Cartouche No 3

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Cartouche #3


Impressum: www.cartouche-blog.de www.cartouche-blog.tumblr.com Cartouche sind: Jamie Jonathan Ball Jai Brodie Lukas Dubro Lennart Etsiwah Léo Favier Gregor Gille Augusto Gómez Lima Tommi Grönlund Ilka Hallmann Marie-Therese Haustein Matthias Heiderich Kathy Kwon Sara Kwon Henning Lahmann Elisa Longhi Felix Müller Warren O'Neill Konstantin Pannicke Falko Saalfeld Pauline Schmiechen Paul Solbach Charlotte Johanna Thiessen Tonje Thilesen Kristina Wagener Regina Weber Marius Wenker Dank an: Alexander Winkelmann, Simone, Jonathan, Jamie, Amande, Remi, Austin Brown, Nadine, Bruno, Bennet, Mincer Ray, Chris Kline, Piet, Stefan, Max Dax, Philipp Goll, Philipp, Konsti, Claire Boucher, Sam & Claudia, Fionn, Dave, Evelyn, Thomas Vorreyer, Rachel, Das Gift, Antje Øklesund, Zottie, Kosmetiksalon Babette, King Kong Klub, Dan Bodan, Kyra, Soren, Jan, Michi, Guenther Lause, Werner, Penclub


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H 3 #3 FANZINE


Berlin ist eine Stadt, in der vieles gleichzeitig passiert. Das mag reizvoll sein. Genauso schnell kann es aber auch passieren, dass man den Überblick verliert. Das gilt insbesondere für die Kulturlandschaft der Stadt mit all ihren großen und kleinen Nischen. Doch nicht nur Konsument_innen haben mit dem Überangebot zu kämpfen - junge und weniger etablierte Künstler_innen sind davon ebenso betroffen. Viel zu oft gehen sie im Rauschen der Stadt einfach unter, ohne dass jemand Notiz von ihnen genommen hätte. Das ist schade. Schließlich sind es gerade sie, die Bestehendes in Frage stellen und Neues ausprobieren. Eben jenen Berliner_innen wollen wir ab dieser Ausgabe verstärkt unsere Aufmerksamkeit schenken.

Zu den Highlights unserer ersten Berlin-Ausgabe gehört der Musiker Dan Bodan, der in Berlin Zuflucht vor seinem Kunst-Studium gefunden hat. Neben einem einzigartigen Stilbewusstsein verfügt der Kanadier über eine beeindruckende Stimme. Sein Song »Aaron« ist ein Hit und erschien vor kurzem auf dem New Yorker Label DFA. Wir sind fest davon überzeugt, dass Dan es einmal weit bringen wird und wünschen ihm an dieser Stelle für seine Zukunft alles Gute. Nicht minder vielversprechend ist das Popduo Nadine and the Prussians. Bei Nadine Finsterbusch und Bruno Bauch sitzt einfach alles, vom Haarschnitt bis zu den Melodien. Wir haben uns mit den beiden getroffen, um mit ihnen unter anderem über ihre Zukunftspläne zu sprechen. Mit der Experimental-Band Man Meets Bear hingegen führten wir ein unvorbereitetes Interview, in dem es neben den Nachteilen des Berühmtseins auch um ihre Liveshows ging. Diese sind immer ein besonderes Ereignis.

Liebe Leser_innen,

Es lebe Berlin!


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Berlin hat aber nicht nur aufregende neue Musikprojekte zu bieten. Auch in der Modeszene gibt es eine Vielzahl junger Talente. Nachdem wir in der ersten Ausgabe bereits den wundervollen Vladimir Karaleev portraitiert haben, widmen wir uns diesmal der aufstrebenden Designerin Regina Weber. Regina studiert seit einem Jahr Mode an der Kunsthochschule Weißensee und assistiert in ihrer Freizeit der Designerin Sissi Goetze. Wir freuen uns sehr, euch Reginas erste selbstentworfene Kollektion präsentieren zu dürfen. Fotografiert hat sie Lennart Etsiwah, den wir euch im letzten Heft vorgestellt haben. Model gestanden hat ihm Pauline Schmiechen. Pauline hat für uns einen Fragebogen über ihre Vorlieben und Interessen in Sachen Mode ausgefüllt. Ein weiterer Hingucker dieses Hefts ist die Fotostrecke von Matthias Heiderich. Matthias hat ein Faible für Gebäude. Wie er uns berichtete, schätzt er an ihnen vor allem ihre Geduld. Im Gegensatz zu lebenden Motiven könne man stundenlang um sie herumschleichen und nach immer neuen Details suchen. Für unsere dritte Ausgabe hat uns Matthias einige Fotos aus seiner Reihe »Stadt der Zukunft« zur Verfügung gestellt, in der er das Hansaviertel am Tiergarten festgehalten hat.

Bei all der Liebe zu Berlin wollen wir aber das Geschehen außerhalb der Stadt nicht aus dem Blick verlieren. Entsprechend finden sich in diesem Heft Texte, die sich mit Künstler_innen und Phänomenen außerhalb der Stadt befassen. Der Berliner DJ Warren O’Neill empfiehlt das neue Album des Dancemusic-Produzenten Madteo, Henning Lahmann wiederum hat sich die vier EPs von Old Apparatus angehört, einem Kollektiv, dem es durch das Spiel mit Anonymität gelungen ist, Autorenschaft zu verwischen. Paul Solbach hingegen geht der Frage auf den Grund, warum sich Black-Metal nicht zum hippen Trend eignet. Besonders wollen wir uns an dieser Stelle bei den Betreiber_innen des deutsch-portugiesischen DIY-Labels Mouca, Augusto Gómez Lima und Charlotte Johanna Thiessen, bedanken, die für uns ein Mixtape zusammengestellt haben. Bands, mit denen sie befreundet sind und die sie sehr schätzen, sind dort vertreten. Herunterladen könnt ihr es euch auf unserer Internetseite www.cartouche-blog.de/mouca.

Viel Spaß beim Lesen!

Die Redaktion von Cartouche


Fotos von Matthias Heiderich


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MAN MEETS BEAR

Eine Eingangsfrage, 30 Minuten Zeit. Mit unserem Format »Unredigiert« wollen wir den Verlauf spontan geführter Interviews dokumentieren. Das Ziel dieses Unterfangens? Ein Gespräch auf Augenhöhe! Der Interviewte soll mitbestimmen, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelt. Das Resultat dieses Versuchs bekommt ihr ab jetzt in jeder Ausgabe von Cartouche zu lesen. Und wer würde sich für den Start unseres Experiments besser eignen als eine Band wie Man Meets Bear? Soren Brothers, Evelyn Malinowski und David Dunnett werden in Berliner Szenekreisen für ihre Live-Improvisationen sehr geschätzt. Anstatt ihre Songs in ein festes Korsett zu zwängen, lassen sie sich auf der Bühne von ihrem Gefühl und ihrer Intuition leiten. Jedes Konzert wird auf diese Weise zu einem besonderen Erlebnis. Seit 2010 machen die drei Freund_innen zusammen Musik, im November 2012 tourten sie durch Dänemark und Deutschland.

Unredigiert


Stil-Ikone, Andy-Warhol-Wegbegleiter und Interview-Magazine-Macher Glenn O'Brien bereitet sich auf seine Interviews nicht vor. Er überrascht sein Gegenüber lieber mit spontan gestellten Fragen wie: »Was ist in deinem Kühlschrank?« Oder: »Was hast du gerade in deiner Hosentasche?« Entsprechend frage ich euch: Würdet ihr gern reich und berühmt sein? SOREN: DAVID: EVELYN:

Nein danke! Das kommt für mich gar nicht in Frage! Ich bin schon reich und berühmt, sorry!

Wirklich? SOREN:

Ja, das stimmt: Evelyn spielt bei Daft Punk! Das ist ihr Nebenprojekt.

Soren, David, ihr habt sofort abgelehnt, warum? SOREN: Zu viel Geld macht auch nicht glücklich, das ist wissenschaftlich bewiesen. Ich hätte aber nichts gegen Anerkennung. Wenn, dann würde ich gernso sein wollen wie Neil Young: Der ist berühmt, sein Haus wird aber trotzdem nicht von Paparazzi belagert. DAVID: Ein Celebrity zu sein klingt für mich wie das Schlimmste auf der Welt! Ich brauche meine Privatsphäre. Man hat also kein Privatleben mehr, wenn man reich und berühmt ist? EVELYN:

Doch, das geht schon. Die reale Person kann für immer im Verborgenen bleiben.

Das erinnert mich an Bob Dylan glaubt ihr, dass jemand den echten Bob Dylan kennt? DAVID:

Ich weiß nicht mal, ob der echte Bob Dylan sich selbst kennt.

Um auf meine Eingangsfrage zurück zu kommen: Wäre denn Berlin ein Ort, an dem man reich und berühmt werden kann? Wie seht ihr Berlin? EVELYN: Ich denke, dass Berlin ein Ort ist, an den Leute kommen, die entweder ihre Karriere vorbereiten wollen oder die es schon zu Ruhm gebracht haben. DAVID: Berlin fühlt sich an wie ein Altenwohnheim für kreative Menschen. Sie hatten ihre aktive Phase an anderen Orten und wollen sich hier entspannen... EVELYN: … eine Familie gründen und ein Haus in Pankow mieten. DAVID: EVELYN: SOREN:

Ich träume davon, später ein Haus in Pankow zu haben. Es ist wirklich schön dort! Ich bin dort noch nie gewesen...

Wie seht ihr die Indie-Musikszene Berlins? SOREN: Die Szene hier ist sehr fragmentiert. Leute kommen, Leute gehen. Viele Bands betrachten Berlin als sicheren Hafen, von dem aus sie die Welt bereisen können. Eine lokale Szene wie in Brooklyn oder Montreal gibt es hier allerdings nicht.


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Was unterscheidet Brooklyn oder Montreal von Berlin? SOREN:

Die Leute, die dorthin kommen, wollen etwas erreichen.

