Delirium Ausgabe N°6

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Frühling 2016 N° 06

Zeitschrift gegen Literatur

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Impressum Herausgeber: Verein delirium Zürich Layout: Captns & Partner GmbH Flurin von Salis, Mauro Schönenberger www.captns.ch Illustration: Dario Forlin www.darioforlin.com Fotografie Cover: Pius Bacher www.piusbacher.com www.captns.ch

Beitragende: Laura Basso (Redaktion) Sebastien Fanzun Gian Fermat Ibrahim Flachskap Daniel Grohé (Redakion) Andreas Hauri (Redaktion) Patrizia Huber Demian Lienhard János Moser Samuel Prenner (Redaktion) Gregor Schenker Thibault Schiemann Carlo Spiller Cédric Weidmann (Redaktion) Heiner Weidmann Maya Wohlgemuth (Redaktion) Sandro Zanetti

Auflage: 1000 Druck: Basisdruck AG Schulweg 6 3013 Bern Kontakt: info@delirium-magazin.ch delirium-magazin.ch facebook.com/Magazindelirium twitter.com/imdelirium Abonnements: delirium-magazin.ch/abonnements Spenden: IBAN: CH92 0900 0000 3079 0665 7

Mit freundlicher Unterstützung

Abteilung für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (AVL) am Romanischen Seminar der Universität Zürich

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Editorial

Editorial Es war einmal ein kritischer Leser, der uns vorwarf, die Redaktion würde sich schwer tun, ein Verständnis von Kritik zu entwickeln, das weiter gehe als postmodernes anything goes. Dieser Vorwurf, so kritikgierig wir auch sind, hat mich verärgert. Und was wütend macht, muss wichtig sein. Dann kamen die Fragen: Heisst denn Offenheit immer auch Beliebigkeit? Welche Kriterien wendet man auf Kritiken an, die ihrerseits die «falschen» auf die kritisierten Texte anwenden? Wie geht man damit um, dass Kritiken immer auch Meinungen sind? Gilt es Meinungen, die auf «falschen» Annahmen basieren, zu respektieren oder nicht? Wie bestimmt man die Grenze zwischen «richtig» und «falsch», wie allgemeingültig oder flexibel ist sie anzuwenden, und wie dogmatisch darf eine Literaturzeitschrift eigentlich sein? Sind «falsche» Kriterien Grund genug, eine Kritik nicht abzudrucken, und wenn man sie abdruckt, wem schadet das eigentlich mehr, dem kritisierten Text oder der Kritik selbst? Wem hilft es? Wie soll die Redaktion zu einem einhelligen Kritikverständnis gelangen, wenn schon die Kriterien, die wir an Literatur anlegen, manchmal gänzlich unvereinbar sind? (Anmerkungen zur inneren Zerrissenheit der Redaktion sind an dieser Stelle nicht umsonst sehr beliebt.) Weshalb sollte überhaupt das Kritikverständnis der Redaktion wichtig sein – wichtiger als jenes der KritikerInnen und LeserInnen? Während mich der Vorwurf des Ulks, dem wir gelegentlich begegnen, kalt lässt («Bis heute greift der Reflex, dass mit Kunst, die lustig ist, doch irgendetwas nicht stimmen könne») ist dieser anything-goes-Vorwurf irgendwie… unbequemer. Vielleicht, weil er weder abzuweisen noch wirklich zutreffend ist. Vielleicht auch, weil der Eindruck entsteht, dass er die Aufgabe, derer delirium sich annimmt, verkennt. Würde eine feste Bestimmung dessen, was als «gute» Kritik zählt und was nicht, nicht auch das, was wir voranzutreiben versuchen – nämlich eine Diskussion über die Beurteilung von Literatur und Kritik – beenden? («Bestimmt man denn, wie Kritik sein soll, wenn man verneint, was nicht Kritik ist?» – Natürlich). Und ist diese Diskussion, gerade in der Postmoderne, nicht das eigentlich Notwendige? Nicht zuletzt deshalb, weil die Frage nach Ein-/Ausgrenzung, Definitionsmacht und dem Umgang mit Meinungen bei weitem nicht nur die Literatur betrifft. Der Vorwurf ähnelt für mich der Erwartung, wir hätten uns für etwas zu entscheiden – nicht weil die beste oder überhaupt eine Lösung gefunden worden wäre, sondern weil man mit dem Problem nicht klarkommt. Damit, dass immer wieder von neuem ausgehandelt werden sollte, mit welchen Kriterien und aus welcher Position man urteilt, weil es ausser in radikalisierten Weltbildern (links wie rechts) so etwas wie eindeutige und unveränderliche Kategorien von «gut» und «schlecht» nicht gibt. (Wie weltfremd und gefährlich es ist, sich in konstruierte Klarheit zu flüchten, versteht sich hoffentlich von selbst). Und mal abgesehen davon, dass verbindliche Kriterien für Kritiken das Ende unserer Debatte um Kritik bedeuten würden – wäre das nicht irgendwie auch echt langweilig? delirium heisst: jede Kritik ist eine Überraschung. Man kann Überraschungen generell nicht mögen oder von ihnen enttäuscht werden, aber selbst dann sind sie uns lieber, als Texte, die man gar nicht lesen muss, um zu wissen, was drinsteht. Deshalb präsentieren wir euch auch in dieser Ausgabe wieder fünf Überraschungseier. (Sowie Monster, Raumfahrtprojekte, Nicht-Sonette im Kranz, handlungsarme Einbrüche und einen Literaturvernichter.) LAURA BASSO

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Warum Du Gönner werden solltest – 10 Gründe

1. Weil Du dann das raffinierteste Literaturmagazin der Welt zweimal im Jahr bequem zu Dir nach Hause geschickt bekommst. 2. Weil wir Style haben, aber kein Geld. 3. Um uns mal richtig derbe abzufeiern, denn wir haben viiiieel mehr Ahnung von der Craft. 4. Weil wir selbst in schwarz-weiss ein grösseres Spektrum zu bieten haben als so manches Feuilleton. 5. Weil das Haus delirium auch Bewohner braucht. 6. Weil wir für Korruptionsskandale noch nicht gross genug sind und auch noch nicht too big to fail. 7. Weil unabhängige Studien bewiesen haben, dass delirium-Abonnenten im Schnitt besser aussehen. 8. Weil wir so selbstreferenziell sind, dass selbst Shia LaBeouf neidisch werden würde. 9. Weil Du als Gönner eine exklusive delirium Tasche erhältst. 10. Weil wir auch auf Bezüge von unseren Lesern angewiesen sind.

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S TA M M BAU M

4 Deliversum

Inhaltsverzeichnis

L I T E R AT U R

KRITIK

REINREDEN

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42

Amazonen und Monster

Tekeli-li Bd. 44: Horror im Tentakelwald

Zeitschrift gegen Literatur?

JÁNOS MOSER

GREGOR SCHENKER

CÉDRIC WEIDMANN

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18

44

Die Farbe des Projekts

Fünfzig Notizen zum Exzess des Indirekten

Wie Jacques Destouches sein Bein verlor

SANDRO ZANETTI

MAYA WOHLGEMUTH

21

26

47

Sonettenkranz ohne Sonette in stund zwölf Gedichten

Auf den Spuren der Alten

«Wenn Dada zwei dicke Titten hätte, wäre das ja alles kein Problem.»

SEBASTIEN FANZUN

PATRIZIA HUBER

CARLO SPILLER

ANDREAS HAURI

29

32

Thyestes’ Kinder

Fasanenhäppchen

DANIEL GROHÉ

HEINER WEIDMANN

35

39

Überraschung in Stockholm

Figuren der Versenkung

DEMIAN LIENHARD

IBRAHIM FLACHSKAP

A! R T er EX Post s e s ros te G

r Mi t in de ef ts! des H


All diese Bezüge, die überall im Heft versteckt sind, dieses ewige Bezugnehmen, die Möglichkeit, dass hier alles (auch) ein Bezug sein kann, machen nicht zufällig wahnsinnig. In allem Bedeutung und Verstrickungen zu sehen, ein Bezugssystem aufzubauen, das die Realität übersteigt und überformen kann, so stark, dass alles zur Gefahr wird (jede Regung, jedes Wort), nennt man Wahn (oder Verschwörungstheorie), und delirium ist Wahn – natürlich. (Was man wiederum auch sehr schön wahnhaft übersteigern könnte.) Dazu gehört, dass wir die Frage nach Realität und Fiktion längst hinter uns gelassen haben. Wir fragen, besonders in dieser Ausgabe, vielmehr nach der Etage im Hochhaus der Metafiktionalität oder nach dem – selbstverständlich verschachtelten, überwuchernden und in sich zusammenfallenden – Bezirkskomplex der metafiktionalen Grossstadt (so viel zu: «das Haus delirium»). Ganz schön verwirrend. Wobei ja Wahnsinn und Verwirrung nicht dasselbe sind (Überbordung und Zerstückeltheit von «Sinn»), aber oft denselben Effekt haben: Angst. Nicht überraschend also, dass unsere Vorgabe des Bezugnehmens bei vielen Verunsicherung auslöst und nicht selten zu Ablehnung führt. Bezüge herstellen zu müssen, sei eine blöde Vorgabe, zu künstlich, zu forciert. Wir finden: Bezüge herzustellen, ist menschlich. Wir setzen alles, was uns begegnet, in Beziehung. Erzählen ist ohne Bezugnahme nicht möglich, somit kann es auch Literatur ohne Bezüge gar nicht geben. Wenn Wahn die krankhafte Übersteigerung des Bezugnehmens im Erleben ist, dann ist delirium die Entsprechung davon im Schreiben. delirium ist ein Wahnkosmos, weil unsere Vorgabe diesen «normalen» Prozess in der Literatur – zwangsweise – überdeutlich macht: Bezüge lauern überall. Das nervt. Und ist wahnsinnig ergiebig. LAURA BASSO

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Deliversum

Deliversum


N° 07

All diese Bezüge…

Überraschung in Stockholm

Amazonen und Monster Die Farbe des Projekts

N° 06

Wie Jaques Destouches sein Bein verlor

Thyestes, Kinder

Sonettenkranz ohne Sonette in stund zwölf Gedichten

Wie ich mich aufmachte, ein abgesägtes Körperteil wiederzufinden Die Kolumne Zum Geleit

meer

N° 05

Hommage an N°04

Comic Trugbild St. James

Das Unbehagen II

käpt’n Die Welt ist eine bösartige Maschine

Drachen und andere Viecher

Blindes Vertrauen

Etwas, das passiert ist

N° 04

Zwei Häufchen Über Schwindel

Das Unbehagen I Humorlos

Zum ausgebliebenen literarischen Rausch Notizen zur Zweifelhaftigkeit des literarischen Programms Genealogie

Hörig

N° 03

Doppelt verklärte Literatur Der Kannibale

Simulation eines Kommentars

Notizen zur Zweifelhaftigkeit … Editorial

Drei Geometrieaufgaben Editorial

Auerbach die Akte

N° 01 Gedichte. Formsache oder Geschmacksfrage?

7

Jason träumt

N° 02

und höre

Replik auf delirium N°01


JÁNOS MOSER

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LITERATUR

d n e r h ä w t r o … F n e h c s i m r e v d n u g a t l l A sich Marswelt …

KRITIK

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GREGOR SCHENKER 8


Amazonen und Monster REZENSION.

Das Romandebüt Tekeli-li des Jungautors Cédric Weidmann ist eine Reise in ferne

Länder – und bleibt dabei literarisch vor der Haustür. Cédric Weidmann, ein junger Zürcher Autor, der bislang mit Kurzgeschichten und Gedichten hervorgetreten ist, wagt sich in seinem ersten Roman Tekeli-li auf unbekanntes Terrain. Und das wortwörtlich: Denn der Leser sieht sich von den ersten Seiten an in eine seltsame Marswelt versetzt, in der Könige, Prinzessinnen und Klassenkampf herrschen. Was zunächst wie eine Verirrung anmutet, entpuppt sich als Spiel mit literarischen Fiktionen; Tekeli-li, so lautet der Name eines von Weidmann fingierten Science-Fiction-Magazins im Geiste Perry Rhodans, welches allmonatlich erscheint. In einer der amerikanisierten «Storys» kämpft «Zahïra, die Sternenjägerin» gegen die Invasion der «Grocks», einer Horde von menschenähnlichen Echsen. Alle vier Wochen werden die jungen Leser mit einer Fortsetzung bedient, die von neuen Abenteuern erzählt. Autor der Reihe ist der aus Ungarn stammende Schundproduzent Jens Steinmann, ein Alter Ego Weidmanns. Ein solch editorisch verschachtelter, wenn auch uninspirierter Rückgriff auf die in der Populärliteratur so beliebten Schwert- und Hexenmärchen mit schwer zu übersehenden völkischen Untertönen dient dem Autor als Vehikel der eigentlichen Geschichte. In dieser führt Herr Isler, Protagonist des Romans und Gymnasiallehrer, ein tristes Leben zwischen aufmüpfigen Schülern und unangenehmen Lehrerkollegen. Den einzigen Trost spenden ihm seine zahme Python namens Anna und das erwähnte Science Literatur

Fiction-Magazin, welches er jeden Monat im Comicladen kauft und auf dem Nachhauseweg verschlingt. Nach und nach nimmt ihn die Sternenjägerin gefangen; er beginnt zu halluzinieren und wird in absurde Unfälle verwickelt. Fortwährend vermischen sich Alltag und Marswelt. So nimmt die Python Anna in der Marsgeschichte die Form einer bösen Echsenkönigin an, und zuletzt landet Isler auf der Suche nach Jens Steinmann in einem ungarischen Städtchen, in dem einst eine Marskapsel abgestürzt sein soll. Cédric Weidmann versucht, mit anspielungsreichen Ideen auf der literaturgeschichtlichen (Meta-)Ebene zu verkehren. Das funktioniert an manchen Stellen ganz gut, indem er in der Marsgeschichte beispielsweise einen Diplomaten auftreten lässt, der die platten Charaktere dazu auffordert, das herrschende politische System infrage zu stellen. Andere Anspielungen überfrachten den Text. So ist das Kunstwort «Tekeli-li» offenbar keine Erfindung des Autors, sondern geht auf Edgar Allan Poe und H.P. Lovecraft zurück, welche die phantastische Literatur mit ihren Romanen Arthur Gordon Pym und Berge des Wahnsinns entscheidend mitgeprägt haben. In beiden Texten übernimmt die Lautmalerei die Funktion einer Art Beschwörungsformel. Dass Cédric Weidmann den Wahlspruch der Phantasten zum Titel eines Schundmagazins verkommen lässt, mag einerseits als ironischer Kommentar zur Geschichte der Phantastik gelesen werden, wird andererseits am Leser klanglos vorbeigehen, sofern er sich nicht ausführlicher mit dem Thema beschäftigt hat. Ebenso fragwürdig bleibt die Figur von Herrn Islers Sohn, der, gefüttert mit Anabolika, welche ihm die Mutter verabreicht, zu einem Monstrum heranwächst und den Protagonisten verfolgt. In einer Wendung Don Quijotescher Prägung hält Isler das ungarische Bauernmädchen, das ihn vor seinem eigenen Sohn rettet, für die Amazone Zahïra und verspricht sich ihr mit Leib und Seele. Ob die vielen tiefenpsychologischen Probleme, die der Autor damit aufwirft, gewollt sind, bleibt offen. Auf jeden Fall scheint Cédric Weidmann die Verehrung der Amazone mit seinen Figuren zu teilen – von einer Begegnung mit der Frau auf Augenhöhe, wie noch bei Max Frisch, ist der Autor leider weit entfernt. Wo Weidmann seine Phantasmagorie nicht mit Inhalt füllen kann, lässt er sein Alter Ego Jens Steinmann Interviews geben oder die Topographie des Mars-Fantasielandes erklären. Auch hier ein Rückgriff auf überholte literarische Stilmittel der Postmoderne.

