Cartouche No 5

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»The Act Of Doing It«

Cartouche #5



Cartouche #5

Foto: Johann Clausen


Cartouche ist ein Popkultur-Magazin aus Berlin, das seinen Held*Innen gewidmet ist. Wir schreiben über Menschen, deren Schaffen wir schätzen und die wir deshalb sichtbar machen wollen. Zugleich sehen wir Cartouche als Teil einer jungen Berliner Kulturszene. Neuen, unbekannten Künstler*Innen, deren Leben sich in Berlin abspielt, bieten wir eine Plattform. Ebenso wichtig wie der Gemeinschaftsgedanke sind uns eigener Stil und eigene Ästhetik. Wir möchten unseren Leser*Innen etwas Neues und Ungewohntes zeigen. Cartouche ist unabhängig, nach unseren persönlichen Passionen konzipiert und versteht sich als zeitlos. Dank an: Alexander Winkelmann, Simone, Jamie, Jonathan & JJ, Amande, Remi, Austin Brown, Nadine, Bruno, Bennet, Mincer Ray, Dan Bodan, Henning, Felix, Chris Kline, Piet, Stefan, Max Dax, Philipp Goll, Philipp, Konsti, Claire Boucher, Sam & Claudia, Fionn, Dave, Evelyn, Thomas Vorreyer, Rachel, Das Gift, Antje Öklesund, Zottie, Johann, Kosmetiksalon Babette, King Kong Klub, Kyra, Soren, Kevin Halpin, Philipp Asch, Naherholung Sternchen, Max, Stine, Andrea, Bundi, Kathrin, Matthias Heiderich, Jule, Silke, Dirk, Vladimir, Lina, Malte Euler, Petra & Jon-Eirik, David & Echo Bücher, Indi Davies, Ella, Michael, Mario, Sumi, Owl, Philipp & Kim Bar… V.i.S.d.P./Hrsg. Lukas Dubro Jagowstraße 29 12055 Berlin info@cartouche-blog.de

Impressum

Cartouche sind: David Armengou Jamie Jonathan Ball Johann Clausen Coco Capitán Katharina Dermühl Lukas Dubro Jan Durina Juliane Eirich Léo Favier Franziska Frings Gregor Gille Trevor Good Ilka Hallmann Marie-Therese Haustein Hilda Hellström Till Janz Josefa Kny Kathy Kwon Sara Kwon Kyra La Marianna Henning Lahmann Augusto Lima Max Link Kristin Loschert Vicky Malinowski Norman Palm Konstantin Pannicke Sissi Pitzer Hendrik Schneider Viktor Sjödin Dick Smith Marius Wenker


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“The Act Of Doing It” Fiordmoss Das Beste daran, ein Magazin wie Cartouche zu machen, ist, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen: diese kribbelige Energie, die zwischen zwei Heft-Veröffentlichungen freigesetzt wird, wenn man Themen diskutiert, Interviews führt, Texte editiert und Seiten gestaltet – von der Vorfreude, das fertige Heft bald in den Händen zu halten, ganz zu schweigen. Mit dieser Herangehensweise an das eigene Tun sind wir in Berlin nicht alleine. Fragt man Künstler*Innen aus der Stadt nach ihren Projekten, so scheint oft der Spaß daran im Vordergrund zu stehen. Den ermöglicht die Stadt: Noch bietet Berlin genügend Raum, um die eigenen Ideen Realität werden zu lassen. In Paris, London, Tokyo oder New York ist der Erfolgsdruck ungleich größer. Wie vielfältig die Berliner Kulturszene dank der historisch bedingten und strukturellen Besonderheiten der Stadt gewachsen ist, spiegelt sich auch in dieser Cartouche-Ausgabe wider. Neben jungen Modedesignerinnen und experimenteller Dancemusik versammeln sich hier unter anderem düstere Popklänge, eine Verwandlungskünstlerin und ein Fototagebuch aus Südkorea. Besonders stolz sind wir auf unseren neuen Kolumnen-Teil, der die bisherigen Empfehlungen erweitert. Er vereint internationalen Gegenwartspop, Bücher über Musik, Anekdoten aus dem Leben – und natürlich geht es auch um Berlin. Wir hoffen, dass ihr an unserem neuen Heft mindestens so viel Spaß habt wie wir! Herzlich,

Liebe Leser*Innen

die Redaktion von Cartouche


Kurz bevor Jaime vorbeikommt, werde ich doch self-conscious. Eigentlich hatte ich mir über die Entscheidung, ob, und wenn ja, welche Musik ich während unseres Gesprächs spielen möchte, keine großen Gedanken gemacht. Aber dann denke ich plötzlich, dass es sehr wichtig werden könnte – für die Stimmung und den Verlauf des Interviews – welcher Track zu welcher Zeit läuft. Noch ist es nicht zu spät und in circa fünf intuitiven Minuten werfe ich alles, was irgendwie einen Anknüpfungspunkt bieten und uns über ein eventuelles Schweigen hinweg helfen könnte in iTunes und nenne die neu erstelle Playlist “M.E.S.H.-quality Talk”. Es ist Ende März. Ich begrüße Jaime, der in verschiedenen Lagen aus Schwarz und Dunkelgrau in meinem Hinterhof steht und sich umsieht. Er trägt heute, wie auch gestern während eines DJ-Gigs bei Urban-Mutations in der Paloma Bar, die Marke The North Face. Ich finde sie automatisch gut. Ich habe James als sehr höflichen Menschen kennengelernt, der immer etwas Unerwartetes sagen kann und leise spricht, während er sich langsam zu einem hinüberlehnt. Unter dem Moniker M.E.S.H. produziert er die zur Zeit interessanteste Musik, die man sich nicht vorstellen kann. Seine Remixe, Edits, Mixtapes, DJ-Sets und Produktionen vertreiben mir seit Monaten die Zeit. Es lässt sich eine vage Verbindungen zwischen all den von ihm bearbeiteten Formen ausmachen, ein großer Stilentwurf. Mehr kann ich dazu aber leider nicht sagen. Der Club Transmediale fasst M.E.S.H. wie folgt zusammen:

“New PAN signee M.E.S.H. mines pop culture for source material, disoriented pop and future bass. The anodyne opulence of M.E.S.H. falls somewhere between hard dance and underground club music, and is characterized by deep bass and breakbeats, and double-process synthetic sheen.”

M.

Gespräche

von Max Link


5

E.

S.H.


Die erste EP von M.E.S.H. erscheint 2011 auf dem Berliner Label Dyssembler. Er bedient sich darauf diverser Sounds und Samples aus den Genres Hardstyle und R&B, von denen jedoch nur ein ehrlich anerkennender Touch übrig bleibt. Stattdessen sind es diffuse, mysteriöse Melodien und dynamische Beats, die einen an nichts anderes mehr denken lassen. In seinen Remixen macht er sich daran, verschiedendste Strukturen und Genres auseinander zu nehmen. Man stößt auf den verdrehten Kizomba-Remix eines Jhene AikoSongs, der das Original zerstückelt und die R&B-Queen in eine nuschelnde Königin der Unterwelt verwandelt. Auf seinen Mixtapes – unter anderem auf dem für Yngve Holens Beast On Leash-DJ Booking Agency angefertigten Mix – finden sich regelmäßig Stücke aus dem Genre Deutscher Untergrundrap, dessen Bootlegs M.E.S.H. um eine sphärische Deutungsebene ergänzt, nachdem er sie sowieso schon in einen neuen Kontexteingefügt hat. Ohnehin scheint es genau darum zu gehen, verschiedenstes Material auf unerwartete Weise zusammenzuführen, hochwertigste mit simpelsten Produktionen zu vermischen. Beeindruckt hat mich vor allem ein Mix, den M.E.S.H. für das DIS magazine produzierte: Die Aufzählung der sumerischen Könige zu Beginn entführt einen in eine unbekannte Welt, die weder die Vergangenheit noch die Zukunft ist. Seine eigenen Produktionen, die bald auf PAN erscheinen, heben sich jedoch von allem ab. Das titelgebende Stück “Scythians” ist der experimentellste Track, den ich bisher von M.E.S.H. gehört habe. Was ist das für ein Beat? Wer scratcht da… Auf dem Tisch stehen eine Flasche Riesling und eine neuer Energy Drink mit Alkohol. Die Playlist spielt den ersten Track. Da Jaime Amerikaner ist, sprechen wir Englisch. Cartouche: Du hörst ja auch Hardstyle. Wie kamst du dazu und was gefällt dir daran?