Und in Berlin ist das anders? SOREN: Richtig. DAVID: Ich kenne Brooklyn nicht genug, um davon sprechen zu können, ich weiß aber, dass die Musikszenen in Toronto oder Montreal so gut funktionieren, weil es dort eine kleine Gruppe extrem leidenschaftlicher Menschen gibt, die alles für die Musik geben. Sie bringen Bands miteinander in Kontakt und erschließen neue Räume. In Berlin scheint es solche Leute nicht zu geben. Zumindest kenne ich keine. EVELYN: Fairerweise muss man aber auch sagen, dass das alles in Toronto und Montreal auch nicht von heute auf morgen passiert ist. Die Szenen dort sind das Resultat langer harter Arbeit. Vielleicht ist die Szene Berlins einfach noch zu jung. Schau dir uns an: Wir sind alle auch relativ neu hier. Ich wohne erst seit 2010 in Berlin.

Es baut sich also gerade was auf? EVELYN: Es fühlt sich zumindest so an. SOREN: Ich sehe das aber nicht nur negativ. Vielmehr ist es sehr erfrischend, dass es hier noch keine all zu sehr gefestigten Strukturen gibt. Wenn du in Montreal nicht zur Clique gehörst, kriegst du weder Gigs noch Anerkennung. Zwei bis drei Leute entscheiden dort über das Schicksal vieler. Das hat die Szene dort sehr gelähmt. Am Ende standen dort Bands auf der Bühne, die nichts drauf hatten, aber die richtigen Leute kannten. Berlin ist weit weniger elitär. Du kannst spielen, wo du Lust hast. Du musst nur fragen. EVELYN: Berlin ist echt locker. Statt Cliquen-Denken gibt es hier einen Support für außergewöhnliche Musik. Warum seid ihr nach Berlin gekommen? SOREN: DAVID: EVELYN:

Ich wollte die Berliner Mauer sehen. Ich mochte die Stadt. Ich hatte vorher in der Schweiz gewohnt und war hier oft zu Besuch. Ich studiere.

Wo kommt ihr her? DAVID:

Unredigiert

Man Meets Bear

Soren und ich sind aus Kanada, Evelyn kommt aus Montana in den USA.


Wie habt ihr euch kennengelernt? DAVID: Über Bekannte. Eine Freundin sagte eines Tages zu mir: »David, du bist doch Musiker und Wissenschaftler, ich kenne da einen Typen namens Soren, der ist auch Musiker und Wissenschaftler. Er zieht bald nach Berlin, ihr solltet euch mal kennenlernen«. Wir verabredeten uns und verstanden uns auf Anhieb. Ihr seid also Wissenschaftler? SOREN: DAVID:

Richtig! ich bin Limnologe, beschäftige mich mit Seen. Und ich bin Ingenieur und Informatiker.

Die Überschneidungen sind also nicht so groß. DAVID: SOREN:

Genau, ich habe für Wissenschaft nicht viel übrig. Das wäre auch zu viel verlangt für einen Ingenieur. Viel zu kompliziert und philosophisch!

Habt ihr denn eine wissenschaftliche Herangehensweise an eure Musik? SOREN: Nicht wirklich. Was ich aber an der Musik und an der Wissenschaft mag, ist das Storytelling. Wissenschaftler versuchen immer eine simple Geschichte zu erzählen, von der du glaubst, dass sie wahr ist. Eine Menge Kreativität ist dabei im Spiel, schließlich musst du Berge von Zahlen bewältigen. Ich glaube, dass das überhaupt das Schwierigste an meinem Job ist.

Wenn nicht durch die Wissenschaft, wodurch ist eure Musik dann beeinflusst? EVELYN: Unsere Einflüsse variieren stark. Auf der einen Seite liebe ich straighte Klubmusik wie Tekkno. Manchmal habe ich aber auch Lust auf härtere Gitarrensounds und experimentelle Ansätze. Ich bin ein großer Sonic-Youth-Fan. David hingegen ist mit Punkrock und Hardcore groß geworden. Er hat in einer Hardcore-Band gespielt. SOREN: Ich habe eine klassische Klavierausbildung genossen. Entsprechend habe ich, als ich noch jünger war, vor allem klassische Musik gehört. Erst mit 16 Jahren habe ich moderne Musik für mich entdeckt.


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Sprechen wir über eure Vorliebe für die Improvisation: Ich habe zwei eurer Shows gesehen, eine im Madame Claude und eine im Antje Öklesund. Jede war anders. Ist das Absicht? DAVID: Wir haben nur versucht, uns den Gegebenheiten anzupassen. Im Madame Claude darf man ja kein Schlagzeug benutzen. SOREN: Gleichzeitig wollen wir immer etwas Neues ausprobieren. Uns wird schnell langweilig. Und wenn wir uns langweilen, besteht die Gefahr, dass das Publikum sich langweilt. Ich mag Shows, auf denen Unerwartetes passiert. Das ist der Grund, warum ich so gerne improvisiere. EVELYN: Unsere Lieder werden niemals gleich klingen. Aus irgendeinem Grund wird von Rockbands immer erwartet, ihre Songs genauso zu spielen wie auf ihrer Platte. Das ist aber unmöglich! Ihr glaubt also nicht an Songs? SOREN: Wir glauben zumindest nicht an die Idee, dass es die offizielle Version eines Songs gibt. Ich habe kein Verständnis für Leute, die versuchen, die »offizielle Version« eines Liedes aufzunehmen. Ich mag die Idee, dass wir die Möglichkeit haben, jedes Stück neu zu erfinden, egal zu welcher Zeit oder an welchem Ort wir es spielen. DAVE: Ein Song hat sowas wie einen unbekannten Kern, der das Wesen dieses Songs bestimmt. EVELYN: Die Gestalt dieses Kerns jedes mal neu zu definieren, darum geht es uns. Würdet ihr euch selbst als Rockband bezeichnen? EVELYN:

Nein!

Wenn ihr also nicht reich und berühmt werden wollt, was sind eure Pläne für die Zukunft? DAVID:

Unredigiert

Wir wollen Spaß haben!

Man Meets Bear

von Lukas Dubro


NADINE

And The

PRUSSIANS


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2012 war ein gutes Jahr für Nadine And The Prussians. Gemeinsam mit Türen-Bassist Ramin Bijan und Whitest-Boy-Alive-Produzent Norman Nitzsche spielten sie ihre erste EP ein,Christiane Rösinger ließ sie in ihrer sagenumwobenen Flittchenbar auftreten und auch in den Medien hat das Popduo einige Beachtung gefunden. Sie alle haben Recht. Nadine Finsterbusch und Bruno Bauch haben ein paar großartige Popsongs geschrieben, die eine unwiderstehliche Leichtigkeit versprühen. Eine tolle Liveband sind die beiden Musiker_innen aus Berlin und Dortmund obendrein. Ausruhen wollen sich Nadine und Bruno auf diesen ersten Erfolgen allerdings nicht und haben für 2013 bereits weitere Pläne geschmiedet: Die EP soll veröffentlicht, die Band erweitert und die erste große Tour in Angriff genommen werden. Im Interview mit Cartouche sprach das Duo über sein Erfolgsjahr, seine Gründungsgeschichte und seine Zukunft. Gespräche


Nadine, Bruno, ihr beide kommt ursprünglich aus Dortmund. Wie seid ihr mit Musik in Berührung gekommen?

Und wie habt ihr euch kennen gelernt?

Das ist schwer einzugrenzen. Prägend war sicherlich, dass ich im Kinderchor gesungen habe. Dort habe ich neben Kinderliedern eine Menge Popsongs kennen gelernt, Beatles, Take That und so Sachen. Das Fernsehen spielte aber auch eine wichtige Rolle. Ich habe viel MTV und Viva II geguckt. Eines Tages sah ich dort einen Auftritt von Björk. Ich war überwältigt und beschloss, genauso zu werden wie sie.

Während einer Klassenfahrt nach Norderney. Bruno und ich gingen damals in dieselbe Klasse. Während die anderen in einer norddeutschen Dorfdisko tanzen waren, blieben wir in der Herberge und spielten Musik. An dem Abend schrieben wir auch unseren ersten Song »Jacket with my Pocket«. Das war 1996. Bruno war 15 und ich 16 Jahre alt.

Bei mir lief das hauptsächlich über die Familie. Meine Eltern hatten eine große Plattensammlung, mein Bruder ist Musiker.

Danach haben wir eifrig weiter gemacht. Nadine kam nach der Schule oft mit zu mir. Ganze Nachmittage haben wir in meinem Zimmer gesessen und Songs geschrieben. Unsere erste Band nannten wir The Posh Kids. Wenig später gründeten wir mit ein paar Freunden Lorka, mieteten einen Proberaum, nahmen ein Album bei einem kleinen Label auf und spielten eine ganze Reihe Konzerte in Nordrhein-Westfalen.


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Gibt es in Dortmund so etwas wie eine Musikszene?

Bruno: Zumindest haben viele Leute eine Band, das sind allerdings eher so Profi-Mucker, die Jazz spielen oder Metal. Ein paar gute Konzerträume hat die Stadt auch zu bieten. Nadine: Wir haben aber nirgendwo richtig reingepasst mit unserer Musik, deshalb waren wir auch nie Teil einer Szene.

Ihr macht schon so lange Musik zusammen. Wird das nicht irgendwann langweilig?

Wann habt ihr The Prussians gegründet? Das war 2007, kurz vor meinem Umzug nach Berlin. Ich sollte ein Konzert spielen, hatte aber keine Band mehr, weil Lorka zu der Zeit schon lange nicht mehr existierte. Allein auftreten wollte ich aber auch nicht. Ich suchte also nach Mitmusikern. Wenig später saß ich bei Bruno in der Küche und schrieb mit ihm an neuen Songs. Es war direkt wieder wie früher.

Gespräche

Nadine And The Prussians

Ganz im Gegenteil. Nach all der Zeit verstehen wir uns fast blind. Es ist schon ein bisschen unheimlich, dass wir von der Ästhetik her immer in dieselbe Richung gehen.


