Herbst 2016 N° 07
Zeitschrift gegen Literatur
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Impressum Herausgeber: Verein delirium Zürich Layout: Captns & Partner GmbH Flurin von Salis, Mauro Schönenberger www.captns.ch Illustration: Flurin von Salis www.captns.ch Fotografi e Cover: Pius Bacher www.piusbacher.com www.captns.ch Aufl age: 1000 Druck: Basisdruck AG Schulweg 6 3013 Bern Kontakt: info@delirium-magazin.ch delirium-magazin.ch facebook.com/Magazindelirium twitter.com/imdelirium Abonnements: delirium-magazin.ch/abonnements Spenden: IBAN: CH92 0900 0000 3079 0665 7 Beitragende: Laura Basso (Redaktion) Jörn Birkholz Sebastien Fanzun Gian Fermat Camena Fitz Daniel Grohé (Redakion) Andreas Hauri (Redaktion) Dominik Holzer Sarah Möller Samuel Prenner (Redaktion) Noemi Schai Natalie Schättin Cédric Weidmann (Redaktion) Maya Wohlgemuth (Redaktion)
Mit freundlicher Unterstützung
Abteilung für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (AVL) am Romanischen Seminar der Universität Zürich UBS Kulturstiftung
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Editorial
Editorial Sie haben Glück, Sie sind ein Gewinner. Richtig, ein echter Siegertyp! Vergessen Sie Olympia, «gute Noten» oder «echte Freunde». Sie halten gerade die neuste Ausgabe von delirium in der Hand. Ja, richtig: «Zeitschrift gegen Literatur». Die siebte Ausgabe, wenn Sie’s denn genau wissen wollen. Womöglich sitzen Sie derweil im Zug oder im Tram und haben die Seite eins über den Knien aufgeschlagen. Oder Sie sitzen bei Ihrem Freund oder bei Ihrer Freundin zu Hause. Jemand aus Ihrer WG stammt aus dem studentischen Milieu und hat die Ausgabe mit nach Hause genommen. Das vorliegende Exemplar könnte Ihnen aber auch auf dem Eichholztisch Ihres Wohnzimmers begegnet sein, Sie sind etwas über 50 Jahre alt, verheiratet oder geschieden und haben mindestens ein Kind. Sie haben aber keine Ahnung, woher dieses Heft stammen soll. Normalerweise lassen Redakteure und Redakteurinnen studentischer Magazine jeweils ein Exemplar der neusten Ausgabe – qua familiäre Abstammung – beim Erzeuger-Haushalt zurück. Daher auch dieses Heft auf Ihrem Tisch. Mutti und Vati können nun getrost lesen, wozu ihr Erbgut so fähig ist. Zu dieser Exklusivität möchten wir Ihnen ganz herzlich gratulieren. Sie gehören nun zum eingeweihten Klub. Klar, einige von uns haben Bauchansatz und tragen hässliche Pullis, darum geht es uns aber nicht. Allein die Tatsache, dass wir Ihnen Texte und dazugehörige Kritiken in einem unwiderruflichen Heft verklickern, ist eine noble Angelegenheit, der Respekt gebührt, oder der zumindest ein wohlgemeint warmer Händedruck nicht schaden könnte. Klar, auch wir stellen uns die Frage der Existenzberechtigung, die aktuelle Nummer ist zweifellos ein Argument dafür, so. Hinzu kommt: Etwas anderes als Exklusivität könnten wir uns erst gar nicht leisten. Wir leben von Gönnern und Gutmenschen. Die Öffentlichkeit leistet sich uns, nicht umgekehrt. Publizistisch gesehen sind wir so etwas wie eminent nebensächlich. Eine Erbse im Weltall. Die Haselnuss unter dem Gemüse. Dafür kriegen Sie uns ohne den weitverbreiteten Identitätsfimmel. Noch dazu in einem wunderschönen Layout. Ein hochkarätiges, von unbändiger Schreiblust getriebenes Ensemble aus Autoren und Autorinnen liess sich den Sommer über für die siebte Ausgabe finden. Wir sind dankbar für die eingesendeten Texte und Kritiken, denen es in so beschaulicher Art und Weise gelungen ist, eine Bandbreite an Unterhaltung, Kritik und Tadel abzuliefern. Sie, liebe Exklusiv-Leserinnen und Exklusiv-Leser, möchten wir an diesem Punkt dazu einladen, diesen Schmetterling unter den Vögeln einzufangen. Lesen Sie – und erzählen dann Ihren Nachbarn von uns. Tun Sie es Ihrem Chakra zuliebe. ANDREAS HAURI
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Wie kann man sich delirium nur so hart gönnen? – 8 Punkte 1. Weil Du dann das raffinierteste Literaturmagazin der Welt zweimal im Jahr bequem zu Dir nach Hause geschickt bekommst. 2. Damit Du sie Dir wirklich alle schnappen kannst. 3. Weil man bei uns nicht so tun muss, als hätte man die Allgemeinen Geschäftsbedingungen gelesen. 4. Weil Du Elke Heidenreich verhindern willst. 5. Weil Du mit einem delirium in der Hand im Schnitt 30% sexier aussiehst. 6. Weil Du wissen willst, wer in den nächsten Jahren auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stehen wird. 7. Weil auch delirium N°07 noch genügend Schnittstellen enthält, um sich ohne Adapter damit zu verbinden. 8. Weil Du die Schweizer Literaturlandschaft wieder great machen willst.
«Seit ich mein delirium-Abo habe, hat mein Leben wieder einen Sinn.» Shia LaBeouf «Ich hätte bei ihnen abkupfern sollen.» Helene Hegemann «Mind: blown.» Michael Bay
S TA M M BAU M
4 Deliversum
L I T E R AT U R
Inhaltsverzeichnis
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KRITIK
REINREDEN
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Das Wolkenkrematorium
wolken bröckeln
CÉDRIC WEIDMANN
LAURA BASSO, DANIEL GROHÉ
Das bleiche Kerzchen unseres Daseins ist eigentlich ein Orkan
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Spielerwechsel
Spielerwechsel: Wer wem leere Cornflakes-Packungen verkauft
Das eine und das andere Berlin
SARAH MÖLLER
LAURA BASSO
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Blisters
Leibesübung
NATALIE SCHÄTTIN
MAYA WOHLGEMUTH
Versuch über das Selbstbewusstsein
JÖRN BIRKHOLZ
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DOMINIK HOLZER
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SEBASTIEN FANZUN
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Bahnen ziehen
Erinnerungen an einen Adler
CAMENA FITZ
NOEMI SCHAI
delirium – der Name verdeutlicht es – macht es einem manchmal schwierig, sich zurecht zu finden. Einerseits sind da die geforderten Bezüge, rote Fäden, die doch immer wieder auch auf dem staubigen Boden des Labyrinths aus Text und Gegentext verschwinden und erst nach einigem Scharren und Suchen wieder auftauchen; andererseits gibt es Kritiken, die diese Suche zwar manchmal vereinfachen, den Staub aber oft auch überhaupt erst aufwirbeln. Dabei geht aber häufig vergessen, dass es im Labyrinth mehr zu entdecken gibt als nur den Faden, der den Weg nach draussen weist, ja, dass überhaupt erst der Weg ins Zentrum gefunden werden muss, bevor der Rückweg angetreten werden kann. Was also ist es, das es hier zu entdecken gibt und das sich im Zwielicht der Ecken und Winkeln dieses Heftes versteckt? Was erwartet Leserin und Leser, die sich auf seine verschlungenen Pfade wagen? Mit «Das Wolkenkrematorium» greift Cédric Weidmann die Behauptung aus János Mosers Text aus delirium N°06 auf, er wolle ein Konkurrenzheft mit der Devise «Abenteuer statt Kritik» gründen, und verknüpft Elemente verschiedener Texte der letzten Ausgabe zu einer Abenteuergeschichte um das Wiesel Pirx, das seine Schwester aus den Fängen des Sklavenhalters Duke Miller befreien will. Laura Basso und Daniel Grohé versammeln in ihrer Kritik dazu verschiedene Kritikerfiguren früherer Hefte zu einer Lektüregruppe, deren Teilnehmer ganz unterschiedliche Ansichten über den Text vertreten. In Jörn Birkholz’ «Spielerwechsel» tauschen Kunden und Verkäufer eines Supermarktes immer wieder ihre Rollen und räumen Cornflakes-Packungen in Regale, um sie kurz darauf wieder herauszureissen und in Einkaufswagen zu packen. Eine Metapher auf die Rollen von Kritikerinnen und Autorinnen in delirium? Sarah Möller setzt den Fokus ihrer Kritik, in einem Gespräch mit der Erzählfigur des Textes, mehr auf die poetologische Komponente der Geschichte. «Blisters» erzählt von Jogging-Dates im Zürcher Irchelpark und den unterschiedlichen Erwartungen, die dabei vorhanden sind. Natalie Schättin bezieht sich dabei in erster Linie auf Cédric Weidmanns Blog-Beitrag «Deine Mutter ist beleidigt» und schildert die Ereignisse aus Sicht ihrer joggenden Protagonistin, was an Texte der New Sincerity erinnert – eine Erzählweise, die Maya Wohlgemuth mit einer Umarbeitung des gleichen Stoffs kontrastiert und damit indirekt Kritikpunkte setzt. In «Bahnen ziehen» werden schliesslich die Motive des Textes im Text aus Konstantin Duvaliers «Zum Geleit» und des Plagiats aus Sebastien Fanzuns «Über Schwindel» aus delirium N°05 aufgenommen. Wie schon in Duvaliers Erzählung ist «Bahnen ziehen» eine Parabel auf das Schreiben von Literatur überhaupt. Woher kommt es und wo geht es hin? Zieht es Bahnen wie im Schwimmbad? Noemi Schais Kritik nähert sich der Figur, der der Protagonist die Geschichte stiehlt, als einem wundervollen Grossvater an. Kühle, Distanz und Belanglosigkeit werden dabei mit der Sprache umgedreht.
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Deliversum
Was ist das für 1 Heft?
All diese Bezüge… N° 07
Blisters
Spielerwechsel
Bahnen ziehen
Sonettenkranz ohne Sonette in stund zwölf Gedichten
Deine Mutter ist beleidigt
Die Farbe des Projektes
Amazonen und Monster
N° 06
Thyestesʼ Kinder
Überraschung in Stockholm
Wie Jaques Destouches sein Bein verlor
Blog
Das Wolkenkrematorium
Hommage an N°04
Zum Geleit meer
N° 05
Das Unbehagen II
Comic
Wie ich mich aufmachte, ein abgesägtes Körperteil wiederzufinden
Drachen und andere Viecher
käpt’n
Trugbild St.James Zwei Häufchen
Über Schwindel
Zum ausgebliebenen literarischen Rausch
Etwas, das passiert ist
Blindes Vertrauen
Das Unbehagen I Die Welt ist eine bösartige Maschine
N° 04
Humorlos
Der Kannibale Notizen zur Zweifelhaftigkeit des literarischen Programms
N° 03
Die Kolumne
Hörig
Doppelt verklärte Literatur Simulation eines Kommentars
Genealogie
Editorial Drei Geometrieaufgaben
Notizen zur Zweifelhaftigkeit …
Jason träumt und höre
Replik auf delirium N°01
Auerbach
N° 01
Gedichte. Formsache oder Geschmacksfrage?
Editorial
die Akte
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N° 02
CÉDRIC WEIDMANN
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LITERATUR
… s t a d a d a B …
KRITIK
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LAURA BASSO, DANIEL GROHÉ 6
Das Wolkenkrematorium Schon wieder war Pirx zu spät. Der Regen war auf den Nachmittag angekündigt und es war Mittag vorüber. Er verabschiedete sich von Oskar, der ihm freundlich einen guten Tag wünschte, sprang vom Floss ans Ufer und stahl sich auf Wieselsohlen durch das gefährliche Hafenviertel, wo die tätowierten Matrosen und die Hummernutten sich nach seinem verräterisch blanken Pelz umdrehten. Mit einem Kutschendienst liess er sich zu einem Maisfeld bringen, durch dessen Mitte eine breite Schneise gezogen war. Den letzten Weg zum Hangar machte er sich zu Fuss auf und schob leise die Abdeckung zurück, unter der sein violetter Doppeldecker zum Vorschein kam. Er kurbelte den Motor auf, während er sich tadelte, schon wieder die Zeit vergessen zu haben. Die Besuche auf Oskars Floss waren zur gefährlichen Routine geworden. Aber wenn Pirx übermüdet war und den Alkohol hatte verkaufen können, den er nachts auf dem Luftweg über die Grenze geschmuggelt hatte, war er froh um die Ablenkung. Oskar bewirtete ihn grosszügig und feierte mit ihm den neusten Verkauf. Um das Gürteltier, das immer im Anzug unterwegs war, hatte er erst einen Bogen gemacht. Wie es elegant durch das Hafenviertel flanierte, verkörperte es alles, was Pirx an Hochnäsigkeit fehlte, sobald er ängstlich und hastig, wie alle anderen Wiesel, mit seinen Fässern um Abnehmer buhlte. Doch Oskars Freundlichkeit und sein Wissen über das Militärfliegen wirkten auf Pirx Friedriksen so bedrohlich wie anziehend. Nie zuvor hatte er mit dieser Leichtigkeit über die Finger-Fours und Immelmanns sprechen können und nie zuvor hatte er jemanden Freiherr Richthofens Selbstbewusstsein und «Mongoose» Sodens sexuelle Neurosen so zynisch gegen Literatur
einander ausspielen sehen. Oskar Condon, der viel las, lebte in einer Welt dieser Namen von Piloten und Flugzeugen und den unter ihnen in Gas- und Dreckwolken versinkenden Schützengräben. Pirx hatte oft nach einem Grund gesucht, sich die Treffen mit Oskar zu verbitten, doch die unnachahmliche Herzlichkeit und ehrliche Begeisterung Condons waren keine Täuschung. Selbst für die Tragödie mit seiner Schwester Swoosh interessierte er sich und bot sogar Hilfe an, doch Pirx lehnte kategorisch ab. Bei dem vielen Alleinsein waren die Referate über Militärformationen, die Oskar, auf dem Boden seines Flosses liegend, einen Strohhalm beim Sprechen im Mund, aus dem Gedächtnis vortrug, eine Befreiung. Pirx machte sich zum Kühlraum auf, holte die Baronesse hervor und hievte sie auf den Hintersitz, der seit Swooshs Abschied unbesetzt geblieben war. Er schnitt ihre Körperteile vor, ein Bein sägte er ganz ab, damit ihr dicker Körper in den kleinen Sitz passte, und gurtete sie an. Er wirbelte herum, als er hinter sich ein Husten hörte. Der Onkel sass auf einem Bastsessel und rauchte. «Ich weiss, ich bin spät», sagte Pirx. «Du bist spät», sagte der Onkel. «Ich weiss.» Er konnte dem erbärmlichen Blick nicht standhalten, den ihm sein Onkel zuwarf. «Du enttäuschst mich.» Pirx zitterte vor Wut. Oh nein. Er war enttäuscht. Die Schmuggeltransporte über die Grenze des County, die er geheim hielt, das illegale Feilbieten im Hafenviertel, das übernächtigte Arbeiten bei den Wolkenkrematorien, die er nun alleine abhalten musste, waren die Schuld seines Onkels. Er hatte seine Schwester aus Geldsorgen an Duke Miller, einen berüchtigten Sklavenhändler, verkauft. In seiner rauchenden Melancholie musste er den verführerischen Geldsäcken des Dukes verfallen sein, nun wurde sie als Sklavin auf einer Ranch gehalten und geschändet. Pirxʼ einzige Hoffnung waren die Alkoholpreise der Prohibition, die ihm eines Tages ihren Rückkauf ermöglichen konnten, sollte Duke Miller jemals auf ein Geschäft mit ihm einsteigen. «Du bist wirklich sehr spät, der Regen setzt bald ein.»