M.E.S.H.: Ich bin wohl ungefähr zu der Zeit darauf gestoßen, als ich aus Amerika herzog. Ich erlebte zu der Zeit – zumindest fühlte es sich so an – einen enormen Unterschied zwischen den United States und dem Konzept “Europa”. Europa war für mich exotisch. Ich habe Amerika kurz vor der EDM-Explosion verlassen und war hier fasziniert von diesen riesigen Raves und deren high production values, aber ich war auch fasziniert von der Musik selbst. Bald habe ich dann Lars Holdhus (TCF) kennengelernt, der mich noch mehr an Hardstyle heranführte.

Gespräche

M.E.S.H.


7 Interessant.

(hört) Ist das Dawn Mok, was da gerade läuft?

Ja, richtig. Ich bin gerade dabei, einen ihrer Tracks zu remixen, beziehungsweise bin schon eine ganze Zeit daran. Sie haben mich im Dezember gefragt, aber in den letzten Monaten ist ziemlich viel bei mir passiert. (Pause) Ich brauche immer ewig für Remixe, it's ridiculous! Meine eigenen Tracks kann ich meist in wenigen Tagen fertigstellen, aber bei Remixen… Wenn ich Ja zu einem Remix sage, brauche ich für gewöhnlich vier bis fünf Monate. Ich arbeite natürlich nicht die ganze Zeit daran; ich mache meistens viele verschiedene Versionen, die ich für ein paar Wochen liegen lasse. Dann gehe ich wieder dran, höre, verbessere, werfe Sachen raus und so weiter.


Cartouche: Ist das ein Arbeitsprozess, den du oft anwendest? Also: Viel Produzieren, Liegenlassen, Sortieren?

M.E.S.H.: Ja. Alles, was ich veröffentliche, ist sehr schnell entstanden, auf eine Art spontan. Aber dann lasse ich es erst einmal liegen, bis zu einem Jahr sogar. Viel von dem Zeug von mir, das bald auf PAN rauskommt, habe ich schon vor eineinhalb Jahren aufgenommen. Es ist schwer, sofort den Wert von etwas zu erkennen. Für mich muss es sich erst einmal auf lange Zeit bewähren und auch außerhalb eines Geschmacks-Kontextes bestehen können.Passiert es dir dabei oft, dass du etwas zu lange liegen lässt, weil sich die Idee von dem, wie du dich anhören willst über die Zeit zu sehr verändert? Das passiert mir hin und wieder, klar. Meine Taktik dagegen ist, dass ich all over the place produziere. Ich brauche keine traditionellen Verbindungen, die mein Werk stilistisch zusammen halten, wie Genrezuschreibungen oder sowas. Ich nehme einfach viel spontan auf, lege ein Archiv an und stelle erst später einen Kontext her. Ich kann nicht “Schreiben” und gleichzeitig schon intellektuell sein. Das müssen zwei separate Prozesse bleiben. Hältst du dich denn an gewisse Routinen dabei? Zum Beispiel, dass du sagst: Genau einmal pro Woche höre ich mir an, was ich in dieser Woche geschrieben habe? Ich habe absolut keine Routine! (Cartouche & M.E.S.H. *LOL) Ich kenne auch kaum mehr Leute, die so etwas können. Aber lass uns darüber reden.

Mein Ansatz ist wohl eher binging als eine gesunde Routine. Ich arbeite eine Woche lang, bleibe bis morgens wach und vergesse dabei die Zeit, während ich an Sachen arbeite. Dann kann ich aber eine Weile erstmal keine Musik anfassen und muss etwas anderes tun. Meine Persönlichkeit ist

Gespräche

M.E.S.H.


9 einfach so. Ab einem bestimmten Punkt kann man sein Arbeiten nicht mehr wirklich ändern. Du tust einfach, was du tust, und wie du es tust.

War das schon immer so, dass du so eine relativ entspannte Sicht auf dieses Keine-richtige-Routine-Haben hattest? Ich bin jemand, der so fühlt: Umso ineffizienter ich in meinem echten Leben bin, umso stärker romantisiere ich die Idee von mir als jemand super Effizientem. Oh, ja! Get things done, heißt es ja immer auf solchen Blogs wie Life-Hacker. Gerade wenn in meinem Leben besonders viel los ist, schaue ich mir diese Sachen an. Es ist so ein Idealisieren der Idee, ständig vollkommene Kontrolle über sein Leben haben zu können. Dann aber muss man ja einfach sehr viel Zeit damit verbringen, zu forschen, zu suchen und zu denken. Und das sind Dinge, die man nicht einfach in eine get-things-done-Skala pressen kann. Viele Künstler sehnen sich nicht umsonst danach, strikt ihren Tag zu planen und aus allem, was sie tun, einen direkten Output zu bekommen, ein greifbares Ergebnis.


Cartouche: Was mir irgendwie immer hilft, ist der Gedanke, dass man ja sowieso immer unterbewusst an dem arbeitet, woran man arbeiten muss, selbst, wenn man nichts tut. M.E.S.H.: Ja, genau. Hoffentlich! (lacht) Ich “verschwende” vor allem mit zwei Sachen viel Zeit. a) Bilder zu sammeln. b) Mich auf Wikipedia oder sonstwo im Internet zu verlieren. Ich stelle seit fünf Jahren eine Bildersammlung zusammen. Aber ich weiß weder wofür noch wieso. Das kostet viel Zeit. Gibt es ein Thema in deiner Sammlung? Nein, nicht wirklich. Es ist wie ein privater Tumblr (lacht). Ich habe kein Interesse daran, das zu teilen. Jedenfalls reite ich die Wellen der Datenströme schon lange Zeit auf dieser Art und Weise. Es ist research, aber für nichts Bestimmtes. Für irgendwas wird es schon gut sein, es muss ja für irgendwas gut sein.

Es geht dabei wohl darum, einen riesigen Haufen zu machen und den dann – so wie dein Komposthaufen da – zu zersetzen.

Gespräche

Decompose. Mein creative life besteht anscheinend daraus, Haufen zu machen und diese dann verrotten zu lassen. Hast du eigentlich jemals eine andere Ambition gehabt, als Musik zu schreiben? Als ich sehr jung war, wollte ich Schriftsteller werden. Das war die erste Ambition, die ich jemals hatte. Ich habe das niemals weiter verfolgt. Aber dadurch, dass ich mit vielen Künstlern befreundet bin, habe ich einen leichteren Zugang zu dieser Welt. Wenn ich mich zum jetzigen Zeitpunkt dafür entscheiden würde, einen Fuß in die Kunstwelt zu setzen, wäre das auf jeden Fall aus Geldgründen.Und wie kam es dazu, dass du früher geschauspielert hast? Das war nicht wirklich was besonderes. Es ist in southern california für junge, androgyn aussehende boys gar nicht mal so unüblich, kleinere Rollen in TV-Serien zu bekommen. Ich habe das Geld dazu genutzt, meinen Eltern auszuhelfen und mir meinen ersten Computer zu kaufen.Hast du dich als Musikproduzent schon immer ernst genommen? (lacht) Ja, eigentlich schon. Sogar als ich 14 war, hatte ich das feste Ziel, ein ganzes Album aufzunehmen. Ich spielte zunächst Bass, aber ich war nicht wirklich gut. Als ich die erste Drum-Software auf meinem PC hatte, wollte ich nur noch das machen. So habe ich auch das Schreiben von Musik gelernt: Indem ich mir Musiksoftware angeeignet habe. M.E.S.H.