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Sprachlich bewegt sich der Autor ebenfalls auf längst ausgetretenen Pfaden. Wo Frisch seine feministischen Inhalte in knappe Sätze verpackte, setzt Weidmann auf eine mit Substantivierungen überladene Sprache, die mühsam zu lesen ist. Das fällt besonders dort ins Gewicht, wo sie in der Konsequenz die simplen Stilmittel eines Perry Rhodan imitieren sollte, aber mit gedrechselten Worten scheitert. Ungewollte Komik bietet auch die Szene, in der Herr Isler in der Dusche von seiner Python überrascht wird. «Die Schlange hatte sich schneller um ihn gewunden, als er reagieren konnte. Sie drohte ihn zu würgen. Hektisch riss er sie weg, doch sie liess sich nicht abschütteln. Schon spürte er, wie sie ihm die Luft abschnürte. Seine Hände fuchtelten, bekamen das Radio zu fassen. Heftig schlug er ihr damit auf den Kopf». Der Anblick einer ausser Kontrolle geratenen Potenz endet sozusagen mit der Selbstkastration. Tekeli-li ist der Versuch einer Annäherung an die Klippen der Fantasie. Vieles ist schon gesagt worden über die Gefahr der Bücher, der Einbildungskraft. Don Quijote kämpfte gegen Windmühlen, Madame Bovary gegen die bürgerliche Gesellschaft. Der Kampf Zahïras gegen mutierte Echsen erscheint uns dagegen fad und abgeschmackt. Gymnasiallehrer Isler lässt sich von seiner Begeisterung für nationalistisches Gedankengut hinwegtreiben, gerät also nur in den Leerlauf von pubertären Träumen, die keinerlei gesellschaftlichen Zündstoff haben. Mit Weidmanns Amazonenverehrung wird über das Reaktionäre hinaus nichts oder kaum etwas gesagt. An anderer Stelle hat der Autor angekündigt, ein Konkurrenzheft gegen das studentische Literaturmagazin delirium gründen zu wollen, mit der Devise: «Abenteuer statt Kritik». Titel: Tekeli-li. Ob es ihm gelingt, sei dahingestellt.

Literatur

Z. JÁNOS MOSER

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Tekeli-li Bd. 44: Horror im Tentakelwald

sich vor Schmerzen. Mitten aus der Absturzstelle ragte das Wrack einer Raumkapsel. «Was meinst du, woher die stammt?», fragte Schryll. «Weiss nicht. Vielleicht von einem Frachtschiff. Von Piraten runtergeschossen.» «Oder ein Opfer der Grocks.»

«Pass auf, ich spüre Gefahr.»

Die Amazone und der Insektoide hielten sich noch

Vereinzelt zogen rote Wolken über den Himmel, wäh-

immer in Deckung. Um sie herum schwangen Tentakel

rend sich die Bäume des Tentakelwaldes im Wind wieg-

aggressiv hin und her – der Wald hatte sich vom ersten

ten. Aus der Ferne erklang ein heiseres Krächzen – eine

Schock erholt und geriet zunehmend in Aufruhr.

Gruppe von gewaltigen Stachelechsen sonnte sich am

«Bisher ist noch keiner ausgestiegen», sagte Zahïra.

Ufer des nahen Sees, dessen flache Wellen in der Sonne

«Es wird Zeit, dass wir nachsehen. Und dann von hier

glitzerten. Bergspitzen ragten aus dem Horizont wie die

verschwinden.»

Zinnen gewaltiger Schlösser. Im Sehschlitz des elektro-

Der Strahl aus Zahïras Waffe frass sich durch den

nischen Feldstechers wand sich eine Rauchsäule empor.

Stahl wie ein Messer durch Butter – nicht zum ersten

«Da, die Absturzstelle», flüsterte Zahïra, als sie das

Mal war die Sternenjägerin froh um ihre Pistole. Eine

Gerät ihrem besorgten Begleiter in die Hand drückte

Spezialanfertigung, wie es sie im ganzen Sonnensystem

und ihm die Richtung wies.

kein zweites Mal gab.

«In der Tat», antwortete Schryll. «Ich glaube auch,

«Versuchs jetzt», sagte sie zu Schryll. Tatsächlich ge-

Trümmer zu erkennen.»

lang es ihm, die Luke aufzuwuchten. Mit einem gewalti«Achtung!», brüllte Schryll. Mit seinen Heuschre-

beschränken, nur zur Sicherheit», sagte Schryll, doch

ckenbeinen sprang er sofort in Sicherheit, Zahïra hinge-

die grosse Amazone hatte sich bereits erhoben. Ihre

gen wurde vom Nebel eingehüllt. Sie verlor die Balance

muskulösen Beine trugen sie in Windeseile den Abhang

und ihren Stand auf der Hülle der Rettungskapsel; die

hinunter, an dessen Fuss der Tentakelwald begann. Ihre

Sternenjägerin prallte hart auf dem Boden auf. Ein Hus-

langen roten Haare waren zu einem Pferdeschwanz zu-

tenanfall schüttelte sie.

sammengebunden, der auf und ab wippte. Der Insek-

«Wie geht es dir?» Schryll war an ihre Seite geeilt.

toide seufzte resigniert. Zahïra stürzte sich mal wieder

«Mir ist schlecht», keuchte sie.

kopfüber ins Abenteuer, das kannte er schon, das wür-

«Ich fürchte, das war eine Giftgasfalle», sagte Schryll.

de wieder böse enden, sollen sie doch die Teufel holen!

«So haben die Grocks mein Dorf ausgelöscht.»

Er folgte ihr.

«Ich bin aber nicht tot», stellte Zahïra fest.

Tentakel-Äste tasteten sich scheu in Zahïras Rich-

«Bei meinem Dorf haben die Grocks ein halluzinoge-

tung, als sie sich in Deckung der Bäume der Absturz-

nes Gas eingesetzt. Die Folgen waren verheerend. Wie-

stelle näherte, den Griff ihrer treuen Strahlenpistole fest

viele Finger halte ich hoch?»

in der Rechten. Ab und an strich ein Tentakel über den

Zahïra antwortete nicht, denn sie hatte das Bewusst-

rauen Stoff ihres Schutzanzugs, nur um gleich wieder

sein verloren.

zurückzuzucken. Sofern man in Bewegung blieb, wa-

Als sie wieder zu sich kam, lag die Amazone auf ei-

ren diese Pflanzen harmlos – wer aber dumm genug

nem alten und für sie viel zu kleinen Sofa. In ihrem Rü-

war, sich hier für ein Nickerchen in den Schatten zu le-

cken konnte sie eine kaputte Feder spüren und in ih-

gen, konnte eine böse Überraschung erleben. Schweiss

ren Lungen die stickige Luft eines Wohnzimmers, das

stand auf Zahïras Stirn. Hinter sich hörte sie die Schrit-

seit Äonen niemand mehr gelüftet hatte. Dicke Vorhän-

te von Schryll; das leise Anschleichen lag ihm noch im-

ge hielten das Sonnenlicht draussen. Die Sternenjäge-

mer nicht. Sie hob die Linke, um ihm anzuzeigen, dass

rin blickte auf einen Schreibtisch, auf dessen Oberflä-

er stehen bleiben und sich bedeckt halten solle. Dann

che sich Dokumente und Bücher bis zur Decke stapelten.

überblickte sie im Schutz eines Baumstammes die Lich-

In einer Ecke hatte sich ein Schimmelpilz ausgebreitet;

tung, die sich vor ihr auftat. Rauch stieg aus einem Kra-

Staubflusen bevölkerten die Holzdielen.

ter von vielleicht zehn Metern Durchmesser; die Bäume

Ein Räuspern.

ringsum waren angesengt, verletzte Tentakeläste wanden

Zahïra rollte augenblicklich vom Sofa, kam auf die

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Kritik

gen Zischen explodierte giftgrüner Nebel ins Freie.

«Das sehn wir uns an. Aus der Nähe.» «Wir sollten noch warten und uns aufs Beobachten


Füsse und hob die Strahlenpistole mit einer so flüssigen wie entschlossenen Bewegung. Staub wirbelte hoch. Erfasst vom Lauf der Waffe, hob ein dickliches Wesen die Hände. «Moment! Halt!» Die Amazone hielt verduzt ein. Das Wesen, auf das sie ihre Pistole richtete, schien humanoid zu sein wie sie – allerdings war seine Haut blassrosa statt grün. Kleingewachsen war es, so dass es ihr gerade mal zum Bauchnabel reichte, dafür so dick wie eine Stachelechse. Die schütteren, wirren Haare standen vom Schädel ab, als wollten sie vor der grossen, fleischigen Nase flüchten. Die Kleidung erinnerte Zahïra an die Eunuchen des Marskaisers. Aber die Zähne waren in gutem Zustand. Dem Anschein nach war das Wesen männlich. Zahïra senkte die Waffe, ohne allerdings ihre Angriffstellung aufzugeben. «Wer zum Teufel bist du?» Der rosa Kerl erholte sich von seinem Schock und räusperte sich erneut. «Gib Acht, Zahïra, die Sternenjägerin. Ich bin dein Schöpfer! Meine Macht ist so gross, dass ich dich hierhin geholt habe, in meine Welt.»  Kritik

Zahïra hob die Strahlenpistole und schoss dem selbsternannten Schöpfer in den Fuss. Er sackte brüllend zusammen. Die Sternenjägerin packte ihn beim Kragen und las ihn vom Boden auf, so dass seine Füsse in der Luft baumelten. Der rosa Kerl wimmerte. «Genug der Witze. Wer bist du?» Fortsetzung folgt. Von Jonathan Stone GREGOR SCHENKER

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SEBASTIEN FANZUN

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LITERATUR

… furchtbare r sei das Gefühl, von e iner lidlosen Abw esenheit beobacht et z u werden wie irgendei n Insekt …

KRITIK

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SANDRO ZANETTI 14


Die Farbe des Projekts Nach seiner unwahrscheinlichen Rückkehr sei ihm aber sogar noch klarer geworden, dass das Herz der Raumfahrt gebildet werde durch das Wissen um die Entfernung und die Liebe zu ihrer Unüberwindbarkeit, sagte mir Duvalier in einer kleinen Wohnung nahe dem Hafen, zwischen engen Wänden und in gedämpftem Licht, gedämpft wie durch Staubwolken fallender Sonnenschein, wie das Geräusch eines Einschlags in der Distanz, wie ein Schrei hinter vorgehaltener Hand. Er sass in einem Stuhl in der Zimmermitte, doch machte er einen eigentümlichen Eindruck auf mich, als wäre sein Sitzen nur scheinbar, eine optische Täuschung; als wiche er während des Gesprächs stetig nach hinten zurück, doch wüchse gleichzeitig in genau dem Masse, um seine perspektivische Verkleinerung auszugleichen und mir den Anschein der Unbeweglichkeit zu geben. Er habe diese Stadt ja verlassen, sagte Duvalier, um in die Ferne hinein zu reisen, die ihm vom Horizont her unaussprechlich zugeschimmert habe, doch ohne sein Zutun noch sein Bemerken sei diese Ferne dabei umgekehrt in ihn hinein gereist, oder eher noch, diese Ferne reise unablässig immer wieder in ihn hinein, sie wüchse von einem unbestimmten Punkt hinter seinem Kopf in sein Gehirn und breche ihm zu den Augen wieder heraus. Selbst die Mauern dieser geradezu lächerlich beengten Wohnung dehnten sich in seinem Blick, rasten vor ihm weg, dass ihm übel werde davon. Die Masse der Kajüte, in welcher er für einen Teil seiner Heimreise einquartiert gewesen sei, seien ihm eigentlich lieber gewesen; nach ebensolchem Dunkel und schweigender Unverrückbarkeit suche er nun irgendwo auf dem Festland.  Literatur

Natürlich erinnere er sich an die gemeinsam mit mir verbrachten Wochen, Tage,

Abende. Natürlich erinnere er sich an die Tauchgänge bei Cagnes oder beim Cap de Nice, über die torfige Zerfaserung der Felsen hinunter steigend, dorthin, wo das Land sich bricht an schäumenden Gischtschleifen und wie gestocktem Blau, und dann hinab tauchend zuerst in ein traumartiges Grün und weiter unten in ein zweites, verstecktes Blau; vor dem nackten Auge und unter dem blossen Fuss sichtbar die allmähliche Abdunkelung zum ortlosen Stillstand des Grundes, und irgendwo hinter oder über dem Kopf eine zweite, aufragende Entfernung, am Ende derer, vager Erinnerung zufolge, noch immer ein Felsen an der Brandung sich bricht, ein Felsen, ein Landstrich, ein Kontinent. Natürlich erinnere er sich an die in der Tiefe manchmal geübte vollständige Umdrehung des Körpers in der Horizontalen, irgendwo hinter oder unter dem Kopf nun die Abdunkelung, und das Auge hin zum Licht gewandt. Er frage umgekehrt aber mich, ob ich mich an das Gefühl erinnere, man drehe dabei auf einmal nicht sich selbst, sondern die Entfernungen um, so dass man plötzlich sich zu erinnern glaube, was in der Tiefe liege, und diese auf einmal heimatlicher scheine als ein Kontinent, dessen Existenz in ortloser Abdunkelung zu existieren aufgehört habe? Dieses Gefühl sei genau diejenige Mischung aus Angst und Erwartung gewesen, die man als Liebe bezeichne.

Als er von jenem Raumfahrtprogramm zum ersten Mal gehört habe, sei er auf der

Stelle begeistert gewesen, nicht nur von der politischen, sondern von der tatsächlich künstlerischen Dimension des Unterfangens. Die Verheimlichung dieses Enthusiasmus gegenüber mir habe ich keineswegs als persönlichen Affront zu werten, sie sei blosse Notwendigkeit gewesen, ebenso wie meine jetzige Verpflichtung, ihn Konstantin Duvalier zu nennen, ein Pseudonym, wohl so gut wie jedes andere. Er würde liebend gerne darauf verzichten, sagte er, die Sache mit den Namen sei ihm längst unheimlich geworden. Die ganze Rückreise hindurch habe er sein Bestes gegeben, den letzten Namen zu vergessen und vergessen zu lassen, ebenso wie er auf der Hinreise seinen vorletzten zu verdrängen versucht habe, aber der letzte wie der vorletzte schienen ihn zu begleiten wie Gespenster, nicht vorhanden und doch nicht abzuschütteln. In Marseille habe ihn akut die Vorstellung befallen, diese beiden Namen plötzlich von allen Lippen zu hören, aus jeder Kehle, ein bizarres monotones Oratorium, eine ganze

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Stadt in diese paar Silben getaucht. Weniger die mögliche Verbindung dieser Namen zu ihm sei es aber, die ihm unheimlich sei, sondern im Gegenteil die seltsame Zusammenhangslosigkeit dieser schal gewordenen Klangfolgen zu seiner selbst, zu seiner Person, zu seiner Identität: dass all diese Namen sprächen, aber niemals mit seiner Stimme.