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Pirx schenkte seinem Onkel keine Beachtung, schwang sich durch die Flügel des Doppeldeckers hindurch und schlüpfte ans Steuer. Der Motor heulte auf, der Propeller keuchte. Als er in die Lüfte stieg, warf er prüfende Blicke auf die hin- und herschaukelnde Tote. Der Leichnam der Baronesse tanzte nur ein bisschen mit den Schultern. Pirx zog sich die Fliegerbrille auf und die Pilotenmütze über den pelzigen Kopf. Er steuerte auf eine Cumulus congestus zu, die sich noch am Horizont befand. Unter ihnen rauschten farbige Felder und Äcker vorüber und auf den Strassen sah man Traktoren bummeln. Flüsse glitzerten und schlingerten wie Partyschlangen durch die Wiesen. Dazwischen standen Heissluftballonfelder und weit vor ihnen ein Herrenhaus mit einem Gartenfest, aus dem das Blech der tanzenden Bigband funkelte. Badada-ts. Badada-ts. Duke Miller fuhr in einem kupferfarbenen Wagen vor. Der Kies knirschte, als er um den Springbrunnen kurvte, und hinter der blütenweissen Ranch drang eine Melodie zu ihm, als der Motor verstummte. Die Bestattung hatte schon begonnen. Pfeifend liess er die weissen Handschuhe schnappen und stieg aus seinem Bour-Davis, an dessen Steuer sich der Butler setzte. Der Duke zwirbelte an seinem längs bis zu den Ohren ausgreifenden Schnurrbart, während er die wallende Mähne in Ordnung schüttelte und die Treppe hochstieg. Er wanderte durch den Korridor, aus dem ihm der Geruch gebrannter Mandeln und verschütteten Bourbons entgegentrat. Salomé, die Bedienstete, begrüsste ihn mit einem Knicks und führte ihn zum Hinterausgang. Bevor Duke Miller über die Schwelle trat, sah er über die Schulter zurück und erkannte einen Schatten, der durch den Korridor huschte.
Ballustrade gelehnt, gänzlich überblicken konnte. Von der marmornen Terrasse aus sah man die Lampions, die an langen Schnüren zwischen den zu allen drei Seiten den Garten umstellenden Bäumen hingen, den Teich, über den sich eine Trauerweide erhob und aus dem das Quaken der Frösche scholl, den farbigen Pavillon, auf dessen Dach ein asiatischer Schwertschlucker sein Können vorzeigte. Unter dem Dach spielte die gold-rot kostümierte Bigband ohne zwischen den Liedern abzusetzen und der blecherne Klang der Tubas und Trompeten blies dem Herrenhaus mit der frischen Sommerbrise entgegen, dass die Wände wummerten. Junge Frauen, mit nicht mehr als pistaziengrünen Handschuhen und Sonnenhüten bekleidet, spielten davor Croquet, indem sie durch pelzige Tore zielten, die vor Anstrengung leicht zitterten. Sie hoben die Hand, um dem Ankömmling lachend zuzuwinken. Als er kam, grüsste der Baron überschwänglich, rutschte beswingt vom Stapel der mit Dollarzeichen versehenen Goldsäcke, die auf der Terrasse aufgeschichtet waren, und lüpfte den Zylinder, als er vor ihm landete. «Sieh an, der Duke. Badada-ts.» Die Schönheit des jungen Barons schien auf einen so prächtigen Tag nur gewartet zu haben und strahlte mit den tanzenden Posaunen in der Mitte des Gartens um die Wette. «Ich kondoliere herzlich. Sie war eine wunderbare Frau.»» «Das war sie tatsächlich, Miller.» Salomé brachte ihnen auf Handzeichen zwei Gläser Champagner und der Baron stellte ihm alle Persönlichkeiten vor, die sich auf der Terrasse befanden. Meistens begleitete er den Smalltalk mit Bada-ts, Badabumm oder ts-ts-ts-ts, die sich perfekt in die Rhythmen der Bigband einfügten. Alle verneigten sich vor dem Duke, der als Sklavenhändler und Gesetzeshüter einen versmokten Ruf genoss. Zwei Gespräche musste der Baron überspielen, weil dem Gegenüber die Stimme versagte, als der Duke das Monokel streng ins Auge klemmte. Der teuflische Blick, der daraus funkelte, verunsicherte selbst den Reverend. Ihm entging nichts. Er erkannte Swoosh problemlos auf dem Rasen. Eine der nackten Croquet-Spielerinnen versuchte
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Literatur
Er blinzelte das Trugbild weg und wandte sich dem sonnenüberfluteten Garten zu, der sich zu seinen Füssen von der Treppe bis zu den fernen Pappeln erstreckte und den er, an die
die Kugel durch den durchgebogenen Körper des Wiesels hindurch zu zirkeln, traf aber die Arme und die Beine und einmal sogar den Bauch des aufquiekenden Tiers. «Wie taugt Swoosh Friedriksen?» «Wer?», fragte der Baron und machte dabei ein verdutztes Gesicht, dem jede Frau verfallen wäre. «Das neue Wiesel, das ich dir verkauft habe.» «Ach, es eignet sich gut, wie du siehst. Sie zittert etwas und ist noch hungrig, aber das pendelt sich schon ein. Eigentlich nicht so sicher, wofür ich sie später verwenden werde. Mir gefiel die Farbe des Prospekts, den du mir gegeben hast, und Plüsch geht immer, wie du weisst.» «Du weisst ja, an wen du dich wenden kannst», sagte der Duke und bot sich mit einer Verneigung an. «Hehe, alter Händler, verkaufst und kaufst wieder alles zum halben Preis! Ts-ts. Ts-ts.» Er blickte auf die Taschenuhr und sein Gesicht hellte sich auf. «Für vier Uhr ist das Gewitter angesagt.» «Dann lasst ihr sie regnen?» «Es war ihr letzter Wunsch.» Der Baron tänzelte weiter über die Terrasse und schlug mit seinem Gehstock den Gästen auf die Hintern. Zwischen dem Lachen blickte er streng über die Ebene und hakte unnachgiebig nach, ob sich auch alle vergnügten. Es sollte die beste Luftbestattung werden, die das County je gesehen hatte. Der Duke klemmte das Monokel ins Auge. Das Wiesel entging ihm nicht und nicht, wie es jetzt, das Kreuz durchgedrückt, einen wehleidigen Blick in Richtung der nahen Trauerweide warf. Von dort bewegte sich etwas durch das Geäst auf das Haus zu und bevor ihm der Duke ganz hatte folgen können, sprang es an einem der Lampions hoch in ein offenes Fenster im ersten Stock. Duke Millers Schnurrbart vibrierte wie eine Wünschelrute, wenn etwas faul war, und hier war ganz sicher etwas faul. Er betrat den kühlen Salon und strich sich durch den Schnurrbart. Den Frack hinter den Körper werfend, flog er die Holztreppe hinauf, an deren Ende Salomé stand. «Duke», sagte sie. «Jetzt nicht.» Er drückte sich an ihr vorbei und horchte an den Zimmertüren. «Ich muss dir etwas gestehen.» Hinter einer Tür polterte es und der Duke schob sie vorsichtig auf. Die Bibliothek war dunkel ohne elektrisches Licht. Er trat ein und suchte das Zimmer ab. «Ich habe es der Baronesse ins Essen getan, wie du gesagt hast.» Salomé schloss die Tür hinter ihnen und lehnte sich dagegen. Sie sah ganz hübsch aus in ihrem Kleid, aber der Monokelblick glitt durch sie hindurch. Der Schrank hatte sich bewegt. Er wollte darauf zugehen, doch Salomé stellte sich dazwischen. «Das Testament war nicht dabei. Ich war in der Nacht sofort bei ihr und habe alles untersucht!» «Wie bitte?» Das Monokel sprang aus dem Auge und für einen Moment war das Teuflische aus dem Blick des Dukes gewichen. «Ich habe es nicht gefunden. Sie hatte keins.» «Du hast das Testament nicht gefunden? Und was glaubst du, machen wir jetzt?» Er zückte ein Pergament aus der Westentasche. «Glaubst du, wir können das einfach öffentlich machen – was passiert, wenn das richtige auftaucht? Wir werden immer als Betrüger dastehen!» Salomé brach in bitteres Weinen aus. «Ich dachte, wenn ich dir nur den Wunsch erfülle, könnte ich dich umstimmen. Gestern Abend noch warst du fest entschlossen, mich endgültig zu verlassen...» Der Schrank wankte und darunter schoss ein schuppiges Geschöpf hervor, das in Richtung Tür davonrannte. Der Duke dachte kurz nach, drückte das Monokel ins Gesicht und
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hechtete dann dem Tier hinterher. Er sah wie das Gürteltier am Ende der Treppe mit zurückgerollten Hemdärmeln fast lässig in den Salon spazierte. Er wollte ihm nacheilen, doch er warf noch einen Blick über die Schulter. Durch die offene Eichentür erblickte er Salomé, die auf den Fensterrahmen kletterte, um sich gleich neben dem Baron hinunterzustürzen, der, alle Viere ausgebreitet, inmitten seiner gestapelten Goldsäcke lag, den Zylinder und den Gehstock schwingend, über die Beerdigungsgesellschaft hinweg sein rhythmisch klackerndes Lachen scattete, das von der Ballustrade zu den nackten Mädchen und den verkrampften Wiesel-Toren hallte, die alle in den Himmel blickten, während nur unter dem Pavillon die Bigband nicht aufhörte weiterzuspielen, über der sich der knieende Schwertschlucker und über ihm durch viele hundert Meter jazzdurchtoster Luft eine zeppelinförmig aufgetürmte Wolke erhob, in die sich das Brummen eines Doppeldeckers bohrte. Pirx sah zum Leichnam zurück. Die Baronesse schimmerte noch von der Balsamierung und nickte nachdenklich in den Turbulenzen. Pirx versuchte nach hinten zu steigen. Während er den Sprit über der Frau ausgoss, klemmte er die Zehen unter den Steuerknüppel, um die Balance zu halten. Er lag auf der Rumpffläche des violetten Doppeldeckers. Beim Aufeinandertreffen mit der Wolke begann es heftig zu rütteln. Die Fliegerbrille beschlug sofort. Alles war, von scharfen Blitzen abgesehen, dunkel. Er musste den Körper, den er in die vorbereiteten Teile zerpflückte, langsam abbrennen lassen, um die frische Asche zu zerstreuen. Noch hatte es nicht zu regnen begonnen. Im Strumpf der Baronesse fand er etwas Viereckiges. Das Couvert enthielt ein sorgfältig maschinegeschriebenes Dokument. Pirx las es im stürmischen Wind. Mit dem Testament, so begriff sein Wieselverstand schnell, würde keiner, weder der Baron noch Miller, jemals glücklich sein. Die Luft schien überladen und ein riesiges Gefängnis, in dem Atmen unmöglich geworden war. Dann, wie in einer grossen Entspannung, begann es leise auf den Stahl zu klopfen. Der Regen hatte eingesetzt. Badada-ts. Badada-ts. Die Bigband beteuerte den Swing. Oskar erkannte den Moment. Er rannte über den Garten, zog Swoosh, die er aus dem Spiel riss, an der Hand auf den Pavillon in der Mitte zu. Zwei Schüsse einer Schrotflinte knallten neben ihnen auf. Wenige Meter davor blieb er stehen und öffnete eine Klappe, die in den Boden eingelassen war und in die sie hineinsprangen. Sie führte in das alte Höhlensystem, das im letzten Krieg angelegt worden war: frühere Schützengräben, mit Stahlträgern verstärkt, die den Erdboden darüber hinweg führten. Sie hasteten durch die Katakomben der toten Nagetiere weiter in Richtung Hafen. Über ihnen tanzten die Croquet-Spielerinnen in der schwarzen Asche des Donnerwetters, das nun in dicken Tropfen zur Erde fiel. Duke Miller, das Monokel ins Auge geklemmt, hatte im Dunst die beiden Tiere aus den Augen verloren. Ein Pfau bat ihn zum stolpernden Foxtrott, während rauchende Damen auf Fahrrädern um sie ihre Kreise zogen. Männer, deren karierte Mützen sich im Regen dunkel färbten, klatschten, während sie im aufschleudernden Dreck ihren Stepptanz vollführten. Das Feuerwerk funkelte über der marmornen Terrasse, auf der ein sich bis zum Garten ausbreitender, blauer Opiumrauch lag. Salomé hatte sich auf den Fensterrahmen gesetzt und trank, zutiefst gerührt, die Vorräte des Champagners, während sie zusah, wie der Regen den Teich über die Ufer schäumte und scheppernd den Rasen zersprengte. Der Baron jubelte im Wirbelsturm der Baronesse und die Wangen glänzten voll jugendlicher Schönheit unter dem Zylinder. Badumm-ts. CÉDRIC WEIDMANN
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wolken bröckeln
der Tür seines verwunderten Freundes, der gerade erst bensandwich lag immer noch vor ihm auf dem Tisch
ersten Treffen mit einer Stunde Verspätung gekommen,
neben einer inzwischen kalt gewordenen Tasse Kaffee.
zum zweiten war sie gar nicht aufgetaucht. Inzwischen
Raul seufzte: Als er seinen Mitstudenten vor drei Mona-
hatte es zu regnen begonnen; die grauen Gewitterwolken
ten vorgeschlagen hatte, eine Lesegruppe zu gründen,
standen am Horizont, als warteten sie nur auf den richti-
hatte er sich das alles anders vorgestellt. Er nahm das mit
gen Zeitpunkt, um den Himmel über der Stadt zu betreten,
bunten Zetteln gespickte Buch, das sie besprechen woll-
wie Menschenmassen beim Verkaufsstart eines neuen
ten, ein Sammelband mit Kurzgeschichten von Cédric
iPhones vor einem Apple-Store. Im Sommer gewitterte
Weidmann, aus der Tasche und schlug es auf. «Ich denke,
es fast immer am frühen Nachmittag, was zwar nur sel-
das Vorwort von Édace Imbre können wir getrost über-
ten für die erhoffte Abkühlung sorgte, aber wenigstens für
springen», sagte er, während er durch das Buch blätterte.
kurze Zeit die Touristenscharen in die Museen und Cafés
«Mit welchem Text sollen wir anfangen?», fragte er in die
schwemmte. Der Regen brachte nun sogar für einen kur-
Runde, und nachdem von Ariel, die sich inzwischen wie-
zen Augenblick die röhrende Jazz-Band auf der Strasse
der gesetzt und auch ihr Buch aufgeschlagen hatte, keine
zum Verstummen, doch kurz darauf setzte sie wieder
Antwort und von Konstantin nur ein weiteres unbestimm-
ein und trommelte und trompetete noch lauter als zuvor.
tes Brummeln kam, schlug er das Wolkenkrematorium vor.