11 Ich wollte dich auch nach deiner musikalischen Sozialisation befragen. Für jemanden, der in Kalifornien aufgewachsen ist, hast du ja einen eher ungewöhnlichen Werdegang, was das Musikhören und -produzieren angeht. Stimmt. Aber als ich noch sehr jung war, habe ich schon auch Punk gehört, also zumindest die südkalifornische Version davon.Wo bist du eigentlich genau her? Ich bin in Santa Barbara aufgewachsen, das zwei Stunden nördlich von L.A. liegt. Es gab da bloß ein Venue, in der Bands spielten, sie hieß “The Living Room”. Es war auch die Zeit des Ska-Punk an der Westküste, und ich hatte ältere Freunde, die mich auf diese Konzerte mitnahmen. Doch ich mochte es nicht wirklich, auf Konzerte zu gehen. Mir wurde zu viel geschubst und ich war auch körperlich zu schmächtig. Einmal hat mich jemand zwei Meter in die Luft geworfen, wobei ich mir den Kiefer ausgerenkt habe. (Pause) Meine Punk-Phase war ziemlich oberflächlich.Und wie ging es weiter?

Mein sechs Jahre älterer Bruder hat mir dann CDs gegeben und viel gezeigt. Von ihm bekam ich The Clash und sowas zu hören, was zu dieser Zeit in Kalifornien nicht wirklich angesagt war. Und dann gab es da noch diesen einen Plattenladen, dessen komplette elektronische Sektionen aus Reflex- und Warp Records-Platten zu bestehen schien. Musik entdeckte ich, indem ich nach und nach jede einzelne CD eines Künstlers, zum Beispiel Autechre, kaufte. Ohne die Alben jedoch in einen Kontext einordnen zu können. Ich wusste ja nichts über die Musiker, außer aus der Musik, die ich kaufte und hörte. Ich meine, es war nicht wie heute, wo man sich dafür entscheiden kann, jetzt Post-Punk zu sein und sich online in drei Tagen eine gute Sammlung an Alben zusammenstellen kann. Man war stuck mit dem, was man irgendwie finden konnte, aber dafür direkter beeinflusst. Egal, ob vom Sound oder vom Aussehen der Menschen, die diese Musik machten. Ich glaube, heute, mit dem Zugang zu allem, kann man seine Identität bewusster formen. Aber das änderte sich ja bald für dich. Artwork: PAN


M.E.S.H.: Genau. Irgendwann hatte ich Soulseek, eine File-SharingApplication, mit der ich an rarere Musik gekommen bin, ohne sie kaufen zu müssen. Ich kam auf einmal einfacher an Leute, die gute Sammlungen hatten. Zu der Zeit entdeckte ich zum Beispiel Factory Records, Durutti Column und viele 80er-Jahre-Musik aus Manchester. Cartouche: Du warst auf jeden Fall nicht der typical L.A.-SantaBarbara-bro – wie hat sich das auf dein Sozialleben ausgewirkt, dass du so fernab von jeglichem Westküsten-Klischee Musik gehört hast? M.E.S.H.: Ich hatte nicht wirklich jemandem, mit dem ich über Musik sprechen konnte. Zu Highschool-Zeiten hing ich unglaublich viel im Internet ab. Ich war ständig auf Live-Journal und habe viel in Chatrooms über Musik geredet. Vielleicht gab mir das jedoch den Freiraum, all over the place hören zu können, den ich nicht gehabt hätte, wenn ich einer bestimmten Musikszene angehört hätte. Und, nun ja, ich hatte eine qualvolle (tortured) Beziehung zu der Zeit – meine Freundin hörte Belle & Sebastian, und mit ihr habe ich auch viel über Musik gesprochen. In der Highschool geht es fast nur darum, seine Persona zu zeigen – und man hat keine große Wahl, wenn man in einer Kleinstadt lebt: Entweder, man tut das, was alle tun, oder man ist alternative. Ich konnte zu der Zeit jedenfalls nicht den Pfad nehmen, auf dem Sublime stand.Und warst du dann ein Außenseiter zu Highschool-Zeiten? Konntest du trotzdem mit Sublime-Hörern connecten?Offensichtlich bestimmte Musik auch mein Sozialleben: Mit wem ich abhing und so weiter. Musik war für mich aber immer eher eine private Sache. Ich war in der Schule nicht davon gezeichnet, was ich privat hörte. Ich meine, ich war schon ein Outsider, aber ich kam trotzdem mit allen klar. Ich habe nur mit keinem gesprochen. Ich war normcore. (Cartouche & M.E.S.H. *LOL) Für mich ging es um eine smooth experience. Irgendwann ging ich aber nicht mehr so regelmäßig zur Schule, sagte ich sei krank und blieb zu Hause, um an meiner Musik zu arbeiten. Da war ich so 17. Ich hörte viel Breakcore und Drum&Bass zu der Zeit. Gespräche

M.E.S.H.


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Dann bin ich nach Portland gezogen, um dort ans College zu gehen. Mein Bruder lebte dort. Zu der Zeit nahm ich mein erstes Album auf, das auf einem deutschen CDR Label veröffentlicht wurde.Oh, wow. Was für ein Label und wie nanntest du dich damals?Das kann ich dir nicht sagen. Es wäre einfach zu peinlich, wenn das jemand erfahren würde (lacht). Aber ich wurde in DE:BUG reviewt, obwohl ich zu der Zeit noch nicht wusste, was DE:BUG war. Das war mein erster Kontakt zu Deutschland.Wann bist du schließlich nach Berlin gekommen?Ich bin 2009 aus New York hergezogen. Du sagtest vorhin, dass Musik für dich immer eine private Sache war. Hat sich das geändert, seit du hier in Berlin Teil einer Szene (Janus u.a.) bist und mit einer Vielzahl anderer Musiker in direktem Kontakt stehst bzw. mit ihnen zusammen arbeitest?

Ich habe vor Kurzem genau darüber mit meinem Freund Lars Holdhus gesprochen. Wir kamen darauf, dass sich fast alle Musikproduzenten aus unserem Freundeskreis unterschiedlich anhören – obwohl uns vielleicht eine gewisse Art von Sensibilität verbindet. Jedenfalls kann man uns genremäßig nicht unter einen Hut bringen. Lotics und meine Musik zum Beispiel sind sehr, sehr unterschiedlich. Trotzdem kann ich natürlich stundenlang mit ihm über Musik reden. Aber am Ende muss jeder seine eigene investigation in Sachen Musik machen, anstatt, dass wir alle in einer, sagen wir, eingeschworenen deephouse-Szene aktiv wären. Verstehe...


M.E.S.H.: Was nicht heißt, dass ich solche super produktiven geschlossenen Szenen nicht zu schätzen wüsste. Zumindest als DJ. (Pause) Aber dass ich nun mehr oder weniger zu einer Musikszene dazu gehöre, ist komplett neu für mich. Als ich nach Berlin kam, hatte ich ausschließlich Freunde aus dem Kunstumfeld. Mein Sozialleben hier war anfangs total entfremdet von dem, woran ich wirklich interessiert war.

Cartouche: Hier in Berlin hast du auch angefangen, dich M.E.S.H. zu nennen. Ich musste ein bisschen suchen, um herauszufinden, was dein Künstlername eigentlich bedeutet: Meet Every Situation Head-on. Aber ich musste natürlich auch an das Material Ja, es ist ein Wort, das mir gefällt, weil es so leer ist. Man denken.

kann deswegen alles Mögliche hinein projizieren. Außerdem mag ich die Idee, Künstlernamen von anderen Bands zu stehlen, also zu recyclen. Der Name M.E.S.H. stammt sogar von einer Fake Acid Techno Compilation, die Psychic TV zusammengestellt haben. Es war somit ein Name, der gar nicht wirklich existiert hat, außer eben als Name auf einer Platte. Die Band gab es nie.