Natürlich erinnere er sich an unsere Gespräche bei Kaffee oder Bier, an unsere stun-

denlangen Diskussionen, an die gemeinsam besuchten oder abgehaltenen Lesungen, an das treue Kommen zu den Premieren des jeweils anderen. Natürlich erinnere er sich daran, nach einer Aufführung und in vielleicht nicht ganz nüchternem Zustand die hiesige Kulturlandschaft als eine Wüste bezeichnet zu haben, aber das würde er heute nicht wiederholen, denn, so viel wisse er jetzt, die Wüste sei ja doch etwas ganz anderes und etwas, von dem man sich eigentlich keine Vorstellung machen könne. Ob ich mich aber umgekehrt erinnern könne, an einen unserer Spaziergänge entlang der Promenade des Anglais, entlang dessen er mir seine schier unbegrenzte Begeisterung für die antiken Stoffe erläutert habe, die Schlacht bei den Thermopylen etwa, ein lächerliches Häufchen von dreihundert Griechen gegen das persische Heer in seiner Gesamtheit, der Feind unermesslich, der Sieg unnahbar, die Niederlage unausweichlich, die Schönheit unnennbar. Oder Iason und seine wenigen Argonauten, mit ihrem sagenhaft schnellen Boot die Ägäis und die eigene Unsicherheit überwindend gen Kolchis, wo sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit das goldene Vlies an sich nehmen, deren Heimreise sich aber so katastrophisch gestaltet wie diejenige des Odysseus, der nach präzisestem Sieg nach Hause bloss taumelt über zahllose Umwege, als schöbe sein Schiff durch heimliche Tücke eine ewige Entfernung vor sich her. Und ob ich mich auch erinnere, dass an genau diesem ein uralter Brauch, auf dass die Schiffsbesatzungen ihre Chronometer exakt danach stellen konnten; die Explosion als Zentrum des Navigierens. Er ahne, um nicht zu sagen: er wisse, dass er von den Rändern des Universums, aus dem luftleeren Raum jenseits der menschlichen Auffassung, eine Art Abwesenheit mitgebracht habe, und diese sei ebenjener unbestimmte Punkt hinter seinem Kopf, der eine unablässige Entfernung in ihn einspeise. Vielleicht, dass er eine Nuance zu lange an jener kosmischen Bruchkante verbracht habe, vielleicht, dass überhaupt das Erreichen der Kante unvermeidlich diese Verfassung nach sich ziehe, jedenfalls fühle er sich seither wie beobachtet durch eine Leere, bespäht von einer Absenz. Natürlich habe er, wie ihm im Vorfeld angedeutet worden sei, auch mit physischen Folgen zu leben: Bei bestimmten Bewegungen, insbesondere bei einer Drehung seines Oberkörpers oder auch nur seines Kopfes nach hinten, durchfahre ihn brennender Schmerz; aber damit könne man leben, diese bestimmten Bewegungen seien ja vermeidbar; unvermeidlicher und furchtbarer sei das Gefühl, von einer lidlosen Abwesenheit beobachtet zu werden wie irgendein Insekt. Und natürlich erinnere er sich an Maral. Natürlich erinnere er sich an das Gefühl ihres Kopfes an seinem, an den Geruch ihrer Haare und an den kleinen Abstand zwischen ihren Vorderzähnen. Er erinnere sich an die Ahnung ihrer Hand in seiner, an ihre erste Frage, an das Sonnenlicht auf ihrer Haut, an seine erste Antwort, er erinnere sich an ihren Wunsch, in Paris Politologie zu studieren und an ihre Art, ihre Locken zurückzuwerfen, er erinnere sich an die feine Melodie ihres Akzents, er erinnere sich an ihre Art, immer mindestens drei Bücher gleichzeitig zu lesen; er erinnere sich vor allem an einen frühen Nachmittag am Strand, als sie ein Eis gegessen habe und wie ihr Ausdruck dabei einer des vollendeten Glücks gewesen sei. In diesem Augenblick habe sich in seinem Herzen ein stiller Platz geöffnet, eine sprachlose Bereitschaft, wie eine Handfläche, in die sich dereinst etwas legen liesse. Ob ich mich aber umgekehrt erinnern könne an den gemeinsamen Ausflug nach Barcelona, ich mit Eveline, und Corinna mit Jean, und er mit Maral; dieser Ausflug, der so schön begonnen habe aber schliesslich doch für vermutlich niemanden so verlaufen sei wie gewünscht, für ihn am

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Literatur

Punkt seiner Schilderungen die Hafenkanone krachend den genauen Mittag bezeichnet hatte,



allerwenigsten. Kurz nach der Rückkehr habe Maral ihn angerufen, es käme anders, sie ertrügen es nicht mehr, am wenigsten der Vater, der Flug ginge in zwei Wochen, das sei kein Grund zur Traurigkeit, sie könne dort sofort in einer Apotheke anfangen, es gebe keinen Grund zu weinen, sie sehe dann seit Langem wieder einmal jenes Gebirge, das sie nur aus vage traumhaften Erinnerungen frühester Kindheit kenne, und dann sei sie in Tränen ausgebrochen und er habe sich gewünscht, sich ganz in seiner Stimme aufzulösen, um vollständig durch den Äther zu ihr getragen zu werden von sanftestem Windstoss und sich in seiner Gänze an ihre Wange legen zu können wie eine einzige liebende Hand, aber stattdessen habe er irgendetwas gesagt, und sie habe geantwortet, das halte sie für keine gute Idee, und dann habe sie aufgelegt und in jenem stillen Platz in seinem Herzen habe sich ein kleines kaltes Tier unhörbar eingenistet. Auch das sei nicht so verlaufen wie gewünscht. Aber rückblickend sei ja einiges nicht so verlaufen wie gewünscht. Überhaupt keine Vorstellung mache man sich aber von der Schönheit, am Heck eines Schiffes zu stehen, während der Tag sich langsam schliesst wie eine Muschel, und am Horizont die Küste langsam verschwinden zu sehen, den Landstrich, den Kontinent; unter einem sich eindunkelnden Himmel felsige Küstenstreifen und dahinter das Gebirge, wie die gebleichten Skelette ungeheurer Drachen, in deren geöffnete Hirnschalen hinein die Sonne glühend versinkt; und dann sich umzudrehen und nunmehr bugwärts zu blicken, wo Meer und Himmel trennungslos ineinander zu gehen und sich dem Schauenden einig entgegen zu strecken scheinen wie eine masslose Umarmung, wie das Versprechen einer ungekannten Heimat; wo um den kühlen Mond herum das Licht der Sterne sichtbar werde, sich gruppie-

der Motoren und der dumpfe Pulsschlag des Ozeans, aber man habe doch die Gewissheit, dass bei nur etwas exakterem Lauschen die tiefen Atemzüge des Alls hörbar würden, das silberne Rauschen zwischen den Sternen; all das läge da wie eine höhere Wahrheit, in Worte gewaltiger Unverständlichkeit gesetzt und in Züge unmenschlicher Dimensionen, in Silben einer Sprache, die dem Leben unzugänglich und deren leichtester Beistrich schon überhoch und scharfkantig sei. Da habe er an die griechischen Krieger denken müssen, als von ihrer winzigen Felsenenge aus die persische Armee sichtbar wurde und an die heute noch stehende spartanische Siegesstele mit ihrem ungeheuren Wort vom Gesetz; und an die Argonauten habe er denken müssen, als sie vor dem Kaukasus standen und ihr Tritt sicherer wurde mit jedem Meter, den sie ins karge und feindliche Gelände taten; und an Tariq ibn Ziyad, der Gibraltar nahm, und Cordoba, und Granada und Toledo, denn so erfüllt war er von Liebe, dass kein Platz blieb in ihm für ein weiteres Gefühl und sei es das geringste; die Ausdehnung Spaniens schien unter seinem Schritt zu verschwinden; er verharrte in liebevollstem Stillstand und das westgotische Imperium stürzte ihm schamvoll entgegen. Und eine zuvor ungekannte Ehrfurcht habe ihn ergriffen, als in der Ferne die Weltraumbahnhöfe in den Blick gekommen seien, die Startrampen und Kontrolltürme, die Laborkomplexe und Besucherzentren, gleissend unter der Sonne und dem undurchdringlichen Azur des Himmels; von weither herangewehte Rufe der Ermutigung und der Begeisterung. Von den riesigen Einrichtungen und ihrer vielzähligen Besatzung habe ein Glühen in die Umgebung abgestrahlt, dass die Luft geschimmert habe in der mächtigen Farbe des Projekts. Diese Farbigkeit sei ihm vor dem inneren Auge gestanden, während in der Ferne das Krachen der Zündungen widergehallt habe, die erhabene Sprache der Hoffnung und ein Landstrich, getaucht in ihre Silben; sie sei eingegangen in seine Betrachtung der Flammen, der Zündungsfeuer, der Explosionen; Zentren der Navigation und Interpunktion ihrer Berichterstattung. Das Krachen, das Feuer; ausgehend von dieser Urflamme werde in alle Himmelsrichtungen ein Koordinatensystem geschleudert; Distanz werde neu skaliert über diesen Nullpunkt, neu gedacht um

18

Literatur

rend in jene bildhaften Konstellationen, die man für Jahrtausende als Götter angebetet habe, einfach, weil sie da waren und so vieles andere nicht. Nichts sei zu hören als das Brummen


ihn herum: fern, nah, gleich daneben. Gewaltiges Aufwolken von Staub und Rauch und wie ein Schwert erhebe sich aus ihm die erhabene Gestalt der Rakete, himmelsinnig, distanzberückt; wie eine Gebetsfahne von den Rändern des Kosmos her gewoben und zu ihnen hin rasend in aller Geschwindigkeit, mit der Eile des sprachlosen Wunsches. Denn ohne Mass und ohne Grenze sei die Entfernung, und hinfällig das Material, um sie zu überbrücken; so sei die Rakete, berauscht vom ewigen Zurückbleiben hinter dem eigenen Anspruch und nunmehr angetrieben von nichts als diesem, irgendwo zwischen dem staubigen Horizont und dem stahlblauen Himmel unaussprechlich schimmernd verglüht einschliesslich ihrer Besatzung; die Handelnden seien verschwunden, um die Handlung selbst in aller Klarheit nach vorne treten zu lassen: die Hitze der Haut, aber ohne die Haut; die Erregung des Kusses, aber ohne die Küssenden; der untergründige Schlag des Herzens, aber ohne das Herz; der Akt der Liebe bereinigt von seinen Schwerfälligkeiten, und da sei ihm die Obszönität seines Blickes bewusst geworden und dann habe er lachen müssen, und dann weinen, und dann sich im Halbschatten irgendeiner Gasse übergeben. Der Wand entlang sei er verschwitzt zusammengesackt und für unbestimmte Zeit so neben seinem Erbrochenen gesessen, die Augen keusch geschlossen. Er habe geglaubt das Rinnen seines Schweisses über Stirn und Nacken hinab zu hören, eher ein kristallin hohes Knirschen als ein Klang von Flüssigkeit. Aber dahinter habe er das dumpfe Brummen der Wüste gehört, die Resonanz ihrer Ausdehnung, wie die vibrierende Atmung einer ungeheuren Kreatur. Als er aber die Augen geöffnet habe, sei ihm exakt gegenüber ein Esel gestanden, umschwirrt von wohl einem Dutzend Fliegen.  Literatur

Und dieser Esel habe wiederum ihn angeblickt; den Kopf halb abgedreht, aus schmutzigem Fell heraus mit einem Auge, still und unnahbar wie ein See aus undenkbarer Vorzeit, wie die Insignie einer längst vergessenen Gottheit, und er selber opferhaft dargebracht im Tempel der staubigen Luft und des trockenen Himmels. Denn er habe sich ja gefühlt wie weit offenstehend, als habe sich jedes seiner Gefühle und jede seiner Erinnerungen auf der Oberfläche seiner Haut ausgebreitet, als sei er nach aussen gestülpt mit allem Glück und aller Verletzung, als streife der heisse Wind unmittelbar über sein Innerstes; als wäre seine ganze Existenz diesem Esel unmittelbar anschaulich. So wenig habe er seine Tiefe verteidigen können, dass der Blick des Tieres in die saure, ausgetrocknete Höhlung seines Mundes geradezu körperlich eingedrungen sei; dass er geglaubt habe, die glattrunde Kühle dieses Auges auf seiner Zunge zu spüren und den tröstlichen Geschmack, und den Schauder einer Liebe, die seine eigene gewesen sei. Er habe versucht, den Arm auszustrecken, aber dieser sei ihm gleichsam nicht zugänglich gewesen, als wäre der Arm sehr weit weg und sein Wunsch, ihn zu heben, brauche Jahrzehnte, um zu ihm zu gelangen. Und da habe der Esel langsam wie in Zeitlupe einen winzigen Schritt nach vorne gemacht und begonnen, das Erbrochene aufzulecken. SEBASTIEN FANZUN

19


Fünfzig Notizen zum Exzess des Indirekten

10.

Mein Problem: Ich mag solche Universen (eigentlich) nicht. Ich werde deshalb auch den Verlockungen der Verweislast (gibt es dieses Wort schon?) nicht weiter nachgehen.

11.

Zwischendurch der Gedanke, man könnte der Überfülle des Dargebotenen, um nicht zu sagen, dem

1.

Dieses Mal geht’s nur mit Notizen.

Wahnsystem, das auf Vervielfältigung möglicher

2.

Die Überfülle an Verweisen, das Gelesene, das sei-

Bezüge beruht, in der Kritik oder Replik ein alterna-

nerseits prall ist von Gelesenem und Erfundenem,

tives, reduktives Wahnsystem an die Seite stellen.

weckt die Sehnsucht nach Leere, Einfachheit, Stille. Die Notiz als Gegengift.

4.

Denn die Vernetzung ist auch ein Fluch, nicht nur

12.

Die Notizen nummerieren.

13.

Oder andere Bremsen einbauen. Vielleicht so: den gelesenen Text, die Textvorlage mal ganz willkürlich mit Adjektiven auf ‹i› charakterisieren.

ein Segen. Dazu gehört, dass ich schon bei der Lektüre des Titels Die Farbe des Projekts im Text von

14.

Das geht besser, als zunächst gedacht:

Sebastien Fanzun nach Farben zu suchen beginne:

15.

indirekt, intensiv, intelligent, inszeniert, insinuie-

16.

Auf der Hand liegt auch: ironisch. Aber das will doch

rend, intertextuell, impertinent, irre.

Blau kommt vor, ein silbernes Rauschen. Aber darum geht es nicht. Farbig ist, was strahlt, in der Luft, von jenem Weltraumprojekt, von dem Duvalier

nicht so recht passen. Ein riesiges Fass müsste man

berichtet. Die Farbe als Abglanz, Indiz unterschied-

da aufmachen.

lichster Ahnungen. 5.

18.

Duvalier gibt es nicht, oder es gibt ihn nur als die

ein Stilmerkmal nicht nur dieses Textes von Fanzun,

Erfindung, als Alter Ego jenes Ichs, das den Text

sondern auch von einigen (vielen? allen?) anderen.

geschrieben haben soll, auch wenn dieses Ich selbst

Das Indirekte als – pathetisch gesagt – Rettung des

nur eine Erfindung ist. Diese Erfindung schenkt

Textes.

Duvalier ihr Ohr: Er spricht durch sie. 6.

19.

Oder eher: Duvalier lässt (sehr kultiviert) raus, was

das Strahlen, den Abglanz, die entfernte Erinnerung, das Gehörte? (Oder genauer: den Willen zur Distanz,

Doch wird dieses Entfernte vom Ich (von welchem

Nietzsche sprach vom «Pathos der Distanz», diese

auch immer) erst auf ihn losgelassen. Das sollte man

Luft wird hier geatmet.) 20.

In der letzten delirium-Nummer trat Duvalier auch als Autor auf. Aber jetzt glauben wir wissen zu dür-

konzeptuelle, ja fast möchte man sagen, ideologi-

fen, was wir damals nur zu wissen glaubten: Duvalier

sche Dreh- und Angelpunkt des Textes. Kann man

ist ein Pseudonym. Hier nun aber gibt sich Duvalier

so weit gehen? 21.

Vor gut fünfzig Jahren war es in der Literaturwis-

ren Namen trägt. Dabei bleiben ihm seine Namen –

senschaft üblich, im ersten Satz eines Textes, gerne

die in einem strengen Sinne nicht seine sind, weil

auch eines Romans, dessen ganze literarische Potenz

sie ihm nicht gehören und weil er umgekehrt auf

angelegt zu sehen. Was folgt, entrollt sich daraus.

sie nicht hört, sich durch sie höchstens belästigt

Aus professioneller Einflussangst heraus sofort mein

und bedrängt fühlt – fremd. Von all den Namen ken-

innerer Widerspruch: Stimmt das überhaupt – und

nen wir nur ‹Duvalier› und auch den (und erst recht

stimmt es hier?

denjenigen, für den er stehen soll) kennen wir nicht

22.

Vielleicht stimmt es dann, wenn man berücksichtigt,

wirklich: Denn wer ist er, Duvalier, der mit seinen

dass dieser Text geradezu pedantisch in einem alter-

(und seinem) – oder eben nicht seinen (und seinem) –

tümlichen Deutsch geschrieben ist: Man hört, auch

Namen selbst bereits solche Mühe hat?

hier, Sebald (wenn’s verschachtelt und manieriert

Und schon sind wir mittendrin.

9.

Die «Entfernung und die Liebe zu ihrer Unüberwindbarkeit», wie es im ersten Satz schon heisst, ist der

als Figur zu erkennen, die immer wieder einen ande-

8.

Und geht es am Ende nicht eben genau darum: um

ihn entfernt, aber doch sehr bestimmt, etwas angeht.

wohl nicht vergessen. 7.

Das Entscheidende ist das Indirekte: Das Indirekte,

wird), man erinnert sich an Thomas Mann (wenn

Die Lektüre als temporärer Aufenthalt in einem para-

Bildung ausgepackt, aber auch ironisiert wird), ein

noiden Alles-hat-etwas-zu-bedeuten-Universum (oder

Schuss Kafka (wenn’s extrem feinnervig und in der

einem Alles-wird-sich-verlieren-Universum).

Übersteigerung dann schräg wird), Kleist (wenn

20

Kritik

3.


Unwahrscheinlichkeit und Grossartigkeit zusam-

kann sie das, und manchmal sollte sie es vielleicht.

menfinden) und Rilke (wenn’s pathetisch, aber

Aber sie muss es nicht.

irgendwie auch schön wird). Dazu kommen: Sci-

39.

ence-Fiction (wenn die Sehnsucht nach dem All ruft),

– wirklich vernichtend wäre eine Kritik nur dann.

Homer (wenn’s um die Irrfahrten durch die Wirr-

40.

nisse des Lebens geht), überhaupt die Antike (wenn

verhält, indem sie Pflöcke einschlägt, die mit ihm nicht direkt zu tun haben müssen. Eine indirekte

hard (wenn’s exzessiv wird), Marcel Proust (wenn die

Kritik also… 41.

