Herbst 2015 N° 05
Zeitschrift gegen Literatur
Impressum Herausgeber: Verein delirium Bremgartnerstr. 80 8003 Zürich Redaktion: Fabian Schwitter Laura Basso Samuel Prenner Daniel Grohé Dominik Holzer Cédric Weidmann Esther Laurencikova Layout / Fotografie Cover Mauro Schönenberger Flurin von Salis Pius Bacher www.captns.ch Illustration: Joris Burla facebook.com/entityillustrations Auflage: 500 Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG Gutenbergstraße 8 93051 Regensburg
Abo: delirium-magazin.ch/abonnements Spenden IBAN: CH92 0900 0000 3079 0665 7 Beitragende: Laura Basso (Redaktion) Konstantin Duvalier Sofie Gollob Daniel Grohé (Redakion) Fritz Gutbrodt Andreas Hauri Simon Jacoby Marianna Lanz Esther Laurencikova (Redaktion) Wolfgang Mach René Oberholzer Samuel Prenner (Redaktion) Susanne Richli Gregor Schenker Adam Schwarz Fabian Schwitter (Redaktion) Carlo Spiller Luca Thanei Cédric Weidmann (Redaktion) Mit freundlicher Unterstützung
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Universität Zürich Seminar für Allg. u. Vergl. Literaturwissenschaften
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Editorial
Editorial Über die letzte Ausgabe wurde eifrig gestritten und diskutiert. Man ging sich gegenseitig an die Gurgel, die Redaktion wurde übel beschimpft und es wird gemunkelt, dass sogar die Ausschreitung auf der Zürcher Binz-Brache vor einigen Wochen aus einem Disput über eine Kritik im delirium entstanden sei. Die Redaktion müsse, so einer der Vorwürfe, klar machen, wie eine Kritik auszusehen habe. – Nein, muss sie nicht. Es mag vielleicht die Aufgabe hornbebrillter Feuilleton-Redakteure etablierter bürgerlicher Tageszeitungen sein, darüber zu entscheiden, was und wie Kritik ist – und damit auch indirekt darüber, was Literatur zu sein hat –, aber nicht die unsere. Das Haus delirium, hiess es einmal in einer Vorgängerausgabe, habe viele Türen. Das Haus delirium: dieser Möglichkeitsraum, in dem Kritikerinnen und Schreibende aufeinandertreffen, um über dieses Ding, das alle Literatur nennen, aber von dem keiner so genau weiss, was es ist und was es sein sollte, zu reden. Und es sollte dieser Diskurs sein, der über Text, Kritik und Literatur als Ganzes entscheidet, und nicht ein selbst ernanntes Gremium, das im stillen Kämmerchen über Fragen brütet, während die Leserschaft darauf wartet, dass ihnen die Antwort auf die Frage, die grosse Frage nach dem Leben, dem Universum und allem vor die Füsse gespuckt wird. Bedauerlicherweise blieben viel zu viele der vielen Türen viel zu lange verschlossen und der Diskurs wurde zwangsläufig zu einem redaktionell geführten – zumindest weitgehend. Nun aber liegt sie endlich vor euch: die lang erwartete fünfte Ausgabe. Und noch immer rattern und knacken die Räder der bösartigen Weltmaschine im Hintergrund und treiben das Gespräch an. Es ist ein schönes Heft geworden. Gebt uns mehr davon!, können wir da nur sagen. Schickt uns eure abgesägten Beine, eure Trauermärsche, eure Allmachtsfantasien und eure Entwürfe – schickt uns Meer. Aber gebt uns auch Kritik, gebt uns eure Pamphlete und Schmähbriefe. Hier könnt ihr endlich mal allen reinreden. delirium ist mehr als nur eine Zeitschrift. Es ist ein ständig wachsender Raum. Und nie war es einfacher, einen Eingang zu finden. DANIEL GROHÉ
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Warum Du Gönner werden solltest – 10 Gründe (8. hat mich total nachdenklich gemacht!) 1. Weil Du das raffinierteste Literaturmagazin der Welt zweimal im Jahr bequem zu Dir nach Hause geschickt bekommst. 2. Weil Literatur nicht bei Bärfuss und Suter aufhört. 3. Damit nicht nur schlechte Zeitschriften gratis verteilt werden können. 4. Weil auch Kritik kritisiert werden muss. 5. Weil Du Spass am Text hast. 6. Weil Du mit einem delirium in der Hand im Schnitt 30 % sexier aussiehst. 7. Weil Kritik auch Lifestyle ist. 8. Weil Kritik mehr ist, als Nein sagen. 9. Weil Deine Augen zur Farbe unserer Dankes karte passen. 10. Weil delirium auch fünfzig Grautöne abdeckt, aber besser geschrieben ist. Werde jetzt Gönner und sichere Dir die nächsten beiden Ausgaben auf: www.delirium-magazin.ch/abonnements 2
S TA M M BAU M
REINREDEN
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40
Der delirium-Stammbaum
Drachen und andere Viecher: Über die Kunst, Literatur zu verreissen GREGOR SCHENKER
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L I T E R AT U R / K R I T I K
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Zum Geleit
Wie ich mich aufmachte, ein abgesägtes Körperteil wiederzufinden
Inhaltsverzeichnis
KONSTANTIN DUVALIER
10 Zum Geleit zum Geleit
SUSANNE RICHLI
43 Das Unbehagen in der Natur (2)
ADAM SCHWARZ
LUCA THANEI
FRITZ GUTBRODT
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Wie ich mich aufmachte, gute Literatur zu suchen
Die Kolumne
Wie ich mich aufmachte, gute Literatur zu suchen (reloaded)
44 Hommage an N° 04 WOLFGANG MACH
SUSANNE RICHLI
44
SAMUEL PRENNER
18 Randnotizen SOFIE GOLLOB
21,22 käpt’n meer MARIANNA LANZ
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Für mehr Literaturförderung
Trugbild St.James Infirmary Blues
CARLO SPILLER
FABIAN SCHWITTER
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Comic
Der dunkle Pfad erzählerischer Tugend
GREGOR SCHENKER
ANDREAS HAURI
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Die Besserwisser (ein neuer Versuch)
Der falsche Kapitän und das falsche Meer
ESTHER LAURENCIKOVA
DANIEL GROHE
SIMON JACOBY
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Der delirium-Stammbaum Bezug ist nicht gleich Bezug. Was im Bett gilt, gilt auch im delirium. Was meint die Redaktion, wenn sie Texte verlangt, die Bezug nehmen auf Texte aus vorangehenden Ausgaben? Nach fünf Ausgaben ist es vielleicht an der Zeit, die Forderung «Bezug zu Vorgängerausgaben?!» auf der Rückseite des Heftes vom Fragezeichen zu befreien. Die Redaktion geht davon aus, dass Lesen sich produktiv auswirkt, ja, fürs Schreiben sogar unerlässlich ist. Sie möchte nicht nur die Möglichkeit für eine produktive Auseinandersetzung mit Texten bieten, sondern diese gleichzeitig dokumentieren und einsehbar machen. delirium ist auch zum Sammeln da, und bietet sich besonders in regnerischen Stunden dafür an, zum Bezugjäger, zur Bezugjägerin zu werden und in die Untiefen der literarischen Verwicklungen und Verdrehungen einzusinken, die sich über alle Ausgaben erstrecken. So weit, so gut. Und was heisst das jetzt konkret, mag sich der geneigte Leser, die geneigte Leserin fragen. Schauen wir uns einmal genauer an, was in dieser Ausgabe gemacht wurde: Zum Geleit greift das Motiv aus dem Editorial von delirium N°02 auf, wo es heisst, das Haus der Fiktion habe viele Fenster, aber nur zwei oder drei Türen. Der Text dreht diese Metapher des Hauses und wendet sie auf den literarischen Produktionsprozess, aufs Schreiben an: Solange der Text noch im Haus ist, kann er durch viele verschiedene Fenster nach draussen blicken und sich je nach Fenster in einem anderen Licht sehen; er ist formbar und allem Anschein nach stehen ihm viele Möglichkeiten offen. Dennoch muss er einmal raus aus dem Haus, um gelesen werden zu können. Und kaum ist er durch die Tür, steht seine Gestalt fest. Einmal draussen, wird seine Beleuchtung durch den Leser, die Leserin bestimmt. – Hauptbezug ist also die Übertragung einer Metapher. Die Kolumne ist eine Antwort auf Der Kannibale aus delirium N°03. Nicht nur taucht die Schlüsselszene (der Kannibale, der dem lesenden Autor so auf die Pelle rückt, dass sein Speichel auf die Buchseiten tropft) in anderer Form wieder auf – ihr wird nämlich ein anderes Ende verliehen (der tapfere Freund, der Kritiker, ‹rettet› den Autor) und ist in ein übergreifendes Narrativ eingebaut (die Kolumne) – sondern der Text entwirft die Figur eines Kritikers, der den verschiedenen Kritikern in Der Kannibale in allen Punkten entgegengesetzt scheint (die vom Autor kaum geschätzten, austauschbaren Kritiker mit Schnauz und Brille werden durch einen heldenhaften Kritiker konterkariert, der erfolgreicher zu sein scheint als die im Text erwähnten Autoren). – Hauptbezug ist also die Umdeutung einer Figur. käpt’n und meer knüpfen an Jason träumt aus delirium N°02 an. käpt’n nimmt den Aufruf «Zurück aufs Meer» wörtlich und stellt infrage, ob dort der «Gewinn» tatsächlich «dem Gewinner gehört»; schliesslich werden die «Zurückgebliebenen», die in Jason träumt nicht besonders gut wegkommen (ihnen bleibt nur der «abgewrackte Traum am Strand»), in käpt’n um den festen Boden unter ihren Füssen beneidet. meer geht nicht «Zurück aufs Meer», sondern ans Meer, und schaut, was sich dort alles finden lässt. – Hauptbezug ist also das Anknüpfen an ein Thema. Wie ich mich aufmachte, ein abgesägtes Körperteil wiederzufinden greift den Stil von Die Welt ist eine bösartige Maschine aus delirium N° 04 auf, überträgt die Surrealität von Georgs (Traum-) Welt (inklusive siebenköpfigen Drachens, Hexe und Energievampirin) auf
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eine Unterwasserwelt à la Atlantis (inklusive Meerjungfrau mit Armani-Brille, rauchender Schwarzbarschburschen und Seesternen, die Gassi geführt werden). Dem Fantasy-Motiv des Kampfes gegen ein böses Ungeheuer wird mit dem ebenso beliebten Motiv der Reise an einen exotischen Ort begegnet. – Hauptbezug ist also das Aufgreifen eines Genres. Trugbild St. James – Infirmary Blues nimmt literarisch eine Gegenposition zu den theoretischen Überlegungen in der Kritik Simulation eines Kommentars aus delirium N°03 ein. Die «tendenzielle Auflösung und Zersetzung von Literatur in ihrem Kern», wie es dort heisst, wird wörtlich genommen und zum Leitmotiv des Textes geformt: das Begräbnis der Kunst. Allerdings – und hier liegt die Kritik an der Kritik – ist die Kunst möglicherweise längst auferstanden, auch wenn von der Kritik bloss eine Leiche ausgegraben und zum Erkenntnisgewinn seziert wird. Während Simulation eines Kommentars sagt, dass die Auseinandersetzung mit Kunst bloss simuliert sein kann, sagt Trugbild St. James, dass dies gar keine Rolle spielt: solange die Kunst lebt. – Hauptbezug ist also die literarische Entgegnung auf eine theoretische Position. Fünf Texte, fünf unterschiedliche Arten von Bezügen. Ein Blick in die Bettwarenabteilung eines beliebigen Kaufhauses lässt die Hoffnung keimen, dass auch in den kommenden Ausgaben von delirium einiges anzutreffen sein wird, was neu bezogen wurde.
N° 01 N° 02 N° 03 N° 04 N° 05
LAURA BASSO
Zum Geleit
Hommage an N°04
Wie ich mich aufmachte
Comic
Die Kolumne
meer
käpt’n
Wie ich mich aufmachte
Trugbild St. James
Drachen und andere Viecher
Das Unbehagen II
Blindes Vertrauen
Über Schwindel
Zum ausgebliebenen literarischen Rausch Das Unbehagen I
Die Welt ist eine bösartige Maschine
Zwei Häufchen
Humorlos
Notizen zur Zweifelhaftikeit des literarischen Programms Simulation eines Kommentars
Editorial
Auerbach
Genealogie
Der Kanibale
Doppelt verklärte Literatur
Drei Geometrieaufgaben
Notizen zur Zweifelhaftigkeit …
Editorial
Etwas, das passiert ist
Jason träumt
Replik auf delirium N°1
Gedichte. Formsache oder Geschmaksfrage?