Max Link ist Autor und wohnt in Neukölln. Er hat unter anderem für Spex, DE:BUG, Der Freitag, FAZ und das Wetter geschrieben

Gespräche


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Fotos: Johann Clausen


H I L D A

Glattgeschliffene Oberflächen definieren fast schon gespenstisch marmorierte, einzigartige Muster. Für viele von uns steht eine Urne für etwas Endgültiges — Ruhe, ein Ende, eine schwermütige Stille — oder auch für einen Anfang. Dabei sind diese Gefäße viel mehr. Sie erinnern uns daran, dass die Welt sich weiter dreht, auch nachdem wir gegangen sind. Schöpfung, Bewegung, Zerstörung — immer und immer wieder. Durch ihre Ästhetik werfen sie menschliche und natürliche Fragen nach Wandel, Leben und Tod auf. Urnen sind der Gegenstand der Sedimentation series, einer Arbeit von Hilda Hellström. Unser Autor Jamie Jonathan Ball hat die schwedische Produktdesignerin und Absolventin des angesehenen Royal College of Art in London und des Beckmans College of Design in Stockholm dazu befragt.

1. Die Idee für die Sedimentation series bekam ich,…? …als ich eine lange Zeit in der Werkstatt mit verschiedenen pigmentierten und verformbaren Materialien herumexperimentierte. Ich lernte viel über Geologie und darüber, wie verschiedene Steintypen erzeugt werden. Mit diesem Wissen versuchte ich, meine eigenen Steine mit verschiedenen Strukturen und Muster zu erschaffen. Der Lernprozess dauerte sehr lang, erst am Ende entschied ich mich dazu, diese Technick auf urnenförmige Gefäße anzuwenden. Das war 2011.

HELLSTRÖM Fünf Fragen an…

von Jamie Jonathan Ball


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2. Ich mache Urnen, weil…? …ich mich für Objekte interessiere, die dir eine Geschichte erzählen. Im Vergleich zu Vasen, die eher ein gewöhnliches Gefäß darstellen, sprechen Urnen über ein bestimmtes Ereignis am Ende des Lebens. Außerdem reizen mich Objekte, die nicht alles von sich preisgeben. Deshalb bin ich fasziniert von verschlossenen Gefäßen. 3. Die vollständige Kontrolle über die sedimentierten Muster zu haben,…? …ist nicht möglich. Während des Gießvorgangs experimentiere ich mit einer Palette verschiedener Pigmente. Das Resultat sind wellenförmige Farbschichten und fantastische Muster, die sich meinem Einfluss entziehen. Hier regiert der Zufall. Anders sieht es bei der Form der Urne und den Farben aus: Die stehen vollkommen unter meiner Kontrolle. Am Ende entsteht jedes Gefäß aus einem Zusammenspiel von Kontrolle und Zufall. Jedes ist akribisch gefertigt, keines sieht so aus wie das andere.

Fotos von Viktor Sjödin


Fünf Fragen an…

Hilda Hellström


Foto: Hilda Hellstrรถm


4. Inspiration für die Sedimentation series finde ich…? …in der Natur und in anthropologischen Museen. 5. Die Zukunft der Sedimentation series…? …wird wie folgt aussehen: Während meine Galerie in New York möchte, dass die Gefäße funktionaler werden, haben mir Galerien in London und Paris den Vorschlag gemacht, mehr skulpturale Stücke anzufertigen. Ich arbeite also gerade gleichzeitig an einer TischSerie und an einer Wand-Skulptur aus demselben Material.

Fünf Fragen an…

Hilda Hellström

Fotos: Hilda Hellström


21 Wenn ihr wissen wollt, wie es mit der Sedimentation series weitergeht, oder weitere Arbeiten von Hilda Hellstrรถm entdecken wollt, besucht ihre Internetseite: hildahellstrom. se. Dort gibt es auch einige interessante Filme zu entdecken.

Jamie Jonathan Ball is an illustrator from London. He misses Berlin and loves jogging. Foto: Coco Capitรกn


I am Miss M.E Hinter einer gewöhnlichen Berliner Fassade mit der Aufschrift “Mittelpunkt Gaststätte” befindet sich die Black Lodge. Das Interieur ist eine exakte Blaupause der schaurigschönen Waldhütte von David Lynchs Twin Peaks. Schwarz-weißer Zickzack-Boden, rote Samtvorhänge und schummriges Licht, die kryptische Lage und das heutige Geschehen können es mit der Zwischendimensionalität des Originals durchaus aufnehmen.

Gespräche

von Norman Palm


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and this is my body


Body I - This Veil of Tears

Warten auf den Auftritt von Meghan Edwards aka Miss M.E. Verspätet habe sie sich, so munkelt man, als der DJ die Musik unterbricht und zwei Gestalten, gehüllt in schwarze Seidenschleier, gespenstisch in die Bar prozessieren, um sich vis-à-vis schweigend auf einem Tisch niederzulassen. Im Schneidersitz, getrennt durch einen Kerzenständer, die Szene gedoppelt in einem riesigen Spiegel. Eine sakrale YogaPerformance in Burkas? Meditierende Grufties? So ein Neukölln-Ding wahrscheinlich. Gespräche

Miss M.E


25 Cartouche: Du bist aus Kalifornien. Was treibt dich nach Berlin? Meghan: Berlin is a place I have always been fascinated with. I grew up listening to goth and industrial music. DAF, Bauhaus, Wax Trax. And the Germans always looked the coolest. They seemed very sincere about it. I really came here because of these reserved aesthetics of the late 70ies and early 80ies. To chase my emotional connection with that.

Eine Stunde etwa dauert die Meditation, bevor sich die Schemen erheben und sich die Prozession aus der Bar zurück in die Lodge bewegt, wo erste verhallte Akkorde aus einer Stratocaster schwingen, eine der verhüllten Erscheinungen auf ein Podium steigt und durch die Maskierung hindurch zu singen beginnt. Sometimes, I cry. Over you. Die Stimme ist die von Miss M.E, perfekt klingt sie, es ist ein Playback denke ich, wahrscheinlich ist sie es nicht einmal selbst hinter dem Schleier. Ein Gitarrist ist nicht zu sehen, die zweite Verhüllte ist verschwunden. Stimme füllt den Raum. No body. This veil of tears… is my armor. Wie können Tränen eine Rüstung sein? Wovor schützen sie dich? Tears stand for the total transparency of how I feel. I cry when I am really happy and I cry when I am really sad. Showing that is a strength and not a weakness. It’s honesty with yourself. If I am completely honest and vulnerable, I give you everything. But that also means there is nothing that you can take from me. Das heißt, aus deiner emotionalen Offenheit wird äußerlich ein Versteckspiel? Aesthetically, it’s far more interesting to look at a veiled woman than at a woman who is completely exposed. But that is the ying and yang of what I am personally dealing with, having the urge of walking out of the house naked, and having the same urge to cover myself and be completely unavailable. There is a lot of strength in both of these.

Sich hinter einem Schleier zu verstecken heißt bei Miss M.E nicht, sich Körperlichkeit oder Sexualität zu verweigern, vielmehr ist es das Erkennen der erotischen Spannung zwischen Künstler und Publikum und die bewusste Beherrschung dieser Spannung. Die Musik selbst entbehrt dabei jedweder Handwerklichkeit. Sie ist einfach da, wird zum Soundtrack, aus Konzert wird Performance, und Miss M.E trifft jeden noch so sehnsüchtigen Ton.


Body II – Verkörperung Denn ja, sie ist es wirklich. Fremde Hände streifen die Schleier von ihrem Körper, Miss M.E zeigt sich kurz und übergibt sogleich die Bühne an ihre Partnerin, die sich – nun ebenfalls unverhüllt – als kahlköpfige Tänzerin entpuppt: eine muskulöse Schönheit, deren dunkle Haut mit dem seidigen Glanz der Vorhänge konkurriert. Miss M.E singt den nächsten Song aus dem Hintergrund und lässt sich auf dem Podium von der Tänzerin nachahmen, die ihre Lippen nach dem Gesang formt, rhythmisch ihre Muskeln spielen lässt und so die Blicke auf sich zieht. Von der Verhüllung zur Vertretung, ein düsteres Kabarett überbordender Referenzen beginnt. Josephine Baker, Baudelaires Schwarze Venus, Grace Jones und noch immer Twin Peaks, denn wir erfahren jetzt einen Proxy der Künstlerin, sie singt aus einem fremden Körper: BOB! Ein faszinierender zweiter Schachzug im Rollenspiel der (noch) unnahbaren Miss M.E.