Kritik als Urlaub: Sich frei machen von dem, was

42.

Aber bestenfalls vielleicht doch so, dass die Entfer-

vorliegt.

verschwinden) und Oscar Wilde (wenn Dandytum und Coolness aufscheinen). Aber alles ist von gestern, vorgestern, lange her.

nung als Wertschätzung (Liebe wäre ein zu grosses

Oder ist der Text doch ganz heutig? Der Literaturhis-

Wort) verstanden werden kann: als aufschliessende

toriker würde vielleicht sagen: Hier wird die Postmo-

Anerkennung – Lob?

derne durch eine Übermoderne (gibt’s den Begriff

43.

schon?) in Schach gehalten.

Sparen wir nicht damit: Die Farbe des Projekts ist grosse Prosa! Eine Wucht, anstrengend in der Lek-

24.

Diese sehr merkwürdige Allianz von Umständlich-

türe, ja, aber belohnend durch wahnsinnig geschmei-

25.

Und ja: grossartig geschrieben!

len, nachwirken, sich festhaken und dann so etwas

26.

…aber doch alles von gestern, vorgestern, lange her?

wie eine innere Poesie, nicht mehr Prosa, lostreten.

27.

Schon, aber genau darum geht’s ja…

44.

Doch wie gesagt, man muss schon selber lesen.

28.

Intensivierung durch Kultivierung von Distanz.

45.

Das schönste Wort: «Zusammenhangslosigkeit».

29.

Wenn man Formeln möchte, dann wäre das die For-

46.

Die berückendste Wiederholung: «natürlich» – acht-

30.

Von intensiver Distanz handelt der Text nicht nur.

keit und Eleganz.

Kritik

Der Traum von einer Kritik, die sich zu einem Text

die Ehrfurcht zuschlägt). Aber auch Thomas BernNöte des Alltags hinter dem Luxus der Erinnerung

23.

Schon gar nicht sollte eine Kritik einen Text ersetzen

dige, filigran gebaute Sätze, die allerdings nachhal-

mel dieses Textes.

mal. Ich nenne das den Kafka-Effekt: Sehr unwahrscheinliche Begebenheiten im Gestus der allergröss-

Das ist nicht nur sein Thema, vermittelt über die Aus-

ten Selbstverständlichkeit schildern: natürlich! Die

sagen von Duvalier. Das ist auch seine Provokation

Wirkung ist immer wieder erstaunlich.

gegenüber dem Leser, der Leserin. Mir scheint: Die

47.

Provokation funktioniert. Der Akzent ist immer dop-

lichen Anspielungen auf die asinitas mögen andere

pelt: Etwas ist unglaublich weit entfernt, aber eben

nachgehen).

deshalb auch attraktiv. Einerseits. 31.

32.

48.

34.

Der faszinierendste Gedanke: dass Entfernungen

Andererseits: Der Wille zur Distanz ist hier Produk-

sich umkehren lassen – «Er frage umgekehrt aber

tionsprinzip – Distanz wird nicht einfach erfahren,

mich, ob ich mich an das Gefühl erinnere, man drehe

sondern hergestellt.

dabei auf einmal nicht sich selbst, sondern die Ent-

Zum Beispiel – und in erster Linie – durch indirekte

fernungen um, so dass man plötzlich sich zu erinnern glaube, was in der Tiefe liege und diese auf ein-

Rede. 33.

Der schrägste Einfall: der Esel zum Schluss (den mög-

Aber auch durch die Tatsache, dass es eine beacht-

mal heimatlicher scheine als ein Kontinent, dessen

lich entfernte Vergangenheit ist, aus der heraus das

Existenz in ortloser Abdunkelung zu existieren auf-

Ich durch ihn, Duvalier, eine Ahnung bekommt.

gehört habe?» (Walter Benjamins Aura-Theorie mutet

Oder durch die geographischen, ja nicht zuletzt ast-

35.

dagegen geradezu bieder an.)

ronomischen Distanzen.

49.

Statt Indiskretion: Indirektion.

Oder die kaum abreissenden Verweise eben, die Ver-

50.

Eine Form von Höflichkeit.

weise… 36.

Fast hätte ich vergessen zu schreiben: Man muss die-

37.

Es nützt nichts, diese Kritik – oder überhaupt Kritiken

SANDRO ZANETTI

sen Text wirklich lesen! – zu lesen, wenn man das ihnen Zugrundeliegende nicht liest. 38.

Die Kritik muss einen Text nicht erklären. Vielleicht

21


CARLO SPILLER

21

LITERATUR

t h e g …Ihm e g i t s u l e n i e / e t h c i h c s e G t t i r h c S n e Jed t t i r h c S n e n ei … s u a r vo KRITIK

26

PATRIZIA HUBER 22


Sonettenkranz ohne Sonette in stund zwölf Gedichten «Noch nicht bereit, um in den ewigen Schatz der deutschen Dichtung einzugehen» – Der Editor

I Durch das Fenster schaue ich auf Ein Blatt das sich wiegt im Wind Und das das Licht reflektiert je Wie es liegt und sonst Schatten Ich sehe durch dieses Blätterwerk Ein Backsteinhaus mit Schornstein Auf der Strasse einen Mann der im Mantel gekleidet seinen Hund nach Draussen führt ein Gitterzaun mit Gusseiserner Verzierung zwischen Ihm und dem Haus der Mann lacht er Erzählt seinem Freund der neben  Literatur

Ihm geht eine lustige Geschichte

II Ihm geht eine lustige Geschichte Durch den Kopf während er auf dem Gehsteig geht aus dem Stegreif Erzählt er sie seinem Freund der Neben ihm geht und jetzt lachen Muss obwohl er gar nicht zugehört Hat sondern bloss die Zahl seiner Schritte mit jener der Berührungen Seiner Füsse auf dem Boden verglich Und bemerkte seine Füsse waren ihm Jeden Schritt einen Schritt voraus

III Jeden Schritt einen Schritt voraus Waren ihm seine Gedanken die über Schranken sprangen wie die Füchse Und Katzen in den Strassen durch Die er ging im Wind im Licht am Nachmittag das sich sammelte in Den Schluchten zwischen Häusern Sich spiegelte in Fenstern der Läden und Krämer im Erdgeschoss Die Augen schmerzlich geblendet Von grellen Blitzen zersplittert

23


IV Von grellen Blitzen zersplittert Fallen im Kopf Reflexionen ein Die Beine die beim Schreiten wie Zirkel sich öffnen und schliessen Kreise zu zeichnen auf den Boden Unendlich viele Punkte um dasselbe Zentrum in der Mitte ein Tänzer der In schwarzen Hosen seine Füsse nicht Mehr absetzt immer höher steigt in Die leeren Quader der Häuserblöcke

V Die leeren Quader der Häuserblöcke Liegen unberührt in der kalten Luft Des nahenden Abends der Düfte bringt Von violetten Lavendelfeldern und zu Geruch gewordener Arbeit in Küchen Der ausfranst am Berührungspunkt von Sonne und Schatten deren Linie sich Langsam nieder senkt bis sie knapp Die den Tanzchor der Nacht anstimmen

VI Die den Tanzchor der Nacht anstimmen Machen sich vor dem Spiegel bereit Schminken sich schöne Augen und Lippen Die sie einander bald zuwerfen werden Kämmen sich die Haare fügsam in Form Wählen mit Bedacht die Schuhe die sie Durch den Abend gleiten lassen lachend Ausgelassen die Schritte zimmern dort Mit bestimmter Hand die Hände reichen Und leichtfüssige Figuren beschreiben

VII Und leichtfüssige Figuren beschreiben Eine Stadt am Abend und zwei Freunde Die sich Geschichten erzählen dieser Stadt was sie gehört haben gestern und Vor gestern einander buchstabieren bei Anbruch einer neuen Geschichte die sie Sich gewiss morgen erzählen werden in Derselben Strasse auf demselben Steig Der auf sie wartet sie empfängt wenn Sie ihn erneut beschenken mit ihren Klangabfolgen die aus Mündern strömen

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Literatur

Über den Bodenplatten schweben bleibt



VIII Klangabfolgen die aus Mündern strömen In Sturzbächen sich ins Flussbett des Strassengitters legen Schutt und Schotter mit sich führen der als Kies abgetragen und an andern Stellen Unter Gleise geschüttet wird auf denen Güterzüge voller Kies vorüberdonnern Um das Streckenende hinauszuzögern In den Pausen staunend beschaut von Armeen in verstaubter Arbeitskleidung

IX Armeen in verstaubter Arbeitskleidung Weissen Hemden und farbigen Kragen Warten auf den Windstoss den Staub Abzutragen auf frisches Wasser die Kleider zu waschen klopfen sie vor Dem Fenster ab die Sommerhitze treibt Die Partikel zurück ins Haus wo sie Sich auf Möbel und in Spalten sammeln Die im klaren Blau des Himmels baden Wollen als flüchtig wirbelnde Punkte

X Wollen als flüchtig wirbelnde Punkte Vor der Netzhaut in Erinnerung wir Bleiben fragt er seinen Freund und Reisst ihn aus seinem Gedankenstrom Er der die Frage nicht verstanden hat Sagt ja auf jeden Fall ja dann biegen Sie um die Ecke und ich kann sie nicht Mehr hören und nicht mehr sehen von wo Ich hier an meinem Schreibtisch sitze Als Protokollant der Szenen draussen Lasse meine Schädeldecke ein Tonabnehmer Auf ihnen im Kreis um Schlittschuh laufen

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Literatur

Sich zu grauen Ballen formen sie


XI Auf ihnen im Kreis um Schlittschuh laufen Sie mit Mützen und Schal dicken Jacken Löcher in die Erde bis zum Rand mit Eis Gefüllt genährt vom unsichtbaren Zustrom Unter dem Boden sitze hier hauche Meine Finger an die dank der Kälte Kaum noch klimpern können ohne Heizung Schmerzt auch der gebeugte Rücken Ich schäme mich nicht das zu gestehen Durch das Fenster schaue ich auf

XII Durch das Fenster schaue ich auf Ihm geht eine lustige Geschichte Jeden Schritt einen Schritt voraus Von grellen Blitzen zersplittert Die leeren Quader der Häuserblöcke Die den Tanzchor der Nacht anstimmen Und leichtfüssige Figuren beschreiben Klangabfolgen die aus Mündern strömen  Literatur

Armeen in verstaubter Arbeitskleidung Wollen als flüchtig wirbelnde Punkte Auf ihnen im Kreis um Schlittschuh laufen CARLO SPILLER

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Auf den Spuren der Alten

vorliegende Gedicht scheint also eine wichtige Vorgeschichte im Gepäck zu haben. Sonettenkränze gehören zu den wohl komplexesten Gedichtformen, welche die Literatur kennt. Erfunden wurden sie wahrscheinlich in Italien und sie orientie-

Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs

ren sich an der Struktur der Rosenkränze, weshalb sie stets aus 14 Einzelsonetten und einer Meisterstrophe bestehen. Zudem sind die letzte Zeile der vorangehenden

Sonette find ich sowas von beschissen,

Strophe und die erste Zeile der folgenden stets identisch.

so eng, rigide, irgendwie nicht gut;

Dadurch entsteht ein ringförmiger Aufbau. Der Sonettenkranz ohne Sonette nennt seine Form also

es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen, daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut

gleich zu Beginn selbst. Die Leserin hat nun die Aufga-

hat, heute noch so’n dumpfen Scheiß zu bauen;

was von ihr abweicht. Ziemlich schnell fällt auf, dass

allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,

das Gedicht in freien Versen verfasst ist und aus diesem

be, die traditionelle Form zu suchen und das zu finden,

kann mir in echt den ganzen Tag versauen.

Grund auch kein klassisches Reimschema eingehalten

Ich hab da eine Sperre. Und die Wut

werden kann. Hingegen folgen die Verse metrischen Re-

darüber, daß so’n abgefuckter Kacker

es bloss zwölf Stück. Jedoch werden die Strophen durch

mich mittels seiner Wichserein blockiert,

die Wiederholung des letzten Verses im ersten Vers der

schafft in mir Aggressionen auf den Macker.

nächsten Strophe miteinander verbunden. Spillers So-

Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.

schliesst der Kranz mit der sogenannten Meisterstrophe,

geln. Die Strophen sind verschieden lang, und deren gibt

Ich tick es echt nicht. Und will,s echt nicht wissen:

welche alle letzten und ersten Verse nochmals vereint.

Ich find Sonette unheimlich beschissen.

Einige klassische Elemente sind also vorhanden, andere wiederum nicht. Die Lektüre wird so plötzlich zum Spiel, der Leser

ROBERT GERNHARDT

fiebert mit: Was wurde von der traditionellen Form über-

*Robert Gernhardt, Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs. Aus: ders., Gesammelte Gedichte 1954-2006. © S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2008

nommen, was wurde verworfen? Jede Strophe wird zu einer neuen Überraschung. Am Schluss lädt die Meisterstrophe ein, den ganzen Text nochmals zu lesen.

Oft reicht ein gut gewählter Titel aus, um das Kopfkino

Das soll auch getan werden, diesmal mit Blick auf

zu starten. Wir kennen das: Bücher werden in Buch-

den Inhalt. Das Gedicht vereint drei verschiedene Ebe-

handlungen zuerst wegen ihres ansprechenden Covers

nen: das lyrische Ich, das aus dem Fenster schaut, zwei

und des passenden Titels in die Hand genommen. Gute

Freunde, die sich Geschichten erzählen, und die Prota-

Titel verkaufen Literatur. Sonettenkranz ohne Sonette in

gonisten ebendieser Geschichten. Die Strophen lassen

stund zwölf Gedichten versetzt mich in das Italien des

durch ihre Form die einzelnen Welten ineinander flies-

achtzehnten Jahrhunderts: Ein passionierter Dichter

sen. Der Blick schweift vom Dichter über die spazieren-

sitzt bei spärlichem Kerzenschein vornübergebeugt über

den Freunde zum Treiben während eines lauen Som-

einem Stück Pergament und arbeitet nächtelang an sei-

merabends. Die Bewegung in die Ferne endet wieder

nem perfekten Gedicht, das sowohl Gefühl vermitteln als

im Haus des Dichters. Es ist eine Assoziationskette, jede

auch den kunstästhetischen Gesetzen folgen soll. Auch

Strophe gibt der nächsten ein Stichwort, welches jene

wenn die Konstruktion des Gedichts viel Zeit einnimmt,

aufnimmt und mit bildstarker Sprache ausformuliert. In

ist er danach auf das formvollendete Produkt stolz. Die

der zehnten Strophe fällt dann auch der Begriff «Gedan-

Szenerie wechselt in die Moderne: Da sehe ich Expressi-

kenstrom», der diese erzählende Reise durch verschie-

onisten, die eine uralte und bewährte Form aufnehmen

dene Orte treffend bezeichnet. Das Gedicht wandert in

und mit ihr spielen. Noch nie dagewesene und scho-

die Ferne, beschreibt eine ausgiebige Weite und Wärme

ckierende Inhalte werden in alte Strukturen gepresst.

in den Geschichten der beiden Freunde, um dann am

Das Ergebnis ist zwar nicht schön, aber effektiv. Das

Schluss wieder in die Enge und Kälte der Dichterrealität

28

Kritik

nettenkranz erscheint folglich als Kettenstruktur. Auch


zurückzukommen. Dadurch entsteht eine Parallelisierung von Inhalt und Form: Der Inhalt scheint sich von der strikten, einengenden Form zu befreien, Flügel zu bekommen, muss sich ihr dann aber wieder fügen. Es ist genau diese Kombination von Inhalt und Form, die den Reiz des Gedichts ausmacht. Das Gedicht ist selbst ein Ausbruch aus den strengen Regeln der Poetik, es zeigt auf, wie weit ein Text gehen kann, um immer noch als Dichtung wahrgenommen zu werden. Dieses höhere Ziel tröstet dann auch über einige unglückliche, unverständliche Formulierungen hinweg (etwa die Güterzüge in der zehnten Strophe, die «voller Kies vorüberdonnern / Um das Streckenende hinauszuzögern»). Das Verdienst von Spillers Gedicht ist, dass Form gleichzeitig aufgebaut und zerstört wird. Im gleichen Moment, in dem im Gedicht eine bekannte Gedichtform anklingt, wird diese durch die abweichenden Elemente wieder verworfen. Das Spezielle dieses Textes tritt hervor. Es zeugt von einer Liebe zur Poetik, wenn mit solcher spielerischen Leichtigkeit mit Worten umgegangen werden kann. In diesem Sinn bestätigen sich die

Kritik

Assoziationen, die ich zu Beginn beim Titel hatte: Das Gedicht reiht sich in die Tradition der Sonettisten ein und führt die Geschichte dieser Gedichtform um einen Schritt weiter. PATRIZIA HUBER