Ariel stand auf, um raus auf die Strasse zu sehen: «Ein Lei-
«Ne, bitte nicht diese Wieselgeschichte», vernahm man
chenzug», stellte sie fest und schloss das Fenster in der
von Konstantin, aber er sagte es mehr zu der Tischplatte
Hoffnung, Lärm und Unwetter dadurch aussperren zu
als zu den anderen, so dass Raul sich entschied, seinen
können. Die Palmen an der Uferpromenade streckten hilf-
Einwand einfach zu ignorieren. «Was gefällt dir daran
los ihre Blätter in den grauen Himmel, zerzaust wie die
nicht?», hakte aber ihrerseits Ariel nach. «Wiesel nerven»,
Borsten einer Zahnbürste, die bereits weit länger benutzt
brummte Konstantin, und als er einsah, dass sich die
worden war als es irgendein Zahnarzt gutheissen würde.
anderen mit dieser Antwort nicht zufrieden geben wür-
«Sollen wir noch auf Margot warten oder anfangen?»,
den, richtete er sich ein wenig auf, versuchte sich trotz
fragte Raul, zum wiederholten Mal ungeduldig auf seine
der Kopfschmerzen an den Text zu erinnern und sagte:
Armbanduhr blickend. Ariel meinte, man könne ja schon
«Ich find die Geschichte halt langweilig. Ein paar platte
einmal anfangen, schliesslich sei es ungewiss, ob Mar-
Tierfiguren, ein paar Krimielemente und ein happy ending.
got überhaupt noch auftauche, und Konstantin, der
Das war’s.»
bereits seit einer halben Stunde schweigend dagesessen
Raul schaute ihn verblüfft an: «Langweilig? Der Text ist
war, die Augen geschlossen und den Kopf auf die Tisch-
doch alles andere als langweilig! Weidmann ist einer
platte gelegt, gab ein unbestimmtes Brummeln von sich,
der wenigen zeitgenössischen Autoren, bei denen über-
das sowohl Zustimmung als auch Ablehnung bedeuten
haupt etwas passiert, die Geschichten erzählen, die Fan-
konnte.
tasie haben, die ihren Lesern mehr bieten als die Nach-
Er war am Abend zuvor noch durch die Strassen des
erzählung privater Nöte. Bei all den Autoren mit ihren
French Quarter gezogen und hatte bei einem Konzert
Ich-Figuren, die sich nur durch ihre Innerlichkeitswüs-
in einer der unzähligen Bars einen jungen Musiker ken-
ten auszeichnen und die obendrauf immer auch noch
nengelernt, der, wie er erzählte, mit Sicherheit einer der
angehende Schriftsteller oder Absolventen von Schreib-
grössten Geister dieses Jahrhunderts sei. Als ihnen nach
schulen sein müssen, bei den ewig gleichen Alltagssto-
mehreren Stunden des Trinkens und der Behandlung
rys, Verarbeitungen persönlicher Erlebnisse und all den
bedeutender Fragen der Gegenwartsphilosophie schliess-
plumpen Versuchen, kapitalismuskritisch zu schreiben,
lich beiden das Geld ausgegangen war, beschlossen sie,
da sind Weidmanns Texte doch eine einzige Wohltat!»,
die Wohnung des Musikers aufzusuchen, wo sie gemein-
sagte er aufgebracht.
sam noch eine Flasche Moonshine leerten und sich erst
«Aber die blosse Tatsache, dass es einen Plot gibt und
trennten, als die Sonne bereits aufgegangen war. In einem
dass die Welt des Textes sich nicht mit der Erfahrungs-
plötzlichen Anflug von Gewissenhaftigkeit beschloss
welt des Autors deckt, macht ja alleine noch keinen guten
Konstantin dann dennoch zu Raul zu gehen, besorgte sich
Text aus, oder?», schaltete sich Ariel ein. «Was zeichnet
auf dem Weg dorthin an einer Imbissbude noch einen Po’
das Wolkenkrematorium denn aus? Für mich ist es nicht
Boy und ein Stück Pizza und stand nur wenig später vor
mehr als die absurde und unterhaltsame Geschichte von
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Kritik
aus der Dusche gekommen war. Das angebissene Krab-
Schon wieder war Margot zu spät. Sie war bereits zum
Kritik
einem armen Wiesel, das seine Schwester erfolgreich vor
spiegeln, verwandeln oder kontrastieren sich nicht. Und
einem reichen Bösewicht rettet, in einer zugegebenermas-
die Geschichte selbst besteht auch nur aus kombinier-
sen fantasievoll ausgeschmückten Szenerie. Kann man
ten Versatzstücken, die man schon tausendmal gelesen
lesen, muss man aber nicht.» Konstantin nickte zustim-
hat: zwei Freunde im Kampf gegen das Böse, Betrug und
mend, die Augen halb geschlossen.
Mord für Geld, Komplizenschaft aus Liebe, die Flucht
Raul sprach nun langsamer, wohl in der Hoffnung, sei-
durch einen unterirdischen Tunnel. Da kann ich auch
nen Worten so besonderes Gewicht zu verleihen: «Wenn
die schlechten Krimis meiner Mutter lesen. Die Luftbe-
es einem Text gelingt, mich aus meiner eigenen Wahrneh-
stattung scheint mir Weidmanns einziger origineller Ein-
mungswelt völlig herauszuheben, ist das für sich genom-
fall zu sein, alles andere ist geklaut: Pirx der Pilot von
men schon eine literarische Leistung, und Weidmann
Lem, das Floss von Huckleberry, das Croquet-Spiel mit
hebt den Leser ganz smooth hinaus und lässt ihn auf nach
lebenden Tieren von Alice in Wonderland – und so wei-
Mandeln und Bourbon riechenden Wolken wieder absin-
ter. Wobei natürlich nicht das Klauen an und für sich ein
ken. Ein grosses Geschenk. Und ich muss deiner Unter-
Problem ist, sondern dass die Zusammenstellung zufällig
stellung, der Text sei nicht mehr als seichte Unterhaltung,
erscheint. Und auf die vielen insiderigen und unnützen
klar widersprechen: es gibt so viele Elemente, die darü-
Anspielungen auf Texte aus Weidmanns Autorengruppe
ber hinausgehen. Nehmen wir die Freundschaft zwischen
delirium will ich gar nicht erst zu sprechen kommen.»
Pirx und Oskar, zum Beispiel. Das flinke und kluge Wiesel
«Aber dem Text gelingt es ja gerade, alle diese Elemente
ist zugleich eingeschüchtert und fasziniert vom freundli-
zu einer aufregenden, vibrierenden und einzigartigen
chen Gürteltier, und diese Mischung, dieser Grenzbereich
Welt zu vereinen, die einen vom ersten Satz an mitreisst
zwischen Faszination, Bewunderung und Bedrohung
und nicht mehr loslässt. Das Originelle, sofern wir das
wird durch die dekadente und verruchte Welt, die von
überhaupt als Kriterium anwenden wollen, liegt doch
einem eigenartigen Zauber umgeben ist, auch im Leser
darin, was sich dem Leser eröffnet.»
permanent wachgerufen. Der mächtige Onkel in seinem
«Was eröffnet sich dem Leser denn? Nebst etwas Unter-
Bastsessel, durch seine Skrupellosigkeit abschreckend,
haltung?»
durch die geheimnisvolle Aura, die ihn umgibt, anzie-
Als Raul zu seiner Entgegnung ansetzen wollte, klingelte
hend. Und der Baron, diese Mischung aus Oscar Wilde
es an der Tür, und er stand seufzend auf; nichts depri-
und Dagobert Duck, was für eine fabelhafte Figur! Auch
mierte ihn mehr, als inmitten eines Gedankengangs
er wirkt durch seinen Charme, seine Leichtigkeit und sein
unterbrochen zu werden. Vor der Tür stand Margot, völ-
fehlendes Mitgefühl gleichermassen abstossend wie fas-
lig durchnässt, ihr Pony klebte in kleinen Bündeln an der
zinierend. Dass Salomé dem teuflischen Duke vollkom-
Stirn, was Raul unweigerlich an Würmer erinnerte. «Ich
men erliegt, gehört auch dazu. Der Text macht ungemein
weiss, ich bin spät», sagte sie, ihre nassen Schuhe auszie-
deutlich, wie eng Faszination und Bedrohung ineinander
hend, «tut mir leid, ich musste noch ein Interview geben,
verkeilt sind, dass das eine zum anderen dazugehört. Das
und der Typ war echt hartnäckig und liess sich kaum
ist doch ein bemerkenswerter Kommentar zu der Zeit,
abwimmeln. Welchen Text besprecht ihr?».
in der der Text spielt. Und übrigens auch zu heute – was
«Das Wolkenkrematorium», antwortete Raul, der seinen
sind denn die AfD und Trump anderes als gefährliche
Blick nicht von ihrer Stirn lösen konnte.
Faszinosa?»
«Ach, die Wieselgeschichte! Toll!», sagte Margot, was
«Aber der Text setzt sich damit ja nicht kritisch ausein-
ihr einen perplexen Blick von Ariel einbrachte. Durch
ander, er setzt sich mit überhaupt gar nichts auseinan-
die offene Tür drang lautstark Musik hinein, Badada-
der, deshalb ist er ja so belanglos», warf Konstantin ein,
ts, Badada-ts, bis Raul sie wieder schloss. «Der Leichen-
und Ariel doppelte nach: «Mit der Sklavenhaltung und
zug hat mich auch aufgehalten, die Strassen sind vol-
den schwachen, ergebenen Frauenfiguren gibt der Text
ler Menschen. Eigenartig ist nur, dass keiner zu wissen
auch einfach den Rassismus und Sexismus der 20er-
scheint, wo sie eigentlich hinwollen, alle marschieren
Jahre wieder, unhinterfragt und ohne jegliche kritische
mit, in jeder Strasse und Gasse, aber der Zug windet sich
Absichten. Und es ist nicht mal so, dass die Verortung der
wie eine Schlange und kreuzt sich immer wieder selbst.
Geschichte irgendwie bedeutsam wäre, sie könnte über-
Und sie spielen seit Stunden dasselbe Lied. Irgendwie
all spielen. Die historische und die phantastische Welt
faszinierend.»
wirken einander aufgesetzt, stehen quasi parallel nebeneinander, greifen aber nicht ineinander über, erweitern,
LAURA BASSO, DANIEL GROHÉ
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JÖRN BIRKHOLZ
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LITERATUR
… Ich sortiere weiter die bescheuerten CornflakesPackungen e in …
KRITIK
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SARAH MÖLLER 14
Spielerwechsel Ich sortiere lustlos die Cornflakes-Packungen ein. Eine nach der anderen. Immer fünf hintereinander, gerade in vier Reihen. Können Sie mir sagen, wo die Waschmittel stehen?, fragt mich einer. Ich drehe mich um, sehe ihn an. Er grinst dämlich, wirkt nicht wie jemand, der oft Waschmittel einkauft. Ich blicke auf meine Liste, hab schon wieder vergessen, wo das Waschmittel steht. Dritter Gang, links, sage ich. Er grinst immer noch und schiebt seinen Einkaufswagen weiter. Ich sortiere weiter die bescheuerten Cornflakes-Packungen ein. Eine Sirene jault. WECHSEL, schrillt eine Stimme aus den Lautsprechern. Ich massiere meine Schläfen. Zu langes Aufhalten in geschlossenen Räumen verursacht mir immer Kopfschmerzen. Hätte Lust, eine zu rauchen, aber ich war bereits vor fünfzehn Minuten. WECHSEL wurde ausgerufen, haben Sie das nicht verstanden, ermahnt mich der Leiter, der mich im Gang erwischt mit einer verdammten Cornflakes-Packung in der Hand. Als er verschwunden ist, lasse ich sie einfach auf den Boden fallen und trete noch einmal drauf, bevor ich zum Eingang zu den Einkaufswagen marschiere. Die Sirene jault erneut. Die Kunden stürmen los. Natürlich finde ich keinen Wagen. Brauchen Sie ’ne extra Einladung, ermahnt mich der Chef. Wo kommt der denn schon Literatur
wieder her? Hat mich schon seit Tagen auf dem Kieker. Ich sollte ihm eins in die Fresse geben, nur wahrscheinlich hätte das Folgen. Ein einziger Einkaufswagen ist noch frei. Ich greife ihn mir und schiebe los. Im Gang für Nudelwaren hole ich meinen Placebo-Einkaufszettel hervor. Shampoo. Milch. Zucker. Zahnpasta. Pflaumen. Mortadella. Waschmittel. Dritter Gang, links! Schuhcreme. Orangenmarmelade. Tomaten. Rosinen. Zartbitterschokolade. Cornflakes. Was für eine bescheuerte Zusammenstellung. Die Hälfte davon hab’ ich mir noch nie gekauft. Okay, also zuerst zu den Cornflakes. (Ich hasse Cornflakes!) Dann zu den Waschmitteln, und dann nochmal eine rauchen. Wenn der Leiter Stress machen sollte, hau ich ihm in die Fresse, ist mir scheissegal. Im Waschmittelgang steht der Waschmittelkunde mit einer Cornflakes-Packung in der Hand und grinst mich an. Was grinst du so dämlich?, belle ich. Wollen wir eine rauchen? Gute Idee. Ich lasse den Einkaufswagen stehen und er die leere Cornflakes-Packung. Wir gehen vor die Tür. Wir rauchen. Der Leiter kommt nach draussen. So, für Sie beide war’s das dann, ich habe Sie oft genug ermahnt. Der Bericht geht dann
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an ihre jeweiligen Fallmanager. Einen schönen Tag noch. Er geht wieder rein und verschliesst die Tür. Ich würd’ dem am liebsten in die Schnauze hauen, sagt der Waschmittelkunde. Würde auch nichts ändern, sage ich und zertrete meine Zigarette. Drinnen jault die Sirene. WECHSEL!, befiehlt der Lautsprecher. Wie aufgescheuchte Hühner laufen alle durcheinander.