Cartouche: Was ist so faszinierend daran, jemanden in deine Rolle schlüpfen zu lassen? Meghan: I have lived in San Francisco for 6 years and the first drag show I went to blew my mind. The transvestites would go on stage, all dressed up, beautifully and raw and real. They are lipsynching those very American torch songs. Loretta Lynn, Patsy Cline, Peggy Lee, that kind of stuff. It had such an impact on me watching these women. Their connection with these songs is very deep. It’s one thing to have a voice and share your gift, but when you’re not even making a sound, and it’s not even your song, but you can still captivate an audience to tears with just a body then that’s a really big deal. I wanted to have an element like this in my performance. I thought it is more powerful to have someone else embodying me. Selbst in kleinem Rahmen ist deine Show perfekt inszeniert. In deinen Videos allerdings zeigst du dich sehr privat. Warum dieser Gegensatz? It is still a lot easier for me to be vulnerable and still comfortable with a camera. And putting it on the web is exciting. To share that intimacy with myself with strangers. Performance is different. The reflection is far more intense than in an intimate environment. But the final goal for me is to be that comfortable all the time. My goal in life is to be myself in my room all the time. Gespräche


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Body III – Bodies that matter

Auf Versteckspiel und Verkörperung folgt nun Verführung, und das in doppelter Hinsicht: Die Künstlerin gibt sich schließlich preis, doch nicht dem Publikum, sondern ihrer Tänzerin. Miss M.E ist zurück auf der Bühne, Ping Pong heißt der Song – die zwei Frauen, schwarz und weiß, oszillieren zur Musik, kommen sich nah und entfernen sich wieder, Hände berühren sich. Ping Pong funktioniert als binäre Performance gegen eine binäre Geschlechterdefinition, von Mann/Frau via Frau/Frau hin zu Künstler/ Publikum, mit dem erotischen Spiel verwischt Miss M.E die Grenzen und degradiert das Publikum zum schäbigen Voyeur. Sie verkauft sich an die betörende Tänzerin, statt an die Zuschauer, und manifestiert so auf eine neue Weise die Kontrolle über sich, ihre Rolle und ihren Körper. Miss M.E


Cartouche: Zusammen mit der Französin Soko hast du ein Video gedreht, das euch beiden beim Verliebtsein sehr nahe kommt. Echt oder inszeniert? Politisches Statement oder pures Gefühl? Meghan: The video was made in my house in Los Angeles. Soko asked me to be in it and her vision was it being about two people being in love, loving each other completely and passionately. She thought another guy/girl relationship was not really going to hit you as she wanted it to, because of what you already know. Soko and me have both masculine + feminine tendencies, we can be dominating, fragile or submissive. We’re both very passionate existences and we have an intimate history. But it’s not supposed to feel lesbian. It’s supposed to feel human.

Gespräche


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Body IV – This is my body

Miss M.E zieht die Fäden. Sie hat sich den Blicken verwehrt, hat eine Stellvertreterin ermächtigt, sich dieser vor unseren Augen hingegeben und sich ihrer wieder entledigt. Sie hat enttäuscht, manipuliert und uns eifersüchtig gemacht. Sie hat nun das Sagen, ihr gehört der Raum, nun macht sie, was sie will: Sie singt, sie lacht, sie seufzt, sie flirtet sogar mit uns, denen es nicht einfallen würde, an diese Frau auch nur ein Quäntchen Erwartung oder Forderung zu stellen. Miss M.E


Cartouche: Hast du es mit bestimmten Ansprüchen zu tun, die an dich gestellt werden? Wenn ja, wie gehst du damit um? Meghan: I am trying to reject the definitions that people have for me, and it’s really difficult because everybody has an opinion. But my hope for the music is it to be as raw as I am myself. And to stay in a state that is unshakable, strong, honest, straight forward and open. It is what it is. I’m trying to be honest to myself, to my instincts, desires and beliefs, to share all of myself as completely as possible.

Miss M.E macht alles auf einmal, sie ist ganz Körper, und sie schlüpft in all die Körper, die eine Frau bewohnen kann. Sie widersetzt sich den Erwartungen an eine junge, blonde, wunderschön melancholische Pop-Sängerin. Sie definiert sich nicht und lässt sich nicht definieren, entzieht sich jeder Rolle, indem sie alle Rollen lebt und die Reaktionen darauf kontrolliert.

Im letzten Jahr hattest du einen schweren Unfall und hast öffentlich um Spenden gebeten, da du keine Krankenversicherung hattest und bis heute auf den Schulden sitzt. Hat das dein Verhältnis zu deinem Körper verändert? The accident changed everything. My ego was broken. I had to surrender to being helpless, I had to be very patient and compassionate. I had to reinvent my existence and I am stronger now. Experiencing something like that has opened me up to allowing myself to be vulnerable and exposed, but also it created an internal strengths that I didn’t have before. Confidence I guess. Now I feel like I can do anything. Gespräche

Miss M.E


31 Dein Körper hat Entscheidungen der Politik ausbaden müssen. Möchtest du im Gegenzug mit deinem Körper Politik machen? My body is what I have, and it’s what I am most familiar with. Instead of writing a bunch of academic papers using my body is the most comfortable way for me to express my beliefs, to take an active role in sharing my idea of freedom, of beauty, love, balance or justice. Without telling anyone what to do. It’s up to your interpretation, you can make something out of it. Because when you’re an extremist, you are always a hypocrite. It’s impossible to be something 100% of the time. And it’s very limiting. We’re all affected by the wind and the moon and the weather.

Body V - I am Miss M.E

Miss M.E beendet Ihre Show mit “Wicked Game”, dem großen Song von Chris Isaak, dessen Popularität auch auf einem Film von David Lynch beruht. So gibt sie schließlich im letzten Akt ihre Stimme zurück an das kulturelle Koordinatensystem, in dem sie sich so sicher und selbstverständlich bewegt, aus dem sie entspringt und das ihre Kunst prägt. Am Ende der Show steht sie allein auf der Bühne, sie schlüpft ein letztes Mal in eine Rolle, wird noch einmal jemand anderes und verortet sich darüber schließlich selbst. What a wicked game to play.

Norman Palm ist Musiker, Designer und Torstraßenfestivalmacher

Fotos: Kristin Loschert


D I A R Y

JULIANE EIRICH

K O R E A N


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Fotostrecke


Fotostrecke


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Korean Diary


Als Juliane Eirich 14 Jahre alt war, bekam sie von ihrem Vater eine Videokamera geschenkt. Fortan drehte sie mit ihren Freund*Innen Filme auf dem stillgelegten Flughafen in ihrer Nachbarschaft. “Das war eine sehr prägende und schöne Zeit”, sagt die Künstlerin, die heute in Berlin lebt. Einige Jahre später ging die Kamera kaputt, woraufhin Juliane das Medium wechselte – sie fing an, zu fotografieren. Aus ihrer Zeit als Hobbyfilmerin blieb ihre Liebe zu besonderen Orten. Nach dem Abitur und während des Studiums reiste sie viel herum, ihre Kamera immer mit dabei. Sie fotografierte ein deutsches Dorf in Südkorea, einen Urlaubsstrand bei Nacht in Miami, einen menschenleeren Busbahnhof in New York und Grundschulen auf Hawaii.