5
die Akte
und höre
Hörig
KONSTANTIN DUVALIER
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… Gest ern h c o n d n e b A t s e f u d t s r wa , n e s s o l h c s ent g i t l ü g d n e mich … n e s s a l r zu ve KRITIK
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FRITZ GUTBRODT 6
Literatur
LITERATUR
Zum Geleit Gestern Abend noch warst du fest entschlossen, mich endgültig zu verlassen. In der Hoffnung, unter diesen Umständen liessen sich deine Wünsche vielleicht eher durchsetzen, hast du dir die Nachwehen einer durchzechten Nacht zunutze gemacht, meine verminderte Reaktionsfähigkeit ausgenutzt, meine Konzentrationsschwierigkeiten, die bleierne Müdigkeit, die meine Widerstandskraft allesamt schwächten. Wolltest raus aus diesem heruntergekommenen Arbeiterviertel, in dem dich niemand versteht, raus aus diesem schlecht belüfteten, dunklen Zimmer, weg von diesem schlecht lackierten Türblatt und den zwei Malerschragen, die einen Tisch mimen, auf dem fleckiges Papier, schmutzige Kaffeetassen und Rotweinflecken sich den Platz streitig machen. Wolltest hinaus in die Fremde, hast mir mit Frankfurt und Dresden in den Ohren gelegen, mich angefleht, dich dort vorzulesen, vor versammelter Welt. Ich oder deinetwegen auch jemand mit einer eleganteren Stimme, jemand vielleicht, der sich weniger verhaspelt, jemand, der deine Sätze besser intoniert. Während des gesamten Abends hast du von deiner Aufmachung geschwärmt, hast deinen halbrunden Rücken bereits in einem dieser eierschalenweissen Umschläge gesehen, die von einem grenadinenroten, vielleicht auch kanariengelben, eukalyptusgrünen, hanseblauen oder sargschwarzen Streifen in ein Quadrat und ein Rechteck unterteilt würde, einen dieser zeitlos modernen Umschläge, der deinen Namen in einer Übergangs-Antiqua des Spätbarock mittig zwischen meinem und demjenigen der berühmten Reihe tragen würde, einen dieser Umschläge, der auf der Rückseite eine blosse Nummer und ein kurzes Zitat, einen sinnigen Satz aus deinem Inneren (am besten Literatur
gefiele dir «Gestern Abend noch warst du fest entschlossen, mich endgültig zu verlassen.») zum Besten gäbe und so – in seiner schlichten Eleganz – die möglichen Käufer einer kunstverständigen Leser-Elite direkt anspräche. Das ausgefranste Ende eines aus Kunstfaserfäden geflochtenen Bandes würde zwischen deinen Seiten hervorlugen, eine durchsichtige Plastikfolie sollte dich schützen, vor Transportschäden ebenso wie vor den schmutzigen Fingern einer kaufunwilligen, bloss neugierigen Masse, sollte dich für eine ausgewählte, zahlungskräftige Kundschaft unversehrt behalten. In den Auslagen von Berlins Dussmann, Wiens Frick, Roms Herder, Zürichs Orell Füssli wolltest du liegen, im Feuilleton der renommiertesten Tageszeitungen für Aufsehen und Furore sorgen. Meine Versuche, dir diese Flausen aus dem Kopf zu treiben, waren wenig erfolgreich. Sicher, du hast zunächst eingesehen, dass solch elitäre Anwandlungen in völligem Widerspruch zu deinem früher wiederholt geäusserten Wunsch standen, ins kollektive Gedächtnis der Gesellschaft aufgenommen zu werden und neben Goethe, Schiller, Mann und Frisch zu bestehen, hast schliesslich auch eingeräumt, dass du hierfür eine wesentlich breitere Leserschaft hinnehmen müsstest. Beinahe hatte ich dich wieder so weit, deine Dünkel aufzugeben, beinahe wäre es mir gelungen, deinen früheren Wunsch, eben sprichwörtlich in aller Munde zu sein, zu neuem Leben zu erwecken. Dabei hätte ich es vielleicht bewenden lassen müssen, doch ich preschte weiter vor, wohl allzu harsch, wie mir im Nachhinein scheint. Ich habe dir vorgeschlagen, dich zu einem Roman, vielleicht auch nur zu einer Novelle zu erweitern, argumentierte, dass deren Überlebenschancen auf dem Markt bekanntlich um ein Vielfaches besser seien als diejenigen von Kurzprosa, ganz zu schweigen einmal von Lyrik. Ich habe versucht, dir eine Englische Broschur – natürlich ohne Lesebändchen – schmackhaft zu machen, für eine erste Auflage wenigstens. Vergebens. Du hättest deine Meinung wieder geändert, fuhrst du mich an, was mir eigentlich einfalle, solch profane Dinge wie marktwirtschaftliche Überlegungen in die Diskussion einzubringen. So etwas sei fehl am Platz, zumal in der Kunst. Ein guter Text – und das seist du ja, da seien wir uns hoffentlich einig – mache für sich selber Werbung, da brauche der wahre
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Kenner keine falschen Kaufanreize in Form von billigem Papier, Weichbroschur und Klebebindung. Dir sei nicht mehr danach, in aller Munde zu sein, der Mund der allermeisten Leute rieche ohnehin nach sich zersetzendem Fleisch, Buttersäure und Gefrierbrand. Nein, lieber eine Handvoll ausgewählter Münder, sagtest du, die besten reichten dir vollkommen. Allein die Vorstellung, dass kleine Grundschüler deine Sätze vor versammelter Klasse gedankenlos herunterleierten, bereite dir die allergrösste nur vorstellbare Übelkeit, die Vorstellung auch, dass sie zu Beispieltexten irgendeines Fremdsprachenlehrbuches würden, dass man dich – womöglich noch bis zur Unkenntlichkeit verzerrt – in schummrige Lichtspielhäuser brächte oder dich in irgendwelchen bunt bedruckten, gar am Kiosk erhältlichen Zeitschriften durch den Kakao zöge, während deine Essenz unverstanden bliebe, deine Sprache kaum gewürdigt würde. Deshalb auch kein Roman, keine Novelle. Nicht langatmig und abschweifend, sondern leicht, anmutig, raffiniert wolltest du sein, sprachlich anspruchsvoll, dich auf das Wesentliche beschränkend. In einen wahren Rausch hast du dich in deiner Empörung geredet, hast mir mit deinem Sermon keine Ruhe gelassen, sodass es mir unmöglich war, mich wieder über das Türblatt zu beugen und weiterzuschreiben, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als mir eine Zigarette nach der anderen anzuzünden und darauf zu warten, dass du dich wieder beruhigen würdest. gestern abend noch warst du fest entschlossen, mich endgültig zu verlassen. Und nun kurz vor zwölf Uhr nachts Mitternacht da dein endgültiger, Abschied bevorsteht da der Abgabetermin unwiederbringlich, zu verstreichen droht sitzt dir auf einmal, die Angst in den Gliedern. Obwohl ich es war, der dich vor diesem Schritt gewarnt hatte, der dir sagte, dass es würfe machen und dich an diesen unordentlichen Schreibtisch, in dieses verrauchte Hinterhofzimmer zurückwünschen wirst, obwohl ich nur das Beste für dich wollte, flehst du mich – gerade mich – an, dich doch bitte noch ein wenig zurückzubehalten. Ja, jetzt kommst du auf Knien, jetzt, da dir endlich bewusst geworden ist, dass du gestern Abend meine Zeit verschwendet hast, als du mir in allen Einzelheiten die Gründe und Argumente dafür darlegtest, weshalb ich dich endlich gehen lassen sollte, jetzt, da du weisst, dass es dir an allen Ecken und Enden fehlt, dass ich dich nicht einmal zu Ende fertig schreiben konnte, mir keine Zeit geblieben war, deinen Text Sätze nochmals durchzulesen, sodass die Kommasetzung hie und da etwas gelitten hat, dass ab und an die Entscheidung für das eine oder andere Wort noch nicht gefallen ist. Doch jetzt ist es zu spät. deinen Einwand, der Text befinde sich stellenweise doch allzu nah an seiner literarischen Vorlage, deine Furcht, dass jeder Kritiker, der sich auch nur halbwegs mit seinem Metier auskenne, dich augenblicklich als Plagiat erkennen werde, kann ich leider nicht mehr beherzigen. Möglich, dass man dich deswegen verunglimpfen wird, dass man dir ausserdem das fehlende Ende, das Ausbleiben einer pointierten Auflösung unseres Konfliktes ankreiden wird, die misslungene Spannungskurve auch. Vielleicht wirst du es nur noch in Schulzimmern, in jenen, die du doch so verabscheust, zu einer gewissen Bekanntheit bringen, als Vorlage eines fehlerdurchsetzten Textes, der massenhaft photokopiert für Rechtschreibeübungen benutzt wird. Ja, all das ist wahrscheinlich, doch daran hätte man früher denken müssen. Die einzige Hoffnung liegt jetzt in der G KONSTANTIN DUVALIER
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Literatur
– einmal veröffentlicht – kein Zurück mehr geben wird, der dir prophezeite, dass du dir Vor-
Zum Geleit zum Geleit
Text-Figur das Lesen selber übernehmen und sich so ge-
Ein guter Text – da sind wir uns hoffentlich einig. Er ist
genseitig bestätigen und beschützen. Und PR machen
ein Entwurf, und als solcher (be)schreibt er unermüdlich
sie dabei gleich selber. Sollen die Kritiker sich im Geleit-
und bewunderlich sein Entstehen. Auch dort noch, wo
zug hinten anschliessen und mit ihren Worten die Bestä-
die Autorin/der Autor «bleierne Müdigkeit» reklamiert,
tigung bestätigen – delirierend, wenn ihnen das gefällt.
solche kritische Wegelagerei sehr erfolgreich durch einen Selbstschutz. Ein «guter Text» – wird behauptet – braucht gar keine Kritik, weil Autoren-Figur und
Lesen und Schreiben wirken hier also wie ein Be-
leit ist so etwas wie ein Schattenentwurf. Das heisst: Der
schatten. Text, Autor und Kritiker lassen sich nicht aus
Text entwirft sich als Schatten seiner selbst, wie die Kri-
den Augen, lesen und überwachen sich unablässlich, fol-
tik Zum Geleit zum Geleit – selber ein Schatten des Schat-
gen sich auf dem Fuss wie Schatten und Körper. «das
tens ist. Und weil Schatten eigentlich keine Schatten
fleisch wird durch der hende auflegung beschattet, das
werfen, muss die Kritik um ihre eigene Kontur kämp-
die seele im geist erleuchtet werde», zitiert Grimms Wör-
fen und fürchten, dass sie als sekundäres Phänomen le-
terbuch Luther unter dem Stichwort «Beschatten» (I:
diglich die Bewegung des Texts, seine Selbstreflexivität
1547). Zitiert oder auch behändigt wird Luthers Bild hier
nachahmt. Gleich zu Beginn hat sie sich einen seiner Ge-
für eine alte Vorstellung des Schreibens, wo die schrei-
danken angeeignet als ein verstohlenes Zitat: «Ein guter
bende Hand die Seele berührt, wo ihr Schatten auf dem
Text – da sind wir uns hoffentlich einig» ist ein Schlag-
Körper des Papiers jenen dunkleren Grund bereitet, aus
schatten des folgenden Satzes: «Ein guter Text – und das
dem der höhere Sinn der Buchstaben umso heller leuch-
seist du ja, da seien wir uns hoffentlich einig – mache
te. Der Dualismus von Fleisch und Seele, von dunklerem
für sich selber Werbung». Das bestätigt bloss, was der
Schatten und hellerem Geist, bedient eine beruhigende
Text vorwegnimmt: «dass jeder Kritiker, der sich auch
Vorstellung, in der das Schreiben – im Handauflegen, in
nur halbwegs mit seinem Metier auskenne, dich augen-
den Zeichen und Texten – etwas anderes meint, als es
blicklich als Plagiat erkennen werde». Der plagiarius war
selbst ist, und wo sich die Bedeutung von Zeichen erst
in der römischen Welt ein Menschenhändler, der Skla-
in der Interpretation erschliesst. Sinn erscheint so als
ven anderer Besitzer raubte oder freigekaufte Sklaven
etwas Meta-Physisches oder Transzendentes, das gleich-
widerrechtlich für sich arbeiten liess, als sei ihre Leis-
sam aufersteht aus der Materialität und Körperlichkeit
tung sein eigenstes Eigentum. So bezieht sich der Plagi-
der Schrift.
atsvorwurf auch auf dieses Geleit der Kritik, die die Fin-
Ganz anders verfährt Zum Geleit. Das ist auf den ers-
ten des Texts nicht nur wiederholt unkritisch wiederholt,
ten Blick beunruhigend, auf den zweiten faszinierend.
sondern sich sogar an diesem vergreift.
Die Selbstreferentialität des Texts ist total und totali-
Und mehr noch: Der Begriff des «Geleits» ist eine
tär. Als Entwurf seines Selbst schliesst er alles aus, was
mittelalterliche Idee. Das ius conductus war ein Schutz-
von aussen kommt und was nicht Teil jener Urszene im
recht, das Reisende und ihre Waren durch bewaffnete
Schreiblokal war. Wer sich nicht über das Türblatt ge-
Begleitung oder auch durch Briefgeleit oder Abzeichen-
beugt hat, auf dem der Text hingestreckt lag, hat hier we-
geleit vor Beraubung oder gegen Überfälle schützen soll-
nig beizufügen. Seine Genese lässt sich nicht mit dem
te (Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte HRG
Bild der doppelnden «hende» aus dem Luther-Text illus-
II: 37). Dafür hatte man meist Geld zu bezahlen, und in
trieren, die aus Schatten Licht machen, sondern eher mit
diesem Sinn war das Geleit so etwas wie eine Versiche-
jenem Paar von Händen in M. C. Eschers Grafik Tekenen/
rungsprämie gegen die Gefahr von Wegelagerern. Beur-
The Drawing Hands (www.mcescher.nl/galerij/meest-po-
teilt man dies mit Blick auf die Literaturkritik als Geleit
pulair). Dort sieht man eine Hand, die eine Hand zeich-
dichterisch wertvoller Texte, muss man allerdings fest-
net, die selbst wiederum diese sie zeichnende Hand zu
stellen, dass die Moderne generell und auch die Redakti-
Papier bringt. Ein zirkulär angeordneter Händedruck.
on von delirium aggressive Angriffe auf Autoren in ihrem
Douglas R. Hofstadter hat in Gödel, Escher, Bach – ein
Hoheitsgebiet nicht wirklich unterbinden, sondern zum
Endloses Geflochtenes Band (1979; dt. 1985) dieses Bild ei-
Teil sogar orchestrieren. Die Idee eines Ehrengeleits ist
nes Sich-Selbst-Hervorbringens bzw. einer Autopoie-
da wohl eher die Ausnahme, ein Totengeleit wird zumin-
sis als Exempel der strange loops präsentiert. «Seltsame
dest in Kauf genommen. Zum Geleit wappnet sich gegen
Schleifen» (ent)täuschen gewohnte Perspektiven und
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Kritik
kritzelt der Bleistift an seiner finalen Gestalt. Zum Ge-
Kritik
erwartete Hierarchien. Im Fall von Eschers Grafik und
metaphorisiert. Wie auch immer: Der Text erscheint in
Duvaliers Text besteht dieser in jedem Sinn verrück-
dieser Nacht als ein irgendwie infantiles Wesen, das kei-
te Blick darin, dass Autor und Text bzw. Künstler und
ne eigene Sprache hat (lateinisch infantia geht zurück auf
Kunstwerk gleichzeitig und auf derselben Ebene der Per-
fari: sprechen). Der Autor/die Autorin spricht durchwegs
zeption entstehen. Die temporale Unterscheidung zwi-
für den Text in indirekter, berichtender Rede, erzählt
schen Machen und Gemachtem wird aufgehoben und
von den Stimmungsschwankungen des Texts, der zuerst
die Vorstellung, dass der Schöpfer Macht habe über sei-
träumt von seiner Berühmtheit – als Buch eingekleidet
ne Kreation, wird erschüttert.
in Leinen, ausgestellt in den Schaufenstern bedeutender
Wem das unklar ist, sollte zum Geleit Frankenstein le-
Buchhandlungen Europas, als Lesetext im Mund aller
sen als Roman, der diese Erschütterung für die Moder-
Welt – und der dann doch von seinem Höhenflug wie-
ne erfunden hat. Erschüttert wird dadurch auch unsere
der einbricht und Angst hat vor all dieser öffentlichen
Sicht auf das Selbst und den Schatten des Anderen. Zum
Exposition: «Ja, jetzt kommst du auf Knien», heisst es.
Geleit präsentiert seinen Text als Entwurf eines Mons-
Die Autorenstimme gibt also vor, was der Text sagt und
ters, das unschuldig, aber ambitiös sein Leben und Fort-
wie er sich fühlt.
Leben artikuliert als verständlichen Wunsch, sich selbst
Und doch: Und doch gibt es diese auktoriale Fi-
zu finden. Die Autoren-Figur aber – das wird beim Le-
gur nur durch den Text, den wir lesen. Das heisst: Die
sen klar – setzt alles daran, diese Selbstfindung zu ver-
Autoren-Figur existiert gar nicht ausserhalb des Texts,
hindern, indem sie der Sehnsucht der Text-Figur, weg-
den sie so souverän zu kontrollieren und vorzuschrei-
zugehen und sich loszulösen, ihre auktoriale Stimme
ben meint. Sie ist dem Text lediglich zugegeben als ein
aufdrängt. Grossartig, wie eng sich Text und Texter ver-
Konstrukt – zum Geleit. Konstantin Duvalier («wir gehen
schlingen, sowohl amourös als auch gefrässig. «Gestern
stark davon aus, dass es sich um ein Pseudonym han-
Abend noch warst du fest entschlossen, mich endgültig
delt», schreibt mir die Redaktion) ist als anonyme Au-
zu verlassen», heisst es am Anfang. OK, denkt man da
tor-Figur eine Doppelgängerin der Text-Figur. Wie das
als Kritiker. Da geht es um Trennung und Emanzipati-
Monster ohne Namen in Frankenstein ein Doppelgänger
on. Und dann liest man: «In der Hoffnung, unter diesen
seines Erschaffers Victor Frankenstein ist und wie es
Umständen liessen sich deine Wünsche vielleicht eher
dort Identität nur erlangt durch die gebrochene Stimme
durchsetzen, hast du dir die Nachwehen einer durch-
anderer. In diesem Sinn ist die Sich-Selbst-Hervorbrin-
zechten Nacht zunutze gemacht.» Es geht hier um die
gung des Texts in und durch die auktoriale Stimme der
Wehen einer Geburt, und Konstantin Duvalier, wie sich
Autoren-Figur kein Text des Selbst, sondern ein Text des
der Vater, die Mutter nennt, ist nicht der erste männliche
Anderen – zu seinem Geleit.