Literatur
JÖRN BIRKHOLZ
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Spielerwechsel: Wer wem leere CornflakesPackungen verkauft
für die Literatur zu reproduzieren, sondern um eine Begebenheit zu schaffen, die es ohne Kunst nicht gäbe. Deshalb scheint das alles so grotesk und deshalb ist ja auch der Einkaufszettel kein wirkliches, sondern ein wortwörtlich literarisches objet trouvé. E:
Soll das jetzt heissen, dass nicht nur das Einsortieren der leeren Cornflakes-Packungen, sondern auch dieser hirnamputierte Einkaufszettel poetisch ist – oder
Mit der Erzählfigur sprach Sarah Möller.
wie jetzt? Es sind beides Momente, in denen eine Auseinander-
M: E:
Schiessen Sie los.
setzung mit Sprache und Literatur stattfindet – die
M:
Danke für das Gespräch.
also, wenn man so will, poetologisch sind.
Sind wir schon fertig?
E:
Und auf diese hoffnungsvollen Stellen werft ihr euch
Ich dachte nur, dass Sie dieses Gespräch nicht mit
dann wie die Aasgeier. Du bist nicht die erste Rezen-
Vorfreude erfüllen würde.
sentin, die mir damit kommt und behauptet, zer-
E:
Dieses Raucher-Café ist ein guter Anfang.
knüllte Einkaufszettel seien Poesie des Alltags. Ich
M:
Gewiss. Ich habe lange darüber nachgedacht, wo ich
meine einfach, Leute wie Du – da kann man noch
E:
Kann ich mir denken. Da muss man ganz schön ein-
ten einfach diesen Auftrag mit der Sirene und dem
fallsreich sein – das ist nicht wie mit dem Einsortie-
WECHSEL und das ist uns dann irgendwann auf den
anfangen soll.
viel sagen, wenn der Tag lang ist. Schau, wir hat-
ren der Cornflakes-Packungen.
E:
Wecker gegangen. Fertig.
Missfiel Ihnen diese Tätigkeit vielleicht gerade des-
M:
M:
halb? Quasi die einfältige Ordnung in der schier end-
die Einkaufslisten – als wären sie postmoderne DADA-
losen Formlosigkeit?
Gedichte – bewundern und sammeln, geläufig. Ken-
Also die Cornflakes-Packungen waren ja auch leer.
nen Sie vielleicht von Peter Handke Die Innenwelt der
Ich meine, da kann man sich schon fragen, wozu das
Aussenwelt der Innenwelt?
alles. M:
E:
und der Aufstellung des 1. FC Nürnbergs und so?
erinnert mich Ihr griesgrämiges Einsortieren von
Natürlich geht es da dem Handke darum, dass es bei
inhaltslosen Hüllen unweigerlich an die schicksal-
der Literatur auch auf die Rezeption ankommt. Ich
hafte Grundsituation eines jeden Poeten. Denken Sie
meine, wenn der einfach so die Spieleraufstellung
nur: Eine nach der anderen. Immer fünf hintereinander.
eines Fussballclubs abdrucken lässt... M:
… Wort an Wort, Zeile um Zeile – wahrhaftig! Dass
Der Einkaufszettel steht prominent im Zentrum und um ihn herum geht ein diffuses und obsoletes Wech-
ersten Schultag. Deshalb hilft ja meistens auch nur
selspiel über die Bühne, bei dem es darum geht, wer
eins in die Fresse. Ihre latente Aggressivität ist mir auch aufgefallen.
E:
Man muss eben immer die Folgen bedenken. Thomas
wem leere Cornflakes-Packungen verkauft. E:
Bernhard hat einmal in einem Interview gesagt, dass
denn da steht nicht Wechselspiel, sondern Spieler-
er jeden Tag mehrere Menschen umbringen könnte.
wechsel. M:
Eine Knacknuss, in der Tat. Spielerwechsel kenne ich
E:
Dann wären wir also wieder beim 1. FC Nürnberg?
M:
Nein. Ich meine, Spielerwechsel ist einfach irre-
quenz dessen wäre, verzichte er auf das Morden.
eigentlich nur aus dem Fussball.
Gab es denn da ein Gefängnis? Woher soll ich das wissen, mein lieber Schwan! Ich meine, streng genommen weiss man ja nicht einmal,
führend – das sollte eigentlich Rollentausch oder so
ob es da einen Supermarkt gab! Das war halt einfach
heissen.
so inszeniert als ob. M:
Aber da ist ein Fehler. Da gleitet dir etwas zwischen deinen schweissigen Kritiker-Händen hindurch,
Weil das Gefängnis aber die unmittelbare Konse-
E:
Sehen Sie, das ist ja gerade der springende Punkt!
Worte leer sind, weiss ich aber schon seit meinem
M:
M:
Ist das dieser Band mit der japanischen Hitparade
Gewiss, eine anregende Bemerkung. Als Kritikerin
Gerade in vier Reihen... E:
Gewiss. Mir ist das Phänomen von Klugschwätzern,
E:
In der Tat, inszeniert. Aber nicht, um ein Geschehnis
Gewiss, Du massierst Dir die Schläfen. Hast Du Kopfschmerzen?
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Kritik
E: M:
M:
Das war jetzt einfach ein bisschen unfair, wegen dem
E:
Wirst Du mich jetzt ohrfeigen?
M:
Es hätte keinerlei Folgen.
Fehler und dem Angriff auf meine Deutung.
Kritik
SARAH MÖLLER
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NATALIE SCHÄTTIN
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LITERATUR
l a r u t a n s a … It w w o h e c i t o n to n e m e s e h t t fi were …
KRITIK
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MAYA WOHLGEMUTH 20
Blisters The indifferent blocks passed with a languidness not devoid of struggle. Trams, cars, and pedestrians alike contributed to a mild roar just short of impending conversation. The pace, though mutually set, proved comfortable for the one, yet demanding for the other. Just as exhaustion set in, the glaring heat lessened. Having kept a diligent eye over Zürich since mid morning, the sun slowly bid her farewells and made the long way home. Block by block. Street by street. Alley by alley. One might wonder, how many times this couple had shared a jog. Various though familiar sectors of Zürich had served witness to their vapid musings. Joggers are to the Limmat as flies on a searing bulb. They’re drawn to the paths for reasons not fully understood. Evening progressed as light doses of exercise induced endorphins painted the surrounding buildings a few shades brighter, the passerby’s faces a touch more amiable. As the young couple shared breathless dialogue mingled with the sticky sensation of sweat eagerly escaping their bodies, a vague eroticism arose. Yet it is merely sport they share, not sex. Not yet. The cruelty of my actions lessens dramatically when described in such prose. The manipulation is all but obscured. I once bothered to count the number of men with whom I’ve gone jogging. Twenty-three sounds excessive – almost greedy – to my ears, but when I filter out those men who didn’t regard it as a date, I’m left with a more respectable sounding eighteen. Some were confined to a singular occurrence, while others accompanied me on multiple jogs through streets and trails alike. Literatur
Women using their innate womanness – which generally translates to possessing a slightly different set of organs than their male counterparts – in order to coerce men into various acts has been occurring for eons. Money, status, often loneliness can drive women to manipulate those unassuming men existing around them. Such aspirations could nearly be seen as noble; aside from the fact that they’re not. But to lead a man on for the sole purpose of increased exercise motivation is a whisper shy of sardonic. I blatantly insulted their intelligence, but since they were unaware, how could it qualify as a genuine insult? I often oscillated between guilt over taking advantage of these men and the distinct dislike of having to jog alone. When observed through a strictly logical lens, my actions made brilliant sense. Yet chronic logic rots the soul. When offered the choice between a coffee date or a late night drink, I instead suggested the Limmat or Irchel for a jog. The embers of hope which ignited inside their horny minds were painfully apparent. It delighted me. They equated these jogs as being one step closer to joining me in another favorite form of exercise. One requiring dramatically less clothing. A dear jogging partner of mine went so far as to voice what had most likely crossed the other’s minds. One afternoon, as the soles of our shoes rhythmically caressed Hönggerbergs wellworn trails, he inquired if I were using this time to assess him as a potential sexual partner. My tone – along with firm disagreement – chided him for being so audacious. I fear he mistook my reaction as being coy, yet I didn’t bother to correct him. It was natural to notice how fit these men were. How could I not? However, the extent to which they were adept at running and simultaneously discussing complex topics had no bearing whatsoever on whether or not I’d oblige to sleep with them. It wasn’t even up for debate. The sad truth is that I’d gotten fat and out of shape. When one considers that the man with whom I am painfully in love prefers women who resemble green beans rather than pumpkins, it’s not odd that I’d seek out fit men as training partners. They were not only intellectually stimulating but also far cheaper than any running coach. In this instance, the logical portion of my brain overpowered any shard of empathy. These eager men would agree to meet me from such ridiculous hours ranging from 6:15 am to 11:45 pm. With every piece of fruit offered – as we performed cool down stretches in their kitchens after a long jog – grew my guilt. The warm sweaters offered before a chilly
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morning jog signified more than I cared for. Still, I craved the support and adoration. My increasingly detached manner did little to perturb them. They began to suggest dates not including my Mizunos and sweaty ponytail. Desperate not to lose these unconventional personal trainers, I began to don pointy flats and heels rather than muddy trainers. This proved to be unwise. I had crossed the line from dabbling in somewhat excusable insults to being undeniably a tease. Among girls, there is a long standing contention. Which is morally worse? Being a slut or being a tease? I’m convinced that teasing men is far more horrid than promiscuity. Yet my actions constantly contradict my convictions. The state of my heart began to uncomfortably parallel the worsening condition of my running shoes. It grew battered, overused, dirty, even bloody in places it oughtn’t. I’d grown addicted to the soothing sensation of being fawned over. I hadn’t banked on developing any resemblance of feelings – neither of pity nor attraction – for these dispensible men, but shamefully I had. During the occasional jog with several different female acquaintances, the extent to which I’d been spoiled was glaring. Their demeanor towards me while jogging in light of the reality that they clearly weren’t counting on the possibility of being sexually rewarded was markedly incongruent with that of my male companions. It embarrassed me. I’d so long enjoyed an ever-present ego boost while running that I’d fallen into the snare of falsely equating jogging with a relaxing ego massage. Girls simply didn’t adore me in the same way as my men. Their failure to cater to my every whim coupled with not finding my observations exceptionally enlightening eventually awakened me. How could I have ignored during jogging that which was of sex removed, I became far more insipid. Feelings of affection toward my current rotation of nine sport partners continued to grow. The inconvenience of not being able to exclusively date them all made me miserable with regret. I wanted too much. Remaining in – a vague semblance – of love with my former boyfriend was an additional pebble in my shoe. It’s an unsurprising pity he’d long since moved on. Zürich started to run dry of trails not yet tainted by my deceit. Familiar paths would force past conversations violently into my thoughts as I jogged with various men. The effort required to differentiate between the particulars of their lives grew unbearable. Which guy had been to Egypt for a work conference? Who was allergic to bees? Were there two from Munich, or just the one? I needed them but couldn’t keep up the demands required to juggle so many individuals. I needed to thin the group down. My growing guilt soundly agreed with my horribly overtaxed mind. Painful at first, I cautiously wove my true feelings into those breathless early morning jogs. As my manipulation came to light, the extent of the insult they endured dawned on them; thus fulfilling the intrinsic power of an insult. I hope it granted them relief to see their pain mirrored in my eyes. After much suppression, the guilt had finally managed to escape the corners of my mind into which it had been perpetually shoved out of sight. Unsurprisingly, the growing infrequency of my male accompanied jogs correlated exactly with their heightened realization that my fit legs were not going to open for them anytime soon. I felt simultaneously horrid and free. They saw me for what I was. I saw myself for what I had become. It disgusted us mutually. Eventually, only one partner remained. He genuinely thought I was great. The insult just hadn’t sunk in. Poor soul. NATALIE SCHÄTTIN
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Literatur
clear to me in all other realms of life. It was soon made brightly apparent that with the factor
Leibesübung
recht sinnloses Unterfangen war. Ralf war neben mich getreten und hielt mir etwas hin. «Schau, eine blaue Blume!», sagte er. «Das ist eine Kornblume», meinte ich und
I
steckte sie mir hinters Ohr, doch sie haftete schlecht
Am Wegesrand wiegten sich zartgrüne Blätter funkelnd
und fiel bald darauf zu Boden. Wir liefen nebeneinan-
in der Morgensonne und dann und wann flog ein über-
der her und setzten unseren Weg fort, der uns entlang
raschter Sperling auf, der sich zwitschernd davonmach-
der Limmat zu kleinen Einfamilienhäusern und nun wie-
te. Doch wir hatten nicht die Musse innezuhalten, son-
der zurück ins urbane Häusergebirge geführt hatte. Die
dern eilten flinken Fusses weiter auf der federnden
Sonne grüsste uns zu Abend und verschwand schliess-
Bahn unseres Pfades. Ich hatte Andres vorgeschlagen,
lich gänzlich hinter den Hügeln. Kurz bevor unser Lauf
bei unserem ersten Treffen joggen zu gehen und er hat-
zu Ende kam, schlug Ralf vor, den Abend bei ihm aus-
te freudig eingewilligt. Seine gewaltigen Schenkel und
klingen zu lassen. Ich wimmelte ab, doch er liess sich
seine vom bereits zwanzigminütigen Lauf kaum erhitz-
nicht so leicht von seinem Vorhaben abbringen. Wir hiel-
ten Wangen deuteten darauf hin, dass er einiges mehr
ten an und ich sah ihn an, der ganz erhitzt vom Laufen
an körperlicher Ertüchtigung gewohnt war. Ich dage-
dicht vor mir stand, so dass ich hören konnte, wie ihm
gen stand noch am Anfang meines Unterfangens, und
das Herz schlug. Ich erklärte ihm, dass ich nur ein einzi-
so kostete es mich einige Anstrengung, mit ihm Schritt
ges Ziel hätte, nämlich meinen Körper durch Jogging in
zu halten. Er hatte fachmännisch auf meine noch jung-
Form zu bringen. Ich sah in seinen Augen den Schmerz,
fräulichen Kenntnisse des Laufsports reagiert, mir die
welchen die Erkenntnis verursachte, dass unsere bishe-
richtige Haltung erläutert und meine neuen Schuhe für
rigen romantischen Verabredungen zum abendlichen
tauglich befunden. Er liess mich seitwärts über Kreuz
Laufen keine romantischen waren. Seine Pein spiegel-
laufen und meine Arme beim Schreiten wie Zirkel krei-
vor es für beide unerträglich wurde, verabschiedete ich
chelpark, und ich freute mich, eine so eifrige Begleitung
mich. Ich dachte eine Weile über das Verhältnis der See-
für das Jogging gefunden zu haben, eine Betätigung, der
le zur Logik nach, doch irgendwann verloren sich meine
ich mich nur widerwillig widmete.
Gedanken in der gesättigten Ruhe der Nacht. Die Welt, dachte ich noch, ist doch eine bösartige Maschine.
II Im Wald lief es sich herrlich bei der drückenden Hitze.