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Korean Diary


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Korean Diary


Von 2007 bis 2008 lebte Juliane eineinhalb Jahre lang in Südkorea. In dieser Zeit entstanden die Bilder der Strecke “Korean Diary”, in der ebenfalls viele außergewöhnliche Orte zu finden sind. Wir sehen eine Häuserfassade, an der eine riesige Krabbe befestigt ist, einen Platz, auf dem Angehörige der koreanischen Marine Gymnastikübungen machen, und ein Filmset mit zwei Soldaten aus Nordund Südkorea, die vermutlich nur dort so friedlich nebeneinander stehen können. Gleichzeitig handelt es sich hierbei um eine Studie der Beziehung zwischen Mensch und Natur: “Ich finde es spannend, unterhaltsam und oft rätselhaft wie es sich Menschen auf dieser Welt gemütlich machen und sich einrichten”, sagt Juliane.

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Korean Diary


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Korean Diary


Diesmal haben wir uns mit Petra Hermanová, Roman Prikryl, Jan Boroš und Jon-Eirik Boska unterhalten, die zusammen in der Band Fiordmoss spielen. Der Sound von Fiordmoss ist düster – schwer klingen die Akkorde, melancholisch die Melodien, klagend der Gesang. Zugleich besitzt die Musik eine tiefe, feierliche Aura, was neben den Chor-Arrangements auch an den Synthesizern liegt,

Unredigiert

von Lukas Dubro


45 Eine Frage, 20 Minuten Zeit. Mit unserem Format “Unredigiert” wollen wir den Verlauf spontan geführter Interviews dokumentieren. Eine Anfangsfrage wird gestellt, der Rest ist offen. Die Idee dahinter? Anstatt einen vorgefertigten Fragebogen beantworten zu müssen, können die Interviewten entscheiden, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelt. So entsteht am Ende ein anderes Künstler*InnenInterview, das an dieser Stelle unverändert abgedruckt wird. Wir haben uns mit Petra, Roman, Jan und Jon-Eirik an einem warmen Aprilabend am Anhalter Bahnhof getroffen, wo Jan und Roman in einer Wohnung hoch über der Stadt leben. Gerade hatte es noch geregnet. Wir saßen am Rande eines Fußballplatzes auf einer Bank, mit Flaschenbier vom Discounter um die Ecke.

die mal an Engelsstimmen, mal an Gebetsorgeln erinnern. Dazu hat die Band eine passende Welt entworfen. Im Video zu “Siberia” sieht man Ameisen, Reptilien, aufgespießte Äpfel und eine kurzhaarige Schwertkämpferin, die auf einem Hund reitet. Dass die Musiker*Innen trotzdem Spaß verstehen, zeigt sich an Romans Basskoffer, der aussieht wie der Sarg Graf Draculas.

F I O R D M O S S


Cartouche:

Mit euren verschiedenen Bands und Projekten seid ihr viel unterwegs, morgen geht es wieder weiter. Erzählt doch mal, wo ihr über die letzten Wochen überall gewesen seid? Roman: Ich war schwimmen, gleich dort drüben. Jon-Eirik: Wie war's? Roman: It was nice.

Roman: Außerdem gibt es in dem Haus einen Pub, von dem aus du den Schwimmenden zuschauen kannst. Über Kamera und Mikrofon wird alles live übertragen. Cartouche: Wie originell. Roman: Der Eigentümer wollte seine Träume verwirklichen. Er heißt Svoboda, was "Freiheit" bedeutet. Cartouche: Für den Fall, dass dort jemand mal hinmöchte, Wie heißt die Stadt?

Unredigiert

Roman: Boskovice.

Petra: In Romans Heimatstadt hat jemand einen SwimmingPool in sein Haus gebaut. Jeder kann dort hin. Du zahlst 50 Cents und kannst so lange bleiben, wie du magst.


47 Cartouche: Ist es eine große Stadt?

Roman: Nein, es leben dort nur 10.000 Menschen.

Petra: Ich bin aus der größten Stadt hier. Sie heißt Valašské Mezirící.

Gelächter, alle schauen auf Romans Hände Roman: Meine Finger sind gelb vom Rauchen. Ich rauche viel zur Zeit.

Petra: Roman hat die Auflage in der Band, mit dem Rauchen aufzuhören.

Roman: Ich bin traurig, dass meine Freundin nicht bei mir ist. Um darüber hinweg zu kommen, rauche ich so viel ich kann. Petra: Emotion. Cartouche: Petra, wofür ist Valašské Mezirící berühmt?

Petra: Die einzige berühmte Person aus meiner Stadt, die ich kenne, ist eine Freundin von mir. Sie hat einen Oscar gewonnen! Sie lebt aber nicht mehr dort.

Cartouche: Oh wow, wann war das?

Petra: Erinnert ihr euch? Jan: Vor sechs Jahren

Roman: 2008! Jon-Eirik: Also sechs Jahre! Roman: Smart guy!

Fiordmoss

Jon-Eirik: Meine Lehrer fanden das nicht so amazing.

Petra: Jon-Eirik hat mir heute erzählt, dass er seine Abschlussprüfung in Mathe ohne Taschenrechner bestanden hat. Jan: Amazing!


Cartouche: Hast du es allen gezeigt?

Jon-Eirik: Nein, nein, nein - ich bin gerade so durchgekommen. Aber ich hatte keinen Taschenrechner!

Cartouche: Und warum hattest du keinen dabei? Jon-Eirik: Ich besaĂ&#x; schlichtweg keinen. Das war 2002, die Zeit, bevor jeder einen Taschenrechner mit sich herumtrug. Die Pre-iPhone-Zeit.Â

Unredigiert

Foto: Jan Durina


49 Petra: Abgesehen von Jon-Eirik ist die ganze Band noch immer pre-iPhone!

Petra: Jon-Eirik ist immer sehr lustig.

Fiordmoss

Jan: (lacht) Ich muss gerade an “kaprík” denken. Das ist JonEiriks Spitzname, es ist Tschechisch für “kleiner Karpfen”. Jon-Eirik kann dir erklären, warum?

Jon-Eirik: Unsere Mathe-Lehrer waren der Meinung, dass wir ohne Taschenrechner sowieso keine Chance haben. Ging es nach ihnen, waren Sinus- und CosinusTangenten nichts anderes als ein schwarzer Kasten, in den du eine Nummer eintippst, damit eine andere herauskommt. Kein Kasten, kein Ergebnis. Du brauchtest also gar nicht erst anzufangen. Einfach, oder?

Jon-Eirik: Ich soll erklären, warum ihr mich “kaprík” nennt?


Jon-Eirik: Nein, nein, nein - ich versuche immer lustig zu sein.

Jan: Wie ein Fisch.

Jon-Eirik: Aber der erklärt noch immer nicht den Namen. Jan: Er hat einmal ein Interview in Norwegen gegeben, richtig?

Jon-Eirik: Was ich eigentlich sagen wolte, war, dass ich ein mittelgroßer Fisch bin wie ein Karpfen!

Cartouche: Was ist also die Geschichte dahinter?

Petra: Genau, dort sagte er, dass er kein großer Fisch in einem kleinen Teich sein wolle. Er wollte ein kleiner Fisch in einem großen Teich sein und meinte damit Berlin.

Petra: Wir sind alle mittelgroße Fische!

Jon-Eirik: Jetzt siehst du auch, warum das alles so lustig ist.

Petra: Du kannst es dir im Internet anhören, wenn du willst.

Jon-Eirik: Auch habe ich einen reizenden britischen Akzent in dem Interview. Immer, wenn ich mit Leuten aus Großbritannien spreche, verändert sich mein Akzent. Jon-Eirik: Ich imitiere immer den Akzent meines Gegenübers. Ein bisschen wie ein Papagei.

Jon-Eirik: (blickt auf den Platz) Für welches Team seid ihr? Ich habe bisher noch keine Tore gesehen, ihr? Unredigiert

Cartouche: Gibt es einen Grund dafür? Jan: Oder wie ein Karpfen.

Petra: Karpfen quatschen nicht so viel.

Petra: Auf dem Feld sind zu viele - wie nennt man sie gleich auf Englisch? Houses?