Autor oder die erste weibliche Autorin, der oder die das
FRITZ GUTBRODT
Schreiben als Inspiration mit anschliessender Geburt
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SAMUEL PRENNER
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LITERATUR
… Die B ilder an der Wan liessen d sich in k eine Rei bringen. henfolge Manche Gest alt e waren b n eschrieb en. So sah Joh n Odyss eus umr Frauen i ingt von n einem Bordell, wohl er obsich nic ht erklär konnt e, en welche S zene aus Odyssee der dargest ellt wurd gab es s e. Auch onst kei ne Bilde Auf schl r, die uss geb en konn Keine B t en. ezüge, k eine Lin Nur Hol e ar i t ä t e zfiguren n. . G r ausige Gesicht er. Sie s t anden g weit von ef ährlich der Wan d ab. Ke hät t e ein iner er Schu lklasse e darin zu rlaubt, lernen … KRITIK
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SOFIE GOLLOB 12
Die Kolumne «Also, die Kolumne empfand ich als überaus gelungen. Sie erzählt von einer sehr denkwürdigen Lesung eines meiner älteren Protegés, welche ich vor einiger Zeit zu besuchen das Vergnügen hatte. Das Skandalon des Abends, welches auch der Inhalt meiner formvollendeten Kolumne ist, bildete die Unverschämtheit eines Subjekts. Ich erkannte sofort: Das war ein gefährliches Mensch. Sardonisch lächelte es, als es sich geifernd über das Lesepult meines Autors kauerte. Ich habe ihn in der Kolumne absichtlich «ein gefährliches Mensch» genannt. Ein Menschchen, welches auf Buchseiten geifert, vor dem schreckt man nicht bloss zurück, nein, man verachtet es. Speichelfluss gehört kontrolliert! Aber wie ging das zu? Ein Wilder auf dem Lesepult meines guten Freundes? Das konnte ich nicht zulassen. Geistesgegenwärtig sprang ich auf, riss den Geiferer mit weiten, umfassenden Armen und meinem ganzen Gewicht vom Tisch und landete hart auf ihm. Vielleicht hat er sich eine Rippe gebrochen. Der Saal applaudierte mir nach meiner Heldentat; fast mehr Applaus, als ihn mein alter Protegé erhielt. Die Kolumne war brillant. Es war nicht bloss ein starres Bild für den Kritiker, es war eine Simulation der Kritik. Ich blätterte wahllos in einem Magazin und leckte einen meiner salzig-schweissigen Finger – zittrig, wie immer nachdem ich etwas Herausragendes geschrieben hatte. Eine wohlige Nervosität, die sich bereits während des Schreibens breit gemacht hatte wie ein dicker Mann in einem Flugzeugsitz. Die Kolumne brauchte ich nicht noch mal durchzulesen, sie war ein Geniestreich. Bereits war die Mail rausgegangen. Morgen würden mir alle meine Redaktions Literatur
kollegen gratulieren. Die Nervosität potenzierte sich, wenn ich an meine Kollegen dachte, wie sie mir morgen den Bauch pinseln würden. «Ein Meisterwerk!» «Was würden wir nur ohne dich machen.» Ich konnte es förmlich spüren, es regte sich. Ich wurde etwas geil. Ich strich mir kurz über die obere Hälfte meines Bauches, der durch die Schreibtischkante in zwei Hügel geteilt wurde. Mein Hemd spannte sich, die Knöpfe sprangen beinahe aus ihren Löchern… Die Stimme von Ruth war prägnant zu hören, sie telefonierte mit Beatrice Stoll und sagte: -Es wird ihr doch wohl etwas einfallen – gelegentlich. Das brachte mich wieder runter. In meinem Arbeitszimmer zu masturbieren, hätte mich in eine ganz zwiespältige Situation gebracht. Solcherlei Narretei vermieden, dankte ich Ruth für ihre helle Stimme, die jeweils, die letzte Silbe jedes zweiten Satzes sich an Höhe überwerfend, die bösesten Vergleiche zulässt. Man müsste ihr zuhören, es wird einem mehr als bloss schwindelig. Jedoch die trügerische Kunst der fantasievollen Wendungen und Vergleiche ist nicht die meine. Ach, wenn den Menschen nur klar würde, dass bloss weil sie es wagten, zwischen den Worten, den Jahren und nasse Wollfäden das Wörtchen wie zu setzen, dies noch lange keinen vernünftigen Literaten aus ihnen machte, da wäre unsereinem schon geholfen und so manche Zeit gespart. Gerade erst hat einer dieser Schreiberlinge, der Hoffnungen hegte, sich meine umfassenden Beziehungen in die Verlage des Landes zunutze machen zu können, mir einen Text zukommen lassen. In diesem Text waren fantasievoll ausgedrückte Vergleiche Programm. Er handelt von dem Tod der Mutter des Protagonisten und Ich-Erzählers und dank meines Feingespürs für Texte erkannte ich sofort, dass der Autor hier den Tod seiner Mutter behandelte und sich darob einbildete, ich würde meine Kritik ihm und seiner elenden Vergleichssucht gnädig anstimmen, da kein Mensch so herzlos sein würde, einem Halbwaisen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Aber ein wahrer Kritiker bleibt nicht solch Mitleid verhaftet: Ich schrieb ihm, dass seine tote Mutter [ich setzte das «tote» in Klammern, damit er meine Spitzfindigkeit bewundern konnte] es bestimmt nicht wollte, dass ein so bedeutender und viel geschäftiger Mann wie ich, einen solchen Text über sie und ihren tragischen Unfall zu lesen
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bekam. Nicht meiner Zeit und meinetwegen, sondern ihres Gedenkens und ihretwegen. Er konnte froh sein, überhaupt eine Mail von mir zu erhalten. Vor ein paar Monaten hatte ein Kollege einer deutschen Zeitung mich – in keinster Weise spöttisch – den Literaturkaiser genannt. Das trifft zu und schmeichelte mir. Ohnehin kennt man mich, in den meisten Feuilletons bin ich eine beinahe monatlich auftretende Referenz. Es gab mir das unglaublich befriedigende Bewusstsein, dass mein Tod eine grössere Menge Nachrufe in der deutschsprachigen Presse nach sich ziehen würde. Alleine die Vorstellung der Tatsache (tausende von Seiten gefüllt mit den Lobpreisungen der fähigsten Schreiber unserer Zeit) hatte mir die Kraft gegeben, mich den noch so verkrüppelten Texten anzunehmen und ihnen ihr gerechtes Urteil zukommen zu lassen. Manchmal sagt mir der neidische Teil meiner Kollegen, ich sei zu streng: Ich würde immer gleich das ganze Werk lobpreisen oder verdammen, so als würde ich gar nicht differenzieren zwischen den einzelnen Aspekten. Ja, es stimmt, ich unterscheide nicht. Kein Relativsatzrelativieren, kein Zitieren, kein elendes «Seine Form ist klar und rein»-Gesülze – Ich streichle. Ich liebe Literatur viel zu sehr, um sie zu zitieren. Ich glaube, das ist von Benjamin… Die Tür fiel ins Schloss, Ruth hatte das Haus verlassen. Vielleicht hätte sie sich verabschiedet. Aber sie dachte, ich sei noch in meinem Büro in der Redaktion. Ja, ich hatte mich ins Haus geschlichen. Unser Haus hat zwei, drei Haustüren, genug, um sich unbemerkt reinzuschleichen, und wenn das nicht klappt, steht manchmal auch eines der vielen Fenster offen. Es ist ein kleines und seltsames Vergnügen, das ich mir gönne: Während meine Familie sich allein glaubt, sitze ich direkt im anliegenden Raum und arbeitet. Es geht dann immer am besdie Unvollendete, weil er sich sicher ist, niemanden zu stören. Meine besten Artikel schrieb ich dann, wenn alle glaubten, ich sei nicht da und stolz blickte ich auf meine Kolumne. Gott, war sie gut. Allein schon das erste Wort liess meinen Mund trocken werden. Ruth kommt in dieser Nacht nicht mehr nach Hause, [ … ] sie ist geschäftig. Ich würde noch eine Kritik schreiben müssen für die Ausgabe von übermorgen. Ein Debüt eines jungen Autoren, kaum 26 Jahre alt und hat ein Buch geschrieben, über einen lügenden Akademiker. Meine Kritik würde wohlwollend werden: Er würde es mir danken, denn man weiss, das, was der Literaturkaiser nobilitiert, das wird gekauft. Und es wird in anderen Feuilletons gelobt. Ich stellte mir vor wie mir der junge Autor in vielen Jahren einen Nekrolog voller Dank schreiben würde: «Er ermöglichte meinen Erfolg und meine produktivsten Jahre, meinen Nobelpreis widmete ich ihm und ich lege ihm die Medaille als Beigabe mit ins Grab, denn hätte er sich nicht der Kritik verschrieben, sondern hätte sein Weg auf andere Weise in die Literatur gemündet, die verehrte Jury hätte keine andere Möglichkeit gehabt, als ihm den Nobelpreis zu überreichen.» An der Tür klingelte es, wahrscheinlich war es Alex. Vielleicht prüfte er bloss, ob jemand zu Hause war. Ich wartete eine Weile, nicht genau wissend, ob ich ihm die Tür öffnen sollte oder ob ich lieber inkognito bleiben sollte. Die Antwort gab mir das Geräusch der sich öffnenden Haustür. Eine Frau kicherte oder hustete, dann wurde es stiller. Ich war bereit zu hören, wie sie flüsterte. Wahrscheinlich war es Mia, seine Freundin. Er redete sehr leise und machte kurze Pausen, in denen niemand etwas sagte. Kurz glaubte ich, er hätte mich gerufen und ich unterdrückte die Worte «Ja, Sohn?». Stattdessen stockte ich den Atem und hörte. Mir schien, er rief noch mal und noch ein drittes Mal und dieses Mal rief er laut «Papa» durch die Wohnung, nicht wie üblich meinen Taufnamen. Ich hatte ihn überzeugt, allein zu sein. Er begann wieder von Pausen unterbrochen zu flüstern, so als würde er einen Dialog führen, aber ich hörte Mia nicht antworten. Das verunsicherte mich etwas. Ohnehin hörte ich nichts von ihr. Höchstens vielleicht ein Rascheln, manchmal ein Räuspern, aber sie sagte nichts. Alex wusste, dass Ruth die Nacht nicht
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Literatur
ten, wenn ich sie leben höre. Es klimpert in der Küche, wenn Alex abwäscht, oder er hört laut
zurückkehrte, er hatte sein Mädchen mit dabei, ich hatte genug gelesen, um solche Situationen zu verstehen. Aber es war mir gleich. Mir ging es nicht darum, ihn bei solchen Sachen zu stören oder gar ihn zu ertappen. Ja, ich spürte sogar grossen Stolz auf meinen Sohn, als ich das Bett knarzen hörte. Noch einmal kam mir grosse Lust, etwas zu schreiben, doch hatte ich nicht mehr die Musse für eine Kritik des jungen Autors. Ich entschied mich, kurzerhand eine von meinen beruflichen Qualitätsansprüchen entbundene Geschichte zu beginnen: «Die gargantueske Mikrowelle Universum machte laut ‹Bling›. Man weiss, es ist angerichtet», zitierte Corinna aus der zweitvordersten Reihe. Der Lehrer sagte: «Ausgezeichnet.» Der Raum füllte sich bei jedem Wort mit mehr Kohlendioxid. John versuchte zu glauben sein Zwerchfell würde sich auf seinen Befehl zusammenziehen und wieder entspannen. Er nannte das Atmungsdiktatur. Corinna redete weiter. Er sah ihre blonden Haare zum Takt ihrer Abfallprodukte schwanken. Die Wände des Klassenzimmers, fensterlos, waren hölzern mit Schnitzereien bestückt. John meinte, dass sie eine Geschichte erzählten, ähnlich wie die Comics der Prozession, die er in manchen Kirchen lesen konnte. (Kurz nur hörte ich Mia schreien, dann dämpfte sie sich.) Die Bilder an der Wand liessen sich in keine Reihenfolge bringen. Manche Gestalten waren beschrieben. So sah John Odysseus umringt von Frauen in einem Bordell, obwohl er sich nicht erklären konnte, welche Szene aus der Odyssee dargestellt wurde. Auch gab es sonst keine Bilder, die Aufschluss geben konnten. Keine Bezüge, keine Linearitäten. Nur Holzfiguren. Grausige Gesichter. Sie standen gefährlich weit von der Wand ab. Keiner hätte einer Kämpfer geführt: An der hatte sich Mersat letzthin die Handinnenfläche durchbohrt, nachdem er versucht hatte Georg zu schlagen, dieser jedoch geschickt auswich. Mersat starrte zuerst ungläubig auf seine triefende Hand, rüttelte ein, zweimal daran herum, dann schrie er. Dabei musste John unentwegt daran denken wie er Postkarten von weit entfernten Orten an das Korkbrett in seinem Zimmer pinnte. Georg aber begann Mersat auszulachen und er hielt ihm spöttisch die andere Wange hin. John konnte den immensen Wunsch in Mersats Heulen hören, Georgs Augen aus seinem Kopf zu drücken. Es war ein Wille, wie ihn bloss ein hassendes und hilfloses Kind haben konnte. Erst der Lehrer entschärfte die Situation. Wieso sich die beiden damals gestritten hatten, war nicht mehr festzustellen. Es musste um Spielzeug gehen. Jetzt meldete sich Mersat: «Die getrocknete Augenbutter schmeckt nach Meer.» «Richtig», sagte der Lehrer Mühlbern. Corinna notierte sich etwas. «Was noch?» fragte der Lehrer. Mersat meldete sich nochmals: «Die Nasenhaare schlugen kleine Salti und feierten das Kommen des Phlegmas» «Ja, von mir aus.» Corinna schrieb noch mehr. -Was war die Frage des Lehrers? Stupste Georg John mit einem Bleistift an. John zuckte mit den Schultern. -Hast du das Buch gelesen? Fragte Georg. -Pst, sonst weist man dich aus dem Schulzimmer. -Egal, noch zwei Minuten und die Stunde ist um. In der Zeit, in der ich durch die Tür gehe, ist die Stunde um. Hast du’s jetzt gelesen? -Ja. - Stehen da wirklich solche Sätze drin. -Du hast die schlimmsten noch nicht gehört. Das ganze Buch ist eine Pest. Es klingelte – Pause. -Hast du den Namen des Autoren gesehen? -Mausel Gruber?, antwortete John. -Ja, seltsamer Name, sicher ein Pseudonym. - Glaub ich auch.
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Literatur
Schulklasse erlaubt, darin zu lernen. Besonders die eine Lanze, von irgendeinem strammen
An dieser Stelle des Dialogs brach ich hastig ab. Es führte zu nichts. Ich las noch mal mich stärkend meine perfekte Kolumne, dann stellte ich mir vor, durstig zu sein. Leise öffnete ich die Tür und trat auf Zehenspitzen in den dunklen Gang. Aus dem Zimmer meines Sohnes war nichts Lautes zu hören, obwohl die Tür einen beachtlichen Spalt offen stand. Aus Zufall oder Missgeschick fiel mein Blick in das Zimmer. Die Strassenlampe von draussen färbte die Haut Orange. Mia lag begraben unter Alex alle Viere von sich gestreckt in seinem Bett. Alex aber bewegte sich kaum. Nur sein Kopf schien zu nicken, als wäre er übereifriger Hörer eines Monologs, in welchem nur wichtige und richtige Dinge gesagt werden. Seine Hände umfassten Mias Kopf oder (ich kniff die Augen etwas zusammen) sie fassten etwas an Mias Kopf. Nun hörte ich doch ein Geräusch von Mia, es musste ein lustvolles gewesen sein, wenn es nicht so unterdrückt klang … Mein Sohn drehte etwas den Kopf, Licht fiel auf seine Fingerspitzen, welche Mias Lid aufzwangen. Seine Zunge bleckte hervor und strich über das starre Auge.»
Literatur
SAMUEL PRENNER
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Randnotizen
vor der bösartigen Weltmaschine (delirium N°04) graut, nur
Da spricht mich dieser Mann aus dem Text heraus an,
dass meine die Welt der Literatur ist. Ich muss mir mei-
und Kritikerin, geschlossen – als sei ich Georg, dem es
als sässen wir in seinem Arbeitszimmer bei einem ver-
nen Sprach-Raum suchen und finde ihn in den vielen
trauten Gespräch. Mit dem Anführungszeichen ist ein
Zwischenräumen, den Absätzen, die den Text als regel-
Zeichen gesetzt, das programmatisch auf Mündlichkeit
mässige Atempausen – zwischen dem Monolog des Li-
verweist. Ich steige ein in den Text und verpasse den
teraturkaisers und den intertextuellen Bezügen – visuell
Einstieg mit dem Einstieg. Das Adverb also erscheint
strukturieren.
als Résumé von bereits Gesagtem, wobei bald deutlich
Von den Rändern her betrachtet es sich jedoch gut,
wird, dass es sich um ein Résumé von bereits Geschrie-
ich sehe die Fantasie spielen, die keinem konkreten Sub-
benem handelt. Der Text führt einen Dialog, indem er
jekt zugeordnet werden kann; ich weiss nicht, wem die
alle möglichen «nassen Wollfäden», vollgesogen mit in-
Unverschämtheit der Gedanken zuzuschreiben ist, da
tertextueller Bedeutung, zu einer subtilen Kritik an vor-
so viele Autoren hier mitgeschrieben haben. Die eigens
angehenden Texten verwebt. So ist z.B. das «gefährliche
verworfene «trügerische Kunst der fantasievollen Wen-
Mensch» ein Verweis auf den Text von Manuel Müller in
dungen» – verstanden als Wort- und als Gedanken-Wen-
der ersten Ausgabe von delirium. Es erscheint aber auch
dung – ist insbesondere in der Binnengeschichte, die
als Kritik an grimmig-höhnischen Kritiken, vor denen
der Literaturkaiser explizit den Qualitätsansprüchen
allfällige Autoren zu schützen sind, und zugleich als Kri-
der Literaturkritik entzieht, in einer auffallenden Dichte
tik an der Kritik von solchen Kritiken: «Speichelfluss ge-
umgesetzt. Auf absurde Weise verbinden sich hier Sät-
hört kontrolliert!»
ze und Gedanken zu einem stilistisch und gleichzeitig
Die Ebenen zwischen dem fiktiven, dem textuell kon-
inhaltlichen stream of consciousness ohne konkretes Bewusstsein:
mischen sich zunehmend. Der Text ist literarisch umgesetzt als «Simulation einer Kritik» und ist gleichzeitig
«Die Bilder an der Wand liessen sich in keine
echte Kritik an den vorangegangenen literarischen Tex-
Reihenfolge bringen. Manche Gestalten
ten und am – im delirium geäusserten – Selbstverständ-
waren beschrieben. So sah John Odysseus umringt
nis von Literaturkritik. Doch nicht genug an literarisch-
von Frauen in einem Bordell, obwohl er
intertextuellen Bezügen: Mit Beatrice Stoll hebt Samuel
sich nicht erklären konnte, welche Szene aus der
Prenner einen Namen in die Welt der Literatur, der dar-
Odyssee dargestellt wurde. Auch gab es sonst
in bereits seinen Platz hat – Stoll war langjährige Leite-
keine Bilder, die Aufschluss geben konnten.
rin des Zürcher Literaturhauses.
Keine Bezüge, keine Linearitäten. Nur Holzfiguren.
Spätestens mit der rhetorischen Frage «[W]ie ging
Grausige Gesichter. Sie standen gefährlich weit
das zu?», die eigentlich von mir als Leserin gestellt wer-
von der Wand ab. Keiner hätte einer Schulklasse
den sollte, um nachzufragen, was in dieser scheinbar
erlaubt, darin zu lernen.»
so «gelungenen Kolumne» denn drinsteht und was an der «denkwürdigen Lesung» wirklich passiert ist, offen-
Schön ist es, der Performanz (ein leider allzu oft ver-
bart sich, dass der monologisierende Ich-Erzähler kei-
wendeter Begriff in der Zürcher Literaturwissenschaft)
neswegs vorhat, mich am Gespräch teilhaben zu lassen.
auf so vielen Ebenen zu begegnen. Ein weiteres Beispiel
Indem er mir das Wissen um den Hintergrund seines
dafür sind die «‹toten› Klammern», die sich wie Sargde-
Monologs vorenthält, macht es mir der «Literaturkaiser»
ckel um sich selber legen und die Andacht – im Sinne
unmöglich, eine bessere Kritik bzw. überhaupt eine Kri-
der angedachten Texte – religiös aufladen: Es wird der-
tik zu schreiben – über einen Text, den man nicht gele-
jenigen Texte im delirium, welche die ‹gute› Literatur zu
sen hat, lässt sich weder etwas sagen, noch urteilen.