Euch gibt es also schon seit fünf Jahren!?

Nadine: Wir haben am Anfang viel mit der Besetzung herumexperimentiert. Mal waren wir mehr, mal weniger. Eine Zeit lang bin ich sogar ganz allein aufgetreten.

Bruno: Genau. Mein Job und die große Distanz zwischen Berlin und Dortmund haben verhindert, dass ich mehr Zeit und Energie in die Band investieren konnte. Deshalb hatte das Projekt eine lange Anlaufphase.

Wann kam die Wende?

Bruno musste geahnt haben, dass sich bald tolle Gelegenheiten für uns ergeben sollten. Was für Gelegenheiten waren das? Wir haben unsere erste EP aufgenommen. Mit Ramin Bijan von den Türen.

Ende 2011, als ich merkte, dass mir die Musik sehr wichtig ist. Ich habe meinen Job gekündigt und bin jetzt viel öfter in Berlin. Ganz nach Berlin ziehen kann ich aber nicht. Ich bin Grafikdesigner, die Konkurrenz hier ist einfach zu groß.


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Wie ist diese Zusammenarbeit zustande gekommen?

Wer war noch alles an den Aufnahmen beteiligt?

Nadine: Ich arbeite in einer Kantine in Kreuzberg, an die Kreativ- Büros, Ateliers, Proberäume und Tonstudios angeschlossen sind. Die Leute, die dort arbeiten, essen regelmäßig bei uns. Ramin ist einer von ihnen. Irgendwann kamen wir dann ins Gespräch. Und als ich für einen Freund einen Song zu einem Festival in Graz beisteuern sollte, fragte ich Ramin, ob er mir helfen wolle. Er stimmte zu und die Arbeit lief so gut, dass ich ihn bat, unser Demo abzumischen. Er hörte sich die Songs an und fand sie so gut, dass er vorschlug, sie noch einmal mit einer Band neu aufzunehmen. Das war Ende November 2011. Im Februar 2012 sind wir dann ins Studio gegangen.

Sebastian von Ja Panik, Leo Auri von The Say Highs und Norman Nitzsche. Was Sebastian für uns am Schlagzeug gespielt hat, war großartig. Eine Freundin hat uns einander vorgestellt. Leo hat die Pianos und Keyboards eingespielt. Norman schaute am ersten Tag der Sessions vorbei, weil er mal in unsere Musik reinhören wollte. Am nächsten Tag kam er wieder und blieb dann bis zum Schluss. Alle Beteiligten haben lauter tolle Ideen beigetragen, es war eine super Zusammenarbeit. Bruno: Insgesamt haben wir sechs Songs mit Band aufgenommen und drei Songs zu zweit. Nach circa einem Monat waren wir fertig.

Gespräche

Nadine And The Prussians


Und wie geht es jetzt weiter?

Nadine: Die aufgenommen Songs auf CD oder Vinyl zu veröffentlichen wäre ebenfalls toll. Ein Video haben wir ja schon. Auf Tour zu gehen ist ein weiteres großes Ziel! Ihr wollt also Ernst machen.

Seit diesem Glück mit den Aufnahmen passieren immer mehr tolle Sachen. Wir haben das Gefühl, dass wir jetzt etwas mehr Aufmerksamkeit bekommen. Auch in Wien haben wir im letzten Jahr gespielt, einer der Höhepunkte 2012.

Bruno: Wir wollen unsere Band erweitern. Nicht mehr nur zu zweit auftreten wie bisher, sondern mit mehr Leuten. Auch wenn das mit den Loops sehr viel Spaß macht und wir als Duo super funktionieren.

Richtig. Wir sind gerade unglaublich produktiv, haben viele Songideen. Vielleicht war diese Ruhephase am Anfang des Projekts doch ganz gut. So konnten wir unsere Energie sammeln.

Wie würdet ihr eure Musik beschreiben? Ich sage immer, wir machen Popmusik.

Wir sind heute wesentlich eingängiger als früher. Nicht mehr so vertrackt.


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Was sind eure Einflüsse? Nadine: Beach House und Björk zum Beispiel. Beach House haben uns bestärkt, unser Ding weiter zu machen, schließlich sind sie auch ein Duo. Ihre Songs haben eine tolle Stimmung. Bei Björk hat mich ihre Art, an Gesangsmelodien heranzugehen, sehr beeinflusst. Obwohl unsere Melodien eingängiger sind. Nadine, wenn du nicht Musik machst, liest du aus deinen alten Tagebüchern vor, wie bist du auf diese Idee gekommen?

Ich habe meine Tagebücher bei einem Umzug gefunden. An die meisten Sachen konnte ich mich gar nicht mehr erinnern, fand es aber lustig, mich wieder damit auseinander zu setzen. Eigentlich wollte ich es dann nur meinen Freunden vorlesen. Letzten Endes wurde aber doch eine größere Sache draus. Unter anderem habe ich zweimal beim 100°-Festival im HAU gelesen, in Basel, Wien, Dortmund, Hamburg und Würzburg. In der Schweiz gab es sogar einen kurzen Fehrnsehbericht über die Lesung. Wow!

Du warst also nicht peinlich berührt von deinem früheren Ich? Nein, ich lache eher darüber.

Bruno: Es ist echt schade, dass das Tagebuch genau dann endet, wenn wir uns kennenlernen.

Gespräche

Nadine And The Prussians


Gibt es eine Anekdote, die du besonders magst? Nadine: Meine Lieblingsstelle ist die, in der ich ein Drehbuch für einen Film verfasse mit dem Titel: »You are my Babe«. Die Hauptrolle spielen ich und Mark Owen von Take That, in den ich damals verliebt war. Die Handlung ist unabsichtlich abgekupfert von Bodyguard, vor allem die Szene, in der ich wie Whitney Houston am Ende in den Jet einsteige und zurück renne und Mark mir daraufhin sagt, dass er mich liebt. Am Ende heiraten wir bei den MTV European Music Awards und kriegen Zwillinge. Wir gehen gemeinsam auf Tour, ich bringe meine Soloplatten raus und spiele als Vorgruppe von Take That. Das ist so gut, das müsste man verfilmen.

Fotos von Matthias Heiderich


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Ihr beiden seid inzwischen ja auch schon älter als dreißig. Kann man zu alt werden für Popmusik?

Nadine: Ich fühle mich nicht wirklich alt, mir wird auch immer gesagt, ich sähe aus wie 26!

Genau. Ich würde noch immer alles dafür geben, einmal mit Thurston Moore ausgehen zu können.

Bruno: Ich glaube, das ist eher umgekehrt. Schau dir Sonic Youth an. Obwohl die über 50 sind, ist ihre Popularität ungebrochen.

Mit 30 hört das Leben also nicht auf?

Auf keinen Fall. Ich kenne mehrere Leute in meinem Alter, die gerade ihre Jobs gekündigt und sich selbstständig gemacht haben. In Berlin ist das ja auch eigentlich kein Thema. Wie heißt es in diesem Schlager so schön: »Das Alter ist nur eine Zahl«.

Lukas Dubro findet, dass es kein schöneres Land auf dieser Welt gibt als Israel

Gespräche

Nadine And The Prussians

von Lukas Dubro


Die Geschichte des Hamburger Designstudios The Human Empire ist eine erfolgreiche. Nicht nur, dass es zwei eigene Läden in Hamburg besitzt, zählen zu seinen Kunden bekannte Größen wie Slanted, The New York Times, Anorak Magazine, Morr Music und zahllose Bands. Erkennen kann man die Arbeit von The Human Empire an ihrer schnörkellosen Einfachheit und den coolen Kombinationen aus bunten Vektorgrafiken, Illustrationen und Vintage-Fotografie. Unser Autor Jamie Jonathan Ball hat dem Gründer von The-HumanEmpire, Jan Kruse, fünf Fragen zu seinem Designunternehmen und seiner Arbeit gestellt.

1. Ein Projekt beginne ich…? …sehr oft ohne klares Konzept. Das liegt daran, dass ich immer an vielen Dingen gleichzeitig arbeite und mich um unsere beiden Shops kümmern muss. In der Regel fange ich irgendwo an, ohne zu wissen, was am Ende dabei herauskommen wird. Ich finde das aber nicht schlimm. Ganz im Gegenteil mag ich es, mit nichts weiter als skizzenhaften Ideen zu arbeiten. 2. Geometrische Formen wie Dreiecke und Diamanten kommen in meiner Arbeit immer wieder vor, weil…? …ich ein Faible für Klarheit und Simplizität habe. Die Design-Schule, auf die ich ging, ist sehr stark vom Bauhaus und dem Schweizer Design der 50er- und 60er-Jahre beeinflusst. Die geometrischen Formen sind aber nur ein Teil. Ergänzt und kombiniert werden sie durch spielerische Bilder aus der Popkultur. 3. Meine wichtigsten visuellen Einflüsse sind…? …verschiedene Kunst- und Designstile von 1950 bis 1980. Ganz besonders mag ich das Schweizer Design der 50er- und 60er-Jahre, zu dem unter anderem die llustratoren Herbert Leupin und Miroslav Sasek, die Geometriker Karl Gerstner und Victor Vasarely und der Typograf Herb Lubalin zählen. Aber auch zeitgenössische Künstler und Freunde haben meine Arbeit inspiriert. Unter ihnen Michael Perry, Steven Harrington und Bott Scarry.

Fünf Fragen an...


21 4. Ein typischer Arbeitstag bei The Human Empire…? …beginnt in der Regel zwischen zehn und zwölf. Unser Studio ist in den Hinterzimmern einer unserer Läden untergebracht, weshalb ich dort oft aushelfe. Generell besteht mein Tag aus den folgenden Aufgaben: Ich kümmere mich um die Organisation, bestelle neue Artikel oder produziere sie, verkaufe, mache sauber, telefoniere, sende Bestellungen raus, mache Fotos für den Webshop und bringe neue Produkte zu unserer Druckerei und zu unserem zweiten Laden. Der Shop schließt um sieben. Ich verlasse das Studio zwischen acht und neun. 5. Mein Tipp an junge Illustratoren und Designer? Heutzutage ist es sehr wichtig, seine Arbeit regelmäßig auf einer Internetseite, einem Blog oder in einem Zine zu veröffentlichen. Genauso wichtig ist es, mit so vielen Leuten wie möglich ins Gespräch zu kommen und ihnen einen Weblink zu der eigenen Arbeit zu schicken. Ich bin darin kein Profi, denke aber, dass es eine große Hilfe für die Zukunft sein kann!