29


DANIEL GROHÉ

29

LITERATUR

…Di e Ze it vers trich und nich ts wa r gesc hehe n, bi ich p s lötzl ich den Knal l hör t e…

KRITIK

32

HEINER WEIDMANN 30


Thyestes’ Kinder Wie nennt man Tagträume um zehn Uhr abends? Ich schrecke aus meinen Gedanken, als ich den Knall höre. Es ist nichts zu sehen: noch immer steht der Mond hell am Himmel und kleckert sein blasses Licht über die Landschaft, noch immer sitze ich auf meinem Fahrrad, einen Fuss auf dem Boden, der andere ruckelt auf dem Pedal hin und her, sodass Kette und Zahnräder immer wieder leise klicken wie der bedrohliche Lauf einer grausamen Maschine. Ich blicke auf die Uhr: Schon viel zu lang ist es her, dass Yasmin und Golo durch das offene Fenster im Schulhaus verschwanden. Die Zeit verstrich und nichts war geschehen, bis ich plötzlich den Knall hörte, der aus dem schummrig grauen Gebäude zu kommen schien. Eigentlich bin ich mir gar nicht so sicher, ob er überhaupt aus dem Gebäude kam. Schliesslich bin ich gerade noch durch die wüste Einöde meiner Gedanken gewandert, die jetzt noch wie nasse Wollfäden an mir kleben. Ich überlege kurz, ob ich hinterhergehen soll, aber ich hatte versprochen, hier Wache zu halten, für den Fall, dass jemand auftauchen würde. Der Knall war sicher nur Einbildung gewesen. Eigentlich hielt ich das ganze Vorhaben ohnehin für bescheuert, doch Yasmin wollte unbedingt ihre Hausarbeit zurück – oder zumindest Teile davon. Aus Zeitnot habe sie angefangen, Zitate zu erfinden. Angeblich sei sie nachts wach im Bett gelegen und habe immer wieder ihre Arbeit schreien gehört, sie wolle endlich abgegeben werden, also habe sie irgendwann kurzen Prozess gemacht, ihre Hauptthese mit falschen Zitaten belegt und abgegeben, um wieder schlafen zu können. Doch dann bekam sie Panik, dass der Betrug auffliegen würde, und jetzt sind wir hier: ich hier draussen und Yasmin und Golo  Literatur

irren irgendwo im Schulhaus herum, und suchen nach der Hausarbeit. Mein Handy vibriert. Eine Nachricht von den beiden? Doch als ich auf den Bildschirm blicke, ist es lediglich eine Eilmeldung meiner Tageszeitung. Dieser Typ, den sie den Literaturpapst nennen, ist gestorben. Hatte zu Hause in seinem Arbeitszimmer einen Schlaganfall, wurde von seiner Familie aber erst zwei Tage später entdeckt, weil alle dachten, er sei im Büro. Schon komisch: Erst vermisst ihn zwei Tage lang keiner und dann schwappt die Nachricht sturmflutartig über das Land. Ich muss mir unwillkürlich eine Gruppe dicker Kritiker vorstellen, die am Tisch laut schmatzend die aktuellsten Bücher verreisst, während sie ihre Fasanenhäppchen in EstragonSosse tunken. Apropos Kritiker: Vor ein paar Tagen habe ich diesen Blog abonniert, auf dem auch Kritiken geschrieben werden. Da behauptet einer, Literatur solle nicht sozialkritisch sein. Lustig, dass alle, die behaupten, Literatur zu mögen, sie irgendwie beherrschen wollen; Kaiser und so. Weil ich gerade ohnehin nichts Besseres zu tun habe, suche ich die Seite und beginne, einen der Artikel zu lesen. «Ich weiss nicht recht, was ich von diesem Text halten soll. Die von der Zeitschrift geforderten Bezüge liefert er nicht nur, er hat sie sich richtiggehend zum Programm gemacht, ja er klatscht sie dem Leser einen nach dem anderen ins Gesicht, wie um zu sagen: ‹Schaut her, wie albern eure Vorschriften sind›. Und so wirkt es nicht bloss wie pubertäres Aufbegehren gegen die redaktionelle Obrigkeit, nein, es kommt noch schlimmer: Der Autor greift Texte auf, um sie in zähflüssiger Handlungsarmut zu ertränken. Nachdem das Magazin in letzter Zeit endlich das trostlose In-sich-selbst-versunken-Sein früherer Ausgaben überwunden hatte, kommt hier einer und legt, auch hier in kindlicher Trotzigkeit, den Rückwärtsgang ein. Wobei die Handlung – so viel muss man dem Text lassen – nicht völlig abwesend ist; man bekommt als Leser nur nichts davon mit. Während die beiden Figuren Yasmin und Golo nämlich im Schulhaus unterwegs sind, um den Schwindel rückgängig zu machen, steht der Protagonist draussen, glotzt gelangweilt auf sein Mobiltelefon und langweilt damit auch die Leser*innen. Man sollte diesen Kerl von Enten totwatscheln lassen!» So zieht sich das noch eine ganze Weile fort. Ich scrolle rasch nach unten, um zu sehen, wer den Artikel geschrieben hat: ein gewisser Raul Sobasa – komischer Name. Mir macht das

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Warten auf Golo und Yasmin ja auch keinen Spass, aber im Moment bleibt mir wohl nichts Anderes übrig, als hier herumzusitzen. Ich möchte gerade einen weiteren Artikel öffnen, als jemand um die Ecke kommt. Erst erkenne ich nichts Genaues, nur graue Umrisse, die im schwarzen Hintergrund versinken, doch dann zeichnet sich immer deutlicher ab, dass mir ein Einbeiniger in Uniform entgegenhumpelt. Erschrocken überlege ich, was ich tun soll, aber noch während ich überlege, spricht mich der Uniformierte an: «Was treibst Du denn hier mitten in der Nacht?» Weil mir nichts Besseres einfällt, entgegne ich, dass ich hier verabredet sei. Dann nehme ich meinen Mut zusammen und frage ihn, was ihn das angehe. Er erklärt mir, dass er hier der Nachtwächter sei. Ich muss mein Lachen unterdrücken: «Was? Es gibt immer noch Nachtwächter?» Er schaut mich entrüstet an. Natürlich, meint er, irgendjemand müsse ja nachts für Ruhe und Ordnung sorgen. In diesem Moment sehe ich, wie Yasmin und Golo aus einem der vielen Fenster der Schule klettern. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen und den seltsamen Nachtwächter abzulenken, aber es ist zu spät, er hat sie bereits entdeckt. «Hey, ihr da!», ruft er und humpelt auf die Schule zu. Ohne lange zu zögern, laufe ich hinterher und remple den Einbeinigen so heftig an, dass er laut schreiend auf den Rasen, in ein Meer aus Kippen und ein paar Plastiktüten fällt. Ich sehe, wie die anderen beiden wegrennen, schnappe mir mein Fahrrad und trete, so fest ich kann, in die Pedale. Die beiden anderen treffe ich zwei Strassen weiter vor dem Kapri, einer jener heruntergekommenen Bars, in denen sich das Treibgut der Nacht so ansammelt, wieder. Wir beschliessen, hineinzugehen und dort abzuwarten, bis wir sicher sind, dass uns niemand sucht. Yasmin erzählt mir, dass alles geklappt habe: Das Lehrerzimmer sei funden und die letzten beiden Seiten ihrer Hausarbeit ausgetauscht. Zum Beweis hält sie mir zwei dicht beschriebene Blätter unter die Nase. In meiner Tasche vibriert es: Eine SMS von meiner Mutter, die meint, ich solle mich mal melden, und fragt, wann ich nach Hause komme. Ich antworte, dass ich gerade noch mitten in einer Geschichte stecke, von der ich nicht wisse, wie ich sie beenden soll. DANIEL GROHÉ

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Literatur

offen gewesen und nach einiger Suche haben sie den Schreibtisch von Herrn Ellenbogen ge-


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 Literatur


Fasanenhäppchen

Geschichte, die sich selbst webt und gleichzeitig auf-

Welcher Teufel hat mich nur geritten, als ich dachte, es

Zitat – «nassen Wollfäden», der seine Langweiligkeit sel-

wäre lustig zu versprechen, diese Kritik zu schreiben?

ber geistreich reflektiert und dadurch überhaupt nicht

Jetzt schreit sie danach, abgegeben zu werden, und es

mehr langweilig ist.

löst, ein Text aus – mühsames Bild, aber auch das nur

gibt sie noch gar nicht. «Gute Prosa ist wie eine Fens-

Hier räume ich meine Sachen zusammen, ordne die

terscheibe. George Orwell», google ich, und unter «Das

spitzen Stifte auf dem Pult und werde die von aussen mit

wird Sie auch interessieren» buttert das Internet mir

«Kritik» scheinbar für mich verkehrt herum beschrifte-

noch unter: «Ein Dichter schöpft die Tragik aus seiner

te Bürotür gleich abschliessen. Voraussehbar war es ja,

eigenen Seele, der Seele, die allen Menschen gleicht.

dass der Kritiker in diesem Text selber noch auftreten

William Butler Yeats.» Wer’s glaubt. Daniel Grohé jeden-

muss, und zwar in einer klischeehaften Verzerrung, die

falls nicht. Prosa soll da kein Fenster sein, was immer

meiner bescheidenen Lebensführung und meinem as-

das heissen mag, eher ein Spiegel, aber nicht ein so klar-

ketischen Lebenswandel Hohn spricht: «Eine Gruppe

geputzter, dass er die Spiegelung einen Moment verges-

dicker Kritiker», natürlich sind sie dick, «die am Tisch

sen lässt, sondern ein endlos sich spiegelnder, so dass

laut schmatzend die aktuellsten Bücher verreisst, wäh-

der kleine Unterschied zur Realität, dass rechts links ist

rend sie ihre Fasanenhäppchen in Estragon-Sosse tun-

und umgekehrt, längst wieder erneut verkehrt worden

ken.» Was mich ärgert, ist weniger die Tatsache, dass ich

ist. Gewaschen mit allen Wassern der Metafiktionalität

weder weiss, wie so ein Häppchen noch wie EstragonSauce schmeckt, als vielmehr die Erinnerung: Diese Fa-

Na toll. Was habe ich da als Kritiker noch verloren?

sane kamen ja auch schon in delirium vor, und zwar als

Denn wie es nicht anders sein kann, enthält der Text

«mit kleineren Fasanen gefüllte Fasane». Mise-en-abyme

Thyestes, Kinder auch seine eigene Kritik, und zwar eine

auf Schritt und Tritt. Würde mich nicht wundern, wenn

so geistreiche, wie sie dem Text nur schmeicheln kann:

jene «zwei dicht beschriebenen Blätter», die Yasmin dem

Die Übererfüllung der delirium-Vorgaben wird zur raf-

Schmiere stehenden Protagonisten «unter die Nase» hält,

finierten kleinen Revolte gewendet. «Ich weiss nicht

genau der Text wäre, den wir hier vor der Nase haben.

recht, was ich von diesem Text halten soll. Die von der

Diese Literatur wartet nicht auf das Dazukommen

Zeitschrift geforderten Bezüge liefert er nicht nur, ja er

von Kritik. Sie enthält die Kritik, sie realisiert sich als

klatscht sie dem Leser einen nach dem anderen ins Ge-

Kritik, und vielleicht war der rätselhafte Knall nur je-

sicht, wie um zu sagen: ‹Schaut her, wie albern eure Vor-

ner, mit dem die Kritik die literarische Überschallmau-

schriften sind!›» Und natürlich ist diese Kritik des Tex-

er durchbrochen hat. Ich brauche hier nur an das Bild

tes, der an dieser Stelle in dieser Kritik besteht, gestopft

zu erinnern, mit dem Friedrich Schlegel das Wesen der

voll von solchen Bezügen: Yasmin und Golo kennen wir

Kritik umrissen hat: «Es ist darum bestellt wie in dem

aus delirium, Raul Sobasa ist delirium-Autor, und die Dro-

bekannten Volksmärchen vom rennenden Hasen und

hung: «Man sollte diesen Kerl von Enten totwatscheln

dem Igel, der am Ende der Laufbahn schon da ist und

lassen», haben wir delirium-Leser auch noch in den und

rufet: ‹Ik bin alhier!›», oder an den Witz, mit dem Harold

um die Ohren.

Bloom in seinen Seminaren das Verhältnis von Literatur

Aber woher kommt der Knall? So könnte ein Schul-

und Kritik klar zu machen pflegte: «Warum wedelt der

aufsatz beginnen. Ein Urknall sozusagen, zu einer Welt-

Hund mit dem Schwanz? Weil der Hund grösser ist als

entstehung, die zuletzt nichts ist als lauter Spiegelungen

der Schwanz. Sonst würde der Schwanz mit dem Hund

und Spiegeleien, in denen ich mich als Leser manchmal

wedeln.» Oder noch eine Formel: Thyestes, Kinder.

von hinten erblicke wie in einem DalÍ-Bild und dann

Dieser Titel ist natürlich nur ein Köder, den der Au-

wieder aus den Augen verliere? «Ich schrecke aus mei-

tor dem arglosen Kritiker umsichtig ausgeworfen hat,

nen Gedanken, als ich den Knall höre.» Diese tiefen

damit er sich darin festbeisst und glücklich ist, einen lo-

«Gedanken» kennen wir aber schon; es handelt sich um

ckenden Tiefsinn ergründen und ergründeln zu können,

Folgendes: «Wie nennt man Tagträume um zehn Uhr

während der Text in totaler – aber verspiegelter – Zwei-

abends?» Nach dem Knall ist nichts zu sehen. Nichts ge-

dimensionalität längst ungeschoren weg- und davonge-

schah bis zum Knall, und dann geschieht auch nichts.

kommen ist. Um Thyestes, Kinder steht es nämlich so. Es

Er kam vielleicht gar nicht aus dem Gebäude. Er war

sind deren drei. Zwei Söhne, die ihm von seinem Bruder

wohl nur eingebildet, es gab keinen Knall… Toll, eine

Atreus – als Rache dafür, dass Thyestes ihn mit seiner

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Kritik

und Autoreferenzialität.