Grabe getragen haben, seien es literarische Texte oder
Vom Ich-Erzähler einerseits zur Zuhörerin objek-
Kritiken, angemessen gedacht. Um der Andacht Willen
tiviert und gleichzeitig der Möglichkeit entzogen, eine
bleiben sie unbenannt; an diesem Punkt erscheint es un-
‹bessere› Kritik zu schreiben, bin ich an den Rand ge-
angebracht, konkrete Kritik zu üben.
drängt, bevor ich überhaupt zu Wort kommen konnte.
Mit dem letzten Abschnitt der Erzählung, in dem der
Es scheint, als hätten die Intertextualität und der Ich-
Dialog «hastig abgebrochen» wird, bestätigt sich dieser
Erzähler zusammen einen Pakt gegen mich, die Leserin
Eindruck und besonders der Schlusssatz: «Seine Zunge
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Kritik
zipierten und dem realen bzw. den realen Kritikern ver-
bleckte hervor und strich über das starre Auge», der wiederum mit einem Anführungszeichen geschlossen wird, evoziert eine morbide Stimmung. Als Leserin frage ich mich unweigerlich, ob diese Mia eigentlich noch lebt oder ob sie vom Monolog, in dem «nur wichtige und richtige Dinge gesagt werden», bereits erschlagen bzw. «begraben» ist. Dass der Schlusssatz mit einem Anführungszeichen geschlossen wird, verweist wiederum auf den Anfang des Textes. Indem der Ich-Erzähler mich in der direkten Rede anspricht, wird der Monolog auf eine persönliche Ebene gehoben. Es öffnet sich ein privater Raum, der sich im Verlauf der Erzählung als Arbeitszimmer des Literaturkaisers herausbildet. Kurz vor dem Höhepunkt, fast hätte man dem Literaturkaiser beim geifernden Masturbieren zuhören können, wird jedoch mit einer chauvinistischen Bemerkung abgebrochen – die Frauenstimme tritt in diesem Text entweder als störendes Element im Zwischenraum oder als Stille in «kurzen Pausen» auf. Als Kritikerin und Leserin bereits in diesen Raum gedrängt, scheint es, als müsse ich diesen auch
Kritik
als Frau mit einer Stimme füllen (was ein wenig nervt). Zugleich haben sich kleine, in erster Linie formale Ungereimtheiten und syntaktische Unreinheiten eingeschlichen, die den starken literarischen Stilelementen ein wenig den Glanz nehmen. Warum die Geschichte z.B. rückblickend erzählt wird, ist nicht nachvollziehbar. Auch der Konjunktiv hätte meiner Meinung nach sparsamer verwendet werden dürfen, um den Text schlank zu halten. Die Lektüre hinkt bei solchen Dingen etwas, ohne dass der Text daran scheitert; was ernst gemeint ist, da hier keineswegs nur Streicheleinheiten ausgetauscht werden sollen. SOFIE GOLLOB
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MARIANNA LANZ
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LITERATUR
…haben keine ahnung… KRITIK
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SIMON JACOBY 20
käpt’n der käpt’n hängt in der kajüte und kotzt der kahn schlingert wir fliegen backbord fischen plastik aus dem netz haben keine ahnung von knoten und tau und müssen eine
Literatur
insel finden
21
meer meer aus beinen brüsten lippen meer aus algen plastik kippen meer aus schirmen stühlen wippen meer wolken himmeln land meer aus wellen sonnen sand meer MARIANNA LANZ
22
Literatur
aus
Der falsche Kapitän und das falsche Meer
Jahrhundert? «… der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.» Wenn der Käpt’n nach unten tritt, weichen wir aus und bauen unseren eigenen Kahn. Wenn dann einer in der Kajüte hängt und kotzt, ist das auch egal.
Die technische Analyse ist schnell gemacht: 2 Gedichte,
Das Meer
59 Worte, 48 Zeilen, 342 Zeichen – die Themen: der Ka-
Das Meer: flach, weit, fast unendlich, sehnsüchtig, un-
pitän und das Meer.
zähmbar, nass – der Himmel auf Erden? Das grosse Wasser ist da, es war schon immer da – schon vor den Men-
Der Käpt’n
schen, schon vor dem Leben. Nicht selten wird die Erde
Der Boss auf dem Schiff, der Lebensbewahrer in stür-
nach ihm benannt, obwohl wir es noch nicht zivilisiert
mischen Zeiten. Bärtig, knorrig, rau, stark, wortkarg,
haben: der blaue Planet.
braun gefurchte Haut, technisch versiert. Als Vermittler
Das Meer im Gedicht allerdings besteht aus vielem.
zwischen Schiff und der Natur steht er oben an Deck,
Nur nicht aus Wasser. Dafür aus allem, was sich am Meer
schaut durch das Fernglas, schaut auf den Kompass –
tummelt. Brüste, Lippen, Plastik, Schirme, Sand und so
die Mannschaft fest im Griff. Das Schiff gehorcht ihm,
weiter. Das Meer neben dem Meer sozusagen. Eigentlich
die Crew auch, zusammen bahnen sie sich einen Weg
befreiend dank der Endlosigkeit, scheint das Meer eine
und bezwingen den Horizont tausende Male ohne es zu
homogene Einheit zu sein. Der Schein trügt. Je näher
merken. Ein kleines Schiff in mitten des endlosen Oze-
die Betrachterin geht, je mehr chemisches Wissen sie
ans, unbezwingbar dank eines Käpt’ns, der immer die
hat, desto eher erkennt sie: Das Meer besteht aus vielen kleinen Wassermolekülen (und einer schrecklich grossen Menge Müll).
So sollte es sein.
Weil das richtige Meer schon immer da war, nimmt es uns keinen Platz weg. Das Meer neben dem Meer –
Ist es aber nicht.
das Meer direkt am Meer, bestehend aus Beinen, Kip-
Zumindest nicht im Gedicht.
störend. Eintauchen ist schwierig, ist unangenehm, ist
pen, Stühlen hingegen schon. Es ist zu viel, zu mächtig, einengend. Da muss ziemlich was schief gelaufen sein, wenn der
Ein Meer ist offenbar nur dann schön, wenn die Ein-
Käpt’n in der Kajüte hängt und kotzt, wenn der Kahn
zelteile nicht erkannt werden können. Das Meer neben
schlingert, wenn statt Fische Plastik gefangen wird,
dem Meer. So ähnlich und doch so falsch. So nah und
wenn dringend eine Insel gefunden werden muss.
doch so fern. Gleiches ist nicht gleich.
Der Kahn ist offenbar führerlos, die unsichtbare
SIMON JACOBY
Hand der Natur übernimmt das Steuer, die unmündige Mannschaft steht rum und weiss nicht, was zu tun ist. Scheint eine aussichtslose Situation zu sein. Eine schöne Metapher, das herrenlose Schiff. Alles treibt. Irgendwie. Zufällig. Doch was ist mit den Machtstrukturen? Warum hat die Crew «keine ahnung von knoten und tau»? Die Geschichte lehrt uns eigentlich das Gegenteil: Bei einem allmächtigen Führer ist dessen Installation heikel, nicht dessen Absetzung. Normalerweise muss der Führer unterdrücken – tritt von oben nach unten, bis der Deckel doch noch gesprengt wird. Ein allmächtiger gottähnlicher Kapitän hängt in der Kajüte und kotzt. Dumm gelaufen. Das herrenlose Schiff und das Meer, eine alte Metapher. Und doch immer noch aktuell. Wie sagte Immanuel Kant im 18.
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Kritik
Kontrolle bewahrt.
ADAM SCHWARZ
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LITERATUR
r e n h o w e B r … Nu waren kaum , n e h e s u z welche r a a p n i e f bis au d n u e t h c e junge H h c s r a b z r a Schw n i e i d , n e h c burs n e p p i K e k einer Ec raucht en …
KRITIK
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SUSANNE RICHLI 25
Wie ich mich aufmachte, ein abgesägtes Körperteil wiederzufinden Es war ein Fehler, mein Bein abzusägen. Nicht etwa wegen des dumpfen Schmerzes, den mir die Säge verursachte, als sie auf meinen Femurknochen traf – das war es mir wert, wenn ich es nur endlich in den Händen halten konnte. Genau wie es die wenigen Tage wert waren, die ich, Jacques Destouches, Nachtwächter von Lausanne, mit ihm verbringen konnte, mit der schönen Rundung der Wade, der Härte der Kniescheibe und der Plätte des Fusses. Nein, ein Fehler war es bloss, weil mein Bein nach wenigen Tagen verschwand. Hatte ich es schlecht behandelt? Hatte ich es nicht jeden Morgen mit pH-neutraler Seife gewaschen und abends in den Kühlschrank gelegt? Ich will dem geschätzten Leser nicht verhehlen, dass mich das Ungemach traf, während mich das Schicksal bereits anderweitig auf die Probe stellte. Mein Beruf, von dem ich geglaubt hatte, er sei meine Berufung – nämlich von zehn Uhr abends bis zwei Uhr morgens die Zeit vom Kirchturm zu krächzen – war mir zuwider geworden. War die Welt eine bösartige Maschine, so war ich darin wohl ein zahnloses Zahnrad. Deswegen wäre ich gerne Velomechaniker geworden, dann hätte ich sie nämlich reparieren können. Weil ich während der Arbeitszeit Fahrradfachliteratur las, verpasste ich es öfters, die Zeit auszurufen. Der Tourismusverantwortliche drohte mir bereits mit der Entlassung. Ich musste über mein Leben nachdenken. Was blieb mir also übrig, ausser mich auf eine Reise zu machen, wenn auch nur eine kurze, runter zum See nämlich. Der Gang zur Metro war einbeinig etwas mühselig, aber er glückte mir schliesslich doch. Kaum hatte ich mich hingesetzt, schon sprach die Computerstimme: Ouchy, und ich humpelte zum Ufer, vorbei am Eiscremestand von Louis, der nun, Mitte Oktober, letzte Profite zu machen hoffte. Ich kaufte mir aber keines, denn mein Kalorienbedarf ist seit dem Abtrennen des Beins merklich gesunken. Ich ging zu den Schiffen hin, die tagein, tagaus ihr Netz über den See spannten, vorbei an Horden von Liebespaaren, deren Zungen sich in immer neue Verknotungen ergaben. Es tat mir nicht gut, das zu sehen, es tat mir nicht gut, zu hören, wie das Wasser stets von Neuem gegen die Mauer klatschte, es tat mir nicht gut, in dieser Stadt zu leben. Aber ich war nun einmal ihr Nachtwächter. Indessen fand ich den Ort, nach dem ich gesucht hatte, meinen happy place. Einen Abschnitt gleich neben dem Restaurant Le Lacustre. Auf den Felsbrocken, die es dort gab, konnte man sitzen, um ins Wasser zu sehen. Was genau war, was ich nun vorgab zu tun. Ich sass auf einem Steine, und dahte bein mit beine – genauer Stumpf mit Bein. Jedenfalls werden mich die Spaziergänger so gesehen haben. Ich lauschte den Gesprächsfetzen, die wie Flugblätter durch die Luft wirbelten. … in Gold machen lohnt sich heute nicht mehr … ein Ekzem, weisst du, es zieht sich über meinen ganzen Rücken … seit drei Wochen kenne ich sie erst, aber ich weiss, sie ist es … Eine heitere Versammlung unnötiger Nöte. Nichts gegenüber dem Verlust eines Beines! Hätte ich es nur im Krieg verloren, oder unter einem Mähdrescher. Die ganze Nation wäre des Mitleides voll. So aber war ich ganz allein. Ich hörte, wie jemand meinen Namen gurrte. Als ich mich umdrehte, sah ich einen kräftigen Arm, unter dessen solariumgebräunter Haut jede Muskelfaser schimmerte und der in einer breiten Hand mit grün lackierten Nägeln endete. Es war Weronika. Die einzige strengkatholische Bodybuilderin der Schweiz. Und meine Ex. Neben ihr zwei Hünen, wohl ihre Trainingspartner. Du Armer, wie geht es deiner Wunde?, fragte sie und ich sah, wie sich ihre Pupillen
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weiteten, wie zum Zeichen, dass sie mir weiterhin zugeneigt war. Ganz gut, sagte ich und wich ihrem Blick aus. Sie neigte ihren Kopf an mein Ohr. Ihr Haar roch nach Birkenshampoo. Wir müssen reden, Jacques, flüsterte sie. Ich meinte, sie könne heute Abend zu mir kommen und – Fade-Out, Fade-in – schon war es so weit. Die Sonne, dieser kleine Unhold, hatte sich in den See verkrochen. Ich sass im Turmzimmer und wartete auf den Schichtbeginn. Eine kleine Steinkammer, in der ein Holztischlein stand, darauf ein paar Stösse Papier und ein Tintenfass, darunter ein Ghettoblaster, aus dem Walgesang zu hören war. Der entspannte. Und Entspannung hätte ich bitter nötig gehabt. Aber sie war mir nicht beschieden. Schon war es zehn, schon klingelte eine schwarze Box an der Wand und hiess mich, mein Nachtwerk zu tun. Ich stellte mich auf die Brüstung. Ich stützte die Hände auf den Stein, beugte mich über die Stadt und rief, nun sei es zehn Uhr. Dabei tastete ich mich einmal rund um den Turm herum, damit es wirklich alle Bürger hörten. Gerade sah ich in Richtung des Hermitage-Parks, als Weronika die Tür aufschlug. Sie trug weisse Turnschuhe und ein kurzes Kleid mit Blumenmuster, sodass ihre enormen Schenkel gut zu sehen waren. Sie wollte mich wohl verhöhnen. Guten Abend, sagte sie und rückte auf mich zu. Abend, sagte ich und rief noch einmal, dass es nun zehn Uhr sei. Da spürte ich die Wärme ihres Anabolikaatems in meinem Nacken. Jacques, wollen wir es nicht noch einmal versuchen? Ich drehte mich um und verzog das Gesicht, aber nichts da, schon näherten sich ihre LipDas ist mir egal. Ich versuchte, ihr auszuweichen, doch sie drückte mich mit ihrem Körper gegen die Brüstung. Irgendwie gelang es mir aber doch, mich zu ducken und zwischen ihren Beinen hindurch zu hechten, um ins Zimmer zu flüchten. Du hast dich kein bisschen geändert! Wieso auch? Ich dachte, du würdest ohne Bein wieder zu Sinnen kommen, sagte sie, und ich sah, wie ihre Augen anfingen zu glänzen. Ich habe meinen Eltern gesagt, wir wären verlobt! … Du warst das also? Ja. Es liegt auf dem Grund des Sees. Es tut mir leid. *** Es dauerte Tage, bis ich mich wieder nach draussen traute. Tage, in denen ich mich von Instantnudeln ernährte, die ich, da ich nicht einmal einen Wasserkocher besitze, mit lauwarmem Wasser aufgoss. Aber die Sonne scheint auch, wenn man sie nicht sieht, und so raffte ich mich am Wochenende auf, es zu suchen. Man stelle sich meine Erscheinung vor, wie ich, auf Krücken gestützt, auf die Mathilda humpelte, die Lausanne auf dem Wasserweg mit Thonon verbindet, auf dem Rücken ein grosser Rucksack. Ich kämpfte mich zum Aussendeck vor und liess mich auf eine der weissen Bänke fallen. Etwa zehn Minuten nachdem wir losgefahren waren, werden die Ausflügler gesehen haben, wie ich samt Rucksack auf dem WC verschwand. Sie werden sich nichts gedacht haben. So entging ihnen, dass ich mich auf der Toilette umzog, dass ich einen Neoprenanzug überstreifte und meinen Schuh gegen eine Schwimmflosse tauschte. Nun galt es, schnell zu sein: Ich hüpfte durch den Gang aufs Deck wie ein Frosch, der dem Zorn des Kochs nur halb entkommen war. Ein paar Köpfe drehten sich nach mir um, aber man sah gleich wieder weg, um nicht unhöflich zu sein. Schon lehnte ich mich über die Reling und sah dem Wasser zu, wie es über den Schiffsbauch klatschte, zog mich hoch, und
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Literatur
pen den meinen. Ich zog den Kopf zurück. Ich muss die Zeit ausrufen, verdammt noch mal!