The

Human Empire

Jamie Jonathan Ball illustriert und erzählt Geschichten unter dem Pseudonym Little Kingdoms Eu. Seit Neuestem arbeitet er für den britischen Kinderbuchverlag Osborne

Protokoll: Jamie Jonathan Ball


Eine Modedesignerin mit Fernweh

Regina Weber

Portrait

Foto von Falko Saalfeld


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Eine Küche irgendwo in Neukölln. Regina Weber sitzt mit ein paar Freund_innen am Tisch und erklärt den Unterschied zwischen den japanischen Schriftzeichensystemen. »Davon gibt es drei, sie kommen jeweils in anderen Bereichen zur Anwendung«, sagt sie lächelnd durch die schwarz umrandete Brille, die sie seit Neuestem trägt. Die braunen Haare hat sie wie immer zum Zopf gebunden, am Rand ihres unteren Augenlides hat sie sich mit schwarzem Kajal einen Punkt gesetzt. Sprechen kann sie die Sprache schon ganz gut: 千里の道も一歩から。Der deutsche Akzent ist fast gar nicht rauszuhören. Warum sich die aufstrebende Modedesignerin so gut mit dem Japanischen auskennt? Ganz einfach: Ab September wird sie dort ein Jahr studieren. Es ist genau dieser Durst nach Neuem, diese Reiselust, die Regina Weber auszeichnet. Wann immer sie kann, packt sie ihre Koffer, um die Welt zu entdecken. Sie bereiste den Nahen Osten, Zentralasien bis Fernost: China, Neuseeland, Oman, Tibet, Georgien, Nepal, Usbekistan und Sri Lanka. Direkt nach dem Abitur verbrachte die Designerin aus Bayern jedoch erst einmal ein Jahr in Shanghai, bevor sie sich in Berlin niederließ, um hier Chinesisch zu studieren. Nach zwei Semestern wirft sie jedoch hin. Der Grund: Sie will etwas anderes machen, genauer, zu ihrem eigentlichen Plan zurückkehren. »Im Herzen trug ich immer noch den Wunsch etwas mit Mode zu machen«, erzählt sie. Regina ist schon seit ihrer Jugend klar, dass Mode ihr Metier ist. Es ist der Schaffensprozess, der sie begeistert - ein selbstgemachtes Produkt in den Händen zu halten, etwas herzustellen, an dem jemand Freude hat. Anfangs zögert sie noch, diesen Weg einzuschlagen, doch als sie eines Tages eine Jacke des bulgarischen Designers Vladimir Karaleev im Concept-Store Apartment erspäht, ändert sich das schlagartig: »Ich war hin und weg von der abgefahrenen Jacke«, erzählt sie wenig später am Abend im Zwielicht einer Kerze. Vor allem fasziniert sie die Ästhethik des Designers, der seine Kleider nicht anhand einer Skizze fertigt, sondern sie im Orginalstoff an der Puppe drapiert.

Zeichnung von Regina Weber


Doch nicht nur die Leidenschaft für Mode wird durch das Kleidungsstück neu entfacht. Zugleich fasst sie an diesem Nachmittag den Entschluss für Vladimir zu arbeiten. Nach unzähligen Anrufen und Emails fängt sie schließlich im Herbst 2010 als Assistentin bei dem Designer an. Sie hätte sich keinen besseren Zeitpunkt für den Job aussuchen können: Es ist die Zeit vor Vladimirs großem Durchbruch. Heute zählt er zu den angesagtesten Berliner Designern. Von Beginn an wurde ihr viel Verantwortung übertragen: Innerhalb von drei Wochen stellt Regina zusammen mit dem Designer eine Modenschau bei der Mercedes Benz Fashion Week auf die Beine. Und das ohne jegliche Erfahrung. »Aber so arbeitet Vladimir nun mal«, sagt Regina. Sie ist mittendrin, näht die Nächte durch, lernt Tag für Tag die Wichtigsten des Modezirkus kennen und hat so viel Adrenalin wie noch nie im Blut. Das ist genau das, was sie machen will. »Ich konnte das alles gar nicht fassen«, sagt sie mit einem schwärmerischen Gesichtsausdruck. Vladimir ist erst der Anfang. Außerhalb des Ateliers arbeitet Regina an ihrer Bewerbungsmappe für die Kunsthochschule Weißensee, an der sie nun seit drei Semestern Modedesign studiert. Ihr Talent spricht sich rasch herum, Sissi Goetze heuert sie als Assistentin an. Von körperumhüllender Frauenmode eines Vladimir Karaleev wagt Regina den Schritt zu formvollendeten, perfekt geschnittenen Männerdesigns, die ihr einen anderen Blick auf die Mode ermöglichen. Sissi ist weit mehr als nur ihre Chefin. Sie ist eine wichtige Mentorin, als Regina sich an ihre eigene Kollektion wagt. Die Fragen »Wie sieht meine eigene Mode aus?« und »In welche Richtung soll es mit meinen eigenen Designs gehen?« stehen schon länger im Raum und als Vladimir, selbst in den Ferien in Italien, Regina das Studio für drei Wochen zum Arbeiten überlässt, scheint der Zeitpunkt genau richtig. Es ist Hochsommer und das Studio in der Leipziger Straße, aufgeheizt wie eine Sauna, ist nur bei Nacht erträglich zum Arbeiten. Die ersten Entwürfe enstehen, doch Regina wird ihren eigenen Ansprüchen noch nicht gerecht. Zu ähnlich sind die Designs denen Vladimirs. Nach und nach gelingt es ihr jedoch, ihre eigene Note herauszuarbeiten, bis schließlich in nur zweieinhalb Wochen fünf Oufits entstehen, die ihre persönliche Handschrift tragen und in deren Zentrum Strukturen stehen.

Portrait

von Marie-Therese Haustein


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Ungewohnte Materialien inspirieren sie und so werden Putzlappen, Fahrradschläuche und ein einem Duschvorhang ähnlicher Stoff in die Entwürfe integriert und verfremdet. So nimmt der Fahrradschlauch von Weitem betrachtet die Charaktereigenschaften von Leder an, erst auf den zweiten Blick erkennt man das eigentliche Material. Ein Kleid sticht aus der Kollektion besonders heraus. Eine selbstgefertigte Wachsstruktur wird auf weißen Stoff appliziert und mit einer transparenten Hülle verschleiert. Es ist ein Kleid, so einzigartig schön, dass es einem die Sprache verschlägt. »Den eigenen Stil zu finden, ist eine große Herausforderung«, sagt Regina ernst. Doch wie immer meistert sie diese Aufgabe bravourös (siehe Fotostrecke weiter hinten). Neben all diesen einmalig tollen Erfahrungen hat Regina auch die Schattenseiten des Modebetriebs kennengelernt: Den Modekritikern mangelt es oftmals an Respekt. Zwar dauert eine Show meist nicht länger als 15 Minuten, doch steckt sehr viel Arbeit dahinter, einige 80-Stunden-Wochen inklusive. »Mode ist kein Spaßding und kann schnell an die Substanz gehen«, sagt Regina. Genau das wird häufig vergessen, wenn leichtfertig Kollektionen verrissen werden. »In Deutschland gibt es nicht genügend Wertschätzung für Mode«, erklärt sie, während sie Wein in ihr Glas schenkt. Ihre Nägel glitzern vom goldenen Lack. Dies ist auch einer der Gründe, warum junge Modedesigner von einem unbezahlten Praktikum ins nächste fliehen, es fehlt die Anerkennung. Regina weiß, wovon sie spricht, sie hat das alles am eigenen Leib erfahren. Dennoch lässt sie sich nicht unterkriegen und will auf jeden Fall weitermachen. All die Erfahrungen, ob gut oder schlecht, haben sie geprägt. Wohin die Reise gehen wird, steht noch offen. »Alles ist möglich«, sagt die Designerin. Wahrscheinlich wäre zu viel Gewissheit auch langweilig für einen Menschen wie Regina. Eins steht aber sicher fest: Die Mode wird es sein. Erst einmal heißt die nächste Station jedoch: Japan!

Marie-Therese Haustein bekommt bei »Whiskey Sour« von Molly Nilsson Gänsehaut und überquert ab Ende Februar jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit die Seine


Mode: Regina Weber Fotograf: Lennart Etsiwah Model: Pauline Schmiechen (Viva Models) Styling: Marie-Therese Haustein Hair & Make-Up: Kristina Wagener Modestrecke









Wer das Model Pauline Schmiechen einmal auf dem Laufsteg oder in einer Fotostrecke gesehen hat, der wird sich auch an die Kleidung, vor allem aber an Pauline erinnern. Ob es an ihrer Ausstrahlung liegt oder an ihrem Gesicht, ist schwer zu sagen. Eins ist jedoch gewiss: Pauline sticht heraus. Das haben auch andere erkannt. Vor allem Vladimir Karaleev ließ sie wiederholt für sich arbeiten. Gecastet wurde Pauline vor drei Jahren an der Kasse eines Modegeschäfts, zur Zeit studiert sie an der TU und wenn sie damit fertig ist, will sie auch weiterhin modeln. Paulines größter Traum ist es, eines Tages von Peter Lindbergh abgelichtet zu werden.

Kaffee oder Tee? Ein Uhr schlafen oder Ein Uhr tanzen gehen? Katzen oder Hunde? Nostalgie oder Futurismus? Politik oder Partys? Bauhaus oder Jugendstil? Digital oder analog? Modeblog oder Modemagazin? Runway oder Fotoshoot? Weiß oder schwarz? Streifen oder Punkte? Paris oder New York? Vintage oder Designer? Chips oder Schokolade? Quentin Tarantino oder Woody Allen? Kate Moss oder Pete Doherty? Französische oder amerikanische Vogue? Girls oder Sex and the City? Geschminkt oder ungeschminkt?