MAYA WOHLGEMUTH
Rhythmisch liebkosten William und ich den Kiesweg mit unseren Sohlen, sodass eine recht lustige Musik entstand. Mir war wohl, wie wir so recht fröhlich und vertraulich nebeneinander plauderten. Unsere Joggingroute führte uns kreuz und quer über den Hönggerberg. Als wir am Schluss unsere müden Muskeln dehnten, fragte er mich scherzend, ob ich mit ihm jogge, um seine Tauglichkeit als Liebhaber zu beurteilen. Ich verneinte lachend. «Nun ja, Frauen haben bekanntermassen die Macht, Männer zu allem Möglichen zu bewegen», insistierte er. «Ach ja?», erwiderte ich. «Wie aber kommt es, dass Männer sich zu allem Möglichen bewegen lassen?» Darauf wusste er sogleich keine Antwort, vermutete aber, dass es mit Geld, Status oder schlicht Einsamkeit zu tun haben müsse.
III Ich hielt kurz an, um mir ein paar Kiesel aus den Schuhen zu schütteln. Mein linker Schuh hatte ein immer grösser werdendes Loch, sodass das Ausschütteln ein
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Kritik
te sich ebenso schmerzlich in meinen Augen und be-
sen. So liefen wir recht fröhlich ein paar Mal um den Ir-
CAMENA FITZ
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LITERATUR
… Ein ers tes Zögern in Adlers Gefühlsw elt …
KRITIK
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NOEMI SCHAI 25
Bahnen ziehen Regen in Büchern. Zuhauf. Denn es regnet drei Mal so oft, wie es tatsächlich im deutschsprachigen Raum der Fall ist. Fun Fact der Neueren Deutschen Literatur. Ich hab es nicht gegoogelt, werdʼ ich auch nicht. Ändert nichts daran, dass es diesmal tatsächlich der Fall ist, das mit dem Regen, nicht mit dem Buch. Es regnet und klischeemässig hört man neben dem Rauschen der nassgeregneten Blätter der Bäume ein Kind schreien. Ich stelle den Zeilenabstand auf 1.5 ein, das Gewittergrollen (noch ohne Donner) schräg über mir. Blitze kann ich von hier aus nicht sehen. Das Kind hat man beruhigen können, vielleicht ist ihm nur der Schnuller aus dem Mund gefallen. Schnuller rein, ein paar liebevoll schaukelnde Bewegungen im Arm der Mutter, Ruhe. Das Rauschen schräg über mir wird lauter, als wollte es das verstummende Kind ersetzen. Der Platzregen trommelt jetzt auf angenässte Blätter, auf Fenster, Hausmauern, Menschenköpfe, Hüte, Regenschirme, Plastiktüten, zwischen Zehen in Sandalen hinein. Unten im Hof bilden sich die ersten Pfützen, auf den Strassen draussen: Schiffe, kleine Boote, dazwischen mehr oder weniger verzweifelte Matrosen. Backbord, Steuerbord, ich kannte noch nie den Unterschied. Ich hole mir ein Glas Wasser. Regen macht mich durstig, wird mir auf dem Rückweg von der Küche klar. Strg + S, speichere ich immer wieder zwischen, der Regen macht weiter, unbeeindruckt. Es ist soweit, der erste Donner. Unaufhörlich, als wäre er der Erste seiner Art, brüllt er die Erde an, manche Menschen geraten ins Schwanken. Ein guter Zeitpunkt, um einzusteigen. Ich stehle Adlers Geschichte. Gestern erst war Adler zu Besuch. Da regnete es noch nicht. Wir unterhielten uns gut. So gut, dass ich von meinem Plan noch immer nicht Abstand genommen habe. Und nun regnet es draussen cats and dogs, das heisst: der Zeitpunkt könnte nicht besser sein. Ich setze meinen Plan in die Tat um und stehle Adlers Geschichte. Adler muss «etwas für sich tun». «Etwas für sich tun müssen» hört man sonst nur aus ambitionierten Mündern, die erst kürzlich ihre Unterschrift unter einen Mogelvertrag gesetzt haben. Für die Nutzung eines 24-Stunden-Fitnessstudios, Fusspilz inklusive. Es ist, wie die Seele an den Teufel zu verkaufen, nur einfacher. Adler muss auch etwas für sich tun (auch ohne Anführungszeichen). Das unterscheidet ihn nicht von den Fitnessknechten. Worin er sich aber von ihnen unterscheidet, ist, dass er keinen Fitnessstudio-Vertrag mit Knebelklausel hat, noch nie gehabt hat. Vertrag hin oder her: das ändert nichts an der Notwendigkeit, dass er etwas unternehmen muss, «etwas für sich tun muss». Er überlegt, findet viele Möglichkeiten, wie das geschehen kann. Ihm fällt ein: Malen, Fotografieren, Musik-Machen, Schreiben; Kunst. Er entscheidet sich, schwimmen zu gehen. In einem städtischen Hallenbad will er es angehen, ausbrechen aus den vorgefertigten Bahnen, die Gesellschaft und Leistungsdruck hinter ihnen herziehen, wie arthritische Hände den angeleinten Lumpi. Simmeringer Bad, Kombibad der Stadt Wien. Dorthin würde er fahren, nicht weit von seiner Wohnung entfernt. Das Schwimmbad würde irgendwie schon erkennen, dass er einer aus der Hood war, quasi. Ansonsten würde Adler auch in ein Schwimmbad am Floridsdorfer Bezirksrand oder eben dem Hietzinger, Penzinger, ganz egal, fahren. Zeit hat er, Job keinen. Doch weil er daran glaubt, mit gutem Grund in der Nähe des Simmeringer Kombibades zu wohnen, fährt er dorthin. Er bezahlt den Eintritt, dehnt seine überschwängliche Begrüssung unnötig lange wie einen Kaugummi. Die ältere Dame hinter der Glasluke wundert sich vier Monate vor ihrer anstehenden und lange herbeigesehnten Pensionierung nicht über Adlers Begrüssung. Es ist ihr «herzlich egal», was Adler wiederum nicht weiss. Weil ihm nichts weiter zu sagen einfällt, blickt er zu Boden und sieht nicht, wie die ältere Dame das Wechselgeld aus der Lade zählt.
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Literatur
Ich fange also an.
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Er sieht nicht, wie die geschwollenen, durch Ringe (an jedem Finger mindestens einer, Gold, – auch auf beiden Daumen) abgebundenen Finger neben das herausgezählte Geld den Garderobenschlüssel legen. Würde er hinsehen, würde er vielleicht die roten Nägel bemerken, die ihre zehn Ringfinger wie eine angesengte Königskrone aussehen lassen. Er sieht nicht hin und nimmt das Restgeld, der Garderobenkästchenschlüssel daneben bleibt von ihm unbemerkt liegen. Auf sein stotterndes Fragen hin, wie das mit dem Umziehen genau vor sich gehe, zeigen ihre roten langen Fingernägel auf den selbsterklärenden Schlüssel, direkt vor Adlers Nase. Statt eines Anhängers baumelt ein Armband am Schlüssel. Adler versteht und dann macht er doch noch irgendwie alles richtig. Findet er und ist zufrieden mit sich. Schwimmbadumkleidekabinengeruch. Hinein mit dir, Adler, Kleidertausch und rein ins Vergnügen, kalte Nass, kühle Blau, in die Suppe aus Menschenhaaren, Chlor und Kinderpisse. Doch zuvor: umziehen. In der kleinen orangewändigen Kabine zieht Adler sich zuerst aus, dann wieder an. Ich weiss nicht, wie Adler zu seinem Körper steht. Darum weiss ich nicht, ob er sich mit seinem Spiegelbild «auseinandersetzt». Vielleicht gefällt ihm, was der Spiegel vor seine noch strassenbeschuhten Füsse wirft, vielleicht spricht er zu sich selbst, flüsternd. Vielleicht mag er, wie sein Körper in dem samtigen Licht (Orange der Kabinenwände vermischt mit den Neonröhren an der Decke, dazwischen Gitter) aussieht. Weil ich von alledem nichts weiss, bleibt mir nichts anderes übrig, als das auszusparen. Ohne Badeschlappen (das nächste Mal wird er die mitnehmen) und ein Handtuch unter den Arm geklemmt, Garderobenkästchenschlüssel fachgerecht um das Handgelenk gebunden, macht er sich auf den Weg in die Halle. Obwohl es Hallenbad heisst, scheint der Begriff hier unnatürlich, im falschen Kontext auftauchend. Adler fühlt sich ähnlich, als er realisiert, dass es hier keine Sitzplätze gibt, die zum Verweilen einladen, wie das im heimischen Dorfbad der Fall ist. Die spärlich aufgestellten Liegen sind in festem Besitz der Liga der schwimmenden Pensionisten. Jede Liege besetzt mit einem übergrossen Bauch, dazu Glatzen und blaugewellte Haare unter Schwimmhauben. Wo das Handtuch aufbewahren? Ein erstes Zögern in Adlers Gefühlswelt. Er kehrt um, zurück in den Umkleideraum mit dem unverkennbar typischen Geruch. Als er das zweite Mal eintritt, bemerkt er nichts, was er nicht auch schon beim ersten Mal bemerkt hätte. Er öffnet seinen Schrank, verfrüht, denkt er, legt das Handtuch hinein und geht zurück – in die Halle. In der Halle: frei von lästigem Besitz, ohne Badeschlappen, nun auch ohne Handtuch, lässt er seinen Körper, zu dem es nichts zu sagen gibt, ins Wasser gleiten, ohne auf das Ende der Einstiegsleiter zu warten. Er schwimmt, zuerst tollpatschig. Es mag an einen Hund erinnern. Dann figured er ziemlich schnell, wie das hier läuft. Es gibt Bahnen im Becken. Unsichtbar, aber es gibt sie und man kann nur in den Bahnen schwimmen oder man kann gar nicht schwimmen und wenn einer nicht schwimmt, dann kann auch kein anderer mehr schwimmen. Doch alle wollen schwimmen und darum muss man sich an die Bahnen halten. Bahn also. Eine auswählen. Adler hängt sich einfach an einen dran. An einen, der im Delphinstil durch das Becken gleitet. Adler kommt ihm nicht nach. Später, zu Hause, wird er dann ein Youtube-Tutorial ansehen: «How to swim butterfly». Er wird glauben, dass Delphinstil auf Englisch so heisst. Im Moment aber: schwimmen, ohne Stilbezeichnung. Er heftet sich an die Fersen dieses Typen, der Delphin schwimmt, brilletragend. Braucht Adler eine dieser Profibrillen? Vielleicht wenn er dann Schmetterling schwimmt. Noch jedenfalls braucht Adler keine. Er versucht, hinter dem Schwimmer zu bleiben. Da passiert es. In der Bahn neben ihm ein Zusammenstoss. Zwei Herren, zwischen denen ein halbes Jahrhundert liegt. «Passt doch auf!», hört er und vermutet, dass der Jüngere gerade vom Älteren gescholten wird. «Oida, pass doch selber auf!» – der Junge nun am Wort. Adler liegt richtig, fühlt sich zwischen Luftholen und Wasserverschlucken bestätigt, hält Ausschau nach den Fersen seines Vorschwimmers. Der Delphin: weit abgeschlagen von Adler, schon
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am Beckenrand. Adler kommt nicht nach. Überrundet, schon wieder. Adler schwimmt weiter, endlich Beckenrand, er dreht um. Das geht noch nicht so flüssig, braucht noch Übung. Aber das Schwimmen in der Bahn läuft dafür von Runde zu Runde besser. Geschmeidiger irgendwie, kommt es Adler vor. Die Fersen, denen er nicht nachkommt, begegnen ihm jetzt wieder. Er blickt ihnen nach. Nur kurz. Der Delphin ist also nicht einzuholen. So viel ist für heute klar. Nur Adler nicht. In der Bahn schwimmend, ungeachtet der nächsten Überrundung, kämpft er mit sich und gegen sich und gegen den Delphin und die Fersen, mit allem, was er hat. Anstrengung in jeder Körperzelle. Dann zurück am Unfallort: Adler wird langsamer. Die Unfallbeteiligten stehen jetzt im Wasser und diskutieren heftig. Eine willkommene Form der Unterbrechung, Adler passiert in gemächlichem Tempo. Gesprächsfetzen, undefiniert, gelangen in Adlers nasse Ohren, ein Wellenbad an Stimmen im Gehörgang. Wahrscheinlich hält der Alte dem Jungen einen Vortrag über fehlenden Respekt in der Handygeneration. «Smartphone» sagt der Alte sicher nicht. Adler am andern Beckenrand. Im Umdrehen sieht er den Fersen des Delphins. Überrundet, schon wieder. Adler schert sich nicht mehr um ihn. Wenn er sich nicht hetzt, langsame gefühlvolle Bewegungen macht, schwimmt er schöner, haltungstechnisch, glaubt Adler nun also. Er schwimmt jetzt «über Kopf»: so halten die Pensionisten ihre Schwimmhauben trocken. Auch die Wendung am Ende der Bahn bekommt er so viel besser hin. Weiterer Effekt: Er hört nun, was der Alte und der Junge sich zu sagen haben. Was eine ganze Menge sein muss, in Anbetracht der Tatsache, dass sie immer noch im Wasser stehend diskutieren, als wäre das Becken ein geflutetes Podium. «Man muss schon schauen! Auf die andern. Und man muss auch Rücksicht nehmen», der Alte. Adler zählt überschlagsmässig, wie oft der Alte das wohl gesagt haben mag. Immer und immer wieder, vermutlich. Dazwischen Vorwürfe, Gerede von Respekt, Tradition, Generationenverallgemeinerungsblabla. «Man kann nicht einfach blind durch die Gegend schwimmen und so rücksichtslos anderen gegenüber sein!», wieder der Alte, nun etwas lauter. Der Junge verdreht die Augen. Der Alte steht, immer noch, Fels-in-der-Brandung-mässig und schimpft. Adler greift ein. Um ihn zu retten. Der Delphin schwimmt auf dem Rücken, sieht nichts, schwimmt beinah in den Alten. Adlers rechtzeitiges «Vorsicht!» verhindert einen weiteren Zusammenstoss. Adler, du Held. Verdutzt schaut der gerettete Alte umher, der Delphin schwimmt nach einem Kopfschütteln weiter, auf dem Rücken. Adler zögert, sagt dann: «Man muss schon Rücksicht nehmen! Man kann nicht einfach blind im Schwimmbecken herumstehen!» Der Alte: Mund offen, keine Antwort. Adler schwimmt weiter. Später: Umkleidekabine mit den orangen Wänden und dem Samtlicht. Im Hintergrund das Prasseln der Duschen. Gelächter, durch Wasserdampf wie durch Watte zu hören. Der umgezogene Adler packt alles in seine Tasche, wischt vereinzelte Wassertropfen mit dem Handrücken von der Sporttasche, kontrolliert, ob er den Garderobenschlüssel griffbereit hat. Beim Zurückgeben würde er sich verhalten, wie einer, der schon Jahre zum Schwimmen hierher kommt, ins Simmeringer Kombibad. Schlüssel in der Jackentasche, check, Abgang. Zeitgleich als Adler den Umkleideraum verlässt, kommen die lachenden Stimmen aus der Dusche. Zwei dampfende Körper, deren Gesichter Adler im letzten Moment erkennt. Der Alte und der Junge. Keiner der beiden mehr feindselig gestimmt, keineswegs. Adler ist neugierig, sucht nochmals nach dem Schlüssel, um Zeit zu gewinnen. Er gibt sich zerstreut, kratzt sich am Kopf, geht zurück in dieselbe orange Kabine. Er sperrt sich ein. Das war dumm. Wieso sollte sich einer, der bloss seinen Schlüssel sucht, in einer Kabine einsperren? Adler bleibt in der Kabine, stumm, keine Regung, gespitzte Ohren. Der Alte und der Junge reden. Er hört nicht genau, worüber. Ihre Stimmen klingen freundlich, fast schon freundschaftlich. Während er nichts von dem Gespräch der beiden versteht, wird ihm klar, wie lächerlich das hier ist. Er kann nichts tun. Doch, er könnte schon, doch... Würde er? Es wäre bizarr. Adler beschliesst, die beiden
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ihrem Schicksal zu überlassen, nicht mehr zuzuhören. Er öffnet die Kabine, schwingt seine Tasche über die linke Schulter, rechte Hand in der Jackentasche, den Garderobenschlüssel umklammernd. Er geht raus und hört gerade noch, wie der Junge zum Alten sagt: «Ich geh normalerweise auch zwei Mal die Woche hierher.» Dann ist Adler ums Eck und weiss nicht, wie es weitergeht mit dem Alten und dem Jungen. Ich sollte wohl die Rahmenhandlung zu einem Ende führen. Draussen prasselt der Himmel auf die Erde, das Meer füllt den Horizont aus, begräbt die Stadt unter ihren Wellen. Drei Mal so oft Regen. Warum nicht auch am Ende Regen? Es geht weiter: Es geht nicht weiter. Es ist vorbei. Ich habe Adlers Geschichte gestohlen. Der Regen ist vorbei. Von draussen drückt die Hitze in das Innere der klimatisierten Häuserreihen. Die Sonne bringt Trägheit über die Stadt, verschont niemanden, während Adler im Simmeringer Bad seine Runden zieht.