liess mich fallen. Hinter mir hörte ich die Leute schreien, aber ich machte mir keine Sorgen, denn ich wusste, dass es zu lange dauern würde, das Schiff anzuhalten, sodass dem Kapitän gar keine andere Wahl blieb, als weiterzufahren, immer weiter. Ich war also abgetaucht. Der See umarmte mich. Ein paar Fische schossen vorbei, doch die grauen Gesellen hatten keine Lust auf ein Gespräch. Algen waberten durch mein Gesichtsfeld. Der Druck in meiner Lunge stieg und stieg, und ehe ich mich versah, war ich gezwungen, den Kopf, diese Fleischknochenboje, wieder über Wasser zu halten. Das Schiff war bereits weit entfernt, ein grosser Ikea-Schrank, der aufs Land zutrieb. Ich nahm ein paar Atemzüge und tauchte erneut hinunter. Da schlich ein fetter Wels an mir vorbei. Er besah mich skeptisch, war ich doch nur Gast in seinen Gefilden. Ich suche mein Bein, sagte ich. Er riss seinen Leib herum und schwamm zielstrebig in die Tiefe. Ich folgte. Seltsam: Hatte ich anfänglich gespürt, wie mir die Luft ausging, so verschwand nun jedes Bedürfnis, zu atmen. Das Herz, das vorher so wild in meiner Brust geflattert hatte wie ein Kanarienvogel im Käfig, gab endlich Ruhe. Der Genfersee weist eine mittlere Tiefe von 154 Metern auf. Die werde ich wohl alle bewältigt haben, denn ich kam auf dem Grund an. Die Gegend besass einen eigentümlichen architektonischen Reiz. Stalagmitische Gebilde zogen sich hoch wie Kirchtürme. Jemand hatte lauter dreieckige Fenster hineingearbeitet, aus denen es rosa und rot schimmerte. Als ich meinen Blick davon löste, war der Wels bereits verschwunden. Mir blieb nur der Schlamm unter meinen Füssen. So unternahm ich einige zaghafte Hopser. Das ging gut und bald war ich im Zentrum angelangt, das vor Kurzem re Literatur
noviert und mit einem neuen Kopfsteinpflaster versehen worden war. Nur Bewohner waren kaum welche zu sehen, bis auf ein paar junge Hechte und Schwarzbarschburschen, die in einer Ecke Kippen rauchten. Herr Destouches?, fragte eine Stimme. Es war eine Meerjungfrau. Sie sah aus, wie man sich Meerjungfrauen halt vorstellt: ein grüner Flossenunterleib, darüber ein Menschenkörper, der in einer Bluse und einem roten Blazer steckte. Das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Auf dem Gesicht eine Hornbrille von Armani. Irène Sirène heisse sie, sagte sie, und ich möge ihr bitte folgen. Wir haben ein Angebot für Sie, Herr Destouches. Wir gingen durch eine Allee, die von Grünalgenhecken gesäumt wurde. Meerjungfrauen und Seemänner führten ihre Seesterne Gassi. Schliesslich blieben wir vor einem Hochhaus stehen, das ganz aus orangem Kristall bestand. Irène presste ihre Hand auf einen Bildschirm. Eine Tür glitt auf. Drinnen sah es aus wie in einer Zürcher Privatbank, leise Harfenmusik lag in der Luft. Irène führte mich in einen Fahrstuhl, der geräuschlos nach oben glitt, und dann in einen Büroraum mit Marmorschreibtisch. Wir nahmen Platz. Ich sah, dass über ihr etwas an der Wand hing, als handelte es sich um eine Jagdtrophäe: mein Bein. Zugegeben, es war aufgequollen und grün angelaufen, aber doch ganz unverkennbar das meine. Irène war meinem Blick gefolgt und setzte ihr nachsichtigstes Lächeln auf. Das ist unsere Willkommensprämie, sagte sie. Herr Destouches, Ihnen gefällt doch unsere kleine Stadt, nicht wahr? Ja, aber ich weiss nicht einmal, wie sie heisst. Antisanne natürlich! Sie haben bestimmt von uns gelesen. Wir sind eine blühende Gemeinschaft mit vitalen Möglichkeiten, grosszügigen Grünflächen und viel Wachstumspotenzial. Selbst die Hummerliga erwägt, ihren Firmensitz hierher zu verlegen. Nur etwas fehlt unserer Stadt noch. Ich seufzte. Etwa ein Nachtwächter?
29
Genau! Ich merke, wir haben Ihr Interesse geweckt, Herr Destouches, sagte die Meerjungfrau und leckte sich die Lippen. Und ehe ich mich versah, lag vor mir ein Vertrag. Ich krakelte ein Kreuz darauf, Irène schüttelte mir die Hand und meinte: Dann darf ich Ihnen gleich Ihre Prämie überreichen. *** Und mehr gibt es nicht zu erzählen, geschätzte Leser. Ich lebe nun im Kirchturm von Antisanne in einer glücklichen Beziehung mit meinem Bein. Wir haben es gut. Wir streiten nie. Wir sind mega. Die Antisanner akzeptieren unsere Beziehung. Nur manchmal – manchmal strecke ich den Kopf aus dem Fenster, lasse ein paar Luftblasen hochblubbern und denke daran, dass es doch schön gewesen wäre, Velomechaniker zu werden.
Literatur
ADAM SCHWARZ
30
Wie ich mich aufmachte, gute Literatur zu suchen
Ex-Freundin ihre Position als Geliebte an Jacques Seite durch ein abgesägtes Bein bedroht sieht, ist ebenfalls durchaus plausibel: Beziehungen sind schon durch weniger spektakuläre Dinge als abgesägte Beine in die Brüche gegangen. Dass es aber «zahnlose Zahnräder» geben soll, ist unlogisch und nicht vorstellbar: Würde ein
Der erste Satz ist immer der schwierigste, wenn es ein
«zahnloses Zahnrad» als solches erkannt werden? Wäre
guter erster Satz sein soll. Der muss sitzen. Er muss
ein «zahnloses Zahnrad» überhaupt noch ein Zahnrad?
die Leserin und den Leser gefangen nehmen. Er muss
Über Maschinen mit ebensolchen Zahnrädern kann jetzt
beeindrucken.
gestritten werden: Würden solche Maschinen überhaupt
Kritik
Der erste Satz des Textes, dessen Kritik dieser Text
funktionieren? Wenn ja, dann würde es sich sicherlich
darstellt, lautet: «Es war ein Fehler, mein Bein abzusä-
um eine sehr komplexe Maschine handeln. Ob Velo-
gen.» Dieser Satz sitzt, weil er so unerwartet ist, beein-
mechaniker dann noch fähig wären, solche Maschinen
druckt mit der ausgefallenen Idee. Das heisst, der erste
zu reparieren, scheint somit fragwürdig. Ein Velo ist
Satz des Textes ist ein guter Satz. Und das, weil er ir-
schliesslich keine besonders komplexe Maschine.
ritiert: Wer kommt auf die Idee, sich ein Bein abzusä-
Auch vorstellbar, obwohl absurd, ist, dass es eine
gen, und wer kommt auf die Idee, über die offensichtlich
Welt gibt, in der es neben «Ghettoblastern», «Anabolika»,
schlechte Idee, sich ein Bein abzusägen, zu schreiben?
«Neoprenanzügen» und «Tourismusverantwortlichen»
Der Autor des Textes kommt darauf. Aber auch wenn der
auch «Nachtwächter», «Steinkammern» und «Tinten-
erste Satz sitzt und gut ist, so würde ich den Text nicht
fässer» geben kann. So erstaunt auch die Unterwasser-
als gut bezeichnen. Ich versuche in der folgenden Kritik
welt mit «Meerjungfrauen» und rauchenden «Hechten
darzulegen, warum ich zu diesem Urteil komme.
und Schwarzbarschburschen» nicht wirklich. Absolut
Ich gebe zu, ich habe die Geschichte, die der Autor
unlogisch ist aber, dass der Protagonist, der sich ein
erzählen will, nicht verstanden. Ist der Text die Beschrei-
Bein abgesägt hat und folglich nur noch einen (!) Fuss
bung eines Traumes? Ist der Text eine Fantasy-Geschich-
besitzt, plötzlich den «Schlamm unter seinen Füssen»
te? Hat der Text eine versteckte Botschaft, die ich nicht
(sic!) spürt, als er auf dem Seegrund aufsetzt. Weder Au-
zu entschlüsseln fähig war? Verstehe ich zu wenig von
tor noch Lektorat haben diesen offensichtlichen Feh-
Literatur, so dass ich die Qualität des Textes nicht erken-
ler entdeckt. Logik ist nicht immer ganz einfach. Aber
ne? Ich weiss es nicht. Vielleicht.
durchaus logisch. Etwas sehr irritierend scheint mir die Beschreibung
Zum Inhalt des Textes
der Ex-Freundin von Jacques. Es handelt sich dabei um die subjektive Sicht des Protagonisten selbst. Nur fra-
Der Inhalt des Textes Wie ich mich aufmachte, ein abge-
ge ich mich dabei, was für ein Frauenbild der Autor des
sägtes Körperteil wiederzufinden ist einerseits fantasievoll
Textes hat, wenn er eine Frau wie folgt beschreibt: Wero-
und andererseits ist er absurd bis hin zu unlogisch. Da-
nika ist eine «strengkatholische Bodybuilderin», deren
mit diese drei Eigenschaften zusammenpassen, stufe
«Pupillen [sich] weiten», wenn sie jemandem zugetan
ich den Text als eine Art Traum ein. In einem Traum
ist. Ihre körperliche Erscheinung besteht primär aus
ist alles möglich, es gibt keine festgeschriebenen Natur-
«enormen Schenkeln» (durch die der Protagonist trotz-
gesetze. In einem Traum scheint alles in sich stimmig
dem «hindurch zu hechten» vermag und das nota bene
zu sein und nichts erscheint absurd, sondern Träumen-
auf einem Bein!), «solariumgebräunter Haut», «kräftigen
de wissen instinktiv, dass alles seine Richtigkeit hat. Da
Armen», und «grün lackierten Nägeln». Sie «gurrt», hat
dieser Traum aber in Literatur verpackt wird, muss ich
einen «Anabolikaatem» und benutzt «Birkenshampoo».
den Schluss ziehen, dass auch die Literatur keine Natur-
Weronika fühlt sich durch das abgeschnittene Bein be-
gesetze kennt und absurd und unlogisch daherkommen
droht und sieht als einzige Möglichkeit, das abgeschnit-
darf. Mit absurden Ideen in der Literatur kann ich gut
tene Bein ins Wasser zu werfen, um Jacques dazu zu
leben, so verwandeln sich Menschen durchaus mal in
bringen, sie weiterhin zu lieben. Das ist kein Akt von
Käfer, mit Unlogik aber nicht.
Emanzipation, sondern eher die Verzweiflungstat einer
Dass sich ein Mann selbst das Bein abtrennt, da-
Frau, die anscheinend ohne den ‹geliebten› Mann nicht
mit er eine erotische Beziehung mit ihm führen kann,
leben kann.
ist zwar relativ befremdend, aber vorstellbar. Dass die
31
Mir scheint, dass der Autor hier auf die Geschichte
eher das Wort Wassermann vorgeschlagen. Werden doch
Die Welt ist eine bösartige Maschine anspielt. Die lächer-
gemeinhin Matrosen als Seemänner bezeichnet und
liche Beschreibung von Weronika erinnert an die Hexe
nicht das männliche Pendant zur Meerjungfrau.
Evelyn und die Vampirin Vlada aus delirium N° 04. Psy-
Als geglückte Sprachwitze hingegen würde ich bei-
choanalytikerinnen und Psychoanalytiker hätten eine
spielsweise den Namen der Meerjungfrau bezeichnen:
wahre Freude daran, die Frauenfiguren der beiden Ge-
«Irène Sirène». Eine Anlehnung an die Sirenen, wel-
schichten und die Psyche der zwei Autoren zu analysie-
che gerne mal mit Meerjungfrauen verwechselt werden.
ren. Ein offensichtlich frauenfeindliches Bild ist aber
Ebenso gefällt mir die «Sonne als kleiner Unhold» sehr
auch ohne psychoanalytische Ausbildung auszuma-
gut. Obwohl hier der Ausdruck «Unholdin» treffender
chen. Inwiefern es darüber hinaus ein Fehler war, dass
gewesen wäre.
der Protagonist sich das Bein abgeschnitten hat, wie zu
Zu den Bezügen des Textes auf vorhergehende Ausgaben von delirium
Beginn der Geschichte gesagt wird, bleibt auch ein Rätsel. Das Bein verschwand. Aber am Ende der Geschichte findet der Protagonist es wieder und kann endlich seine Liebe zu seinem Bein ausleben. Worin bestand also
Aufgabe der Autorinnen und Autoren von delirium ist es,
der Fehler?
Bezüge zu vorhergehenden Texten von früheren Ausga-
Wenn sich mir der Inhalt eines Textes nicht er-
ben von delirium herzustellen. Inwiefern und wie sie das
schliesst, so kann er mich aber doch für sich gewinnen,
tun, bleibt ihnen überlassen. Der Text Wie ich mich auf-
wenn er eine Sprache hat, die überzeugt. Aber die Spra-
machte, ein abgesägtes Körperteil wiederzufinden macht ver-
che von Wie ich mich aufmachte, ein abgesägtes Körperteil
schiedene Bezüge zu früheren Texten. So ist der Bezug
wiederzufinden überzeugt mit ein paar wenigen Ausnah-
zu delirium N°04 offensichtlich: Das Zitat «War die Welt
men nicht.
Zur Sprache des Textes
Text Die Welt ist eine bösartige Maschine. Ebenso gab es in
Die Sprache des Textes ist einfach und leicht verständ-
lirium N°01), «Schiffe» und «Netze» (Jason träumt, deliri-
früheren Ausgaben schon «Kirchtürme» (Tunnelblick, de-
lich. Sie weist keine Besonderheiten auf. Es gibt keine
um N°02). Auch das Bild der «Zürcher Privatbank» (Hu-
speziellen Satzkonstruktionen und das Vokabular ist
morlos, delirium N°04) dürfte den Leserinnen und Lesern
nicht sehr ausgefallen. Es irritieren hingegen ein paar
von delirium bekannt sein. Dass auch gerne mal «Fahr-
Ausdrücke. So z.B. sitzt der Protagonist am See und
radfachliteratur» (Gegen Geschwafel, delirium N°04) gele-
denkt über sein Leben nach oder: «dahte bein mit beine».
sen wird, ist seit delirium N°04 ebenfalls bekannt. Aber
Was hier ein mittelhochdeutscher Satz von Walther von
mit Verlaub: Ist der Sinn von Bezügen tatsächlich, ein-
der Vogelweide zu suchen hat, ohne ihn in irgendeinen
fach ähnliche Bilder zur Sprachillustration zu benutzen?
Bezug zu setzten, bleibt mir ein Rätsel und scheint bloss
Wäre nicht vielmehr ein inhaltlicher Bezug gemeint? Der
der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der Autor das Zi-
einzig nachvollziehbare inhaltliche Bezug ist vom Autor
tat von Walther von der Vogelweide kennt. Der Ausdruck
wohl eher ungewollt: Die Qualität des Textes erinnert an
Femurknochen (der Oberschenkelknochen) scheint hinge-
die Qualität von Die Welt ist eine bösartige Maschine. Und
gen zum Inhalt zu passen, da der Protagonist bestimmt
da stimme ich mit der Kritik Zum ausgebliebenen literari-
wusste, was es genau war, was sein geliebtes Bein von
schen Rausch überein.
ihm trennte: nämlich der Oberschenkelknochen – in der
Mein Resümee: Gute Literatur habe ich leider keine
Fachsprache auch «Femurknochen» genannt.
gefunden und somit war ich erfolgloser als der Prota-
Gendergerechte Sprache scheint dem Autor nicht
gonist des Textes. Der findet sein Bein wieder und zum
wichtig gewesen zu sein. So werden zum Schluss «die
Schluss des Textes zieht er das Fazit, dass er und sein
Leser» angesprochen. Gendergerechte Sprache ist nicht
Bein «mega» sind. Das kann ich von mir und schlech-
immer ganz einfach, was auch einen Blick in delirium
ter Literatur nicht behaupten. Diese Kritik hier übrigens
N°04 zeigt. Da kommt eine «weibliche Studentenschaft»
erhebt keinen Anspruch darauf, Literatur zu sein. Falls
vor. Was der betroffene Autor des Textes Über Schwindel
die Redaktion denkt, meine Kritik sei völlig verfehlt und
zu einer ‹männlichen Studentinnenschaft› sagen würde,
werde dem Text nicht gerecht: Ich bin gespannt auf eine
ist nicht abschliessend geklärt. Etwas unschön ist, dass
Gegenkritik, die als solche deklariert wird!