Fragebogen

von Marie-Therese Haustein


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Zwei Tassen Kaffee. Wir sind in Berlin, da wird nicht geschlafen! Was genau ist ein Hund?! Futurismus mit einem Hauch Nostalgie. Politik sollte mehr Party sein. Bauhaus - Quadratisch. Praktisch. Gut. Alles digital, außer Essen. Lese weder einen Modeblog noch eine Modezeitschrift regelmäßig... Beides macht Spaß! Nachts sind alle Katzen grau. Ich habe beides im Kleiderschrank. »New York State Of Mind« Designer - wenn das nur nicht immer so teuer wäre... Ungarische Funny Frisch. Ein Tarantino-Film mit Woody Allen wäre toll! Kann mich kaum entscheiden. Wenn ich Vogue kaufe, dann eine italienische Ausgabe. Habe Girls noch nie gesehen. Wie ich grade Lust habe.

Foto von Jai Brodie


Mixtape

by Mouca


37 1.Nicholas Krgovich - Dreamin’ Man (Neil Young Cover) 04:08 2.Bobby Birdman - Surrender (Suicide Cover) 04:38 3.My Robot Friend - Astronaut (feat. Dean Wareham) 04:19 4.Viernes - Ancient Amazon/New Fashion 02:58 5.Fuxa - Some Things Last A Long Time (Daniel Johnston Cover/feat. Britta Philips) 08:11 6.Branches - Canção para o Luís (Robert Foster rework) 05:04 7.Xiu Xiu - The Girl Is Mine (Pale Molester Version) 02:42 8.Go Suck a Fuck - Um 01:05 9.Plastic Flowers - In You I’m Lost 02:06

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DAN BODAN


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Leute, vergesst Grimes, hier kommt Dan Bodan! Der kanadische Musiker hat alles, was man braucht, um es im Popgeschäft weit zu bringen: Stil, Charme und eine großartige Stimme. Von seinen umwerfenden Songs ganz zu schweigen: Sein Song »Aaron« zählt definitiv zu den besten Stücken 2012. Das New Yorker Label DFA scheint von den Qualitäten des in Berlin lebenden Sängers ebenfalls überzeugt zu sein, veröffentlichte es doch Ende 2012 die Tracks »Aaron« und »DP« auf Vinyl. Und da Dan Bodan wie kein zweiter ein Kind des Internets ist, führten wir unser Interview per Mail. Dort verriet er, dass er sich gern mal von Grimes stylen lassen würde und eine Vorliebe für Sternburg-Bier hat. Doch lest selbst, was uns twink_kid92 auf unsere Fragen schrieb.

Gespräche


Dan, deine Songs »Aaron« und »DP« sindvor Kurzem auf dem New-Yorker Label DFA-Records erschienen. Wie ist man dort auf dich aufmerksam geworden? Die Leute von DFA kennen mich schon seit zehn Jahren. Damals wollten sie einen Remix veröffentlichen, den ich für meinen Freund Sandro Perri gemacht habe. Leider ist da nie etwas draus geworden. Dafür sind wir in Kontakt geblieben. 2012 hat DFA sein Versprechen dann endlich wahr gemacht. Bist du ein Fan von LCD Soundsystem? James Murphy ist ja einer der Gründer von DFA. Auf jeden Fall! Während meiner College-Zeit durften Murphys Songs auf keiner guten Party fehlen. Von wem handelt dein Song Aaron? Aaaron gibt es nicht wirklich. Er ist eine fiktive Figur, die von meinen Freunden und mir inspiriert ist. Im Grunde könnte Aaron jeder sein, der 27 Jahre alt ist und noch immer keinen richtigen Job hat. Woher kommst du? Geboren wurde ich in der Prärie Kanadas, in Alberta. Aufgewachsen bin ich aber in Nova Scotia und Montreal. Warum bist du nach Berlin gekommen?

Ich brauchte einfach etwas Neues. Vor Berlin habe ich in Prag Kunst studiert. Da ich keine Lust mehr auf mein Studium hatte, packte ich meine Sachen und nahm den nächsten Zug nach Deutschland. Mein erstes Zimmer war eine Abstellkammer. Angeboten hatte es mir ein Typ, den ich kurz nach meiner Ankunft in Berlin in der U-Bahn kennengelernt hatte. Eine Woche lebte ich dort.

Gespräche

Dan Bodan

Wo wohnst du jetzt? In Kreuzberg. Magst du dein Viertel? Ich liebe es sogar! Ich verbringe viel Zeit am Kotti und gehe oft spazieren. Vorher bin ich immer mit dem Fahrrad gefahren, bis es mir vor Kurzem geklaut wurde. Was sind deine Lieblingsorte? Ich mochte das Times, als es noch geöffnet hatte. Zur Zeit hänge ich oft im Kater Holzig, in der Roten Rose, im Kumpelnest und im Südblock ab. Im Südblock gibt es die besten Pastrami-Sandwiches der Stadt. Gehst du oft feiern? Und ob. Wahrscheinlich sogar etwas zu viel - meine Knöchel sind ziemlich im Arsch. Im Video zu "Aaron" sieht man dich mehrfach mit einer Flasche Bier in der Hand. Trinkst du gern Bier? Yeah! Am liebsten Sternburg. Oder Augustiner. Denkst du, dass Berlin ein guter Ort für Musik ist? Das kommt ganz drauf an. Wenn es um Livemusik geht, ist die Stadt absolut schrecklich. Es gibt kaum vernünftige Läden und eine sehr kleine Szene. Die Zeiten scheinen sich jedoch zu ändern. Zumindest kommen inzwischen mehr Bands vorbei, wenn sie auf Tour sind. Seit wann machst du Musik? Seit ich 13 oder 14 Jahre alt bin. Eigentlich wollte ich immer Comiczeichner werden, doch mit der Pubertät kam alles anders. Wie lange gibt es Dan Bodan? Seit ich in Berlin wohne. In Montreal habe ich ebenfalls Musik gemacht, die war aber um einiges lauter.


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Mein Projekt damals hieß Noot. Nach meinem Umzug nach Berlin habe ich mich zuerst auf die Kunst konzentriert. Inzwischen schreibe ich wieder Songs. Diesmal aber unter anderem Namen, weil sich mein Sound so verändert hat.

Was sind deine musikalischen Einflüsse? Meine Freunde und die Musik, die sie mir zeigen. Ich versuche das aber nicht allzu sehr zu analysieren. Wie würdest du deine Musik beschreiben? Das kommt ganz auf den Track an. Aber für gewöhnlich versuche ich Musik zu machen, die nach Weltraum klingt, oder wie eine temporäre autonome Zone. Alles ist verrückt und ruhig zugleich. Dennoch funktioniert es. Aber nur, bis der Song zu Ende ist. Was wäre ein guter Moment, um deine Musik zu hören? Definitiv, wenn du nach einer halben Flasche Rotwein in emotional aufgewühlter Stimmung vor dem Laptop sitzt, deinen Facebook- und Twitter-Status checkst und dich von den Schlagzeilen des CNN News Feed berieseln lässt. Wer war der erste Star, in den du verknallt gewesen bist? Jonathan Taylor Thomas! lol Wie findest du Grimes? Einfach toll. Vor allem wegen ihres Modestils und der K-Pop-Zitate. Außerdem ist sie eine großartige Produzentin, die mehr draufhat als die meisten Typen in ihrem Genre. Vielleicht produziert sie ja eines Tages einen meiner Tracks oder gibt mir ein paar Styling-Tipps. Das wäre echt cool. Bist du ein Mode-Fan? Je nachdem. Ich mag Style und Klamotten. Was ich allerdings nicht ausstehen kann, sind all die komischen Leute, die sich im Modebusiness tummeln.


Gibt es einen Designer, den du besonders magst? Meine beste Freundin Arielle De Pinto macht tollen Schmuck, Nhu Duoung finde ich ebenfalls großartig. Ansonsten stehe ich eher auf Sportswear als auf Ready to Wear. Meine Lieblingsmarken sind Nike, Under Armour und Stone Island. Spielst du gerne live? Auf jeden Fall. Singen hat für mich eine therapeutische Funktion. Was mich allerdings runterzieht, ist, in einer Venue mit schlechter Anlage zu spielen oder mit einem Tontechniker zusammen zu arbeiten, der mich nicht mag. Ich habe gelesen, dass du oft in Galerien und an anderen untypischen Orten auftrittst? Das liegt an meinen Kontakten. Ich bin eher in der Kunstwelt zuhause. Warum hast du dich dazu entschieden, ohne Band aufzutreten? Ich spiele ja nicht immer solo. Bei meinen letzten Shows hatte ich immer einen DJ dabei. Ich arbeite auch gern mit anderen Musikern zusammen, dann allerdings nicht in einem klassischen Bandkontext. Ich bevorzuge es, über die Ferne mit ihnen zu kollaborieren, ihnen etwas zu schicken, an dem ich gearbeitet habe, zu sehen, was sie daraus machen, und dann solange daran zu feilen, bis wir es beide gut finden.

Gespräche

Dan Bodan


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Hat die Entscheidung zu einem Solo-Projekt auch finanzielle Gründe? Es ist sicherlich lukrativer mit weniger Leuten zu spielen. Viel wichtiger finde ich aber den Nervenkitzel, allein auf der Bühne zu stehen. Wenn du versagst, gibt es keinen, der dir helfen kann. Würdest du es dennoch vorziehen, eine Band auf der Bühne zu haben als einen Computer? Ich bin mit der derzeitigen Zweierkonstellation zufrieden. Es ist toll, einen Hype-Man zu haben, der mich unterstützt. Ich kann mich auf meine Performance konzentrieren, während er sich um die Musik kümmert. Wann erscheint dein erstes Album?