Frau betrogen hatte – als Mahlzeit vorgesetzt wurden und die er aufass. Und eine Tochter, mit der er einen Sohn, der also auch sein Enkel war, zeugte, damit dieser (es war Aigisthos) nach dem Spruch des Orakels Atreus töten würde. Das dürfte reichen, um zu verstehen, dass Thyestes, Kinder ein geistreicher Titel für ein self-consuming artefact wie diesen Text ist. Ich schliesse die Türe ab und schaue, mehr gewohnte Geste als Neugier, noch kurz aufs Handy. Und bin auf einmal ganz aufmerksam. Ist mir die NZZ mit der Kritik zuvorgekommen? Ich überfliege: «… fasziniert zunächst durchaus, erweist sich dann aber als banal, repetitiv und ertraglos. Einprägsame Figuren sucht man ebenso vergeblich wie epiphanische Augenblicke. Der junge Autor hat das ernsthafte Problem, … mit seiner planen Art des Erzählens keine symbolischen Prozesse auslösen zu können… wo sich ihm die Fiktion nicht erschliesst, verwirft er sie lieber trotzig ganz. Geschickt … aus seiner literarischen Not eine schriftstellerische Schlaumeierei gemacht… unser Max Frisch: Erst indem er sein Leben… vermochte er es in Literatur zu verw… Was die Wahrnehmung menschlicher

Kritik

Abgründe betrifft… Max… ist dieses Stück Literatur weitgehend laue Luft. ... unter die Haut geht sie nicht… daraus lernen? Doch immerhin dies: Kunst ist keine Mode, kein Kinderkram und kein Schaumbad – was oft genug aus Schmerz entsteht, will auch im Zeichen des Schmerzes weitergetragen sein. Wenn Literatur die Horizonte des Daseins weiter aufreissen soll, muss … Frisch…» Ich scrolle bis zum Ende und wieder hinauf: «Welthaltig ist sein Schreiben trotz der Stofffülle nicht – auf sich selbst fixiert, tigert er im Vorhof der Literatur herum.» Ich muss lachen. «Was, gibt es das noch, den Vorhof der Literatur?» Noch kurz checken, ob nicht wieder ein kleiner Grosskritiker, ein Literaturpäpstchen das Zeitliche gesegnet hat. Und ob nicht plangemäss schon dieses anund abläuft: dass, nachdem der vor Weltfülle dicke Körper, aus dem das pralle Leben und die menschlichen Abgründe gewichen sind, aufgefunden worden ist, die Presse von Beteuerungen widerhallt, wie viel und wie Unersetzliches der unermüdliche Popularisator für die Sache der Literatur geleistet habe. Die Wahrheit ist: Niemand hat der Sache der Literatur je so sehr und so gründlich geschadet wie er und seinesgleichen. Wovon er schmatzend geredet hat, das waren Fasanenhäppchen. Literatur war einfach nie das Heiligtum, in dessen Vorhof er kniend anstand. In Literatur fällt man rein und durch. HEINER WEIDMANN

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DEMIAN LIENHARD

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LITERATUR

… Und dann, d…aZnwnekif ell osmist mit o m LÉedicache Imbre eitnd e r e e r der Gron z u g s s z e n oh u a u r s ü n ck, e dem lS it eararg r i s , cm heint eiBnaecm kstw agiebereic h l d e a u Jazzs,gezeichnetren s wäre wordeanl… gar ni s i e cht to t … KRITIK

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IBRAHIM FLACHSKAP 36


Überraschung in Stockholm Édace Imbre erhält Nobelpreis für Literatur Überraschung in Stockholm: Der diesjährige Nobelpreis für Literatur geht an Édace Imbre. Die Jury würdigt ihn als «Meister des Schweigens». Der diesjährige Nobelpreis für Literatur geht an Édace Imbre. Diese überraschende Entscheidung gab die Schwedische Akademie am Donnerstag bekannt. Der in der Schweiz wohnhafte Deutsche mit französischen Wurzeln wird für seine Kunst des Schweigens und Vergessenmachens ausgezeichnet. Er erhalte die weltweit höchste literarische Auszeichnung für «seinen aufopferungsvollen und unermüdlichen Einsatz für und gegen die Literatur», so Peter Englund, ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie. Im Literaturbetrieb sei Imbre zum festen «[Bestand-]Teil von jener Kraft […], die zwar stets das Böse will, aber stets das Gute schafft» geworden. Imbre wird als bisher neuntem Deutschen diese Ehre zuteil. Er tritt damit in die Fussstapfen von grossen Autoren wie Gerhart Hauptmann, Heinrich Böll und Günter Grass. Der Literaturnobelpreis ist dieses Jahr mit 8 Millionen Schwedischen Kronen (ca. 925‘000 Franken) dotiert. Englund sagte bei der Bekanntgabe, man habe Imbre telefonisch noch nicht erreichen können. Wie später sein Sohn Raymond gegenüber dem Sender SRF 1 bekanntgab, sei er es

Literatur

gewesen, der seinen Vater über die Ehrung informiert habe. «Ich habe ihn angerufen und gesagt: ‹Papa, du hast gewonnen!› Er war völlig verwirrt. ‹Was habe ich gewonnen?› Erst dann kam er zu Sinnen». Seinem Sohn zufolge war Imbre überglücklich. «Jetzt werden sicherlich auch Literaturschaffende, die im Stillen arbeiten, mehr wahrgenommen», soll er in einer ersten Reaktion gesagt haben. Édace Imbre ist als einziger Sohn eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter 1934 im französischen Metz geboren. Seit Kriegsende gilt Édace Imbres gleichnamiger Vater als verschollen. Die Mutter, die nunmehr alleine für ihren Sohn aufkommen musste, nahm eine Stelle als Lektorin beim damaligen Insel Verlag an und siedelte im Herbst 1945 nach Wiesbaden über. Imbre, der ohne familiäre Wärme und in wirtschaftlich prekären Verhältnissen aufwuchs, entwickelte früh eine Begeisterung für Glasflaschen, die er leidenschaftlich sammelte. Diese frühe Beschäftigung mit der Leere ist geradezu modellhaft in sein Gesamtwerk eingeflossen. Nach dem Abitur studierte er zunächst Klavier und Gesang in Frankfurt am Main, wandte sich aber später der Germanistik und der Romanistik zu. 1964 schloss er sein Studium ab und wurde vom Germanisten Paul Stöcklein zur Promotion angenommen, die er allerdings vorzeitig abbrach. Heute ist er in verschiedenen Bereichen des Literaturbetriebes tätig. Er wohnt in Basel und Melide.

Schweigen In einem Gespräch, das in der Herbstausgabe dieses Hefts (D. Grohé – C. Weidmann, Ein eisiger Wind im Literaturbetrieb – Interview mit Édace Imbre, in: delirium N°07 / Oktober 2016) in leicht gekürzter Form erscheinen wird, erinnerte sich Imbre an einen Besuch der Frankfurter Buchmesse 1963, der für ihn «rückblickend das wohl einschneidendste Erlebnis gewesen» sei. «Der Anblick Tausender Bücher, die die Bibliotheken und Studierzimmer dieser Welt biblischen Heuschreckenschwärmen gleich [zu] überfallen» drohten, hätten ihn zutiefst erschüttert. Eine solche Masse suggeriere doch, so der frischgebackene Preisträger weiter, «dass es wirklich so viel Lesens- und Wissenswertes [gebe]» und dass jede «noch so kleine Erinnerung»

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es wert sei, schriftlich festgehalten zu werden. Imbre sei augenblicklich davon überzeugt gewesen, dass «Schweigen wieder eine Tugend werden muss». Das Jahr 1963 darf also als Schlüsselmoment im Leben des jungen Intellektuellen gelten. Fortan beschäftigte er sich mit dem Motiv des Schweigens, das den Grundpfeiler seines zukünftigen Schaffens bilden sollte. Bereits in seiner Magisterarbeit, für die er noch im selben Jahr den Germanisten Paul Stöcklein als interessierten Betreuer hatte gewinnen können, untersuchte Imbre literarische Strategien des Schweigens. Obwohl er durchaus den «Drang dazu verspürte, in einer grossangelegten Studie mehrere Nachkriegsautoren zu vergleichen», musste er sich auf einen einzelnen, weitestgehend unbekannten Autor beschränken. Dessen zweiteiliges Werk (Bibliothek Suhrkamp, Bd. 138 und 144) zeige dafür «das Schweigen beispielhaft, ja geradezu in noch nie dagewesener Konsequenz» auf. Wie der Verlag auf Anfrage verlauten liess, sei das Erscheinungsdatum der beiden Bände «aufgrund technischer Schwierigkeiten bei der Drucklegung auf unbestimmte Zeit verschoben». Dass Imbre die Druckfahnen zugänglich waren, darf indes ausser Zweifel stehen, war doch seine Mutter, die mittlerweile in den Insel Suhrkamp Verlag übernommen worden war, mit dem Lektorat dieser Texte betraut. Auf Anregung seines Lehrers Paul Stöcklein sollte im Rahmen einer Dissertation der Untersuchungsgegenstand auf weitere zeitgenössische Autoren ausgedehnt werden. Dieses Unterfangen scheiterte allerdings aus unbekannten Gründen.

Vom ironischen Radikalismus zur radikalen Ironie Mit etwa 30 Jahren – und damit eher spät – begann Imbre seine ersten Schreibversuche. auf ein schmales Œuvre zurückblicken kann. Ein erstes Werk wurde von den Verlagen durchweg abgelehnt, wohl weil Imbre laut eigenen Angaben «[s]ein zentrales Motiv [Schweigen, Anm. d. Red.] auf allzu radikale Art und Weise» verfolgt habe. Erst nachdem er diese Phase des jugendlichen Leichtsinns überwunden habe, habe er erste Erfolge feiern können. Die «Trilogie des Schweigens» sei von seinem früheren Lehrer Paul Stöcklein geradezu frenetisch aufgenommen worden. Dieser sei es denn auch gewesen, der nach dem Tod von Imbres Mutter die erforderlichen Kontakte zu Siegfried Unseld und seinem Verlag herstellte. In dichter Folge erschienen nun die Titel Leerstellen (Bibliothek Suhrkamp, Bd. 355; 1. Auflage 1973), das mit über 200 Seiten als opus magnum geltende Griechischer Monatsanfang (Bibliothek Suhrkamp, Bd. 396; 1. Auflage 1974) sowie sein letztes Werk Gespräch mit Sankt Juttemis – Eine winterliche Grachtenfahrt (Bibliothek Suhrkamp, Bd. 432; 1. Auflage 1975). Hier wurde das literarische Schaffen zur Selbsttherapie, die persönliche Traumata und die Auswirkungen solcher von gesamteuropäischer Dimension – ins Gegenteil verkehrt – zu einem magischen Kosmos der Stille bündelt.

Vom Saulus zum Paulus Imbres grösstes Verdienst um die Literatur liegt allerdings weniger in seinem eigenen, eher schmalen literarischen Werk, in dem er sich voll und ganz dem Schweigen verschrieben hat, als vielmehr in seiner vehementen Überzeugung, dass dieses Ideal auch zur Genesung der krankenden Literatur insgesamt beitragen würde, hätte man es erst zur Anwendung gebracht. Mit gutem Beispiel ging Imbre voran und verliess sein Studiolo auf immer, um gegen die Schreibwut seiner Berufskollegen zu Felde zu ziehen. «Die Kunst ist», so Imbre im Interview, «einen Autor zum Schweigen zu bringen, ohne dafür die Schranken des Gesetzes übertreten zu müssen». Ein erster Schritt könnten lange Gespräche mit anderen Autoren sein, doch sei diese Form von Überzeugungsarbeit äusserst zeitraubend und selten von durchschlagendem Erfolg gekrönt. Wesentlich wirksamer sei es da, einen oder gar mehrere Autoren zu mehrtägigen Klausuren zu laden und darauf zu hoffen, dass sie während der feuchtfröhlichen Gelage

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Literatur

Nicht nur diesem Umstand ist es geschuldet, dass der nun mit dem Nobelpreis Geehrte nur



dem offerierten Trank reichlich zusprächen und darob ihre Arbeit am Text wenigstens für die Zeit der bacchantischen Symposia oder – im Idealfall – gar auf immer vernachlässigten. Aber damit habe sich das vielschichtige Repertoire seiner Bemühungen noch lange nicht erschöpft. «Einmal habe ich – unter falschem Namen natürlich – einen Verlag gegründet», sagte Imbre, während ein verschmitztes Lächeln über seine Mundwinkel huschte. «Wir haben hunderte Manuskripte angenommen; selbstredend wurden die Bücher nie gemacht.» Einige der Texte seien niemals erschienen, einige habe man immerhin für mehrere Jahre vom Markt genommen. Schliesslich habe er auch eine Stiftung gegründet, die Stipendien für Schreibende verliehen habe. Auf dass die erfolgsversprechenden Autoren entmutigt würden, vergab man diese stets an hoffnungslose Fälle. Gleichzeitig habe man dadurch bezweckt, dass die «glücklichen, aber im Grunde völlig talentfreien Schreiberlinge» sich bezüglich ihrer Fähigkeiten in «falscher Sicherheit» wiegten. Jeder Ansporn, sich zu verbessern, der einem solchen Anfänger aus einem allenfalls verwehrten Stipendium hätte erwachsen können, sollte durch diese verfrühte Belohnung sogleich genommen werden. «Wie viele potentielle Autoren wir davon abgehalten haben, eine literarische Karriere einzuschlagen, lässt sich natürlich schwer sagen», so Imbre, «aber das Nichts zu beziffern ist […] immer schwierig. Trotzdem, seien Sie versichert, die Zahl geht in die Hunderte». Vor der jüngsten Methode schliesslich habe er lange Zeit Respekt gehabt, «wohl fälschlicherweise, wie sich jetzt herausgestellt hat», gab sich Imbre selbstkritisch. Denn mit Erfolg habe er in jüngster Zeit mehrere Plagiatsprozesse angestrengt, wodurch man so manchem Autor einen Strich durch die Rechnung habe machen können. «Stellen Sie sich vor, Sie schreiben sechs Jahre an einem Roman. Kaum ist er publiziert,

zumal man in den Gerichten nicht länger gewillt sei, «dem bunten Treiben auf dem Rücken des Urheberrechts einfach zuzuschauen». Heutzutage neigten die Juristen bekanntlich dazu, selbst für Konjunktionen einen Herkunftsbeleg zu fordern. (Zu dieser Thematik: Demian Lienhard, (K)ein Plagiat, in: delirium N°07 / Oktober 2016.) Zweifellos ist mit Édace Imbre einer der Grossen aus dem literarischen Backstagebereich ausgezeichnet worden. Diesen will er auch in den kommenden Jahren nicht verlassen. Dazu, wie er seine Ideale in Zukunft umsetzen möchte, hält er sich allerdings bedeckt. Nur so viel: «Mit mir ist immer zu rechnen, seien Sie dessen gewiss.»

Geheime Wahl Der Nobelpreis für Literatur ist 1901 erstmals vergeben worden. Preisträger war damals Sully Prudhomme, ein französischer Philosoph und Dichter. Ausgezeichnet werden Romane, Kurzgeschichten, Gedichte, Dramen, aber auch generelle Verdienste gegenüber der Literatur. Um gewählt werden zu können, ist eine vorgängige Nominierung erforderlich. Alle Mitglieder der Schwedischen Akademie, Literaturwissenschaftler sowie frühere Literatur-Nobelpreisträger sind dazu berechtigt. Die Namen der Nominierten bleiben geheim. Auch die Wahl erfolgt unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Jury nennt nur den Namen des Preisträgers und die Gründe, die zur Wahl geführt haben. Dieser Umstand nährt Jahr für Jahr Spekulationen. DEMIAN LIENHARD

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Literatur

nimmt man ihn mit einem Plagiatsvorwurf vom Markt. Für ein oder zwei Jahre sind Sie aus dem Rennen, mindestens. Manche stehen gar nicht mehr auf». Das sei heute leichter denn je,


Kritik

Figuren der Versenkung

Kunst befördern oder das Kunstwerk auf eine bewusstere, konzeptuellere Weise angehen». Je mehr wir also schweigen, desto schwerer wiegt die Bedeutung dessen, was noch da ist.

Die Ethik, die uns rettet, ist noch nicht erfunden wor-

Doch dürfen wir Imbre wirklich dazuzählen? Steht

den. Ich kann mich nicht auf kollektive Moralvorstellun-

uns mit ihm ein Zeitgenosse gegenüber, der mit glei-

gen berufen, wenn ich mich solidarisch mit Édace Imbre

cher Ernsthaftigkeit die Idee einer schweigenden Kunst

erkläre. Den armen Kerl hat ein trauriges Los getroffen:

vertritt? Sprechen aus seinen Anstrengungen die Liebe

die Ironie. Er ist als Schriftsteller erfunden worden, der

zur Bedeutung und die Achtung vor dem geäusserten

eigentlich keiner ist und so schnell wieder vergessen

Wort? Nein. Imbre treibt nicht die Ästhetik des Schwei-

gehen sollte, wie er aufgetaucht ist.

gens an, sondern die Lust am Schaden. Der grassieren-

Auch ich bin Fiktion. Geboren als Pseudonym, ver-

den Schreibwut seiner Kolleg_innen Einhalt zu gebieten,

nichtet für meine Unfähigkeit, wiederauferstanden als

ist ihm Zweck genug, dahinter verstecken sich keine hö-

Figur. Seither finde ich mich in kurzen Erzählungen wie-

heren Motive. Er ist allenfalls ein von Ressentiment ge-

der, in denen ich als unsympathischer Vorleser auftrete,

genüber dem Literaturbetrieb geplagter Mann, der sich

der sein Publikum aufs Übelste beschimpft und dafür

für sich selbst bessere Chancen erhofft, wenn er andere

unverstandenen Applaus erntet. Wie Imbre bewege ich

Kolleg_innen aus ihrer Berufung schwatzen kann. Und

mich auf der anderen Seite des Papiers, friste ein dis-

er hat Erfolg damit. Die Schwedische Akademie würdigt

kontinuierliches Leben zwischen den Imaginationswel-

seinen Dekonstruktivismus mit der höchsten literari-

ten unserer Lesenden.

schen Auszeichnung.