den «Meerjungfrauen» «Seemänner» an die Seite gestellt
SUSANNE RICHLI
werden. Ein Blick in die Mythologien hätte dem Autor
32
Kritik
eine bösartige Maschine» referiert offensichtlich auf den
FABIAN SCHWITTER
34
Literatur
LITERATUR
… Und dann, dann k ommt der Leich enzug zurüc ohne S k, arg, m einem it wilder en Jazz, als wä re sie gar ni cht to t … KRITIK
37
ANDREAS HAURI 33
Trugbild St. James Infirmary Blues Als die Kunst zu Grabe getragen wurde, folgte ihrem Leichenzug eine Jazz-Band, wie man sie aus dem sonnigen Süden Nordamerikas, aus Louisiana und vor allem aus New Orleans, kennt. Die Band röhrte und trommelte, was sie konnte, während der Zug unter einem stahlblauen Himmel ganz langsam und schwerfällig um die Ecke bog. Es war eine jener Bands, die einen Leichenzug begleiten, um die Hölle auf Erden schon vorzuheizen, bevor es in die Unterwelt geht. – Das wahnwitzige Spiel der Kunst, das sie einmal gewesen war, das Lied – dieser Jazz: Etwas verschmitzt, mit einem Poker-Face und Kleingeld – ihr ganzes Vermögen, als Einsatz – immer mit dem Maul am Hungertuch und einem Bein schon im Sarg; «Get six gamblers to carry my coffin, six chorus girls to sing me a song, put a twenty-piece jazz band on my tail gate to raise hell as we go along», wie Big Joe McKinley damals schon halb im Delirium gesagt hatte, als er in Old Joe’s Bar sturzbetrunken seine eigene Beerdigung ausgemalt hatte, weil ihm seine Frau davongelaufen war; während in der St. James Infirmary, von der ich gerade gekommen war, die Kunst auf einem weissen Tisch ausgestreckt gelegen hatte – so kalt, so schön, so nackt. – Zwei Tage später bog die Kunst im schleppend-stampfenden Rhythmus der Jazz-Band in einen Sarg gebettet um die Ecke beim St. Louis Cemetery. Mit Tränensäcken unter den Augen und schwarzen Ringen, mit hängenden Schultern und Rückwärtsgewandt, mit dem Rücken zur Wand. Hingabe und Trauer, der stehende Rauch, das diffuse Licht und bald die barmherzige Ohnmacht. Zu schwach, sich den Rest, diesen letzten zu geben, zu schwach, sich erheben zu können. Verfaulen von innen. Die Trauer, die Trauer. Die Leiche. Sein Einsehen gönnt noch ein Glas, der Bartender bringt sie noch einmal, die Flasche, geschenkt. Und das Schwanken und Wanken. Der unscharfe Blick mit der Zeit, der noch meint zu erkennen. Und die rasenden Bilder. Die strengen Porträts an den Wänden, als würde da jemand beerdigt. Ein Umzug, der Jazz, als käm‘ ich mir selbst abhanden im Spiel der Klänge und Bilder, und ein Sarg und die Leute. Und dann? – Dann fliegt die Tür auf und einer stiefelt herein zur Kür mit Dreck an den Schuhen, einer Schaufel in der Faust, will es wissen und wollte es immer schon wissen. Und weiss nichts und grub und gräbt. Und grübelte, giftig gereizt im Sand. Und grinst und bestellt. Streitlustig, klopft sich den Staub aus den Kleidern. Und riecht noch nach Schwefel und Leichen. Ein modriger Sumpf, und Seuchen entweichen den Leichen im Wasser um 1830. Und stürzt den Schnaps bezahlt vom Leichenlohn in einem Zug hinab. Bestellt und stürzt den Schnaps in einem Zug hinab. Die wirren Haare, der dreckige dichte Bart, die Zähne, der Teufel bestellt und stürzt den Schnaps in einem Zug hinab. – Und ein Arzt mit Skalpell. Mondino dei Luzzi. Bringt Licht ins Dunkel. Die Welt der Leichen. 1316, Bologna. Ein Arzt, der den Bauch aufschlitzt und die Eingeweide der Leiche herauszieht. Und prüft und ordnet, vielleicht wie Da Vinci später spät in der Nacht. Die Anatomie. Das Wissen. Der Fortschritt der Welt, tiefer hinein, Innereien. Und gräbt und sucht und liest in Organen, der Hohepriester persönlich. Der Leib, das Herz, die Leber, das Leben als Wissen. Ein wegloses Wissen. Abgeschnittene Wege, Immunsysteme und Bahnen und Blut. Aorta und Kammern. Zerschnittene Körper und kritisch der Blick. Ein Priester des Todes, und wie Religion, bleibt halt gerichtet aufs Jenseits. – Und in einem Zimmer dem Grossmünster gegenüber in einem Turm ohne Abbild im Neckar, weil stattdessen die Limmat, die Träge, vorbeifliesst, hockt die Kunst diese Tage und heckt die Streiche aus für morgen, wie eine Grosse, Katharina oder Karl, Aachen und Krachen, während Zwinglis Glocken läuten. Sie läuten und läuten, noch heute Rost und Rostock Hafenkran, und häuten das Herz. Die Haut aus Blattgold.
34
Literatur
gläsernem Blick von den Gläsern, unzählig. Kein Kleingeld zum Zahlen. Ein Wahn ohne Witz.
Und tragen 1524 den Klunker hinaus in die Kassenschränke. Und klagen und schreien: Keine Kunst! Nicht einmal als Magd zu Diensten. Und die Mönche längst vertrieben, verprügelt, enteignet, gesetzlos geworden, in den Wäldern, die Strolche spielen vogelfrei Robin Hood, Brother Tuck und Hühnerknochen, ohne Regel: Heiliger Benedikt – Ora et labora. Ein Schatten: St. James gleich in sechsfacher Ausführung. Mater dolorosa, gegrüsst seist du. Wenn doch nur Arbeit statt Kohlenförderung wäre. – Und das Geld und der Markt dieser seelenlosen Stadt. Die Kunst, wie sie war, ging dem Ende zu. Und jeder und jede für sich. Und sie springen nicht mehr an den Kopf, die Werbeprospekte. Sie sind für Einzelne gemacht und riechen seit 2004 nach Facebook statt Holunder. «I am the commercial!» Denn nur Preiselbeeren tragen einen Preis mit sich. Und leere Verpackung und Plunder. Andere anatomische Studien. Trepanation. Diamantenbesetzte Schädel. Totenköpfe: teuer, teuer, teuer. Und Teufel, sind wir weit gegangen, seit dem leeren Grab. Die Heilige Dreifaltigkeit der Leerstelle zwischen Text und Text, und die Lehrstelle zwischen Lesen und Schreiben. Das Handwerk. Der Aufstieg. Die Tempeldiener einer alten Religion um 1848. Die Bürgerin, der Bürger. Die Öffentlichkeit und Romantik. – Aber wir, wir leben im Kleinen, und tun so und der Geist aus dem Grab, Simulacrum. Wir singen hinab ins Grab und heben die Kunst aus den Kisten, den Nachlasssärgen und Schachteln aus Karton. Wir leben im Schatten der Toten. Totgeglaubten. Der letzte Gott ist eine Frau und zäh, wie eben die Letzten. Und doch nichts Genaues. Ein Gott, eine schwarze Madonna. Blumenbehangen, Ardhanarishvara. Eine Voodoo-Puppe aus Stroh. Aus einzelnen Halmen. Die Kunst, nur wo und wie und wer? Und weht ein Hauch von Auferstehung aus dem leeren Grab. Kallipau gofeminin.de bist du die Kunst? Und alle waren geladen zum Leiwie am ersten Tag die Muse angerufen. Fahr zum Teufel, wie wir alle müssen, mit dem Lyrikboot und der Schaufel in der Faust, über den Fluss des Vergessens, und frag ihn, den Teufel. Und kehre zurück, vom Tresen abgewandt, hinaus. Die Morgenluft, der Dunst in den Strassen. – Die Kunst, diese treibende Kraft durch sie. Und alles zusammengewürfelt in einer Nacht, erspielt und erfunden, Geschichten, weil denkbar, die Welt ist weit, die Zeit ist weit verzweigt, verzwickt. Als gäbe es selbst im Unbegreiflichen noch etwas zu begreifen. Ein Weg ohne Wissen. Und frank und frei gesagt, herausgesagt, verschmitzt und kühn und kühl, statt zerdrückt und versteckt hinter Allüren. Denken! Denken! Denken, wie Zitronen und Orangen, süss und leicht, säuerlich. Bäume, Mangroven und luftige Wurzeln im Bayou, vielleicht. Und auch wenn ich gar nie dort war und die St. James Infirmary gar nie existierte, so stelle ich mir das vor. Und es bleibt mir wenig übrig, vor dem Grab. Sie, sie: «Let her go, let her go. God bless her wherever she may be. She may search the whole world over but she’ll never find a man like me.» – Was kann schon sein in einer Zeit, da die Zahlen zählen und wie in grauer Vorzeit wieder nur die Zahl der Frauen Zahlungsfähigkeit beweist: Eine, eine. Ich... ich – ich brauche nur eine! Wie sie da im St. James auf dem Tisch lag – so kalt, so schön, so nackt. – Und dann, dann kommt der Leichenzug zurück, ohne Sarg, mit einem wilderen Jazz, als wäre sie gar nicht tot. Als könne, als könne – als könne sie gar nicht tot, als könne sie nie tot sein. FABIAN SCHWITTER
36
Literatur
chenschmaus im Leichenhaus, statt Kronen- nur noch Leichenhalle. – Und als würde wieder
Der dunkle Pfad erzählerischer Tugenden
das, was der Autor uns da sagt – und die Pointe sitzt tief –, dass in Sachen Kunst bereits die Ratten das gekenterte Schiff verlassen haben. Die Kunst ist tot – wir hören hin, hören Jazz. Im Grunde steht Schwitter da zwischen den Bäumen und verlautbart uns die Stunde Null, zeigt mit dem Finger auf uns. Schön und gut, aber wohin führt
Kritik
das? Wenn dem tatsächlich so wäre, dass die Kunst nach Schenken wir gleich zu Beginn klares Wasser ein, das
einer Überdosis Leben quasi den Geist aufgegeben hät-
von keiner Sentimentalität getrübt ist: Infirmary Blues ist
te, was dann? Ganz abgesehen davon, dass wir sie doch
aufregender Zunder. Zunder, bei dem die Worte um ih-
finanzieren und ihr Leben einhauchen. Ganze Sammel-
rer selbst willen geschätzt, Wendungen genüsslich aus-
surien an Kunst, an Kultur und künstlerischer Tätigkeit
gewalzt werden und eine Spielerei auf die andere folgt.
halten wir aufrecht, ganz unspezifisch durch Steuerein-
Der Autor – meist damit beschäftigt, Proben seines Kön-
nahmen. Mit wir meine ich nicht einfach lapidar Sie oder
nens abzugeben – entzückt durch seine Schreibe. Er for-
Ich, nein, vielmehr hat sich unsere Gesellschaft darauf
muliert die abenteuerlichsten Milieus und unterhalten-
geeinigt, haben sich unsere Institutionen darauf gefes-
de Assoziationen, vergisst dabei aber weitestgehend das
tigt 2, dass wir Kunst leben lassen und dafür Ressourcen
Erzählerische, das Verweilen, und so auch den Leser.
(natürlich auch und vor allem in materieller Hinsicht)
Alles reist sogleich weiter zum nächsten Ort. Lesender
zur Verfügung stellen, der Kunst die nötige Liquidität
und Autor sind unterwegs, dahin, wo für den Ersteren
und die Infrastruktur verschaffen. Ich meine – versteht
weitere Assoziationen des Autors aufwarten. Es gerät
mich nicht falsch – wo kämen wir da hin, wenn wir das
bei dieser Übung in Vergessenheit, dass sich die Lese-
nicht täten? Manches lässt sich sogar für teures Geld
rinnen und Leser suhlen wollen. Teilweise, gebe ich ger-
verscherbeln. Ich bin zu jung, als dass ich mir bei solch
ne zu, mögen die talentiert formulierten Wortspiele von
einer Diskussion, Jahrzehnte nach Adorno und vor allem
Fabian Schwitter, die mannigfach skizzierten Orte und
Jahrzehnte nach Warhol, nicht gleich von Anfang an die
Zeitreisen ausreichen – und dennoch, der Leser will ver-
Frage stelle, ob wir nun in Sachen Kunst etwas Totes fi-
führt, gar geführt werden; schliesslich eine Zeile um die
nanzieren oder etwas totfinanzieren? – Aber nein, solch
andere fressen. Sieht man die Geschichte von Schwit-
eine Debatte, meine ich, führt hier nirgends hin und ver-
1
1
ters St. James Infirmary mal von jener Seite, kommt man
läuft in ewig gestrigen Stossrichtungen. Denn letztlich
ins Grübeln. Schon werden Stimmen laut, die dem Autor
wäre das eine Diskussion rund um die Frage, was Kunst
vorwerfen, hätte er die Wahl zwischen einer gesunden
ist oder sein soll – tot oder lebendig. In der Argumenta-
Richtschnur für das lesende Augenpaar und wildem As-
tionsliga, was denn bitteschön wahre Kunst ist, da muss
soziieren, er würde sich für Letzteres entscheiden.
ich enttäuschen, da kann ich nicht mitspielen, denn letz-
Diese Folgerung ist Konsequenz dessen, was mich
ten Endes ist es ein Streit um des Kaisers Bart. Und um
beim schwachsinnig schönen und wohl auch besten Satz
Bärte streite ich mich nicht, schon gar nicht im deliri-
von St. James zu Beginn erwartet: «Als die Kunst zu Gra-
um. Im Übrigen beantwortet auch Schwitters St. James
be getragen wurde, folgte ihrem Leichenzug eine Jazz-
Infirmary diese Frage nicht, mit keiner Zeile. Die Frage
band.» Dieser charmante erste Satz zwingt die Rezensi-
nach der Kunst, naja, die steht ausser Frage, sozusagen.
on auf einen Punkt einzugehen, den man sich ansonsten
Deshalb – «frank und frei», um im Stile Schwitters
lieber vom Halse hält. Man stelle sich vor, sie, die Kunst,
zu verweilen – fühle ich mich der sinnlichen Seite ver-
wäre tot und liege da im letzten Akt beinahe beerdigt.
pflichtet, mich mit der Wirkung des Textes und nicht
Den Gruss, dieses Kopfnicken im Vorbeigehen an die
mit einer verworrenen, läppischen, wahrscheinlich po-
Adresse von Theodor W. Adorno, durch die Verkörpe-
litischen Fragestellung auseinanderzusetzen. Dennoch
rung einer trommelnden Jazzband als Schlusslicht des
bleibt hier wohl oder übel festzuhalten, dass Totgesagtes
Leichenzugs, diesen etwas eitlen Schabernack Schwit-
meist am längsten lebt.
ters lassen wir uns genüsslich auf der Zunge zergehen,
Die Gunst des Autors liegt im Talent seiner Aus-
wohlgemerkt, dass uns
drucksweise: Mehrere Motive und Spielereien eröff-
Ganz unhistorisch verstanden, natürlich!
2
Pro Helvetia! Da kriegt sogar Martin Suter noch Geld vom Staat
Adorno im Grunde gar
nen sich uns gleich zu Beginn von St. James Infirmary.
nichts mehr zu sagen
Doch alles zu seiner Zeit. Gehen wir die Geschichte ru-
hat. Viel wichtiger ist
hig an und hängen uns an den Tross, die vom Autoren
37
gezeichnete, röhrende und trommelnde Phalanx aus
bewaldete Insel mit einer flachen Sandbank gibt. Dort
Jazz-Musikern, die dem Leichenzug auf dem Weg zum
schmeissen wir an einer Schnur, an der ein Korken be-
Begräbnis der Kunst folgt, gleich um die Ecke beim St.
festigt ist, einen Angelhaken ins Wasser, um Fische zu
Louis-Friedhof.
eintopf von Tante Polly 3 bin. Tom pfeift eine Melodie,
sprünglich von einem Soldaten erzählt, der sich nach ei-
wir lachen, und Huck zeigt mir seine faulen Zähne. Man
ner Nummer mit einer Prostituierten eine Geschlechts-
sieht weite Felder, auf dreckigen Lehmböden trottet
krankheit einfängt und das Zeitliche segnet, findet in
müde der Leichenzug an uns vorbei, das Drama, die Tote
Nordamerika, also ganz im Ambiente Schwitters ver-
vor uns ausgestreckt und in fleckige Lappen gehüllt – das
standen, einen neuen Kontext, der Alkoholismus und
melancholisch Schwere, die Hitze, der Alkohol und die
Spielsucht als Todesursache heranzieht. Unabhängig
Trauer; feeling blue im Dixieland.
davon, ob auf dem Tresen, auf dem weissen Laken der
Natürlich ist das alles masslos übertrieben, aber der
St. James Infirmary die Kunst, ein Gambler, ein Soldat
Auftakt, die Schilderungen von Schwitter zu Beginn des
oder gar die Prostituierte liegt, «so kalt, so schön, so
Infirmary Blues laden förmlich dazu ein, in dieser Trau-
nackt», hält Schwitter für uns die Zeit an: der blaue Him-
eridylle, in solchen Phantasien zu verweilen, als hätte
mel, die Sonne, die auf uns herunterbrennt, langsam
der Autor eine Überdosis Schallplatten von Big Mama
und schwerfällig biegt der Sarg zum Rhythmus der Jazz
Thornton oder Bessie Smith, jenen schwarzen Blues-
Band um die Ecke, und wir sind mitten in der Tragödie –
und Jazzsängerinnen absorbiert – doch ich eile. Wir zie-
Tod am Nachmittag –, Dixieland als Kulisse für den Lei-
hen weiter; der Lesende setzt sich an einen dunklen Tre-
chenzug der verstorbenen Kunst. Der Autor umgibt uns
sen in einer noch dunkleren Bar, einer lottrigen Bude,
Lesende mit Lokalkolorit erster Sahne. Hier kann der
ein einziger schwerer Tränensack. Verlorene Gestalten,
Lesende seine Füsse am Ufer des Mississippi ins Wasser
die Trauer beisst um sich, und nicht einmal der starke
tauchen lassen, mit einem Grashalm zwischen den Zäh-
Alkohol in der stickigen Bar lässt uns vergessen, dass wir
nen die Trompeter und Pauker der Jazz Band beim Vor-
mit dem Rücken zur Wand – «rückwärtsgewandt» – da
beiziehen beobachten.
sitzen. Die Tür fliegt auf, einer stiefelt herein «mit Dreck
Der Mississippi mit seinen Schaufelraddampfern
an den Schuhen» und «will es wissen». Auf die beschau-
– Boote, die auf den Namen Mandy, Mae oder Starlite
liche, melancholische Szenerie, diese traurige Färbung
Princess hören. Die Südstaaten Amerikas mit ihren Step-
zum Auftakt des Infirmary Blues folgt nun ein choleri-
pen und langen Tälern, in der Literatur schon längst ent-
scher Brocken Text. Schwefel, Staub und Schnaps riecht
worfen durch Twain mit seinen Abenteuergeschichten
man jetzt, gierig soll die Leiche vergraben werden. Auch
von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, sind Augenwei-
hier, teuflisch gute Assoziationen, Skizzen einer ansons-
den, ein Ort der Sinnlichkeit. Die High Plains aus Grapes
ten etwas schummrigen und diffusen Szene, die mit auf-
of Wrath, das kurze Büffelgrass, die hohen und dichten
wändigem Wortwitz den Lesenden bei der Stange halten.