Ich hoffe, dass das irgendwann Mitte 2013 passieren wird. Die Hälfte der Songs sind bereits geschrieben, jetzt spreche ich mit verschiedenen Produzenten. Ich habe genaue Vorstellungen davon, wie die Platte am Ende klingen soll. Wirst du das Album auf deinem eigenen Label Nudity & Atrocity veröffentlichen? Das weiß ich noch nicht. Ich habe keine Verträge mit anderen Labels, daher könnte ich diesen Weg gehen. Vorausgesetzt, es ergibt Sinn.


Warum hast du dein eigenes Label gegründet?

Ist das Internet nützlich für Musiker?

Ich wollte meine eigene Plattform haben, auf der ich meine Musik veröffentlichen kann. Einmal damit angefangen, habe ich gemerkt, dass es mir genauso viel Spaß macht, die Musik anderer Leute rauszubringen. Leider sind die Geschäfte bisher nicht so gut gelaufen, weshalb ich gerade kein Geld habe, um weitere Projekte zu realisieren. Hast du all deine Songs ebenfalls selbst aufgenommen? Die ersten Sachen schon. Sie wurden aber von meinem Freund Antti Uusimaki abgemischt. Die darauffolgende Single habe ich mit M.E.S.H produziert, was eine tolle Erfahrung gewesen ist. Welche Bedeutung hat das Internet für deine Arbeit? Du scheinst dich dort sehr wohl zu fühlen.

Auf jeden Fall. Es kann ihnen aber auch schaden. Am Ende muss das jeder mit sich selbst ausmachen. Heißt du wirklich Dan Bodan?

Nein! Mein richtiger Name ist twink_kid92!

Im Netz zu surfen gehört für mich zum Alltag. Es ist die normalste Sache der Welt.

Gespräche

Dan Bodan

von Lukas Dubro

Fotos von Tonje Thilesen


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Austin Brown hatte in seinem Leben viele Jobs. Er war Dachdecker, Barkeeper, Tontechniker und Tourgitarrist. All diese Tätigkeiten ging Austin auf dieselbe intellektuelle Weise an. Als Dachdecker las er Wetterkarten und die Sterne, an den Flügen der Vögel konnte er erkennen, ob es sich lohnte, weiter zu arbeiten oder nicht. Bei der Musik sieht das nicht anders aus. Sein Wissen über Frequenzen, Filter, Effekte und Musikinstrumente scheint unbegrenzt. Das ist auch der Grund dafür, dass jede Band umwerfend klingt, bei der sich Austin um den Sound kümmert. Es dürfte also keinen wundern, wenn wir sagen, dass die Musikauswahl des Wahlberliners für die Cartouche Playlist ähnlich intellektueller Natur ist. Oberflächliche Merkmale wie gute Melodien sind für Austin zweitrangig - viel wichtiger sind jene Details, die unerfahrenen Ohren verborgen bleiben.

Alice Coltrane: »Journey in Satchidananda« Journey in Satchidananda von Alice Coltrane ist eine umwerfende Platte. Ich habe sie hunderte Male gehört. Trotzdem hat sie noch immer denselben Effekt auf mich: Ich bin beeindruckt von ihrer intensiven Traurigkeit. Wenn ich diese Songs höre, kann ich mir bildlich vorstellen, wie schwer die Sängerin durch den Tod ihres Mannes John Coltrane getroffen wurde. Zugleich verfügt die Musik über eine meditative Energie. Hier verschmelzen östliche und westliche Musik-Traditionen: Indische Modi, Rhythmen und Tonleitern werden mit den Mitteln des Jazz interpretiert. Technisch ist die Platte von hoher Qualität - alle Musiker sind Profis. Bassist Charlie Haden, Schlagzeuger Rashied Ali und Pianist Pharaoh Sanders hatten vorher mit John Coltrane zusammengespielt. Das restliche Ensemble bestand aus indischen Musikern. Die Platte ist aber noch aus einem anderen, viel politischeren Grund sehr bedeutend. Der Musikbetrieb war Anfang der 70er Jahre dominiert von Männern. Frauen wurden weder Ernst genommen, noch hatten sie etwas zu sagen. Alice Coltrane brach diese Machtverhältnisse auf: Zum einen war sie talentiert und stark, zum anderen bekam sie die besten Musiker des Betriebs. Das war schon etwas Besonderes damals. Zugegeben: Yoko Ono gab es zu der Zeit auch schon, im Gegensatz zu Alice Coltrane kann ich mir ihre Musik allerdings nicht anhören.

Playlist

Foto von Elisa Longhi


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Talk Talk: »Laughing Stock« Mit Laughing Stock teste ich bei Konzerten und Aufnahme-Sessions die Boxen. Wenn etwas nicht stimmt, finde ich es mit diesem Album heraus. Einen besseren Testton könnte ich mir nicht vorstellen. Aus Sicht eines Tontechnikers ist das Album nahezu perfekt. Das liegt vor allem an der großartigen Philosophie, die dahinter steckt: Hier trifft Improvisation auf Perfektion. Einerseits hielt man daran fest, dass die erste Performance die beste ist. Zum anderen verwendete man viel Zeit für die Arrangements und den Sound. Manche Songs hatten 200 Gitarrenspuren, aus denen dann die besten herausgesucht wurden. Der Produzent Phil Brown verbrachte Stunden damit, das Schlagzeug richtig im Raum zu positionieren. Er schlug auf eine Trommel, wartete bis der Ton abgeklungen war und entschied dann, ob sie so klang, wie sie es sollte. Traf dies nicht zu, bewegte er die Trommel an eine andere Stelle. Dieses Prozedere war notwendig, weil Brown nur ein Raum-Mikro benutzte. Das Tolle daran ist, dass der Künstler, die Ästhetik und das Gefühl so an erste Stelle rückt. Erst danach kommt die Wissenschaft, deren einzige Funktion darin besteht, diese drei Komponenten zu verstärken. Wenn du mich fragst, wird dieses Album seine Relevanz so schnell nicht verlieren. Ich würde zwar niemals so arbeiten wollen, dennoch ist das Album einzigartig.

Protokoll: Lukas Dubro

Shogun Kunitoki: »Tasankokaiku« Ich liebe Tasankokaiku für seine mathematische Schönheit. Alles, was du hier hören kannst, sind oszillierende Testtöne und Tremolo-Effekte, die in verschiedenen Taktzahlen gegeneinander laufen. Ich finde es beeindruckend, wie aus den einfachsten Mitteln eine derart komplexe Musik entstehen kann. Was mich an der Platte besonders überrascht hat, ist, dass die Musik sehr viel Gefühl besitzt, obwohl die Signale alle maschinell erzeugt sind und keine Dynamik besitzen. Und dieses Gefühl ist nicht etwa negativ. Ganz im Gegenteil spielt die Band Musik, die positiver nicht sein könnte. Mit nichts weiter als ein paar Testtönen schafft die Band somit das, was in meinen Augen das Schwierigste überhaupt ist: Hymnenhafte Musik zu spielen. Einfach großartig! Im Techno hat niemand je so etwas hinbekommen. Es ist toll, wenn Bands und Musiker verrückte Sachen ausprobieren und sich zugleich wissenschaftlich mit dem eigenen Handwerk auseinandersetzen. Das wird heute viel zu selten gemacht. Dieser musikalische Dilletantismus und der Spaß am Sampling, den alle vor sich her tragen, sind zu einer eigenen Ästhetik geworden, mit der ich nichts anfangen kann. Gebt mir jemanden, der mit einem Eimer einen Technobeat trommelt und dazu singt, und ich werde jubeln. Das und nichts Anderes ist Musik!


No Fear Of Pop: Old Apparatus Derren Realise Alfur Harem all on Sullen Tone in 2012 Empfehlung


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Es ist nicht ganz klar, wann die Sache aus dem Ruder gelaufen ist. Aber ach, was sind wir es leid. Wahrscheinlich fing es nicht an mit Burial; war es Banksy? Egal. Was die Musik betrifft, so erscheint es am einfachsten, die Ursache wie üblich ‚im Internet’ zu verorten. Gewiss ist jedenfalls: Jemand sollte all den jungen Produzenten einmal mitteilen, dass die Sache sich erledigt hat, dass alles zumeist nur noch wie ein müder Abklatsch eben jenes Burial wirkt: Künstlerische Anonymität. Sie macht natürlich, ganz oberflächlich betrachtet, viele Dinge einfacher, und gelegentlich scheint sie sogar unumgänglich, und ohne Frage hat die virtuelle Welt vieles in dieser Hinsicht erst ermöglicht mit ihren ungezählten unbeleuchteten Ecken, den Foren und Newsgroups, der Pornografie und der Kriminalität, und natürlich der Aufklärung, betrachtet man sie nun als tatsächlich oder als nur vorgeblich: Anonymous wäre nichts ohne das Internet; eine Guy-Fawkes-Maske allein schützt nur schwerlich vor staatlichem Zugriff. Von Letzterem abgesehen aber dient Anonymität zumeist einem gänzlich anderen Zweck: Sie stellt ein bequemes Mittel bereit zur kognitiven Verantwortungsverschiebung. Ist mein Alter Ego erst einmal etabliert, so eröffnet sich die Möglichkeit, die Persönlichkeit zu spalten; nicht ich habe es getan, sondern der/die/das Andere, das zugleich Ich und nicht Ich ist. Man frage einmal nach bei der Kriminalpsychologie. In der Musik jedoch funktioniert dies nur bedingt, und deshalb erstaunt es umso mehr, dass es in den vergangenen Jahren fast schon zur Normalität geworden ist, jedenfalls abseits des Mainstream, mit Werken konfrontiert zu werden, deren Urheberschaft bewusst im Unklaren gelassen wird. Man könnte versucht sein, diesen Trend positiv zu deuten, denn Anonymität könnte ja auch den Verzicht auf jegliche Eitelkeiten heißen; zumeist ist es jedoch lediglich der Versuch der Immunisierung gegen Kritik. Häufig heißt es, man bleibe lieber verborgen, damit sich der Kritiker/Hörer nicht mit der Person auseinandersetze, sondern allein mit der Musik. Aber das ist natürlich Blödsinn. Allzu leicht passiert das genaue Gegenteil; nicht die Musik wird zum Mittelpunkt des Diskurses, sondern die Suche nach der Person hinter dem Werk.