Nun habe ich die Gelegenheit erhalten, das Papier

Eine Figur ist nicht nur eine Figur. Wie die Litera-

durchlässiger zu machen. Ich will meine Chance nutzen.

turwissenschaft nicht müde wird herauszustreichen, er-

Die Fiktion schlägt zurück.

füllen wir innerhalb unserer fiktionalen Umgebung be-

Demian Lienhard scheint es zunächst gut mit mei-

stimmte Funktionen, vertreten Ideale, stürzen uns, mehr

nem Kollegen zu meinen. Kaum ins Leben gerufen, er-

oder weniger offensichtlichen Motiven folgend, ins Un-

hält Imbre den Nobelpreis für Literatur. Der «Meister

glück. So auch Imbre, nur geniesst er das Glück, Teil ei-

des Schweigens», wie ihn die Jury ehrfürchtig nennt,

nes zynischen Textes zu sein, indem unsympathische Fi-

wird für seine Verdienste honoriert, den Literaturbe-

guren oftmals triumphieren. Lienhard nutzt Imbre, um

trieb stiller gemacht zu haben. Schweigen solle wieder

an seiner Auszeichnung die vernichtende Kraft des Li-

eine Tugend werden, so Imbre. Ihm sei Dank haben vie-

teraturbetriebs zu kritisieren. Hinterhältige Verlage, un-

le talentierte und untalentierte Schriftsteller_innen nie

durchsichtige Stipendien, hanebüchene Plagiatsvorwür-

den Weg auf den Buchmarkt geschafft. Viel geschrieben

fe – für all dies zeichnet Imbre Verantwortung und all

hat er indes nicht, seine Trilogie des Schweigens ist un-

dies erreicht er, «ohne dafür die Schranken des Gesetzes

ter leeren Buchnummern erschienen.

übertreten zu müssen». Dass die Laudatio ihn gleichzei-

Eigentlich darf sich Imbre in populärer Gesellschaft

tig als Mephisto des Literaturbetriebs feiert, lässt ein epi-

schätzen. In ihrem Essay Die Ästhetik des Schweigens pos-

gonales Literaturverständnis mit struktureller Starrheit

tuliert Susan Sontag 1967: «Die Kunst unserer Zeit plä-

verschmelzen, die sich in unzweifelhaftem Recht sieht,

diert lauthals für Stille». Wenngleich sich Autoren wie

neue literarische Versuche als krank zu bezeichnen.

Rimbaud, Wittgenstein und Duchamp vom Schreiben

Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, inwiefern

abgewandt haben, um tatsächlich nicht mehr sprechen

Lienhard seine Kritik grundsätzlich gegen den Zustand

zu müssen, so habe doch diese Abkehr, stellt Sontag fest,

des heutigen Literaturbetriebs richtet oder im Speziellen

den gegenteiligen Effekt, dass ihre Schriften mit umso

auf die Kritik-Debatte im delirium selber einzugehen ver-

grösserer Autorität aufgefasst würden. Schweigen stellt

sucht. Das mögen unsere Lesenden für sich entscheiden.

den antizipierten Hintergrund dar, vor dem wir Gesag-

Was mich als gleichfalls literarische Figur zur Solidarität

tes, Gehörtes, Wahrgenommenes überhaupt begreifen

mit einem Kollegen antreibt, den ich für seine Einstel-

können. So sieht sie in den Arbeiten ihrer Zeitgenoss_

lung zur Literatur eigentlich verabscheue, ist die Plump-

innen, wie Samuel Beckett und John Cage, im Schwei-

heit, mit der Lienhard Imbre entworfen hat.

gen, in der Leere und der Reduktion Strategien, «die

Imbre ist ein mieser Charakter. Ausgestattet mit der

entweder ein unmittelbares, sinnlicheres Erleben von

Trotzigkeit eines Jugendlichen, der sich konventioneller

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gebiert als seine Eltern. Sich auf der weltweit grössten Buchmesse darüber zu beklagen, dass eine unüberschaubare Masse an Literatur veröffentlicht wurde, erinnert mich an meine eigene Jugend, in der ich aus mangelndem Überblick die gesamte Berner Literaturszene verdammte. Doch letztlich ist es nicht dieses Schlüsselerlebnis, mit dem Lienhard seinen Imbre der Lächerlichkeit preisgibt, sondern die Tatsache, dass er ihn gedanklich nicht darüber hinauswachsen lässt. Wie viele ernstzunehmende Literat_innen lassen sich bitte aus der Literatur hinausreden? Wie viele Autor_innen kennt die Geschichte, die unter hohem Alkoholeinfluss das Schreiben vergessen hätten? Auch ein Verlag, der Bücher annimmt und nicht publiziert, wird niemanden aufhalten, einen neuen Verlag zu suchen. Imbres Unternehmungen entpuppen sich als unkreative Pseudomassnahmen. «Das ist doch Ironie!» Ja, das ist es, aber ich sage: eine schlechte, eine zerstörerische. Eine Ironie, die genauso schädlich für die Literatur ist wie der Literaturbetrieb, für den Imbre steht. Eigentlich ist es Ironie genug, dass ein schadenfreudiger, unpublizierter und wenig Kritik

schreibender Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhält – vergessen wir nicht, dass Alfred Nobels Testament den Preis jenen zudenkt, «die der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben». Doch indem Lienhard Imbre als Farce der Idee darstellt, die Imbre verkörpern könnte, nimmt er seine eigene Figur zurück und mit ihr jede Reibungsfläche. Ihr könnt lachen über den Literaturbetrieb, über Imbre, weil Ihr sicher seid, geistig über dem von Lienhard portraitiertem Niveau zu stehen. Nichts an diesem Text fordert Euch heraus. Er rutscht in biedere Gefälligkeit. Auf diese Weise wird Ironie zu einem blossen Selbstschutz, zu einem Bollwerk, hinter dem Ihr Autor_innen Euch unangreifbar wähnt. Glaubt das nicht. Es ist zu einfach, Ironie als Entschuldigung für einfallslose Entwürfe zu missbrauchen. Steht zu Euren Figuren – sonst ziehen wir Euch mit in die Versenkung, in die Ihr uns verbannt. IBRAHIM FLACHSKAP (eine Figur von Thibault Schiemann)

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Reinreden


Zeitschrift gegen Literatur? Warum denn das — hat uns die Literatur etwas getan? Auch das noch. Als hätte die Literatur nicht schon genug auszustehen. Als würde sie in einer Zeit der kurzen Aufmerksamkeiten nicht schon längst den Kürzeren ziehen, als wäre sie in den Augen der Menschen nicht jetzt schon eine verstaubte Angelegenheit, als wäre sie nicht schon immer die erste, die unter Streichungen im Kulturbudget und in der Feierabendökonomie zu leiden hätte.

Gegen? Aber denkt man zweimal darüber nach, so ist es eigentlich gar nicht wahr. Die Literatur kennt keine natürlichen Feinde. Die Rechten fühlen sich gar nicht erst bemüssigt, etwas gegen sie einzuwenden; die grosse Masse hält Literatur für sehr gesund, unterhaltend, Schreiben für tüchtig und Schriftsteller für klug, auch wenn sich die Behauptung, sie wären gute Beobachter, mal für mal als falscher erweist; die sogenannt Linken ersetzen Literatur durch Social Media, kommen aber nicht umhin, Literatur zu hegen, sie zu kaufen, und irgendwie füllen dann doch immer sie die Reihen, wenn es eine Lesung gibt; Intellektuelle und Esoteriker, Managerinnen und Stripper, Richter und Kriminelle, alle mögen sie ab und zu «ein gutes Buch». Die maximale Aufmerksamkeit, die die Gesellschaft der Literatur entgegenbringt, lässt sich «Schonung» nennen. Verhätschelungen am Bachmannpreis, Versöhnlichkeit im Literaturclub und Salbungen im Feuilleton: Das Wichtigste ist, und das gilt es hervorzuheben, dass jemand, gerade in einem kleinen Land wie der Schweiz, überhaupt schreibt und publiziert. Die Erhabenheit dieser Handlung wird nur von jenen getoppt, die über diese Texte sprechen, solange sie es nett und mit reichlicher Würdigung tun – jene Retter des guten Geschmacks, die Garanten der gelesenen Schrift. Aber die Dringlichkeit, mit der man sich über die Vorteile des Schreibens versichert, scheint jenen ähnlich, die etwas Böses denken und, um nicht zu verleugnen, gleich als Tugend verbrämen, es nur zu denken.

Gegen?! Wie aus dem Nichts war alles, was man links liegen gelassen hatte, ohne dass man ihm je Genugtuung verschafft hätte, glücklich und affirmativ. Der amerikanische Präsident hat sich mit einer «Yes We Can»-Parole emporgeschwungen. Die SP Schweiz hat sich ihren Slogan gegeben: «Ja». Aber ein bisschen ist das, wie zum Ehemann, den man betrogen hat, zurückzukehren, weil aus dem anderen doch nichts geworden ist, und du schaust ihm dann so zu: wie er Wäsche aufhängt und dich anlächelt, tief verletzt, aber vom eigenen Lächeln versöhnt: Yes. Ja. Wir können es schaffen. Das Abnicken ist zur Routine geworden, unsere Atlaswirbel haben die Bewegung eingeschleift. Von weitem sieht die Bewegung an dir aus, als gäbest du schlechten oder erhaltest du guten Oralsex – der Unterschied scheint gar nicht wichtig. Und darum geht es ja: das Miteinander. Die Liebe, und noch so leidenschaftslos. Die Literatur, die allen gehört. Alles ist irgendwie gut, nichts ist schlecht, denn es ist ja immerhin Literatur. Die Geringschätzung, die hinter diesem interesselosen Wohlgefallen steht, war immer offensichtlich. Sie tritt in einer Zeit, in der Empörung und Euphorie die Motoren öffentlicher Aufmerksamkeit befeuern, nur noch in weit ärgerer Bedeutungslosigkeit hervor.

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…Das Abnicken ist zur Routine geworden…


Dagegen sind wir. Nicht gegen die Autorinnen und Autoren, nicht gegen die Klassiker, die Nobelpreisträgerinnen oder die Feuilletonisten. Wir wollen nicht Hass schüren, und es geht nicht um Verachtung oder Abschätzigkeit. Aber nur in der Uneinigkeit merken wir, dass wir, die schreiben und lesen, überhaupt da sind. Es tut kurz ein bisschen weh, aber dann fühlt es sich richtig an.

Nicht für?!

Reinreden

Indem delirium die Kritik wagt und es wagt, die Kritik allen zugänglich zu machen; indem jeder einen Text einschicken und jeder einen eingeschickten Text mit einem eingeschickten Kritikertext kritisieren kann; indem jeder Text auf einen anderen Text und jede Ausgabe auf eine andere Ausgabe verweist, ist dieses parallele Nebeneinander-Herleben nicht mehr möglich. delirium ist nicht nur der Nährboden für Literatur. Die Zeitschrift kann nicht anders — andere Züchter, etwa von weissen, hübschen, an den Bäuchen kuschlig behaarten Kaninchen, kennen das Problem! — als sie gegeneinander aufzuhetzen. Gegenliteratur entsteht, weil die Literatur eine Richtung hat. Und delirium leistet noch mehr: Es ist nicht nur Gegenliteratur, es kann Gegeneinanderliteratur sein, wenn nur alle so gar nicht zusammenhalten. Wenn wir alle an anderen Stricken ziehen, oder am gleichen, aber in andere Richtungen. Wenn wir nicht geschlossen, sondern geöffnet nebeneinanderstehen und uns die Rücken entblössen statt decken. Man sieht: Wir haben gar keine Rhetorik für das, was wir brauchen. Aber wir brauchen die Uneinigkeit.

Also wie jetzt? Nicht für? Meine Mutter hat gesagt: Wenn man nur ganz fest gegen etwas ist, wenn man nur ganz, ganz fest dagegen ist, dann gibt es vielleicht auch einmal das, wogegen man eigentlich ist. CÉDRIC WEIDMANN

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Wie Jacques Destouches sein Bein verlor Dies ist die Geschichte des Nachtwächters von Antisanne im Genfersee, der in einer Beziehung zu seinem abgesägten Bein lebte, bis ihn seine Vergangenheit einholte. Jener schicksalsreiche Tag begann unscheinbar: Jacques Destouches schälte sich aus seinem warmen Bett, kochte einen Kaffee und machte sich daran, sein geliebtes Bein zu waschen. Da klopfte es an seiner Tür, und noch bevor er sie öffnen konnte, traten zwei Gestalten ein. Sie hätten den dringenden Befehl, ihn abzuführen, er wisse vermutlich, worum es gehe. Er wusste es nicht. Das hinderte sie jedoch nicht daran, darauf zu bestehen, dass er mitkomme. Jacques tupfte also sein Bein trocken, legte es behutsam auf das Bett und versprach ihm, dass er bald wieder da sein werde. Die beiden Gestalten verfrachteten ihn an einen weit entfernten Ort, wo er eingeschlossen in einer Zelle stundenlang warten musste. Seine Situation quälte ihn ebenso wie die Sorge um sein Bein. Endlich, es musste bereits Abend sein, kam eine mürrische Wärterin herein und führte ihn in einen Raum mit einer kleinen Bühne. Im Raum sassen bereits viele Leute und musterten ihn, wie er auf die Bühne humpelte. Sie tuschelten miteinander, einige machten Fotos von ihm. Mit etwas Abstand zum Publikum sassen drei Frauen an einem Tisch und blätterten durch irgendwelche Papiere. Als er auf der Bühne stand, gebot die Frau in der Mitte dem Publikum Ruhe, lächelte Jacques an und begann: «Wir begrüssen Sie herzlich bei uns. Bitte stellen Sie sich kurz dem Publikum vor.» Jacques suchte einige Worte zusammen und sagte etwas verwirrt: «Ich bin Jacques Destouches, Nachtwächter von Antisanne, und ehrlich gesagt wüsste ich gerne, was das Ganze hier soll.» Kichern erhob sich im Publikum. Die drei Frauen lächelten sich zu. Die Frau ganz rechts büschelte ihre Papiere und sagte dann: « Wir können verstehen, dass Sie mit einem solchen Verfahren nicht gerechnet haben. In der Tat, die meisten Täter, über die wir hier richten, sind sich gar keiner Schuld bewusst. Gerade deshalb ist unsere Arbeit so wichtig. Die Leute haben ja ein ganz falsches Bild von uns.» Sie nickten sich gegenseitig verständig zu. «Wir sind heute hier versammelt, um Ihnen, Herr Destouches, Ihr Urteil zu verkünden. Wir haben dieses auf der Basis Ihrer Geschichte Wie ich mich aufmachte, ein abgesägtes Körperteil wiederzufinden gefällt. Wegen der eindeutigen Beweislage ist uns dies leicht gefallen. Herr Destouches, Sie sind schuldig, ein frauenverachtender Erzähler zu sein. Und ein schlechter noch dazu.» Hier ging ein Raunen durchs Publikum und Jacques konnte die hämischen Blicke förmlich spüren. «Schweinehund!», rief plötzlich jemand aus dem Publikum, woraufhin alles johlte und pfiff, bis eine der drei Frauen sich umdrehte und um Ruhe bat. Sofort war es totenstill. «Es ist wichtig, dass Sie unsere Entscheidung verstehen. Deshalb soll jede von uns Ihnen ein paar persönliche Worte mitgeben, um Ihnen zu erklären, warum wir Sie verurteilt haben. Für mich, Herr Destouches, steht fest, dass Sie, obwohl Sie Frauen begehren, keine Beziehung mit ihnen eingehen können. Ja, lieber sägen Sie sich Ihr eigenes Bein ab und tun so, als hätten Sie eine glückliche Beziehung mit ihm. Ein Erzähler, der mit solch billigen Tricks einen persönlichen Mangel zu verdrängen sucht, kann nicht toleriert werden, darum

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…Sie sind schuldig, ein frauenverachtender Erzähler zu sein. Und ein schlechter noch dazu…