Wälder aus Eichen, Kiefern und Hickorys. Dörfer mit
Eine Überlegung, einen Gedanken seitens des Autors
ihren unzähligen Kirchen, dem würzigen Bible Belt der
vermisst man jedoch weitestgehend. Man könnte im Bo-
Südstaaten, in dem sich Gott und Teufel die Hand ge-
den versinken bei dieser Armada aus Spielereien oder,
ben, rufen Bilder aus Uncle Tom’s Cabin hervor, duften
wie der Autor schreibt, «sich selbst abhandenkommen» – fein ziselierte Reflexionen bleiben aus.
nach weiter, heisser Einöde und roher Natur. Ich höre Gospel, Blues und Countrymusik. Ich rieche New Orle-
Szenenwechsel: Eben noch hatte ich meine Füsse
ans, schmecke schweissige Trägerhemden, sehe furchige
im Mississippi, später «schwanke und wanke» ich in ei-
Fäuste und Pranken und die müden Augen der Totengrä-
ner verruchten Kneipe, schon reist Schwitter mit mir
ber unter den Schieferkäppis am Ende von Schwitters
nach Italien ins Jahr 1316. Spätestens jetzt wäre mir ein
Leichenzug. Der sonnige Süden Amerikas lädt ein, um
Glas Whiskey in Old Joe’s Bar lieb, nachdem ich ohne
die, wie der Autor schreibt, «Hölle auf Erden schon vor-
Vorwarnung, ohne jegliche Flugbegleitung und ziem-
zuheizen». Ein Schauspiel, mit dem man sich vergnü-
lich unsanft per Zeitreise im mittelalterlichen Bologna
gen mag. Später kann sich der Lesende dann wieder ab-
gelandet bin, bei einem Doktor mit Skalpell und einer
kühlen, zusammen mit Huck Finn, an einer Stelle, wo
Schwäche für Pathologie. Ohne Sorgfalt geschieht so
der Mississippi etwas über eine Meile breit ist, wo es eine lange, schmale und
3
Die Tante von Tom Sawyer kennt doch jeder.
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was und stimmt einen ärgerlich; schwaderte man vorher noch in
Kritik
fangen, obwohl ich eigentlich scharf auf den Bohnen-
St. James Infirmary, dieser alte Folksong, der ur-
detaillierten Milieus herum, nehmen die Wortspiele nun
Weihwasser besprenkelt. Das Grab im zähen Lehmboden,
rapide zu; «Fortschritt der Welt, tiefer hinein, Innereien» –
mit triefendem Schweiss und salzigen Stirnen gebuddelt,
verlieren aber weitestgehend ihren Zusammenhang. Na-
das Begräbnis vorbereitet – und keiner geht hin.
türlich brennen einem Fragen unter den Fingern: Wo
Aber klar, dann wäre auch die Pointe mit Adorno im
ist die Kunst? Gibt es die hier in Bologna schon? Was
Eimer.
findet man, wenn man den Bauch der Kunst aufschnei-
ANDREAS HAURI
det? Lass das doch mal diesen Doktor da machen, doch zu eilig hat es Schwitter in seinem Text, die paar wenige Zeilen, die er für Italien aufwendet, gehen sang- und klanglos unter – und wir galoppieren davon. Wir sitzen plötzlich, so zumindest mein leiser Verdacht, in Zürich bei der delirium Redaktion im Zentrum Karl der Grosse beim Münster. Schwitters Humor liegt im Platzieren chirurgisch feiner Finten, zwischendurch bröselt er ein paar Seitenhiebe an die Kunst im öffentlichen Raum; «Noch heute Rost und Rostock Hafenkran, und häuten das Herz». Ohne Weiteres zu kommentieren, verlässt er auch Zürich, wenn er denn (da scheiden sich die Geister) überhaupt dort war. Danach kommt unser Autor in Fahrt, er faselt, er spuckt, und der Text flammt zwischen dem Heiligen Benedikt, Mater Dolorosa, Facebook, ei-
Kritik
ner Voodoo-Puppe aus Stroh und 1848. Das kann er gut, das macht er gerne, versperrt sich dem Lesenden jedoch weitestgehend. Ist das Free Jazz? Ketzer würden verkünden, Schwitter rede zu viel, es wäre schön, wenn er auch einmal etwas sagen würde, solche Spielereien gehören ins Poesiealbum. Zum Schluss eröffnet uns Schwitter die Zäsur: Die Auferstehung. Mit schrecklich schönem Pathos verkündet der Autor, dass wir uns «ins Grab hinab singen», die «Kunst aus den Kisten, den Nachlasssärgen heben». Alles entpuppt sich nun als reiner Gedankenspaziergang des Autors: Die Kunst, «als könne sie gar nicht tot […] sein», als wäre das alles nicht passiert. – St. Louis Cemetery hin oder her – «God bless her wherever she may be». Wie schon der alte Dürrenmatt klug von sich gab: Eine Geschichte ist erst dann zu Ende, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Es verlockt mich, nach beharrlichem Kopfzerbrechen, Schwitters Text einen Vorschlag zu unterbreiten: Ein alternatives Ende, ein provokatives Ausklingen, wie wir es uns vom Autor ja bereits gewohnt sind. Jener Vorschlag würde dann in etwa so lauten: Stell dir vor, die Kunst liegt im Sterben, auf einem fleckigen Laken, schon gefühlt auf dem Sterbealtar siecht sie dahin und atmet schwer unter der dicken, alten und pomadigen Haut. Mit ihren Altersflecken keucht sie aus dem Leben, die verbleichten Augen auf halbmast, schwer und träge. Tot auf einem kratzigen Stück Stoff, den Sarg schon fast mit
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Gegenüber meiner Wohnung liegt eine Schule, deren Gelände auch ein Fussballfeld umfasst. Erst kürzlich sah ich vom Fenster meines Zimmers aus mit an, wie so ein Knirps versuchte, einen Ball ins Tor zu schiessen. Er traf nur die Latte. Da riss ihm ein älterer Schüler den Ball aus den Händen. «Idiot!», brüllte er den Kleinen an. Als er selbst zum Schuss ansetzte, stolperte er jedoch über den Fussball und fiel der Länge nach hin. Während er noch benommen den Kopf schüttelte, packten ihn Maulwürfe bei den Zehen und zerrten ihn unter die Erde. Aber kommen wir zum Thema: In der letzten Ausgabe von delirium kritisiert Yunus Ersoy eine Kurzgeschichte von Jens-Philipp Gründler, die den Titel Die Welt ist eine bösartige Maschine trägt. Darin bekämpft ein Held namens Georg groteske Ungeheuer, namentlich einen siebenköpfigen Drachen und ein dürres Vampirweib. Am Ende stellt sich heraus, dass die Monster nur imaginiert sind; sie repräsentieren in der Vorstellungswelt des jugendlichen Protagonisten seine realen Peiniger. Ersoy wählt für seine Kritik die Überschrift Zum ausgebliebenen literarischen Rausch und macht keinen Hehl daraus, dass ihm Gründlers Geschichte «überhaupt nicht gefällt». Aber: «Vielleicht gelingt es ja, allfällige Leser für die ausgebliebene Lust am Text mit Spass an der Kritik zu entschädigen.» Dieser Versuch misslingt Ersoy allerdings. Wieso nun bleibt neben dem literarischen auch der kritische Rausch aus? Zunächst einmal ist Ersoys Kritik über weite Strecken eine eintönige Auflistung sprachlicher Mängel – so verwendet er 175 Worte darauf, eine rein formale Kritik an einem Satz von fünfzehn Worten zu üben. Der Rezensent lässt sich darüber aus, dass «Medaillon» und «Amulett» synonym verwendet werden, oder moniert, dass die direkte Rede bei Gründler nicht nur in Anführungszeichen, sondern auch noch kursiv gesetzt ist. Damit mag Ersoy recht haben, tritt aber in die Falle pedantischer Sprachkrämerei à la Bastian Sick. Mit dem selbsternannten Fürsprecher des Genitivs verbindet ihn zudem die arrogante Haltung des elitären Pseudointellektuellen, der auf Unterlegene herabsieht und sie mit selbstgefälligem Grinsen niedermacht: «Mein erster Einfall für eine Kritik des diesen Seiten vorangehenden Textes war ein exaktes Zitat des zu besprechenden Textes, das sein Original durch Verdoppelung kritisierte, indem es schlicht auf die Sinnlosigkeit einer Zweitlektüre verwiese.» Das ist der Humor eines Schulhoftyranns, der einem Schwächeren die Shorts herunterzieht, damit alle über die Löcher in seiner Unterhose lachen können. Dabei geht der Haarspalter selbst nicht weniger schludrig vor, indem er unter anderem konsequent Erzähler und Autor verwechselt. Spass macht eine solche Kritik wirklich nicht. Als positives Gegenbeispiel möchte ich den Artikel von Andreas Hauri in derselben Ausgabe herbeiziehen. Er verbeisst sich in zwei Gedichte von René Oberholzer: «Im Gedicht Vorzeitiges Ende stutzt man schon nach ein paar Zeilen, ruht mit den Augäpfeln und ist (erst einmal) übel gelaunt. Denn, wie das für Gedichte so üblich ist (wahrlich ein Laster!), kerkern die wenigen Zeilen des Gedichts die Fantasie des Lesenden förmlich ein, bevor man sich dann, sachte und behutsam, aus dem ‹Dichticht› freisäbelt.»
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Reinreden
Drachen und andere Viecher: Über die Kunst, Literatur zu verreissen
Reinreden
Bei solchen Sätzen möchte man vor Freude einen Rückwärtssalto machen und dabei mit den Füssen einen Lampenschirm kaputtschlagen. Auch Hauri schreibt einen Verriss, vergisst dabei aber nicht den Humor und die Freude am Sprachexperiment, oder allgemein: den Esprit. Gerade das, was den kritisierten Gedichten oder letztlich auch Ersoys Kritik fehlt. Hauri beweist, dass eine Kritik mehr sein kann als eine blosse Mängelliste. Alfred Kerr, der Schutzheilige aller Theaterkritiker, forderte in den 1920er-Jahren, man müsse die Rezension als eine selbstständige Kunstform verstehen: «Dichtung zerfällt in Epik, Lyrik, Dramatik und Kritik.» So fasst er sein Programm zusammen in der Einleitung zu seinen Gesammelten Schriften. In der gegenwärtigen Medienlandschaft reduziert man die Kritik auf einen Nachgedanken. Ob in Zeitungen oder im Internet: Rezensenten begnügen sich meist mit Konsumentenberatung. Hier eine Empfehlung, dort eine Reklamation. Ist das Produkt sein Geld wert oder nicht? Dabei kann eine Besprechung selbst eine Geschichte erzählen, Witze machen oder als Gedicht auftreten. Wenn sie auf eigenen Beinen steht, kann eine gute Kritik auch einem schlechten Werk etwas abgewinnen. Kerr schreibt, der Kritiker müsse es verstehen, «aus der Art des Mistes auch die Möglichkeit der Blumen zu fühlen, die auf ihm wachsen könnten.» Die Diskussion über die Möglichkeiten der Kritik muss dringend geführt werden – als Mittel gegen fade Kritiken wie Zum ausgebliebenen literarischen Rausch. Statt sich einseitig auf textliche Äusserlichkeiten einzuschiessen, hätte Ersoy der Leserschaft Spass bereiten können, indem er nach den Trouvaillen jenseits der Fehlerliste sucht. So schreibt er: «Doch am meisten stört die parallele Bedienung unterschiedlichster Register.» Auch das beobachtet er richtig, denn Gründler vermengt in der Tat verschiedene Sprechweisen und Begriffe, die nicht zusammenpassen. Aber die Geschichte handelt doch gerade von einem Jungen, der Realität, Traum und Religion durcheinander bringt. Statt der Geschichte einen Fehler vorzuhalten, hätte man sich Gedanken darüber machen können, ob das Chaos System hat. Spinnt man den Gedanken weiter, könnte man Gründlers Text zum Anlass nehmen, postmoderne Genremischungen zu thematisieren. Ersoy zeigt sich zum Beispiel von der Weihrauchpistole irritiert. Doch in den Feldern von Fantasy und Manga, die Gründler hier referenziert, sind solche Waffen nichts Ungewöhnliches – und es ist immer wieder spannend mitanzusehen, wie sich in popkulturellen Terrarien alte Mythen mit moderner Technik paaren. Doch Ersoy lässt sich von der Pingeligkeit blenden. Damit ist seine Besprechung eben nicht die «differenzierte und differenzierende Betrachtung», als die er sie selbst anpreist. Wohlgemerkt, man muss Gündlers Fantasygeschichte nicht zu einem literarischen Leckerbissen verklären. Die Welt ist eine bösartige Maschine ist voller indiskutabler Formulierungen («er verlor viel von seinem roten Lebenselixier») und der Autor tendiert dazu, den Subtext seiner Geschichte zu Tode zu erklären: «Hinter den grandiosen Ungeheuern, die Georg im weissen Wüstensand zur Strecke gebracht hatte, verbargen sich also die wahren Monster.» Ganz zu schweigen von der platten Anspielung auf die Georgslegende, die dem ganzen Text zugrunde liegt. (Gerade darüber verliert Ersoy kein Wort.) Es bleibt jedoch der Eindruck, dass hier ein unbeholfener Autor einem ebenso unbeholfenen Kritiker zum Frass vorgeworfen wird. Das wahre Monster wäre also die delirium-
Redaktion, ich wünsch dir Maulwürfe an den Hals!
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Redaktion. Sie steckt einen gehbehinderten Gladiator zu einem kranken Löwen in die Arena, um sich am Gemetzel zu erfreuen. Und noch bevor das Blut im Sand versickert ist, verzieht sich die Bestie in die Rubrik «Reinreden», um noch einmal nachzutreten. Dort findet sich der Text Zwei Häufchen. Der dreiköpfige Redaktionsdrache Basso-Weidmann-Prenner macht sich mit einem ironischen Zähnefletschen über den Autor und seinen Kritiker her, oder was von ihnen übrig geblieben ist: «Die Mobber gehen voraus, wir trippeln seitwärts hinterher. Wir, viele blaue kleine Kritiker, schreien ‹Verrückte, Monstren, Perverse›, aber differenzierend, darum lösen wir uns gemeinhin in Rauch auf.» GREGOR SCHENKER
Das Konzept von delirium hat sich mir nicht von Beginn an erschlossen. Ich habe oft nachgefragt, was genau damit gemeint sei, eine Zeitschrift zu drucken, die aus literarischen Texten mit dazugehöriger Kritik besteht. Von Ausgabe zu Ausgabe sollen zudem von den Autorinnen und Autoren Bezüge zu den vorhergehenden Ausgaben gemacht werden. Soweit ist es mir klar. Aber wie das umgesetzt wird, ist eine andere Frage. Wie ich in Wie ich mich aufmachte, gute Literatur zu suchen aufzuzeigen versucht habe, besteht der Bezug des Textes Wie ich mich aufmachte, ein abgesägtes Körperteil wieder zu finden hauptsächlich darin, Bilder von anderen Texten zu wiederholen (z.B. die Motive «Schiffe», delirium N°02, und «Zürcher Privatbank», delirium N°04). Sie werden inhaltlich aber nicht in Bezug zum vorhergehenden Text gestellt. Falls ein inhaltlicher Bezug zu anderen Texten besteht, so ist er nicht deutlich genug. Reicht es, einen Bezug lediglich durch eine Wiederholung anzuzeigen? Offensichtlich ja. Was das für eine Qualität darstellen soll, bleibt mir aber unklar. Es gibt aber auch sehr gelungene Beispiele von Bezügen. So der Text Genealogien aus delirium N°01, der das Motiv der Griechischen Mythologie aufgreift und somit Bezug auf den Text Jason träumt aus delirium N°02 nimmt. Und zwar nicht nur, indem die Motive wiederholt werden, sondern indem der Text das Motiv anders verarbeitet: Die Griechische Mythologie wird aufgegriffen und in eine neue spannende Geschichte verpackt. Das ist für mich ein nachvollziehbarerer und sehr gelungener Bezug. Das Konzept der Kritik im delirium hat immer wieder für Gesprächsstoff gesorgt. So auch an den regelmässig durchgeführten Kritikerinnen- und Kritiker-Stammtischen, bei denen Kritikerinnen und Kritiker mit der Redaktion zusammensitzen und darüber diskutieren, was eine gute Kritik ausmachen könnte, in welcher Form diese geschrieben sein könnte und wie sie auf den Text referieren könnte. Wenn aber eine – in meinen Augen – gelungene Kritik von der Redaktion eine Art Gegendarstellung in Metaphern und aufgegriffenen Moti-
Was das für eine Qualität darstellen soll, bleibt mir aber unklar.