Empfehlung

No Fear Of Pop

Old Apparatus


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Das Konzept anonymer Urheberschaft in der Musik funktioniert dann und nur dann, wenn das geschaffene Werk tatsächlich Eigenständigkeit gewinnt; wenn es den Autor in gewisser Hinsicht transzendiert und dieser somit im Grunde bedeutungslos wird. Das gewählte Pseudonym wird zum »Autor«. Bei Burial ist genau das der Fall; es fällt wohl kaum jemandem auf Anhieb der wirkliche Name ein, so er denn überhaupt stimmt; die Kritik feiert Burial, nicht William Bevan, dessen künstlerische Sprache so erhaben ist und unverkennbar einzigartig, dass die Idee singulärer Urheberschaft, etwas doch schlicht Menschliches, hinter solch unwirklicher Musik fast zu banal erscheint. Aber ein solcher Triumph des Werkes über den Autor ist die absolute Ausnahme, nicht die Regel. Allerdings, manchmal gelingt es eben doch, und ein Beispiel ist das britische Künstlerkollektiv Old Apparatus. Gegründet 2010 und zunächst in Erscheinung getreten mit Veröffentlichungen auf Malas Label Deep Medi Musik, hat sich das Londoner Quartett im vergangenen Jahr durch die Gründung des eigenen Labels Sullen Tone, das ausschließlich der Veröffentlichung ihrer eigenen Platten gewidmet ist, gänzlich vom gewohnten britischen Musikzirkus entfernt . Was das Konzept künstlerischer Anonymität angeht, gehen Old Apparatus dabei in gewisser Hinsicht sogar noch einen Schritt weiter als Burial, und erstaunlicherweise scheitern sie dabei nicht. Nicht nur die tatsächlichen Namen der Mitglieder bleiben verborgen hinter Pseudonymen, sogar diese Künstlernamen selbst gehen auf im Kollektiv: drei der vier EPs, die 2012 auf Sullen Tone erschienen sind – Derren, Realise, Alfur und Harem – wurden jeweils komplett von einzelnen Mitgliedern geschrieben, vertont, und produziert; nur bei der ersten, Derren, handelte es sich um eine genuine Gemeinschaftsarbeit. Trotzdem erschienen sämtliche Platten unter dem Namen Old Apparatus; der Beitrag des Einzelnen geht auf in der Identität des Kollektivs. Hinzu kommt eine bis ins Detail ausgearbeitete, kohärente Gesamtästhetik, die auch zum Ausdruck kommt in den Videos, der Gestaltung der Plattencover, der Website, bei der Visualisierung der Live-Auftritte: Alles wird ohne Unterscheidung der Entität Old Apparatus als Urheber zugewiesen.

Foto und Artworks von Sullen Tone


Musikalisch war das Quartett aufgrund der frühen Verbindung zu Mala allzu schnell im Dunstkreis von Dubstep abgeheftet worden, was schon bei den frühen Releases höchstens oberflächlich überzeugen konnte. Spätestens seit dem Wechsel zum eigenen Label und der Verfestigung der künstlerischen Vision ist eine solche Klassifizierung jedoch Makulatur. Die Stücke von Old Apparatus nehmen alles auf, von Post-Rock über Hip-Hop und R&B zu Noise und Industrial, mit zahllosen Referenzen, die auf eine intensive Beschäftigung mit dem gesamten Kanon vorwärtsgewandter britischer Musik der vergangenen 25 Jahre schließen lässt; mit einem besonderen Augenmerk auf Trip-Hop, den Katalog einflussreicher Labels wie Warp oder Ninja Tune, und, ja, selbstverständlich auch frühem Dubstep. Es ist, auf den Punkt gebracht, Musik, die so nur im Vereinigten Königreich, ja wahrscheinlich sogar nur in London überhaupt denkbar erscheint. Die vier EPs unterscheiden sich dabei durchaus beträchtlich. Die einzelnen Producer kommen aus teilweise fast schon gegensätzlichen musikalischen Richtungen, und diese Prägungen finden direkten Niederschlag im Sound. Während das gemeinsam geschaffene Werk Derren noch am ehesten im Post-Dubstep zu verorten ist, insbesondere das dritte Stück, »Dealow«, schielen die Texturen der zweiten EP Realise eher in Richtung einer gebrochenen, desillusionierten Vision des Dancefloor: Man kann hierzu wahrscheinlich tanzen, wenn man bereit ist, alle Hoffnung fahren zu lassen. In der klaustrophobischen, dystopischen Suite des finalen Titeltracks findet die Tetralogie ihren ersten Höhepunkt. Alfur vereint den Warp-Katalog mit zahlreichen Referenzen zum Post-Rock, und weist mit dem Fabeltrack »Schwee« die wahrscheinlich einzige perfekte »Single« des Kollektivs auf. Mit Harem schließlich findet die Reise ein geradezu sublimes Ende mit der für sich genommen wohl stärksten EP; die Strukturen verflüchtigen sich in ungeordnetem, psychedelisch angehauchtem Ambient, dequantisierte Rhythmen und bedrückende, ausgreifend angelegte Flächen lassen Harem tatsächlich wirken wie das Ende eines drogeninduzierten Trips, dessen Anfang nur noch verschwommen Teil der eigenen Erinnerung zu sein scheint. Das letzte Stück »Octafish« endet in stiller, kontemplativer Resignation; ein Abschluss, der keine Auflösung bereithält.

Empfehlung

No Fear Of Pop

Old Apparatus


Jedoch, trotz dieser durchaus beträchtlichen Unterschiede in der Herangehensweise und im Sound, die auf jeder EP deutlich zum Ausdruck kommen, bleibt jeder Track stets unverkennbar ein Werk von Old Apparatus, nicht eines einzelnen Mitglieds.

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Es ist das so konsequent, so bewusst durchgehaltene Gesamtkonzept, das die Stücke zusammenhält. Old Apparatus verkörpern mit ihrer Musik eine selbstverständliche Urbanität; in ihrem Werk kommt, und hier ähnelt ihr Ansatz durchaus dem Burials, der Charakter der spätmodernen Stadt zum Ausdruck, wodurch ihre Namenlosigkeit gerade erst sinnhaft wird: der Eklektizismus, die gewollten Brüche und die Mannigfaltigkeit der stilistischen Einflüsse eröffnen einen eigenen großstädtischen Kosmos, die Musik wird zum adäquaten Abbild der Metropole im 21. Jahrhundert. Das Dunkle, Bedrohliche der Musik, die bedrückte und bedrückende Stimmung, die sich durch praktisch alle Stücke als das eine prägende Leitmotiv zieht, verweist dabei auf die Isolation des Individuums, auf seine Entfremdung, wenn man es so betrachten mag; es ist dieser Kontext, der die anonyme Urheberschaft nicht nur konsequent, sondern geradezu unausweichlich erscheinen lässt; und nicht nur deshalb gehörten die vier EPs von Old Apparatus zu den faszinierendsten musikalischen Veröffentlichungen des Jahres 2012.

Henning Lahmann ist der Kopf hinter No Fear Of Pop und schreibt auch sonst hier und da über Musik

von Henning Lahmann


STADT

DER ZUKUNFT

Matthias Heiderich liebt es, Gebäude zu fotografieren. »Architektonische Bauwerke haben eine unendliche Geduld, man kann Tage und Wochen um sie herumschleichen und es stört sie nicht«, sagt der Wahlberliner. Das sei für seine Arbeitsweise besonders wichtig: Matthias wartet auf den richtigen Tag, die richtige Stimmung. Berlin ist mit seiner vielfältigen Architektur der perfekte Ort für den freiberuflichen Fotografen. »Viele Gebäude hier sind sehr fotogen«. Besonders angetan ist er von moderner Baukunst. Im Sommer 2012 fotografierte Matthias das Hansaviertel am Tiergarten. Die Planstadt wurde 1957 anlässlich der Internationalen Bauausstellung errichtet, sie gilt als Demonstrationsobjekt moderner Stadtplanung und Architektur. »Das Viertel ist ein riesiges begehbares Architektur-Museum und somit wie geschaffen für eine Konzept-Fotoserie«, sagt Matthias.

Fotostrecke


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Fotostrecke

Stadt der Zukunft


Fotostrecke

Stadt der Zukunft


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Empfehlung


Der selbsterklärte Vinyljunkie Madteo fing vergleichsweise spät an mit dem Produzieren. 27 Jahre war er alt, als er auf einem aus zweiter Hand erstandenen Sampler seine ersten Tracks zusammenbaute. Inzwischen ist der italienische Musiker aus Padua, der mit bürgerlichem Namen Matteo Ruzzon heißt, einer der gefeiertsten Produzenten der Underground-Dancemusic-Szene. Das liegt zum einen an seiner Philosophie: Madteo versteht sich als Fan und nicht als Künstler. Aber auch sein einzigartiger Sound hat zu seinem Ruhm beigetragen. Die Musik Madteos bewegt sich zwischen druckvollem Instrumental-HipHop und relaxtem House.

Sein Debüt und einige weitere EPs veröffentlichte Madteo auf den angesagten Underground-House-Labels Workshop und Hinge Finger. »Noi No«, sein zweites Album, erscheint nun auf dem legendären Experimental-Label Sähkö Recordings, das unter anderem die erste EP des finnischen Industrial-Projekts Pan Sonic herausgebracht hat. Auf »Noi No« geht Madteo neue Wege. Ganz besonders fällt auf, dass ein Großteil der Tracks ohne Beats auskommen. Führt man sich vor Augen, dass diese für die Ästhetik des Musikers bisher maßgeblich und in all seinen anderen Tracks vertreten waren, erscheint dieser Umstand umso mutiger. Anknüpfungspunkte an seine bisherigen Arbeiten sind hingegen der rough abgemischte Sound und die Dekonstruktion fester Formen, die durch alle Tracks hindurch betrieben wird. Nun wurde gerade das Spiel mit Strukturen im House-Bereich zuletzt bis an die Grenzen ausgereizt. Im Vergleich zu vielen seiner Kolleg_innen fing Madteo damit aber schon viel früher an. Entsprechend wirkt dieses Stilmittel bei ihm weniger aufgesetzt.