Reinreden

heisst es für mich: Schuldig.» Applaus schallte aus dem Publikum und gespannt wartete man auf den zweiten Spruch. «Herr Destouches, ich muss gestehen, dass mir Ihre Beschreibung von Weronika, Ihrer bodybuildenden Ex-Freundin, auf den ersten Blick gefallen hat. Dann aber hat mich Ihr Verhalten gegenüber einer so leidenschaftlichen und starken Frau dermassen schockiert, dass Sie sich meine Sympathien völlig verspielt haben. Was für ein niedriger Mensch Sie doch sind. Deshalb gilt für mich: eindeutig schuldig.» Vereinzelte Buhrufe ertönten aus dem Publikum, ein aufgebrachtes Raunen lief durch die Reihen. Einige machten Fotos von Jacques, dessen Kopf rot angelaufen war. Als sich das Publikum wieder beruhigt hatte, hob die dritte Frau an: «Fälle wie den Ihrigen, Herr Destouches, müssen wir leider zuhauf behandeln. Wieviele Erzähler bemerken gar nicht, was für ein verächtliches Bild sie von Frauen haben? Sie erzählen einfach munter drauflos und sind dann überrascht, wenn sie verurteilt werden. Kommt noch dazu, dass unsere Jury aus Frauen besteht, die sie ja sowieso nicht ernst nehmen. Also ziehen sie lieber unser Urteil in Zweifel, als sich selbst in die Verantwortung zu nehmen. Wir haben aber noch die Hoffnung, dass Sie Ihre Fehler korrigieren können. Gelingt Ihnen das, werden Sie nicht nur Ihre Frauenverachtung hinter sich lassen können, sondern auch ein besserer Erzähler werden. Am Ende werden Sie uns dankbar sein!» Wieder ertönte Applaus, diesmal in ernster Zustimmung. Jacques schwankte etwas auf seinem Bein und wischte sich den Schweiss von der Stirn. «Was ist denn die Strafe?», fragte er mit leiser Stimme. Er hörte vereinzeltes Lachen, die Lichter blendeten ihn. Auf einmal waren die drei Frauen verschwunden und auch das Publikum hatte sich deutlich ausgedünnt. Da trat die Wärterin wieder auf die Bühne und führte ihn zurück in die Zelle. Sie erklärte ihm, dass es bei diesem Verfahren nicht um Strafen gehe, sondern um die Verbesserung seiner selbst. Das Verbesserungsverfahren werde aus mehreren Schritten bestehen. Erstens müsse er eine Auswahl feministischer Klassiker lesen, sein Textverständnis werde jeweils in einem Test geprüft. Bei jedem Nichtbestehen würde sich dieser Lektüreteil erweitern. Nach erfolgreichem Abschluss des ersten Teils werden sich im zweiten Teil Rollenspiele in der Gruppe und Rematrisierung durch eine Kur in einer künstlichen Mutter abwechseln, um so eine Korrektur der persönlichen Erfahrungswelt herbeizuführen. Der Erfolg dieser zweiten Phase werde durch regelmässige Evaluation beurteilt. Sollte sich die angestrebte Besserung trotz längerer Verfahrensdauer nicht einstellen, werde man weitere Massnahmen erwägen. Nach diesem letzten Satz drehte sie sich abrupt um, trat hinaus und schloss die Tür hinter sich ab. Jacques legte sich erschöpft auf das Holzbett und zog die grobe Decke über sich. Er war verwirrt und beunruhigt. Wie konnte es so weit kommen? Was würde mit ihm geschehen? Er weinte leise in sein Kopfkissen, als er über sich plötzlich ein Geräusch hörte. Es schien ihm, als rufe jemand seinen Namen. Sofort setzte er sich auf und schaute hoch, das Geräusch kam von einem kleinen, vergitterten Fenster über dem Bett. Er stellte sich auf die Zehenspitze und sah eine bekannte Gestalt: Weronika. «Jacques, mein Schatz, ich komme, um dich zu retten», flüsterte sie durch die Scheibe. «Das heisst», fügte sie hinzu, «nur, wenn du es überhaupt willst.» «Ich will», hauchte er. «Dann stell dich dort in die Ecke, den Rest kannst du mir überlassen.» Jacques hüpfte sofort vom Bett in die Ecke. Weronika umfasste die Gitterstäbe vor dem Fenster und bog sie durch wie Spaghetti, dann zerschlug sie mit einem Hieb das Sicherheitsglas, sodass die Scherben nur so

…Sie erzählen einfach munter drauflos und sind dann überrascht…

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herabschneiten. Sie hielt ihm ihren gewaltigen Arm entgegen, er klammerte sich daran fest und mit einem Ruck hob sie ihn durch die Öffnung in die Dunkelheit. Sie befanden sich noch immer im See, von Antisanne war aber keine Spur zu sehen. Gemeinsam schwammen sie an die Oberfläche, und zum ersten Mal seit Langem durchströmte frische Luft Jacques’ Lungen. Ganz in der Nähe hatte Weronika ihr Motorboot verankert, das ungeduldig in den Wellen schaukelte, als könne es genauso wenig warten, von hier wegzukommen, wie die beiden. Sie kletterten hinein, Jacques legte sich erschöpft aufs Hinterdeck und Weronika fuhr mit Vollgas in Richtung Lausanne davon. *** Ein Bekannter der beiden berichtet, sie hätten nach der Ankunft in Lausanne hastig ihre Sachen zusammengepackt und sich dann davongemacht. Doch hier, verehrte Leserinnen und Leser, endet unsere Geschichte, denn was weiter geschah, das hat Jacques Destouches weder mir noch sonst jemandem erzählt.

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MAYA WOHLGEMUTH

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Das Interview 100 Jahre Dada

«Wenn Dada zwei dicke Titten hätte, wäre das ja alles kein Problem.» Wir feiern 100 Jahre Dadaismus. Zum Jubiläum dieser künstlerisch-literarischen Bewegung fragen wir bei Frau Professor Dr. Margot Eccles nach, was es denn da genau noch zu feiern gibt. Dr. Eccles ist Expertin für Fach- und vermeintlichen Dadaismus. Ihr Standardwerk «Dada – Alles über die unsichtbare Geige von Hugo Ball» wurde in mehr als 60 Sprachen übersetzt. Darunter auch ins Gälische, Nguni und ins Berndeutsche. Ihre Memoiren «Eccles – Ein Leben auf dem Dreirad» führte elfeinhalb Wochen die Spiegel-Bestsellerliste an. Sie ist Lehrstuhlinhaberin für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Mount Judge University von Brewer im Bundesstaat Pennsylvania. Margot Eccles ist unglücklich verheiratet und hat zwei Kinder. DELIRIUM:

Jolifanto bambla o falli bamba...

PROF. DR. MARGOT ECCLES:

(unterbricht) Ach, ich bitte Sie! Das ist doch Kinderkacke.

Sie haben recht, entschuldigen Sie vielmals. Frau Prof. Dr. Margot Eccles, Dadaismus feiert dieses Jahr seinen hundertsten Geburtstag. Geben Sie der ganzen Sache nochmals so lange?

Reinreden

DELIRIUM:

PROF. DR. MARGOT ECCLES: Das wird nicht ganz so einfach sein. Wenn ich daran zweifle, dann nur deshalb, weil Lautgedichte dieser Tage kaum eine ausreichende Hörerschaft finden. Ausserdem, und das gerade in Bezug auf Zürich, gibt es an der Bahnhofstrasse, in der früher die Galeristen berühmte Maler zu sich einluden, um für ein paar Stunden Dada zu sein und dergleichen, kaum noch etwas in dieser Art.

Bahnhofstrasse? Da fallen mir pelzbemäntelte Russinnen ein, die die Kreditkarten ihrer greisen Ehemänner belasten. DELIRIUM:

PROF. DR. MARGOT ECCLES:

DELIRIUM:

Es braucht mehr Raum.

Einen zweistöckigen H&M-Laden gibt es da bereits. Genügt das etwa nicht?

PROF. DR. MARGOT ECCLES:

Bei weitem nicht. Hören Sie – Dadaismus – so was braucht Sause.

Sause, natürlich. Rollen wir das Feld doch von hinten auf... Sie haben in ihrer Forschungsarbeit über den Zusammenha... DELIRIUM:

PROF. DR. MARGOT ECCLES:

DELIRIUM:

(unterbricht) Von hinten find ich gut!

Frau Doktor!

Hach, wie verklemmt die jungen Menschen von heute doch sind. Was stellen Sie sich so prüde an. Ich dachte immer, Ihr jungen Leute habt gerne etwas Liebe unten rum. Dass ich Ihnen das erklären muss... PROF. DR. MARGOT ECCLES:

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DELIRIUM:

Nicht sehr geistvoll, Professor Eccles.

PROF. DR. MARGOT ECCLES:

DELIRIUM:

Pff... Geistvoll. Ich bitte Sie, wir reden hier von Dadaismus.

Ein eher seichtes Thema also?

PROF. DR. MARGOT ECCLES: Seicht? Wieso seicht? Hören Sie, wenn Dada zwei dicke Titten hätte, wäre das ja alles kein Problem. Wenn Dada vollbusig wäre, dann würde die Bewegung noch zig Millionen Jahre weiter existieren. Bis zum Kältetod des Universums. Wahrscheinlich sogar darüber hinaus. Herrgott!

DELIRIUM:

Titten?

PROF. DR. MARGOT ECCLES:

Ja, Titten. Möpse, Dinger, Brüste, Busen, Hupen – Titten. T-I-T-T-E-N.

Es geht um... DELIRIUM:

(unterbricht) Frau Doktor, das ist doch Kinderkacke.

Ach, wirklich? Erlauben Sie, es müssen ja keine grossen Brüste sein. Auch ein kleiner Nippel taugt schon genug. Ein sogenannter Busenblitzer. PROF. DR. MARGOT ECCLES:

Taugen für was? Genug? Was zum Teuf... Wir möchten mit Ihnen über Dadaismus sprechen. Also, wie beurteilen Sie Sophie Taeuber-Arps Rolle im Zürcher Dadaismus? Ist Sophie Taeuber so was wie die Ulrike Meinhof des Dadaismus? PROF. DR. MARGOT ECCLES:

Meinhof? Ach du liebes Lieschen.

Lieschen? Wieso Lieschen? Vielleicht könnten Sie uns etwas über rhythmisch-geometrische Kunst verraten. DELIRIUM:

PROF. DR. MARGOT ECCLES:

DELIRIUM:

Naja, Sophie hatte wirklich tolle Beine...

Das kann doch nicht wahr sein.

Schweigen PROF. DR. MARGOT ECCLES:

DELIRIUM:

...

PROF. DR. MARGOT ECCLES:

DELIRIUM:

...

Wie wichtig ist die Stadt Zürich für die Entsteh...

PROF. DR. MARGOT ECCLES:

DELIRIUM:

Dada ist Verweigerung, verstehen Sie?

(unterbricht) Zeigen Sie mir Ihren Nippel?

Bitte was?

PROF. DR. MARGOT ECCLES:

Na einen Ihrer Nippel. Ihre Brustspitze, Ihre Igelnase.

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Reinreden

DELIRIUM:


DELIRIUM:

Uns fehlen die Worte.

PROF. DR. MARGOT ECCLES:

Sehen Sie, ein echter Dadaist hätte daraus ein paar Verse gemacht.

Ganz ohne Worte.

Reinreden

Die Fragen stellte Andreas Hauri. Seine Nippel blieben für die Dauer des ganzen Interviews bedeckt.

Disclaimer Die delirium-Redaktion distanziert sich von den hier veröffentlichten Kritiken, literarischen Texten und Reinreden-Essays, soweit es als auswählende Instanz und Herausgeberin möglich und glaubhaft ist. Die Redaktion hat keine Meinung, höchstens versehentlich, sie möchte Meinungen machen und ihnen Platz geben. Alles, was die Redaktion erreicht, wird anonymisiert. Textauswahlsitzungen sind so hartnäckig wie Papstwahlen. Es fliessen viele Tränen. Und Blut. Die Aussagen und Haltungen der Texte (insbesondere der eingereichten Kritiken) widerspiegeln, wo nicht anders vermerkt, niemals die Meinung der Redaktion, nicht einmal entfernt die einzelner Mitglieder: meistens und mit Vorliebe laufen sie ihnen zuwider. Die Redaktion ist nicht geschlossen, sondern streitet sich gern: Wir drucken ab, was wir für diskussionsträchtig halten. Kritiken, die unberechtigt scheinen, scheinen so: Es sind auch Meinungen. Wir überlassen die Entscheidung den Leserinnen und Lesern, die haben sonst so wenig. Also seid nicht so nervös. Reisst euch zusammen. Und schickt uns einfach euren Text. Nur dies ist die Meinung der Redaktion. PS: Haters gonna hate. Wir embracen alles.

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DAS ERSTE MAL: EIN PERFEKTES FLUGOBJEKT, GAZPACHO! IDYLLE, BLAUES FOYER. FRÃœCHTESCHALE Karl, du bist ja auch ein Dichter!

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Gians Freunde Präsentiert vom Schauspielhaus Zürich Immer, wenn ich zu lange vor dem Computer gesessen habe und mir das Schreiben über den Kopf wächst, pflege ich ins Theater zu gehen. Noch nie habe ich die Notwendigkeit empfunden, früher ein Stück zu verlassen, ja, ich habe noch nicht einmal den Gedanken gehabt, mich einem, hat es mal begonnen, zu entziehen. Der Bühnenraum nimmt mich so an, dass ich an das Spiel aus meiner Kindheit erinnert werde, in dem wir eine Höhle aus stark gewebten Decken bauten, die wir über Stühle warfen, und dann wie Tiere auf allen Vieren hinein- und hinauskrochen. Gestern habe ich ein Stück gesehen, das kaum wirkungslos an mir vorübergehen wird, ein Stück, das im Eigentlichen die Frage stellt, wie jemand sich denn jemand anderem erklären könne, oder ob dies nicht immer zum Scheitern verurteilt sei. Das Stück trug den Namen «Einige Nachrichten an das All». Es begann bereits prekär: Ein Ballon wurde bis zum Zerplatzen aufgeblasen. Man kennt solch einen mit Spannung erwarteten Moment, so dass sein Eintreten unweigerlich den Schock nach sich zieht. Ähnlich ergeht es den beiden Protagonisten, Purl und Lum, denn sie entschliessen sich kurzerhand ein Kind zu erwarten. Erlöst werden sollten sie durch es, wo sie selbst entweder ihre Rollen im Stück nicht einsehen, oder aber nicht zufrieden damit sind. Ein auf dem Faulbett liegender Pensionist im Geiste, wer sich selbst in solchem Sehnen nicht wiedererkennt! Das Kind kommt nicht. Stattdessen wird der Blick aufs All gelenkt und es überkommt einen die erdrückende Sinnlosigkeit eines weiten Sternenhimmels. Selbst der verwurzeltste Sinn wird unhaltbar. Es bedurfte grösserer Anstrengung, wieder an das Stück zu denken. Da war es mir ein Segen, dass eine Maschine auf die Bühne geschoben wurde, welche solch luftleeren Raum wenigstens mit Nachrichten füllen konnte, und man hat geboten, nur ein Wort in die Maschine zu sprechen, welche dann dieses Wort in das All schicke. Es trat dann Kleist persönlich auf und er wurde gefragt, welches Wort er ins All schicken wolle. Er aber blieb stumm und es war, fand ich, ganz verständlich, dass sich der Literat nicht dazu befähigt sieht, eine Nachricht an das All mit einem Wort zu umfassen. Aber dann habe ich etwas mehr darüber nachgedacht, wie es denn angeht, dass der Schriftsteller sich zu solcherlei nicht befähigt fühlt, und mittlerweile glaube ich, dass Kleist durchaus wusste, welche Nachricht er an das All zu schicken gehabt hätte, er es aber nicht konnte, denn gewiss hätte Kleist nichts Geringeres als einen Gedankenstrich an das All geschickt und bloss, weil ihm dies zu sagen unmöglich blieb, schwieg er vor dem Mikrofon. Ich sinnierte noch lange über dieses Stück und fragte mich, ob der Gedankenstrich die Grenze der Bedeutung auslote. Man darf es sich nicht zu bequem machen in der Welt - man muss ab und zu ins Theater.

Aufführungsdaten von «Einige Nachrichten an das All» Pfauen/Kammer Do 14. April, Mo 18. April, So 24. April. Spezialangebote für Studierende unter facebook.com/TheaterCampus Last-Minute-Angebot für Studierende: 10 Minuten vor Vorstellungsbeginn alle Tickets für 20 Franken

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R E N T R A P & S N T P CA E H C S I F GRA G N U T L A G E ST H C . S N T P W W W.C A


Die sechs besten Tweets von Gian Fermat Auf wiedersehen Eveline Wir kannten uns zwar nicht Doch immer, wenn die Wolken ziehn Dann seh ich dein Gesicht. #fürevi #EWS Beim Sex muss ich immer heimlich an Dich denken, Dietmar Dath #MessageForMyCrush Wenn sich jetzt alle #Muslime vom #Terror distanzieren sollen, muss ich mich als Dichter auch von @OskarFreysingers Gedichten distanzieren? Vilicht ischs time to say goodbye Ich glaub, ich überläbs Wil au ir gröschte krise hani D seven thinking steps #fürevi #ews Habe heute ein Epos über den #Schnee geschrieben. Es heisst Schneepos Habe #Siri näher kennengelernt und darf jetzt Yuri sagen. @AppStore @COMPUTERBILD

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Du hast… Ideen Ja

Meinungen Nein

Nein

Ja

Oh ok. Bild dir welche, mit dem Abo! Die Idee knüpft an eine der Ausgaben delirium N°01– 06 an? Ja

Nein

Max 15’000 Zeichen lang? Kritikbereit? Ja

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Essay Wer mag das lesen?

Nein

Kritik Magst du’s böse?

Ja

Bereit in den ewigen Schatz deutscher Dichtung einzugehen?

Nein Melde dich an!

Ja

Nein

Probier’s beim Narr, bei orte, oder bei Suhrkamp

Schick ihn ein!

info@delirium-magazin.ch Bis 15. Juni 2016

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