operationen verdoppeln können, und am kräftigsten ausgeweitet – um 130 Prozent – haben sich Fettabsaugungen (Liposuktionen). Verringerungen von Leibesumfängen lagen, nach Brustvergrößerungen, an dritter Stelle. Dicksein und damit unglücklich – diese Kombination ist es, die die Wartezimmer der Schönheitschirurgen füllt. Übrigens bieten Brasiliens Banken spezielle Kreditlinien für „cirurgias plásticas“ an: Bis zu 7 000 Euro, abstotterbar in 48 Monaten. Und die Praxen machen Sonderangebote: Wer sich zum Beispiel den Bauch verkleinern lässt und auch noch eine Liposuktion dazukauft, spart 20 Prozent und zahlt nur 1 700 Euro. Den gleichen Rabatt gibt es für die – auf den ersten Blick – etwas widersprüchliche – Kombination Fettabsaugung plus Pobacken-Vergrößerung, beides für 1 800 Euro. Solche Eingriffe werden oft an einem Tag gemacht – so wie Mitte Mai bei der 26-jährigen Tänzerin Zulmariana Chareet Oliveira, die starb, nachdem man ihr ein paar Stunden vorher die Brustimplantate ausgewechselt und zugleich Fett abgesaugt hatte. Eines der Opfer des Schönheitswahns, von denen die Presse immer wieder berichtet. „So etwas ist doch krank, Operationen sind schließlich schwere Angriffe auf den Körper“, sagt Claudia Ferreira zu dem Schlank- und Schönheitswahn, der gesunde Frauen zu den einzigen Ärzten treibt, die keine Kranken behandeln: „Lieber dick und fröhlich sein, als leiden bis zum Tod!“ Ferreira arbeitet seit zehn Jahren als Event-Managerin und Künstler-Agentin. Sie hat den Wettbewerb erfunden und organisiert, bei dem Flávia Pullig zur Schönheitskönigin mit grüngelber Schärpe und glitzerndem Krönchen gekürt wurde. Sie hat auch eine Kollektion erotischer Verkleidungen speziell für Dicke kreiert, die sie auf ihrer FacebookSeite am eigenen Leib präsentiert. „Es geht doch nicht um die Verherrlichung der Fettleibigkeit“, sagt Claudia, die mit 110 Kilogramm und 1,74 Metern auf einen BodyMass-Index von 36 kommt, „wir wollen nur, dass die Schönheit von Frauen mit Übergewicht gewürdigt wird.“ Das Ideal heißt Fluvia Lacerda, ein brasilianisches Model mit der Konfektionsgröße 48, das in den USA lebt, bis zu 20 000 Dollar Tagesgage kassiert und als „Gisele Bündchen Plus-Size“ bezeichnet wird. Die schöne, erfolgreiche Kollegin ist für Claudia, Flávia und viele andere Übergewichtige ihrer Szene – eine verschworene Gemeinschaft, die sich via Facebook um die Gordinhas-Wettbewerbe gebildet hat – das schlagende Beispiel dafür, dass dicke Frauen schön und erfolgreich sein können. Auch wenn Flávia Pullig einräumt, viele Übergewichtige litten unter ihrer Figur – sie und ihre Freundinnen haben sozusagen die Flucht nach vorne angetreten. Dick sein heißt schön sein, postulieren sie, und im Übrigen sei es ja erwiesen, dass der Brasilianer – gemeint ist der männliche – „gerne etwas in der Hand hat“ und Vollschlank vorzieht. Bloß dass eben die Medien unentwegt das andere, das falsche Schönheitsideal propagierten, und dem gingen die Männer oft auf den Leim. „Die Norm sind doch wir“, sagen sie, „und die anderen sind zu dünn!“ Für ihre eigenen erotischen Präferenz gelten allerdings andere Maßstäbe: „Nein, dicke Männer mag ich nicht“, sagt Claudia Ferreira, und Flávia Pullig stimmt sofort zu: „Meiner ist auch ganz normal.“


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