Literatur
CAMENA FITZ
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Erinnerungen an einen Adler
war. Deine Hände griffen ins Leere, als wolltest du noch etwas berühren, und ich glaube dir, dass dies auch wirklich da war. Später sah ich den Mond im freien Fall. Wie von ei-
Ich stelle mir vor, du wärst jetzt ein Adler. Deine Federn
ner Riesenhand geschleudert, drehte er sich unzähli-
sehen aus wie Seide, wenn du deine Schwingen ausbrei-
ge Male um die eigene Achse, schien kurz aufzuleuch-
test, so wie du es schon damals getan hast. Unter dei-
ten, atmete tief und stürzte immer mehr in Richtung
nen Flügeln sass ich, und unter mir war ein Traktor. Den
Schwarz.
ganzen Nachmittag fuhren wir über das Feld, Furchen
Ich stelle mir vor, du sässest auf meiner Schulter.
hinterlassend, du singend, wir Bahnen ziehend.
So leicht bist du nun, so klein, dass ich aufpassen muss,
Weisst du, ich war mir in diesem Moment des Glücks
dass du nicht hinunterfällst. Wo willst du hin?
Kritik
voll bewusst und ich erkannte so langsam die Parallelen:
Ich tat einfach so, als wüsste ich ganz genau, wohin
une ufe und oben abe und de Buur blutt. Wenn wir in
meine Füsse dich tragen sollten, und nahm die schwere
den freien Stunden den Teppich ausbreiteten, den Zei-
Treppe in Angriff. Im Raum angelangt, setzte ich dich
gefinger bespuckten, um den Schiefer zu putzen, und
vorsichtig auf das Bett neben der Tür. Dass die Matratze
du dann auch noch dein Füüfblatt ankündigen konn-
mit Pferdehaar gefüllt sei, hast du mir unzählige Male
test, so wusste ich, dass wir für die nächste Stunde si-
erklärt und wie jedes Mal liess ich dich reden, froh dar-
cher sein würden. Später dann das übliche Programm,
über, dass du etwas erzähltest. Unser Blick schweifte zu
Nachtessen, Fernseher, ich weckte dich und du sagtest,
diesem Bild an der Wand, von dem wir nicht wussten,
dass es Zeit sei. Ich holte die Decke aus dem eiskalten
wer es gemalt hatte, eine Cousine oder eine Freundin,
Zimmer, legte mich hinein und du trugst mich hoch. So
der Name, mit dem es signiert war, sagte dir jedes Mal
gerne würde ich dir sagen, wie stark deine Flügel wa-
weniger. Dann der Schrank, in dem es diese Schublade
ren und wie lieb deine Augen, wenn sie nur einen Zenti-
mit den Briefen gab, von denen wir so taten, als gäbe es
meter von den meinen entfernt waren. Heimlich in der
sie nicht. Die Hermes Baby war dein Stolz und so liess
Hoffnung, du würdest die Katze in meinem Bett nicht
ich dich so lange über die Buchstaben hüpfen, bis du auf
bemerken, stellte ich mich schlafend, nur um gleich
der Leertaste eingeschlafen warst.
wieder aufzustehen und dir hinterher zu schleichen.
Ich wusste, dass die Zeit gekommen war, dich wie-
Die Zähne im Glas waren mir so unheimlich und doch
der hochzuheben und tiefer in den Raum zu gehen. Auf
übten sie diese unglaubliche Anziehungskraft auf mich
meiner Handfläche kribbelte es, als du dich hinsetztest,
aus, Nacht für Nacht tappte ich über den knarrenden Bo-
und für einen kurzen Moment drohtest du zu fallen. Du
den, um einen Blick davon zu erhaschen, wie das Wun-
klammertest dich an meinem Daumen und Ringfinger
der vonstattenging.
fest und wir öffneten die Vorhänge. Auf dem Tisch die
Ich stelle mir vor, du würdest dich erinnern.
alte Bernina, den Faden eingespannt, das Füsschen ge-
Ich stelle mir vor, du wärst der Mond und ich wäre
hoben. Ich fand eines deiner Hemden, den Saum ab-
für einmal ich. Du machst genau dasselbe, was du schon
gesteckt, alle Stecknadelspitzen zeigten in dieselbe
immer getan hast. Bahnen ziehend umkreist du mich
Richtung. In diesem Augenblick spürte ich, dass deine
und irgendwie bist du da und irgendwie kenne ich dich
Gedanken den meinen endlich ähnlicher wurden. Wir
noch immer nicht. Deine Lippen waren spröde und aus-
dachten, dass alles darauf hindeutete, dass unsere Ge-
getrocknet, als die weissen Frauen dich ins Bett leg-
liebte gleich zurückkehren könnte und den Faden wie-
ten und versuchten, dich zum Trinken zu bewegen. Ich
der aufnehmen würde.
staunte, mit welcher Leichtigkeit deine Tochter, welche ich Mama rufe, dir einen Kuss aufdrückte. So viel war
NOEMI SCHAI
noch zu sagen, dass der Wald jetzt stillsteht und schweiget und dass da etwas aus den Wiesen steiget und ob du das vielleicht ein letztes Mal noch singen kannst? Die Furchen und Krater waren ein Teil deines Gesichts geworden, das ich nicht mehr zu berühren wagte. Obwohl du sie nicht angerührt hattest, ekelte ich mich vor der Schokolade, die ein Geschenk an dich gewesen
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Reinreden
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Reinreden
Das bleiche Kerzchen unseres Daseins ist eigentlich ein Orkan Als ich mich frage, stolpert der Chevrolet über den Pass – 4437 M. ü. M. – und der Mönch neben mir macht plötzlich wilde Gesten, krächzt und krächzt tibetisch. Ich schaue ihn schweizerisch an und an und zucke mit den Schultern. «Lukas», frage ich, weil er Chinesisch kann, «was will der Alte?» Lukas versteht den Mönch aber nicht. Erst als der Mönch sein goldenes, bestrasssteintes iPhone aus seinen tiefroten Falten gräbt, wird es klar. Achso. Er will wohl ein Pass-Selfie mit uns. Keine Frage. Und während wir aus dem Chevrolet aussteigen, frage ich mich schon etwa drei Stunden, die wir vom Chevrolet durchgerüttelt sind. Wir stehen vor das 4437-M.ü.M.Schild, der Mönch zwischen uns und wir posen chinesisch (starres Lächeln und obligates VictoryZeichen). Und ich frage mich, als wir wieder einsteigen. Der Chevrolet rüttelt uns vom grauen, glattgestrichenen, chinesischen Himmel in das leere tibetische Tal hinunter. Ich frage mich. Der Mönch bietet uns etwas an, das aussieht wie CrunchyMüsli-Flocken. Ich nehme eine Crunchy-Müsli-Flocke. Sie ist erst geschmackslos, dann schleimig, dann stinkt sie nach Yakschmalz. Lukas sagt, es sei Yakkäse. Keine Frage. Der Mönch bietet an und an und lächelt durch seine Zahnlücken. «Mach mal fätzigere Müsigg», sage ich zu Michi. Michi haut Calvin Harris rein. Und während Calvin und The Disciples fragen: «How deep is your love? Is it like nirvana? Hit me harder. Again. How deep is your love?» kracht der Chevrolet alle 10 Meter in ein Loch. Lukas sagt bei jedem dritten Loch: «Sorry.» Und ich schaue tief in das tibetische Nichts. Und ich frage mich. Was soll mir die Literatur hier? Cédric Weidmann hat mich gefragt, ob ich nicht etwas fürs Reinreden schreiben tät. Und ich so: Klaro. So habe ich die letzten Stunden versucht, durch das zensierte chinesische Internet hindurch die letzte delirium-Ausgabe durchzulesen. Und wieder gemerkt. Die meisten literarischen Beiträge im delirium sind geschmacksloser als Yakkäse. Hinterlassen aber im Gegensatz zum Yakkäse einen bitteren Nachgeschmack. Und ihre Kritiken sind Selbstprofilierungsorgien von Nachwuchsakademikern. Cédric hat zu recht gemötzelt und gesagt: delirium sei vorerst die Zeitschrift gegen Kritik. delirium ist – glaube ich – momentan die Zeitschrift gegen sich selbst. Das ist für unsere Zeit, die die Postmoderne hinter sich gelassen hat, aber noch nichts Neues gefunden hat, ganz passend und nice. Man ist ja gegen ziemlich viel und für ziemlich wenig. Ich habe mich also gegen dieses ganze Dagegensein entschieden und mich gefragt, während ich durch das tibetische Nichts hindurchgechevrolet bin, für welche Literatur ich bin. Welche Literatur ich gerne lesen und dem delirium wünschen tät. Ich möchte Literatur lesen, die zu mir spricht. (Fast hätte ich geschrieben: Literatur, die mich berührt. Cédric hätte mir dann aber in der Ausgabe N° 08 eine reingehauen und gesagt: «Dieses Dichberühren ist doch genau so ein konstruiertes Gefühl, gegen das man vorgehen muss. Welcher Buchstabe berührt dich denn wo genau, lieber Dominik? Das A in der Seele? Das Ü an der Leber?» Damit Cédric mir was Spannenderes in der Ausgabe N° 08 reinhauen kann, habe ich daher geschrieben: die zu mir spricht.)
Die meisten literarischen Beiträge im delirium sind geschmackloser als Yakkäse.
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DOMINIK HOLZER
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Reinreden
Meistens spricht fremdsprachige Literatur eher zu mir als schweizerische. Um das zu verstehen, muss ich zuerst das Zumirsprechen verstehen. Es ist natürlich ein gefährlich diffuser Vorgang. Er ist subjektiv, emotional und stimmungsbedingt. Das ist aber genau, was die Literatur meiner Meinung nach ausmacht. Wer einen Literaturbegriff mit klareren Qualitätsmerkmalen hat, sollte vielleicht nicht weiterlesen. Die Literatur, die ich mir wünsche, sagt mir etwas über mein Amlebensein, mein Aufderweltsein. Welches Leben und welche Welt ist das? Ein höchst zwiespältiges Leben und eine äusserst zerrissene Welt. Das Leben in der Schweiz ist ein Kerzchen in einem türkisfarbenen Rechaudglas. Aussen tobt ein Sturm. Schaut man über den türkisfarbenen Glasrand und möchte sich dem Sturm aussetzen, ist der aber verdammt leise und sieht aus wie ein grauer, glattgestrichener chinesischer Himmel über einem leeren tibetischen Tal. Die ideale Literatur würde sich ebenso dem Kerzchen wie auch dem Sturm zuwenden. Lukas Bärfuss wendet sich in 100 Tage dem Sturm in Ruanda zu: die Schweizer Entwicklungs-«hilfe» (so seine Argumentation) hat den Völkermord mitentwickelt. Bärfuss’ präzise Recherche und selbstkritische Haltung haben mich zutiefst beeindruckt. Allerdings bleibt das sogenannt Literarische für mich auf der Strecke: der Text spricht nicht zu mir, die Figuren lassen mich kalt. Eine Doku oder eine Reportage hätten Ähnliches bewirkt, die Gattung Literatur ist nicht notwendig für das, was Bärfuss macht. Ganz anders Christian Krachts 1979. Krachts Figuren interessieren sich nicht für den Sturm der iranischen Revolution, in dem sie sich befinden. Der dümmliche Erzähler interessiert sich nur für das dümmliche Kerzchen seines innenarchitekturalen Daseins. Dieses detachment erzeugt eine Spannung und ist genau das, was zu mir spricht, was mir sagt: das bleiche Kerzchen unseres Daseins ist eigentlich ein Orkan. Im Grunde ist die Welt schrecklich, aber wir haben das Privileg, über das Grauen der Welt zu lesen und es schön zu finden. Das ist noch schrecklicher als die Schrecklichkeit der Welt. Und wie soll man damit umgehen, wenn man Schweizer ist und das Leben gleichsam eine Niedlichkeit wie auch eine Schrecklichkeit ist? Kracht gibt keine ernsthafte Antwort, er stellt aber mit seinem zynischen Ästhetizismus ernsthaft die Frage. 1979 ist ein dickflüssiges Glas Sirup, an dessen Boden man einen Abgrund ahnt. In der Lektüre ist man wie im Leben in diesem angenehmen Gläschen isoliert. Man fällt erst in den Abgrund, wenn man das Glas zu Ende getrunken hat: Alle zwei Wochen gab es eine Selbstkritik. Ich ging immer hin. Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen. Der Ausweg aus der Wohlstandsverwahrlosung ist die Selbstauflösung. Lukas hält den Wagen an, wir steigen aus. Ein LKW steht kopfüber auf der Strasse, der Fahrer ist wohl eingeschlafen, das steile Bord hochgefahren und hat sich überschlagen. Vor uns sind vier, fünf Autos, der Unfall muss gerade erst geschehen sein. Es wird gehupt, die nachkommenden Autos haben keine Lust zu warten und versuchen, sich am LKW vorbeizupressen. Von beiden Seiten. Bald sind wir von hupenden Autos eingekesselt, die sich selber auch eingekesselt haben. Wir packen Cola und Salznüsschen aus, gehen das Bord hoch, wo auch der LKW hochgefahren ist und schauen hinunter. «Du solltest eine timelapse davon machen», sagt Michi zu Lukas. Die Salznüsschen sind sehr salzig. Ich frage mich nicht mehr.