Empfehlung

Madteo

von Warren O’Neill


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Eine weitere Überraschung sind Madteos Vocals. Fast erinnern sie an eine Beichte, so persönlich sind die Texte, so zart ist die Stimme, die diese Texte vorträgt. Derartig nah ist man dem Produzenten bisher zu keinem Zeitpunkt gekommen. In dieser Hinsicht hat »Noi No« große Ähnlichkeiten mit den Klassikern »Silent Introduction« von Mppdyman und »Midtown 120 Blues« von Dj Spinkles, bei denen lange Monologe von sanft pumpenden House Beats begleitet werden. Wie Madteo nutzen die beiden Produzenten hedonistisch anmutende Musik als Untermalung für eine intime Introspektion. Kein Zweifel: Noi No ist ein bis zur letzten Konsequenz ambitioniertes Album, dessen Stärken in der Ablehnung gängiger Genre-Klischees liegt. Und doch hat die Platte zwei schwache Momente: Das VocalSample in »Vox Your Nu Yr Resolution« unterhält zunächst, fällt nach mehrfachem Hören jedoch auf die Nerven. Das Gleiche gilt für »Rugrats Don't Techno for an Answer«, das aus mehreren Samples des DrakeSongs »Marvin's Room« besteht. Der Bezug auf den kanadischen Rapper kann indes als Statement zum Desinteresse junger Leute in Kanada und den USA an Techno und House und der Dominanz von R&B auf dem nordamerikanischen Musikmarkt gelesen werden. House Music in Albumformate zu übersetzen ist schon immer eine große Herausforderung gewesen. Und Madteo war bisher sehr erfolgreich damit, kein House-Album aufzunehmen. Nichtsdestotrotz ist es dem Produzenten gelungen, eine Platte zu machen, welche an die Qualität seiner anderen Releases herankommt und sich somit nahtlos in sein Klanguniversum fügt. »Noi No« könnte Madteo zum großen Durchbruch verhelfen und ihm die Anerkennung bescheren, die er verdient. Nicht, dass er das nötig hätte.

Warren O'Neill ist ein Mathematiker und DJ aus Limerick. Er ist davon überzeugt, dass bis Ende 2013 in der Panorama Bar nur noch Hip-Hop zu hören sein wird

Foto von Tommi Grönlund

Artwork von Sähkö Recordings


Black Metal. Gibt es einen richtigen Metal im falschen? Black Metal ist Krieg, heißt es. Und obwohl Hipster Gewalt eigentlich ablehnen, wollen sie in den ausgemergelten Gestalten auf der anderen Seite des guten Geschmacks nun ihre Ebenbilder erkennen. Gestus und Sound der härtesten Sorte harter Musik wirken unwiderstehlich, aber geht es bitte auch ohne Satan? Nein, zeigt sich der Black Metal unversöhnlich und ballt die Faust. Dieser ungewöhnliche Annäherungsversuch ist dabei eigentlich wenig überraschend. Seit Jahren werden Exzellenzcluster jedweder musikalischen Gattung durch das organisierte Hipstertum abgeschöpft. Unter jedem Bärtchen steckt ein besorgter Naturforscher, stets bemüht um den Erhalt der Artenvielfalt. Nun trifft die unerschöpfliche Toleranz eben auf den Metal. Viele Dichotomien sind gefallen, seit das Hören früher Rockbands wie Deep Purple der Erklärung gleichkam, in einer Kfz-Werkstatt zu arbeiten. Essay


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Harte Musik kann aus sicherer Entfernung im Salon besprochen werden, ohne dass man sich der Lächerlichkeit preisgäbe. Aber der Hipster will mehr. Traditionellen Formaten wie Rock Hard und Metal Hammer zum Trotz, die in ihrer Nichtdiskursivität eigentlich schon Zeichen genug sein müssten, in Gestaltung und Sprache eher Bravo als Spex nacheifern, setzt der Hipster seine von allerlei akademischem Unrat beladene Aneignungsmaschine in Gang, um Licht in die Welt zu tragen: Nach Norwegen, dorthin, wo der Black Metal seinen Ursprung hat. Black Metal ist eine Geschichte von verwirrten Menschen, von Faschisten und Mördern und brennenden Kirchen. Das Christentum, erklärt Gaahl, der Sänger der norwegischen Band Gorgoroth, gehöre ausgerottet. Diesen paranoiden Maler hat die perfideste aller legalen Freakshows, das Unternehmen Vice, eines ewigen Winters für eine Reportage aufgesucht. Wie um ein exotisches Tier, das an den Umgang mit Menschen gewöhnt werden muss, kreisen die Reporter um den wortkargen Satanisten.


Irgendwann lädt er sie auf ein Glas Rotwein ein. Es ist die gleiche Faszination, die Werner Herzog gegenüber verzweifelten Spinnern empfinden mag. Auch hier projiziert der weiße Sinnstifter seine Weltanschauung in ein Amalgam von Außenseitertum, Naturgewalt und Tod hinein, um am Ende den Triumph des Immergleichen über den Ausbruch des Individuums anzuklagen, sich im gleichen Moment aber als Voyeur an dessen monumentalem Scheitern zu ergötzen. Solchen Nachfahren kolonialer Menschvermesser setzt Nordamerika auch eine eigene Variante des Black Metal entgegen. Hunter Hunt-Hendrix, Sänger der Band Liturgy, will das destruktive Moment des Black Metal in ein positivistisches umwandeln. Da stellt sich natürlich die Frage, ob eine Kultur, die füllhorn-evozierte Extase propagiert und deren Festivals ökumenischen Kirchentreffen gleichen, das überhaupt nötig hat. Hunt-Hendrix erntet Hohn und Spott, ist teilnehmender Beobachter und subversives Element zugleich, ein trollender Quälgeist, der sich in der Pose des Erneuerers gefällt. Essay


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Irgendwo bei Dostojewskij tönt es in Anspielung auf den aus der neurotischen Herrschaftskritik des Marxismus herausgeschälten Erneuerungsreflex aus dem Munde eines orthodoxen Christen: »Die neuesten Lehren bestärken den Verbrecher sogar in dem Gedanken, dass sein Verbrechen gar kein Verbrechen sei, sondern nur eine Auflehnung gegen eine Gewalt, die ihn ungerechterweise unterdrückt.« In dieser Gleichung nimmt der Philosophiestudent Hunt-Hendrix die Funktion des lutherischen Reformators ein. Seine Maxime des »lustvollen Erfahrens der fortlaufenden Existenz« hätte sicherlich auch Kerouac und Cassavettes gefallen. Auf Forschungssymposien zum Thema Black Metal darf er sie inmitten distinguierter Sozialforscher auftischen, während Gaahl keine Einladung bekommt. Aber mit Black Metal hat das auch nichts mehr zu tun. Auch die gängige These der Metalforschung, dass die »Blue-Collar-Crassness« des gemeinen Metalfans sich gegen das Establishment richte, muss entschieden zurückgewiesen werden.


Metal rührt nicht an verdeckten Herrschaftsmechanismen. Nach der Katharsis des Metalfestivals bleiben die reaktionären Träume von Götterdämmerung und Krieg hinter der Welt zurück. Und das ist gut so. Im Sinne einer dialektischen Beschäftigung mit dem Selbst, die ihren Ausdruck nicht in brachialen Praktiken des Hautritzens oder der Erniedrigung als Erstschlag, also etwa dem Dada findet, und insofern zu begrüßen ist, hat die versuchte und gescheiterte Aneignung des Black Metal durch das Hipstertum ihr Gutes, bleibt aber völlig überflüssig. An dieser Stelle muss der norwegischen Mücke besondere Anerkennung zuteilwerden. Sie schafft, was der Hipster nicht vermag. Sie schwirrt um die flackernde Außenbeleuchtung einer Sauna im norwegischen Dunkelwald, das sie umgebende Böse lüstern erahnend. Und sie hält die Klappe. Literatur: Dornbusch, Christian, Hans-Peter Killguss: Unheilige Allianzen. Unrast Verlag 2005. Mascandiaro, Nicola (Hrsg.): Hideous Gnosis. Black Metal Theory Symposium I, New York 2010. Paul Solbach lebt noch

Essay

von Paul Solbach


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PenClub – We »Fang An Zeichnungen von Kathy & Sara Kwon


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18. Februar 2013 MAHER SHALAL HASH BAZ (Marie Antoinette) 19. Februar 2013 THE CHAP (About Blank) 20. Februar 2013 DUCKTAILS (ex HBC) 1. März 2013 RANGLEKLODS (Festsaal Kreuzberg) 2. März 2013 KLUBNACHT w/SILENT SERVANT / FUNCTION / ELLEN ALIEN (Panorama Bar) 6. März 2013 케이프 / YULE FM / ALEXANDER WINKELMANN (Kosmetiksalon Babette) 13. März 2013 YO LA TENGO (Volksbühne) 22. März 2013 THE MEN (Festsaal Kreuzberg)

Konzerte


23. März 2013 ZAIMPH / IGNATZ (Madame Claude) 26. März 2013 JESSIE WARE (Berghain) 19. April 2013 CRYSTAL SHIPSSS / 케이프/ YULE FM / HOLLY MAE (Antje Øklesund) 5. Mai 2013 SUUNS (Comet Club) 6. Mai 2013 VERONICA FALLS (Festsaal Kreuzberg) 11. Mai 2013 THE KNIFE (Columbiahalle) 16. Mai 2013 DEERHUNTER (Festsaal Kreuzberg) MAJOR LAZER (Berghain) Konzerte


18. Mai 2013 THE XX (Spreepark) ANGEL HAZE (Festsaal Kreuzberg) Weitere Termine: www.cartouche-blog.de/live


Foto von Tonje Thilesen


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