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Reinreden
Wie ich mich aufmachte, gute Literatur zu suchen (reloaded)
ven des kritisierten Textes erhält, die die ursprüngliche Kritik etwas abfedern soll, dann verstehe ich das Konzept der Kritik nicht mehr (siehe delirium N°04). Eine Kritik, solange sie angemessen und belegt ist, soll als Kritik gelten. Und wenn die Redaktion eine Gegendarstellung dazu schreibt, dann sollte diese wiederum angemessen und belegt sein. Der Text Zwei Häufchen hingegen kritisiert auf eine allzu extravagante Art – die bestimmt nicht für alle nachvollziehbar gewesen ist. SUSANNE RICHLI
Reinreden
Das Unbehagen in der Natur (2)
Es ist Nacht und die gewohnte Umgebung verborgen. Ich war eingeschlafen. Der Nachhall der friedlichen «3-D Sounds of the Celtic Sea» wurde mittlerweile durch die mechanischen Stösse des Titels «Water Wheel» abgelöst. Rollands «ozeanisches Gefühl» ist kein auditiver Genuss mehr. Es macht sich vielmehr körperlich bemerkbar. Triebhaft wende ich mich im Takt des Wasserrads und in der irrigen Annahme, den Harndrang für dieses eine Mal unterdrücken zu können. Denkfehler des Halbschlafs. Der Selbstbetrug gelingt kaum. Es folgt ein unangenehm lautes Stück mit dem Titel «Overflowing» und ich leide nun ziemlich stark. Das Rauschen der digitalisierten Brandung des Vorabends, die sublimierende Macht der kostenpflichtigen Naturklänge – im Dunkel wird deutlich, wie teuer sie erkauft waren. Sowohl die Kulturfaktoren, die in der natürlichen Gleichmässigkeit von «Calm Beach» noch für aufgehoben erklärt schienen, als auch die ausser Kraft gesetzten freudschen Sublimierungsleistungen, müssen nachträglich mit körperlichen Bedürfnissen beglichen werden. Rollands «Ewigkeit» im «ozeanischen Gefühl» erhält mit drückender Blase eine äusserst alltägliche Bedeutungsnuance. Während des gebrechlichen Gangs zur Toilette wachsen meine Zweifel am genutzten Angebot der Nature Sounds. Das Versprechen der Naturklänge, uns die feindliche Natur als auditive Lust technisch aufzubereiten, ist betrügerisch. Die Gefühle des «Unbegrenzten» und «Schrankenlosen», die letzten fünf Wellen am Strand des Bewusstseins, kommen zu einem Preis: dem fortlaufenden Aufwachen aus einem Traum. Auch im rein materialistischen Zugang zu einem religiösen Gefühl, zu jener sensation de l‘éternel, finde ich mich hin und her geworfen durch Kräfte, die den Menschen seit jeher bedrängen. L’océanique lässt sich im Licht der Strassenlaterne, die sich im nächtlichen Bad spiegelt, nicht mehr als Dauerzustand missverstehen. Höchstens einen Augenblick, um dessen Vergänglichkeit man stets weiss. Auch in den Klängen der Nature Sounds. Heute halte ich mich erstmals erleichtert wach, um den Zusammenhang zwischen dem «ozeanischen Gefühl» und dem körperlichen Unbehagen durch die Wellengeräusche für einmal festzuhalten – denn meist ist auch dieser am nächsten Tag vergessen.
… den Harndrang für dieses eine Mal unterdrücken zu können.
LUCA THANEI
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Hommage an Nº 04
Reinreden
Aufstieg Untergang Umbruch im Schatten von Ost und West einer stieg auf der Untergang die Windmühlen bösartig die Quarkmaschine unverständlich was passiert zwei Haufen mit Unbehagen sind von Besserwissern weggeschwafelt worden der Kannibale sucht das Herz in der Finsternis Zweifelhaftigkeit gehört dazu schwafle gern zum falschen Schluss WOLFGANG MACH
Für mehr Literaturförderung! Aus Pamphlete und Schmähreden
Schreibende sind im Verkauf ihrer Arbeit das perverseste Produkt der Kapitalwirtschaft. SchriftstellerInnen produzieren und fabrizieren Gedanken und Geschichten, um sie zu verkaufen. Damit verkaufen sie mit jeder ihrer Arbeiten auch denjenigen persönlichen Anteil, der jeder kreativen Arbeit angehört: die eigene Originalität der Erfahrung, der Wahrnehmung und der Sprache. SchriftstellerInnen verkaufen ihr Selbst. Umgekehrt dürfen alle im stillen Kämmerchen ihren verqueren Liebhabereien nachgehen, solange sie finanziell abgesichert sind und sich ihre amour nicht zu einer amour fou auswächst, die die Stabilität der gesicherten Existenz gefährdet. Denn vom Schreiben kann niemand leben, das ist bekannt. Eben dieses Schreiben ist das einzige Schreiben; jenes Schreiben, von dem niemand leben kann, ist das Schreiben, das sich nicht verkauft und sich nicht verkaufen muss. Aber dafür braucht es einen Rahmen. An den Universitäten beispielsweise wird die Unabhängigkeit und Einheit von Forschung und Lehre vorausgesetzt. Anscheinend ist die schreibende Zunft niemals stark genug gewesen, um sich für diesen Standard auch in ihrem Berufszweig einzusetzen. Dabei ist klar, dass nicht alles, was aufgeschrieben ist und wird, die goldene Bezeich-
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Reinreden
… Sind die Autogaragen in ihrer Anzahl gerechtfertigt …
nung Literatur, geschweige denn gute Literatur, verdient. Gerade dieses Qualitätssiegel zu vergeben, sollte auch zu den Aufgaben von Universitäten gehören. Insofern ist es überhaupt nicht verständlich, warum das aktuelle literarische Schaffen an den Universitäten nur ungenügend gefördert und kaum reflektiert wird. Stattdessen wird diese Aufgabe einzelnen Gremien und Kommissionen des Staates, die grosszügigerweise kleinere Werkbeiträge vergeben, oder der zerstörerischen Privatwirtschaft überlassen. Im Kanton Zürich machte 2014 die Literaturförderung gerade mal 0.4 % der gesamten Kulturförderung aus. SchriftstellerInnen brauchen ja auch nur Stift und Papier! Es stelle sich einer vor, sie wollten essen, wohnen oder lesen. Es ist einleuchtend und darf nicht zur Debatte stehen, dass gute Kunst genauso auf Förderung angewiesen ist wie die Wissenschaft. Denn wie die besten Artikel in den besten wissenschaftlichen Fachzeitschriften für das breite Publikum grösstenteils unverständlich sind, sind die besten Kunstwerke nicht allen auf Anhieb verständlich (Ausnahmen vorbehalten). Das ist auf die Komplexität zurückzuführen, die dem Kunstwerkt möglicherweise eigen ist und die es erst zu einem grossartigen Kunstwerk macht. Von diesem Standpunkt aus muss es klar sein, dass die besten Kunstwerke nicht diejenigen sind, die sich am besten verkaufen, und es doch genau diese sind, die einen wesentlichen und grundlegenden Beitrag zum Leben auf der Erde leisten können. Daraus schliesst sich, dass eine Person, die hervorragende Kunstwerke schafft, nicht unbedingt davon leben kann, und das, obwohl ihr Beitrag zur Gesellschaft von eminenter Wichtigkeit ist. Damit enden wir bei der Verkümmerung der literarischen und anderer künstlerischer Stimmen einer Gesellschaft, die ihrer Kultur keine Sorge getragen hat, da sie ihre Wichtigkeit entweder verkannte oder nicht wahrhaben wollte. Diese Gesellschaft ist geizig mit dem allgegenwärtigen Reichtum menschlicher Arbeit umgegangen. Ja, diese Gesellschaft hat es sogar für eine gute Idee gehalten, alles, was sie hatte, einigen Wenigen und Immergleichen, die den Haushalt bereits mehrfach an die Wand gefahren haben, in die Hand zu drücken und es nicht mit Zinsen zurückzufordern. Wird den Schreibenden ein Leben ermöglicht, können sie sich auf ihre Tätigkeit konzentrieren. Anstatt eine Autogarage zu eröffnen, werde ich Gedichte schreiben. Das gefällt nicht allen, denn eine Autogarage verkauft Autos und mit diesen kann ich schneller räumliche Distanzen überwinden, um produzierte Waren von A nach B zu verschieben und dort zu verkaufen. Und was tut das Gedicht? Im besten Fall: Es hilft. Es hilft uns, zu verstehen. Es hilft, ein erfüllteres und glücklicheres Leben zu führen. Denn Verstehen bewahrt vor vermeidbaren Fehlern, die schon einmal zu Unglück geführt haben und es möglicherweise wieder tun werden. Anstatt dass Narziss im trostlosen Anblick seiner Selbst verhungern muss, darf er der geliebten Echo lauschen, die ihm süsse und liebe Worte ins Ohr flüstert. Obwohl ich die Nützlichkeit des Autos nicht in Frage stelle, werfe ich auf: Sind die Autogaragen in ihrer Anzahl gerechtfertigt oder reichten auch weniger, während gleichzeitig aktuelle Literatur in ungenügender Zahl vorhanden ist und es mehr geben dürfte, die nicht im Angesicht der Privatwirtschaft gefertigt wurde? CARLO SPILLER
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Comic «Ich weiss nicht, wieviel ihr mit Comics anfangen könnt, aber die haben ja auch am Rande was mit Literatur zu tun. Zudem fand ich einfach, Oberholzers Gedicht funktioniert in gezeichneter Form viel besser.» (Gregor Schenker)
Blindes Vertrauen Der Hund an der langen Leine Am Abgrund ausgerutscht Hängt in der senkrechten Wand Der nichtsahnende Blinde sagt Alfie zieh nicht so Ich komm ja schon
«Ich weiss nicht, wieviel ihr mit Comics anfangen könnt,N° 04) aber die haben ja auch am Rande was mit (Zweitabdruck aus delirium Literatur zu tun. Zudem fand ich einfach, Oberholzers Gedicht funktioniert in gezeichneter Form viel besser.» (Gregor Schenker)
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RENÉ OBERHOLZER
Die Besserwisser (ein neuer Versuch) Die Redaktionsmitglieder Esther Laurencikova und Daniel Grohe liefern sich, wie sie selbst sagen, ein höchst missglücktes Wortgefecht. D: Die Panik des Schreibens ist wie das Werfen eines Bumerangs. Was, wenn einem die eigene Scheisse ins Gesicht fliegt? E: Es ist ein Pinkeln gegen den Wind. Es kann sich nicht immer lohnen. Die vulgären Elemente dieser Sätze sind Ausdruck der Innerlichkeitswüsten der beiden Autoren.
Reinreden
E: Man kann uns nicht vergeben, denn wir wissen, was wir tun. Wir sind keine Rebellen ohne Grund. Wir geben schliesslich eine Literaturzeitschrift heraus. D: Kennst du diese Aufnahme von James Dean, in der er sich eine Zigarette in den Mund wirft? E. kennt die Aufnahme, man sucht youtube vergebens ab, man beschliesst, sich wieder dem Text zu widmen. Ausserdem wollen wir nicht als solche gelten, die die Innerlichkeitswüste von James Dean verstehen. E: Eigentlich ist es ein bisschen schwach, dass wir einen Besserwisser schreiben, der unsere Überforderung zeigt. Wir haben keinen Inhalt, also sprechen wir darüber, dass wir keinen Inhalt haben. D: Dieses Gespräch ist ja auch nicht echt, es ist nicht dem Lektorat zum Opfer gefallen, es wurde bereits so konzipiert. E: Ja, das stimmt. Und es gibt zwei Deutungsansätze. 1. Wir sind so meta, dass wir mit nichts alles sagen. Oder 2. Die Ideenlosigkeit dieses Textes kann sich nicht hinter postmodernen Auffassungen verstecken. Wir sind so unoriginell, wir sind abgelatscht, das hatten wir schon. D: Wir können machen, was wir wollen. E: Schliesslich bezahlen wir ja diese Seite. D: Genau. Wir könnten ein Heft herausgeben und die Seiten mit «Brummli» vollschreiben. Das hat schon einmal einer gemacht. Friedliche Stille. D: Wir nehmen diesen Text zu wenig ernst. Wir könnten diesen Platz nutzen und wirklich über etwas reden. Wir könnten uns vielleicht einmal wirklich positionieren. E: Oder wir könnten darüber reden, wie wir das machen. Wir könnten uns eine Metapher zulegen, vielleicht nicht schon wieder das Haus delirium. Wenn es Fenster hat, muss man die nämlich putzen. Mir gefällt nicht immer was da draussen passiert, mir gefällt
Wir könnten diesen Platz nutzen …
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nicht, was ich sehe. D: Über sich selber schreiben ist einfacher. Wieso hinausgehen, wenn der Mittelpunkt ja in mir liegt? E: Also eine andere Metapher, wenigstens für dieses Gespräch. D: Vielleicht wir zwei, eingefroren in zwei Eisblöcken, es schneit und es ist dunkel. Vielleicht schreien wir einander an, damit die Verzweiflung auch rüberkommt. So schreien wir dann über das delirium, über die Literatur, über die Kunst. E: Dann wird es jene geben, die darin das geistige Phlegma der Redaktion sehen und andere werden es witzig finden. D: Mich friert bei dem Gedanken. An dieser Stelle haben wir uns entschieden, dem Gespräch einen anderen Verlauf zu geben. Wir reden jetzt über etwas anderes. E: Wir können uns ja unsere Biederkeit eingestehen, wir bestimmen ja, dass das alles abgedruckt wird. D: Ich bin gespannt, ob das jemand liest.
Disclaimer Die delirium-Redaktion distanziert sich von den hier veröffentlichten Kritiken, literarischen Texten und Reinreden-Essays, soweit es als auswählende Instanz und Herausgeberin möglich und glaubhaft ist. Die Redaktion hat keine Meinung, höchstens versehentlich, sie möchte Meinungen machen und ihnen Platz geben. Alles, was die Redaktion erreicht, wird anonymisiert. Textauswahlsitzungen sind so hartnäckig wie Papstwahlen. Es fliessen viele Tränen. Und Blut. Die Aussagen und Haltungen der Texte (insbesondere der eingereichten Kritiken) widerspiegeln, wo nicht anders vermerkt, niemals die Meinung der Redaktion, nicht einmal entfernt die einzelner Mitglieder: Meistens und mit Vorliebe laufen sie ihnen zuwider. Die Redaktion ist nicht geschlossen, sondern streitet sich gern: Wir drucken ab, was wir für diskussionsträchtig halten. Kritiken, die unberechtigt scheinen, scheinen so: Es sind auch Meinungen. Wir überlassen die Entscheidung den Leserinnen und Lesern, die haben sonst so wenig. Also seid nicht so nervös. Reisst euch zusammen. Und schickt uns einfach euren Text. Nur dies ist die Meinung der Redaktion. PS: Haters gonna hate. Wir embracen alles.
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CAPTNS & PARTNER GmbH Grafik • Web • Fotografie
Morgenstr. 83 b CH—3018 Bern +41 31 331 76 36 contact@captns.ch www.captns.ch
Schwitter-Feed Schweetheart@die_ganze_verdammte_Welt – 01.10.2015 Im Namen der delirium Redaktion: «Macht uns fertig!» #HeinzdeSpecht. Denn: «Der Mensch ist gar nicht gut, drum hau ihn auf den Hut.» #BertB. Schweetheart@SR – 01.11.2015 Die Schiedsrichterin sprach: Foul. Wenn ihr schon #meckern wollt, dann «deklariert» es wenigstens! Ich so: Voll d’accord, eh. – Aber halt ... Schweetheart@Schweetheart – noch vor dem 01.12.2015 Was #meckern!? Dem einzige #Zigebart häsch du, also bisch dem einzige, wo #meckren dörf: Mähähähähähähähä ... Wil letschti, weisch no, Junge? Schweetheart@Junge_AH – 01.01.2016 Mann mit #Zigebart auf Uraniabrücke. Hält ein Auto. Scheibe runter. Hirn raus: «Mäh... Zige, Zige, Zige!» Hirn rein. Scheibe rauf. Auto weg. Schweetheart@die_ganze_verdammte_Welt – 02.02.2016 Ich so: „Easy nice.“ – Dafür wisst ihr jetzt, warum ich der einzige bin, der #meckern darf. Also lasst euch #Bärte wachsen oder: Klappe zu!? Schweetheart@Redaktion_delirium – 03.03.2016 Ihr seid bloss junge #Wannabes und tut, als könntet ihr #Literatur. Aber ihr... ihr werdet... werdet nie des «Kaisers #Bart» haben: Mähähäh!
Mehr Wurst! Du kannst es besser? Wirf die Wurstmaschine an und schick uns deinen literarischen Text bis am 15. Dezember 2015 an: info@delirium-magazin.ch So gewinnst du: Bezug zu Vorgängerausgaben! … spinne eine Geschichte weiter … … denke eine Figur zu Ende … … baue ein Motiv aus … … schreibe ein Gedicht zu Prosa zu Drama um … … mache Jazz, hole Elektro heraus … … und überhaupt: was soll das alles eigentlich … … diese Welt, diese Literatur … max. 15‘000 Zeichen Bezug zu Vorgängerausgaben! Gefragt sind künstlerische Antworten auf die bereits erschienenen Ausgaben delirium N° 01 bis N° 05
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