«Berlin: Gefühl von Vakuum, die weiten Strassen, es ist angenehm mit dem Wagen zu fahren; steigt man aus, um zufuss zu gehen, so hat man überall das Gefühl, hier findet Berlin nicht statt» Max Frisch, 16.02.1973, Aus dem Berliner Journal, hg. von Thomas Strässle, Suhrkamp 2014, S. 34
Reinreden
Das eine und das andere Berlin Die Beobachtungen von Max Frisch, als Schweizer in Berlin ein Vonaussenkommender («Es überrascht mich jedesmal: Sie als Schweizer. Das stimmt ja und stimmt nicht», S. 133), und sein Verstehen-Wollen der DDR, wie das soziale Miteinander in einem letztlich undurchschaubaren Staat funktioniert, der die Grundlage für gegenseitiges Vertrauen untergräbt; die Befangenheit und die Besonnenheit, die Bedeutung der Literatur in all dem; seine Beobachtungen zeigen uns heute auf, was damals aus Westberlin aus kaum jemand sehen konnte. Heute, wo in Berlin von der Mauer fast nichts mehr vorhanden ist und ausser dem Touristenschwarm beim (nachgebildeten) Checkpoint Charly und der East Side Gallery auch nichts darauf hindeutet, dass sich die Stadt noch daran erinnert, dass sie einmal zweigeteilt war, heute, in derselben Stadt, die in vielem nichts mehr mit dem zu tun hat, was Frisch sah, aber viel mit dem, was man heute in allen Grossstädten sieht (auch wenn sich einige Teile der ehemaligen Westbezirke, wie Friedenau, wo Frisch lebte, kaum verändert zu haben scheinen; Kleinbürgerlichkeit bleibt Kleinbürgerlichkeit), fällt jeder von aussen kommende, beobachtende Blick in Berlin, früher oder später auf Neukölln – genauer auf die Sonnenallee: oder die Arab street, wie die syrischen Flüchtlinge sie nennen, die Strasse, die in Berlin die grösste Bedeutung für sie hat: hier, wo sie einkaufen, weil man Supermärkte mit Produkten aus der Heimat und arabisch beschrifteten Lebensmitteln findet, hier wo es syrische Restaurants, Cafés und Shisha-Bars gibt (die sich alle vor Jobanfragen kaum retten können), hier, wo in ganz Berlin am meisten Arabisch gesprochen wird, hier, wo man stundenlang anstehen muss, vor dem Bürgeramt, der Sparkasse. «Man vergisst hier nicht einen Augenblick lang, dass man anderswo ist» (S. 133). Berlin ist anders als Deutschland, und Neukölln ist anders als Berlin. Gerade deshalb wäre es für Deutschland so wichtig, hinzusehen, was hier passiert – und was nicht. Nach den Jahren im Krieg, wo – darin dem damaligen Ostberlin wohl sehr ähnlich – der Grundsatz gilt, dass man niemanden vertrauen kann, wo vielleicht das eigene Viertel, das eigene Haus zerstört wurde, wo man Freunde und Familienmitglieder verloren und andere in die verschiedensten Weltteile hat fliehen sehen, man selbst die Flucht nach Europa auf sich genommen hat, weil das Fortschreiten des Krieges sämtliche Grundlagen für ein zukünftiges Leben zu zerstören droht, was findet man da, wenn man es bis nach Berlin geschafft hat? Nicht viel. Es sei denn, man hat Verwandte, die bereits hier sind, aber auch das ändert nicht viel, denn sie werden ausgelastet sein mit dem Versuch, sich eine Existenz aufzubauen. Was man antrifft, sind unzählige zu absolvierende Behördengänge, die Kaltschnäuzigkeit der Beamten, die sich anscheinend trotz vorhandenen Englischkenntnissen oftmals weigern, auf Englisch Auskunft zu geben, der harte Wohnungsmarkt in Berlin, wo die Wohnungssuche auch für deutschsprechende Gering- und Normalverdienende einem 2-Jahres-Teilzeitjob gleichkommen kann, die im Vergleich zu Syrien horrenden Preise, die mit dem ständigen Fallen des syrischen Pfundes noch horrender werden, die ungewohnten Laute, langen Worte und grammatikali-
[…] was findet man da, wenn man es bis nach Berlin geschafft hat? Nicht viel.
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LAURA BASSO
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Reinreden
schen Absurditäten der deutschen Sprache, das – zumindest vorübergehende – Verlieren der beruflichen Qualifikationen, und die Einsicht, dass alles viel länger dauern wird, als man es sich erhofft hatte: und zwar viel länger. Jeder einzelne Schritt in Richtung heimisch werden, das Erhalten jedes einzelnen Dokuments, das für das neue Leben hier nötig ist (und das sind der deutschen Bürokratie entsprechend nicht wenige), ein zermürbender, ein lähmender Kampf. Und diese Kämpfer sind wie die Obdachlosen ein Teil dieser Stadt, der von den anderen Teilen weitestgehend ignoriert wird, von den Bewohnern der reicheren Bezirken sowieso, aber auch die, die ihre Lebenswelt direkt mit den geflohenen Syrern und Syrerinnen teilen, scheren sich kaum um sie. Man merkt erschreckend wenig davon, was das Leben für die Geflohenen hier bedeutet, überhaupt merkt man ausser in Neukölln und entsprechenden anderen Orten erschreckend wenig davon, dass sie hier sind. Und wenn es doch zu Kontakt kommt, dann verhalten sich die Deutschen, die Europäer seltsam abwehrend, als wäre die blosse Anwesenheit des anderen ein Angriff, als würden sie einer Lawine von unausgesprochenen Forderungen oder Vorwürfen gegenüberstehen, und keinem Menschen, der vielleicht einfach nur nach dem Weg fragen will. Kontaktscheu aus Angst, der Blick auf das eigene Leben könnte sich verändern – oder weil man grundsätzlich den Kontakt mit Menschen meidet, deren Geschichte einen berühren könnte? Was für viele Anziehungskraft und Besonderheit dieser Stadt ausmacht, die Freiheit, die Berlin einem gewährt, weil jeder den anderen in Ruhe lässt, egal wie abgefahren oder durchgeknallt man sein mag, bedeutet dann, wenn man auf Hilfe angewiesen ist, Ablehnung und Ausstossung. Die refugees welcome-Sticker, die das Stadtbild zieren, müssten ehrlicherweise wealthy expats and tourists welcome (refugees are allowed to come here as well, but we are clearly not going to help you)-Sticker sein. Manchmal möchte ich nach Prenzlauer Berg fahren und die Leute in ihrer Holzspielzeug / Columbia Excelsio Espresso (Decaf) / Englisch für Kleinkinder / Hundeyoga-Welt fragen: Wisst ihr eigentlich, was in dieser Stadt gerade passiert? Der Unterschied zwischen dem kreativen Dreitagebärtigen im weissen Shirt, das aussieht wie ein normales weisses Shirt, aber zwanzigmal mehr kostet, weil es eben von diesem einen bestimmten Label ist, dessen grösstes Problem die Auswahl aus seinen hundert Paar Sneakers ist, und dem Leben des geflohenen Syrers, ein paar U-Bahnstationen weiter, der auf hundert Wohnungsanfragen eine einzige Antwort bekommt, die natürlich ein Betrugsversuch ist, könnte grotesker kaum sein. Aber die Mauer, die diese Welten trennt, die wohlhabenden und zu Ende gentrifizierten Bio-Stadtteile von den armen, durchmischten, von ersten Gentrifizierungswellen heimgesuchten «Problemvierteln» nennt sich nicht nur Segregation. Sie nennt sich auch Desinteresse, Ignoranz, Verleugnung, Vorurteile und Egoismus – und sie verläuft in jedem Kopf, im Denken jedes einzelnen: wo ich nicht hinsehe, das gibt es nicht, oder: was mich nicht direkt betrifft, geht mich nichts an. Und anders als die Mauer, die Ost- und Westberlin voneinander trennte, kann man diese Mauer nicht von aussen einreissen. Sie könnte nur dann zum Fall kommen, wenn jeder einzelne seinen eigenen Anteil an der Mauer sprengte.
Versuch über das Selbstbewusstsein Vorbemerkung Es gibt angenehmere Entscheidungen als diejenige zwischen dem deutschen Feuilleton mit seinen Tendenzen zu vorgeheuchelter Objektivität und verkrampfter Blutleere und dem französischen Feuilleton mit seiner unnachahmlichen Mischung aus Dünkelhaftigkeit und der Überzeugung, man spreche besser über das Leben der Autoren als über ihre Bücher, so dass das Magazine Littéraire und der Literaturteil von Le Monde und ähnlichen Publikationen aussehen wie eine besonders perverse Form von People-Journalen in denen die Menschen 1.) nicht gut aussehen und 2.) kein interessantes Leben führen. (Bezeichnenderweise scheinen beide Richtungen die Zusammenfassung als bevorzugte Vorgehensweise für sich entdeckt zu haben.) Gehen wir für einmal davon aus, es ginge auch anders.
Reinreden
1
Bekanntlich ist der einzige interessante Aspekt des Bewusstseins das Selbstbewusstsein. Denn entgegen dem ersten Eindruck bezeichnet dieser Begriff auf keinen Fall, dass ein Selbst sich seiner bewusst wird. Jenseits jedes Nosce te ipsum scheint Selbst-Bewusstsein auch die geringste existenzialistische Ankränkelung überwunden zu haben. Eine wörtliche Übersetzung ins Englische macht dies augenscheinlich: Ist jemand «self-conscious», so fühlt er sich für gewöhnlich unwohl, weil, wie es so schön heisst, auf sich selber zurückgeworfen; fühlt er sich hingegen wohl in seiner Haut, so ist er «self-confident». Mein Wörterbuch Englisch-Französisch übersetzt «self-conscious» mit «manquer d’assurance» oder «être mal à l’aise», «self-confident» dagegen mit «sûr de soi». Kurz: Wer sich seines «self» bewusst ist, ist unsicher, wer sich seines «self» hingegen sicher ist, ist (sich) sicher. Ohne weitere Wortklauberei lässt sich also feststellen, dass das «Selbst» in «selbstbewusst» ein ganz besonderes Selbst sein muss, das sich mit dem «authentischen Selbst» (was das ist, interessiert für den vorliegenden Essay und auch in allen anderen Fällen nicht) nur bedingt oder gar nicht deckt.
2
Es gibt eine simple Formel, um schwache Kritik auf den Punkt zu bringen. Sie lautet: «Irgendein Mensch hat irgendeine Meinung zu irgendeinem Werk.» Gemäss Freud hat das schwach geschriebene literarische Werk wenigstens den Anstand, uns zu kränken; einer schwachen Kritik – also einer, die der genannten Formel entspricht – gelingt nicht einmal dies. Sie ist der Leserschaft einfach gleichgültig. Es gibt viele Menschen, und mehr Bücher als es Menschen gibt und wohl noch mehr Meinungen als es Bücher gibt. Um als Kritik vor jener in Marmor und Gold gemeisselten Frage aller Fragen, die da lautet: «Wen kümmerts?», standzuhalten, sind die «irgendein»-Elemente der Formel sorgfältig zu tilgen.
3 Gesetzt der Fall, Sie läsen eine Zeitschrift. In dieser Zeitschrift, die monatlich erscheint, läsen Sie vier Kurzgeschichten von Alberto Moravia; anschliessend eine Sammlung an Beiträgen zum Thema «Kreativität» mit Essays von Truman Capote, Arthur Miller, Henry Miller, Georges Simenon, John Updike und anderen; anschliessend einen Aufsatz von Marshall McLuhan zur Theorie des digitalen Bildes; Erinnerungen an Hemingway verfasst von dessen Sohn; zwei Reisereportagen von Len Deighton; eine wissenschaftliche Abhandlung über Hildegard von Bingen und die Möglichkeit, ihre Visionen seien Resultat einer schweren Migräne, und zum Abrunden Auszüge aus der ersten Übersetzung von Goethes 37
West-östlichem Diwan. Nun, Sie läsen die Dezemberausgabe 1968 des Playboy. Und keine Sorge, die nächsten paar Ausgaben würden Sie mit journalistischen wie literarischen Beiträgen von Tom Wolfe, Norman Mailer und Hunter S. Thompson bei der Stange halten. Man mag New Journalism aus heutiger Warte einiges vorhalten. Wolfes onomatopoetische Extravaganzen betrachtet man mittlerweile wie den Grossvater, der die Anekdote mit dem Fisch und dem Gummistiefel zum vierhundertsten Mal erzählen will. Thompsons Art, über bürgerliche Anlässe unter Einfluss unbürgerlicher Substanzen zu berichten, war interessanter, als die ersten beiden Adjektive dieses Satzes noch halbwegs klar voneinander zu scheiden waren (denn nur dann kommt sein Hauptargument – dass die bürgerlichen Anlässe nicht weniger, sondern mindestens ebenso wahnhaften Regeln folgen wie der Rausch – reizvoll zum Vorschein); und dasselbe gilt für das Spiel mit der Trennung von Literatur und Journalismus: Damit es unterhält, müsste diese Trennung nach wie vor eine allgemein anerkannte sein. Ohne Zweifel aber ist dem New Journalism auch einiges anzurechnen, und vor allem dies: Die Trennung zwischen dem Selbst, das selbstbewusst ist, und dem Selbst, das irgendetwas mit sich selber zu tun hat, ist vielleicht keiner anderen publizierenden Strömung des 20. Jahrhunderts so klar gewesen. Das Selbst aus «selbstbewusst» ist offenbar eines, das nicht auf «sich selber» zurückgeworfen ist, sondern eines, das sich selbst aus sich selber auswirft. Mit «sich selber» hat diese Entäusserung dann zwangsläufig nur noch wenig gemeinsam, bloss das, was es im Moment des Auswurfs gerade noch so an Naheliegendem hat ergreifen können und nun in diesem Aussen mit sich herumträgt wie ein ontologisches Necessaire. Sagen wir, dieses Selbst ausserhalb sich selber sei dasjenige, das schreibt, wenn geschrieben wird. Sagen wir auch, dieses Selbst sei dasjenige, das kritisiert, wenn kritisiert wird. Kritik erfordert also Selbstbewusstsein. Was einfach scheint, ist es nicht; das haben die vorigen Betrachtungen gezeigt. Wem vitale Anschaulichkeit näher liegt als pseudophilosophische Exkurse, dem sei das Studium des lebendigen Beispiels einiger (Kultur-) Journalisten anempfohlen, die sich selbstbewusst glauben und dabei immer nur «sich selber» darstellen. Und dieses ist bekanntlich nicht von Interesse: Jeder dieser Selbers ist ja doch nur irgendeiner.