51 Jan: Was soll das sein “houses”? Jon-Eirik: Du meinst “goal”?

Jon-Eirik: Du weißt nicht, wie dieses FußballDing heißt? Roman: Branka!

Fiordmoss

Jan: Ich weiß es nicht.

Petra: Ihr wisst schon, das Haus für den Ball.

Petra: Es heißt nicht “goal”, oder?


Jan: The gate.

Unredigiert

Jon-Eirik: Es heißt schon “goal”, oder?

Petra: Nein, “goal” is the act of doing it!


53 Jon-Eirik: “The act of doing it”!? Das soll es sein?

Petra: Wir spielen kein Fußball in der Band. Es ist verboten. Wir spielen eigentlich gar nichts, oder?

Jon-Eirik: Wir sollten ein Firmen-Team gründen! Ein Freund von mir, mit dem ich in Norwegen auf Tour war, hat mir erzählt, dass er in dieser Firmen-Liga Fußball spielt. Ich war ein bisschen neidisch darauf. Petra: Warst du nicht! Jon-Eirik: Es klingt witzig. Bolzen mit diesen ganzen 40-jährigen ExFußballern.

Cartouche: Wir kennen uns jetzt ja schon eine Weile. Habe ich euch eigentlich jemals gefragt, warum und wie ihr nach Berlin gekommen seid? Petra: Oh Gott, warum nur wollen das immer alle wissen? Ich hatte einfach die Schnauze voll und wollte raus. Berlin is nicht so weit weg, und es ist schön! Und du, Jan?

Jan: schweigt

Jon-Eirik: Jan guckt gerade Fußball. Cartouche: Aber seid ihr als Band hergezogen? Petra: Ja! Roman, Jan und ich haben in Brno unsere Sachen gepackt, sind ins Auto gestiegen und hergekommen. JonEirik war da noch nicht bei Fiordmoss. Roman: Wir hatten keinen Platz zum Schlafen. Jan und ich haben drei Wochen lang in unserem Auto geschlafen. Fiordmoss


Petra: Die beiden sind tough guys. Jan: Drunk guys. Petra: Ihr habt viel Bier getrunken, stimmt's? Jan: Und Wein! Es war toll!

Roman: Und kalt. Petra: Das macht sich gut in der Band-Bio: "Wir haben im Auto geschlafen".

Jan: Es ist aber auch eine schöne Erinnerung.

Cartouche: Was war so schön daran?

Jan: Dass es so viel Wein gab! Petra: Und ihr habt in dem Haus von diesem einen Typen geschlafen. Cartouche: Wenn du uns erzählt, wer er ist?

Jan: Das stimmt. Kann ich ihn grüßen?

Jan: Wir haben uns übers Internet kennengelernt. Er ist spezialisiert auf Last-Minute-Notfälle. Bei ihm wohnen immer die ganzen verzweifelten Leute, die kein Zimmer gefunden haben. Jedenfalls schläft er nie, sondern spielt den ganzen Tag lang in seiner Küche Computer und isst Pommes mit Mayo. Seine Wohnung ist total unordentlich, überall sind riesige Zeichen an der Wand. Er war sehr nett zu uns. Wir konnten ihn immer anrufen, wenn es uns zu kalt wurde. Unredigiert

Cartouche: Wann war das? Fiordmoss


55 Petra: 2012. Am 18. September sind wir hergekommen. Jon-Eirik: Wow! Jan: Das stimmt!

Jan: Und mein Portemonnaie wurde einen Tag vorher gestohlen.

Petra: It was nice, it was nice.

Petra: Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich mich dazu entschieden haben? Ich weiß nur, dass wir 400 Red-Bull-Dosen in das Auto gestopft haben und nach Berlin gekommen sind. Petra: Das war ein Geschenk von Red Bull. Wir sollten sie verkaufen, um davon unser Album zu finanzieren. Aber niemand wollte sie uns abkaufen. Wir haben sie alle selbst getrunken. Jon-Eirik: Exakt. Aber wir haben sie stattdessen ausgetrunken. So viel Red Bull, ich hätte nie gedacht, dass wir die alle allein schaffen würden. Es hat nur einen Sommer gedauert.

Jon-Eirik: Sie hat sich bestimmt richtig die Kante gegeben damit! Ich meine, zwei Pack

Petra: Für eines waren die Dosen dennoch gut: Wir haben das Video zu "Siberia" damit bezahlt. Die Regisseurin Elvira Bukowski bekam eine Flasche Vodka und zwei Pack Red Bull.

Roman: Am dem Tag habe ich den Brief mit meinem Rauswurf von der Kunsthochschule erhalten.

Cartouche: Warum kannst du dich an das Datum so genau erinnern?

Cartouche: 400 Dosen?

Cartouche: So etwas macht Red Bull? Dosen zum Weiterverkauf verschenken?


bestimmt richtig die Kante gegeben damit! Ich meine, zwei Pack Red Bull und ein Liter Vodka!

Cartouche: Eine lustige Art des Corporate Sponsorships. Petra: Es ist jedenfalls nicht sehr gesund. Deine Leber schmerzt, wenn du zu viel davon trinkst.

Jon-Eirik: Yeah, your mind hurts. Roman: Ein Freund hatte einen Herzanfall deswegen. Jan: Ich glaube, wir sollten das nicht tun. We are supposed to be thankful…

Unredigiert

Fiordmoss


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Fiordmoss ist englisch und bedeutet wörtlich übersetzt “Fjordmoos”. 2008 haben Roman und Petra die Band gegründet, nachdem bei einem Feuer in Romans Haus Petras Gitarre und Romans Plattensammlung verbrannt waren. Jan kam wenig später dazu, als Petra und Roman noch einen Musiker für eine Show benötigten, weil Petra sich die Hand verletzt hatte. Jon-Eirik und Petra lernten sich schließlich in der Red Bull Music Academy in Madrid kennen, wo sie zusammen Lieder komponierten. Neben Fiordmoss haben die vier noch andere Projekte. Petra ist ein Visual-Artist und macht Live-Visuals für Jon-Eiriks Soloprojekt Boska, bei dem auch Roman mitspielt. Jon Eirik hat ein weiteres Bandprojekt mit Jan, das Kaia heißt. Jan macht zudem solo Musik, unter dem Namen Mirror Karate, und hat eine weitere Band mit Freunden aus Tschechien, die Tichonov heißt. Lukas Dubro lebt jetzt in Moabit

Zeichnung, Grafik, weitere Fotos: Fiordmoss


Ade Velkon von Marie-Therese Haustein und Lukas Dubro


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Portrait


“Come on up”, klingt es über die Sprechanlage. Es handelt sich um die Stimme von Molly McDonnell. An diesem sonnigen Märznachmittag haben uns die Modedesignerin und ihre Kollegin Kathrin Kaiser in ihre Wohnung in Prenzlauer Berg eingeladen. Dort, im vierten Stock eines typischen Berliner Altbaus, befindet sich das Studio ihres Modelabels “Ade Velkon”, das die beiden Berlinerinnen im vergangenen Jahr gegründet haben. Eine Einladung in die Wohnung einer Künstlerin oder eines Künstlers ist immer etwas Außergewöhnliches. Verlockend erscheint der Blick hinter die Kulissen. Bei Ade Velkon gehört er mit dazu. Schon als Molly und Kathrin ihre erste Kollektion zeigten, kamen Familie, Freund*Innen und Bekannte in ihr Wohnatelier.