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Selbstbewusst sieht anders aus. Selbstbewusst bedeutet, aus besagtem ontologischen Necessaire ein geradezu unwahrscheinliches Maximum herauszuholen, wie hunderte Clowns aus einem einzigen Kleinwagen oder tausend Kaninchen aus einem Zylinder. Denn das kränkt die Leserschaft nicht: Da kann jemand Clowns aus einem Kleinwangen holen und Kaninchen aus einem Zylinder und vierhundert Kritiken aus dem Umstand, dass er ein unnachahmliches Gespür für die Beschreibung eines Hamburgers um vier Uhr morgens und dazu die Überzeugung hat, dass das so richtig von Bedeutung ist – da schaut man zu. Das ist nicht irgendeiner.
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Selbstbewusstsein ist Auswurf, ist Projektion, ist Instrumentalisierung und Inszenierung. Selbstbewusstsein ist vielleicht nahe dessen, was man mit Stil bezeichnet, wenn man den Begriff etwas weiter fasst denn nur als syntaktisches Prinzip eines Autors, aber dennoch eng genug, um «generell gern gesehene Haltung in Geschmacksfragen» nicht mehr mit einzuschliessen. Selbstbewusstsein ist das, was übrig bleibt, wenn der Autor tot ist. Selbstbewusstsein hängt über jedem und schlummert unter jedem Satz. Selbstbewusstsein kann man nicht im eigentlichen Sinne haben, nicht besitzen; Selbstbewusstsein stösst einem eher zu. Selbstbewusstsein ist die Ahnung einer Gewissheit. Selbstbewusstsein ist interessant.
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Konkreter. Selbstbewusst ist es, wenn eine Zeitschrift ihre (langen) Textbeiträge nicht nur in drei ungebrochenen Spalten pro Seite ohne Hervorhebungen und ohne Illustration abdruckt, sondern im selben Heft, aber vom Text geschieden, gleich auch noch Bilder knapp bekleideter Damen mitliefert. Das drückt aus: Was hier geschrieben wird, gewinnt die Aufmerksamkeit auch gegenüber dieser Konkurrenz. Selbstbewusst ist, wenn sich die Autoren nicht daran stören, weil sie davon ausgehen, dass das, was sie hier schreiben, auch neben dieser Konkurrenz die Aufmerksamkeit erhalten wird. Es ist kein Wunder, dass New Journalism gerade im Playboy seine besten Momente erlebt hat: In ihrem Verständnis von Selbstbewusstsein sind die beiden Erscheinungen innig verwandt. Nicht selbstbewusst ist es, wenn sogenannte Männermagazine bergeweise Fotos nackter Frauen abdrucken und dazwischen knappe, frauenphobische, möglichst in Listenformat formulierte dümmliche Artikelchen einklemmen und sich dann darüber beklagen, das Internet mache ihnen zu sehr Konkurrenz. Nicht selbstbewusst ist es, wenn Kritiker sich hinter einer blossen Zusammenfassung des Inhalts verstecken; nicht selbstbewusst ist es, wenn eine vorgebliche Objektivität als Schutzschild gebraucht wird. Nicht selbstbewusst ist die Haltung, man werde ja sowieso nicht gelesen, also habe es keinen Wert, gelesen werden zu wollen. Selbstbewusstsein bedeutet die Überzeugung, Interesse generieren zu können, Interesse nicht für sich selber, sondern für das, was das Selbst schreibt, wenn geschrieben wird. Diese Überzeugung macht Menschen interessant. Und was einen interessanten Menschen interessiert, wird auch andere interessieren.
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Nun, Sie läsen die Dezemberausgabe 1968 des Playboy.
7 Für die schwache Kritik gibt es eine simple Formel, für die gute gibt es sie nicht mehr. Eine der grossartigsten Kritiken stammt von Balzac, zu Stendhals La Chartreuse de Parme. Sie besteht fast ausschliesslich aus einer Zusammenfassung des Inhalts, wobei «Zusammenfassung» vielleicht nicht das richtige Wort ist, vermutlich müsste man so etwas wie «Inhaltsbegleitung» schreiben: Balzac zitiert ausführlich ganze Passagen, am Ende füllt seine Kritik fast halb so viele Seiten wie Stendhals Roman. Und dennoch ersetzt weder die Lektüre der Chartreuse die Lektüre der Kritik noch umgekehrt; denn durch diese Zusammenfassung poltert ein solcher Enthusiasmus und eine solche Gewissheit, der Enthusiasmus sei berechtigt, dass die Suggestionskraft dieser Kritik noch mal eine ganz andere ist. Denn die Kritik zeigt nicht nur etwas über Stendhal, sondern auch, falls das Klischee erlaubt ist, etwas über Balzac. Balzacs Selbstbewusstsein (also nicht er selber) kann Stendhal nicht einfach zusammenfassen, ohne dabei aufzuzeigen, was an Stendhal eigentlich Balzac ist bzw. sein könnte. Stendhals Chartreuse ist lakonisch, feinnervig und von dieser spezifisch stendhalschen Romantik durchzogen, die sich selber kein Wort glaubt; in Balzacs (enthusiastischer) Kritik erscheint sie als gewaltiges Sitten- und Gesellschaftsgemälde, als heroisches Epos von monumentaler Dramatik und emotionaler Dringlichkeit, kurz: als ein Roman Balzacs. Wo Stendhal Mozart versucht, hört Balzac ständig Beethoven. Balzacs Selbstbewusstsein agiert jenseits von Anforderungen wie «dem Text gerecht werden» oder «im Dienst des Textes stehen», und gerade deshalb löst er beide ein. Er fasst zusammen, ja; er macht seitenweise Inhaltsangaben und kann gar nicht mehr damit aufhören, lässt allerdings zentrale Stellen unerwähnt, weil sie nicht in sein Gewaltigkeitskonzept passen, aber dennoch: man liest es gerne, man will es lesen, und: sich selber würde man das nicht zutrauen. Als Elisabeth Edl die Balzac-Kritik zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt herausgab, schrieb Rolf Vollmann in der ZEIT: «Der Aufsatz hat Satz für Satz die ganze Wucht, die Balzac selber hatte […]», und da liegt nun irgendwie ein Kalauer mit ZEIT-Reisen in der Luft. 39
Selbstbewusste Kritik hat darüber hinaus diesen Vorteil: Auch wenn das Selbstbewusstsein der Kritik jenem ihres Objekts eher zuwiderläuft, wird das Resultat interessant sein. Joan Didions neurotisch angehauchter Cool hat wohl wenig gemein mit Norman Mailers hitzköpfigem Machismo, aber ihre Kritik (für die New York Times) zu seinem Executioner’s Song ist auch dann lesenswert, wenn man das besprochene Werk weder gelesen noch zu lesen vorhat. Mailers Buch ist über tausend Seiten lang, Didion bespricht eigentlich nur den letzten Satz des ersten Kapitels, mehrheitlich mit dem Argument, er sei etwas länger als die anderen; den Rest des Buchs führt sie auf diesen einen Satz zurück. Sie liest The Executioner’s Song als eine Studie über Vorsehung und Beliebigkeit, als eine Phänomenologie des amerikanischen Westens, vorgetragen von Frauen, die keinen Einfluss auf ihr Schicksal haben und auch kein Interesse daran. Mailer dagegen («It’s more important to be a man than a very good writer») scheint tausend Seiten lang hauptsächlich fasziniert von einem Mann, der nach Verurteilung zum Tode auf der Exekution insistiert, obwohl eine Begnadigung einfach zu erreichen wäre, schliesslich geht es um seine Würde; später hat Mailer das Werk als eine schlichte Handübung bezeichnet. All das ist Selbstbewusstsein, und Didions Kritik ist es auch, und deshalb steht die Kritik auf ebenso eigenen Füssen wie ihr Objekt, und deshalb ist beides lesenswert.
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Amüsant, wenn Hemingway sich ekelt vor Leuten, die bezahlt werden, um «attitudes towards things» zu haben, in Anbetracht des Umstandes, dass er definitiv zu ihnen gehört und diese Zugehörigkeit mit der Formulierung dieses Satzes auch noch bestätigt: Denn natürlich ist Hemingway mit einer bestimmten Haltung gegenüber den Dingen assoziiert und natürlich ist dieser Haltung zentral eine performative Männlichkeit, die ihren unangenehmen Gegenspieler gern mal als Eunuchen betitelt. Diese Haltung ist sein Selbstbewusstsein. Und selbstverständlich wird er für sie bezahlt. Wenn wir bei Tom Wolfe an ein sarkastisches Ausrufezeichen im beigen Anzug denken, wenn wir bei Borges an ein Labyrinth aus Büchern denken, bei Hammett an rauchende Männer in Trenchcoats, bei Faulkner an alttestamentarische Delirien auf Baumwollplantagen, wenn wir bei Modiano an Pariser Strassen im Regen und an die Ahnung, dass man sich irgendwie unrichtig erinnert, denken und bei Kafka an ein ganz kleines dünnes, aber seltsam selbstsicheres Wesen vor einem ganz hohen dunklen Gebäude und bei Kierkegaard an eine sehr lange, sehr deprimierte Nase und bei Rilke an einen feinfühligen Schnupfen nicht ohne Tendenz zu judeo-christlicher Erotik und bei Bolaño an eine paranoide runde Brille, dann sind wir vermutlich nicht auf der Spur dieser Autoren, aber vielleicht auf derjenigen ihres Selbstbewusstseins. Dies dürfte gemeint sein, wenn gemäss Lothar Müller die «jüngeren Literaturinteressierten in Deutschland» ein «‹close reading› der Texte wie des Outfit und Lebensstils der Autoren» einfordern («Salonfähig», Süddeutsche, 15.4.16). Zurück zum Autor? Nein, das ist bloss Irgendeiner. Hin zu auktorialem Selbstbewusstsein? Unbedingt.
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Denn wovon auch immer ein Kritiker mich überzeugen will, sie oder er muss mich zunächst von ihr oder ihm überzeugen. Gelingt dies, so sind die «Irgendein»-Elemente der Formel für schlechte Kritik aus dem Weg geräumt: «Irgendein Mensch» und «irgendeine Meinung» fallen zusammen, denn das ist gerade die Bewegung des Selbstbewusstseins, die vom «Menschen» nur das aufnimmt, was für die «Meinung» relevant ist, wodurch die Meinung interessant wird, gerade weil sie zur erholsamen Abwechslung einmal nicht die
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«God knows, people who are paid to have attitudes towards things, professional critics, make me sick; camp-following eunuchs of literature.» – Ernest Hemingway, Brief an Sherwood Anderson, 23.5.1925
Meinung von jemandem ist, der zufälligerweise eben eine hat, sondern sozusagen reinstmögliche Meinung, und da das Werk innerhalb der Kritik nur durch den Filter dieser Meinung zu Tage tritt, wird auch das Werk interessant erscheinen. Die selbstbewusste Kritik ist ganz Meinung, aber streng genommen weder Meinung einer real existierenden Person noch Meinung zu bloss einem real existierenden Werk. Nicht irgendein Mensch hat irgendeine Meinung zu irgendeinem Werk, sondern ein interessanter. Eine Meinung spricht, die kraft ihres Selbstbewusstseins sowohl den Sprechenden als auch das Besprochene interessant macht. In diese Kerbe schlägt auch Tim Parks’ Votum für veröffentlichte Lesebiographien der Kritiker: Unvoreingenommenheit – also das Verstecken der eigenen Meinungshaftigkeit, womit alle Aufmerksamkeit entweder paradoxerweise beim Schreibenden oder aber beim Werk liegt – vorzugeben, schliesst er damit kurz, niemand zu sein, oder anders ausgedrückt: Irgendeiner. Die Lesebiographie hingegen ist mitunter jener Nicht-Ort (jene Utopie), von dem her das Selbstbewusstsein zu Besuch kommt.
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Die Kritiker sollen bitte nicht verschwinden, auch nicht durch ihre eigenen Bestrebungen. Jemand, der nur von sich selber spricht, interessiert ausser sich selber niemanden, und jemand der sich zum Ziel setzt, nicht bemerkt zu werden, muss sich nicht wundern, wenn er irgendwann verschwunden ist. Alles andere ist Selbstbewusstsein.
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Nachbemerkung Was ich mir davon erwarten würde, mal so ganz plump und einschliesslich aller Klischees ausgedrückt? Mehr Verve, mehr Kategoriendenken, mehr Style und mehr Geld, tatsächliches close- und damit auch distant-reading, weniger Verrisse von einzelnen Werken, aber mehr Verrisse von ganzen Tendenzen und Schulen und Epochen, weniger Personen, aber mehr Charaktere, Antworten auf die Frage weshalb der Familienroman ein so komplett uninteressantes Genre (geworden) ist, mehr Einsicht dank weniger Rücksicht, mehr differenzierte Gnadenlosigkeit und weniger mildtätiges Desinteresse, genauere Studien zum Hamburger um vier Uhr morgens und schliesslich auch, ja, schliesslich auch: mehr Unterhaltung. SEBASTIEN FANZUN
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Gians Aphorismen für die kalten Tage Zwei Drittel Heizöl und ein Drittel Benzin – Es gibt einfache Mittel sich im Winter warm zu halten. Ein warmer Gedanke vermag natürlich zu helfen, eine Heizung ist ein Garant. Ich für meinen Teil halte es simpel: Um meinen Hals einen sanften Kaschmirschal geschlungen und in meinem Herzen ein revolutionärer Gedanke aufbewahrt. So komme ich gut durch den Winter und bin bereit, bei den ersten Anzeichen des Frühlings die Poetik revolutionierende Gedichte zu schreiben. Verschneite Landschaft – Es würde mich nicht verwundern, wenn noch keinem aufgefallen ist, wie viel Ähnlichkeiten eine weisse Landschaft und ein weisses Blatt Papier haben. Den Horror vacui rufen sowohl eine leere Seite, als auch eine verschneite Landschaft hervor. Da beruhigt einen Stadtmensch wie mich doch, dass auf den urbaneren Gegenden der Schnee bloss als grauer Matsch zu liegen kommt. Eremitei – Ja, der Winter ist hart. Aber ein Poet weiss auch eine solche Zeit zu schätzen. Er zieht sich zurück, nachdem er den ganzen Sommer lang nur gezirpt und gesungen hat, wie die faule Grille. Natürlich, nur zu gern hörte man ihm in den lauen Sommernächten zu, doch nun, da Geselligkeit sich nach drinnen verlegt, wird es einsamer um ihn. Möge er in seinem Kämmerchen die ein oder andere Strophe ersinnen mit den Erinnerungen an den vergangenen Sommer und dem Wissen um ihren Erfolg im kommenden.
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