Ade Velkon


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Portrait

Fotos Kathrin & Molly: Franziska Frings


Heute sitzen wir am Küchentisch, es gibt erst Tee und später Rotwein. Molly trägt einen schwarzen, langen Rollkragenpullover mit einer senffarbenen, lockersitzenden Hose, Kathrin hingegen hat sich in ein lockeres Outfit gekleidet, bestehend aus grauem Hoodie und Jeans. Dass sie Mollys Wohnung als Startpunkt für ihre Unternehmung gewählt haben, hat mehrere Gründe. “Es ist gemütlich hier. Ich kann mich gut konzentrieren”, sagt Molly. Kathrin ergänzt, dass sie zu Beginn ihres Unternehmens den Fokus auf das Produkt legen wollten und nicht darauf, wo es entworfen wird. “Die Entwicklung des Designs, der Wiedererkennbarkeit und der Sprache, durch die es vermittelt wird, ist uns im Moment am wichtigsten. Diese ganze Welt muss erst gestaltet werden, sie wächst mit jeder Kollektion. Da interessiert es erstmal niemanden, ob man ein großes Dachgeschoss-Studio in Mitte hat oder in einer privaten Wohnung arbeitet. Am Anfang kennt dich sowieso keiner”, sagt Kathrin. “Wir haben hier alles, was wir brauchen, um gut zu arbeiten”, fügt Molly hinzu.

Ade Velkon


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Das große Atelierzimmer gegenüber der Küche ist mit allem Notwendigen ausgestattet. In der Mitte steht ein großer Tisch, an dem gearbeitet wird, drumherum befinden sich Nähmaschine, Schneiderpuppe und der Arbeitscomputer, genug Platz für Kleiderstangen bietet der Raum ebenfalls. Ein Board mit Mood-Bildern ziert die Wand neben Kathrins Schreibtisch. An das Zimmer schließt ein Balkon an, von dem man die Bahngleise sieht. Außer dem Rauschen der Züge dringt kein Lärm von draußen herein. Angesichts so viel Ruhe vergisst man beinahe, dass Berlin-Mitte mit seinen vielen Geschäften, Galerien und Restaurants nicht weit entfernt liegt. Ade Velkon gibt es seit knapp einem Jahr. Der Name entstand aus Mollys Faszination für ihre eigene Geschichte. Molly wuchs in Kalifornien auf, ihre Vorfahren kamen aus Irland und Polen. Bei Velkon handelt es sich um den Familienname ihrer Mutter, die aus Polen stammt, und bedeutet “vom Pferd”. Ade steht wiederum als Kurzform für Kathrins Tante Adele, mit der sie aufgewachsen ist. Sie ist heute 85 Jahre alt. Die Bedeutung von Adele lautet “edles Wesen”.

Portrait


Mit diesen Bestandteilen haben Molly und Kathrin eine fiktive Person geschaffen, an der sie sich orientieren können und die sie inspiriert. “Der Name bestimmt den Ton”, sagt Molly. Bei der ersten Kollektion ging es um eine Frau und ihre Reise. Kathrin beschreibt den Namen als “geheimnisvoll und düster”. Die Kleider des Labels offenbaren noch viel mehr. So bewegt sich die erste Kollektion im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne. Die Schnitte sind klassisch gehalten und erinnern an puritanische Gewänder. Materialwahl und Silhouette verleihen den Entwürfen eine nahezu sportliche Note. Molly und Kathrin spielen mit Proportionen. So trägt man Faltenrock über Bundfaltenhose, gepaart mit einem gecroppten Top. In der Passform der Kollektion spiegelt sich Mollys Schneiderkunst wider. Die Teile sind passgenau und umschmeicheln die eigene Figur. Die Materialien sind unerwartet und erfrischend, von weißem Jersey über tweedartigen Wollstoff bis hin zu hochwertigem Polyester. Die Stücke funktionieren als komplette Outfits: Ade Velkon trägt man am besten zu Ade Velkon. Zudem können die Sachen im Alltag genauso getragen werden wie zur Weihnachtsfeier mit Kolleg*Innen. Und ja, es ist auch die von Kathrin angesprochene Düsternis, die Ade Velkon auszeichnet. Wenig später betrachten wir im Atelierzimmer die neue Kollektion, an der Molly und Kathrin gerade arbeiten. Sie wollen zum ursprünglichen Plan zurückkehren und etwas lockerer werden, erzählt Molly. Die erste Kollektion ist überraschend streng ausgefallen. Kleidung zu entwerfen, stellt für beide Neuland dar: “For me it’s like trying out being a fashion designer”, sagt Molly, die zuvor hauptsächlich als Schneiderin gearbeitet hat.

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Entsprechend lernt sie jeden Tag etwas Neues. Kleider zu entwerfen, hat Molly an der Uni gelernt. Bevor sie 2007 nach Berlin kam, studierte sie Mode in San Francisco. Schon als Kind hatte Molly ein besonderes Verhältnis zu Kleidung, wechselte ihre Outfits mehrmals täglich. Ein bisschen davon hat sie sich auf jeden Fall bewahrt: “Es geht mir weniger um Mode als um das Gefühl, sich in dem, was man trägt, gut zu fühlen. Das ist natürlich eine permanente Suche, denn abhängig von Stimmungen und Momenten kann sich so ein Gefühl schnell ändern”, sagt Molly. Wenn sie ihre eigenen Sachen trägt, fühlt sie sich mehr wie sie selbst. Die ideale Kleidung funktioniert ihrer Meinung nach wie eine zweite Haut, über die man nicht nachdenken muss. Das zu schaffen, sei das Ziel von Ade Velkon. Der Grund, ein eigenes Label zu gründen, war, nicht für die Vision eines anderen arbeiten zu wollen. Kennengelernt haben sich Molly und Kathrin über einen Freund. Zu jener Zeit hatte Molly schon lange nach jemandem gesucht, mit dem sie zusammen etwas Eigenes auf die Beine stellen konnte. Als die beiden sich trafen, wollten sie gleich loslegen. Kathrin kam vor vier Jahren nach Berlin, davor studierte sie Kunst in Wien. In Berlin arbeitete sie zunächst zwei Jahre bei einem Accessoire-Label, das sie verließ, weil sie etwas Neues ausprobieren wollte. Ade Velkon kam gerade recht. “Die Arbeit mit Molly fühlt sich richtig an”, sagt Kathrin. Ihr Interesse für Mode wuchs über die Zeit. In der Schule kaufte sie Second-Hand in Übergröße, die sie umnähte. In Sachen Mode hat sie einen ganz spezifischen Anspruch, gerade im künstlerischen Kontext.

Ade Velkon


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Portrait


“Mode wird viel direkter verstanden, anders als in der freien Kunst. Man muss den Kleidungstücken Leben einhauchen und Bedeutung geben”, erklärt Kathrin. In der Arbeit ergänzen sie sich gut: “Zu zweit befindet man sich in einer anderen Realität. Es fällt einem leichter, Risiken einzugehen und die optimale Form für eine Idee zu finden. Wir fangen uns dort auf, wo es einem alleine schwierig erscheint, weiterzugehen”, führt Molly aus. Und so scheint bei Ade Velkon im Moment alles zu stimmen. Das Studio, die Stadt, die Konstellation. Zugleich haben Molly und Kathrin noch viel vor. Sie wollen ihr Team vergrößern, mit verschiedenen Fotograf*Innen arbeiten und eine PR-Agentur engagieren. Schon jetzt geht ihnen die Grafikdesignerin und Musikerin Sara Kwon bei der Produktion der Kollektionen zur Hand. Ihre Freundin Maria Nehme engagierten sie wiederum als Model für das erste Shooting. Die zweite Kollektion stellten sie bei der Berlin Fashion Week im Winter in einem Showroom auf der Gipsstraße aus. Und beim Erscheinen dieser Cartouche-Ausgabe werden Molly und Kathrin ihre dritte Kollektion bereits in der Galerie Praterstraße Berlin präsentiert haben.

Ade Velkon

Portrait


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Modefotos: Trevor Good


Inna Ida Nechyporenko mag es elegant. Am liebsten trägt die gebürtige Ukrainerin schwarz, weil sie findet, dass die Farbe einfach zu kombinieren, aber dennoch sehr ausdruckstark ist. Die Ringe, die sie schmiedet, bestechen durch ihre raffinierten Formen. Zwar sind diese einfach und klar, dennoch ist jeder Ring ein Unikat. Das liegt daran, dass sie alle handgefertigt sind. Arbeitet Inna Ida nicht in ihrer Werkstatt, modelt sie regelmäßig für die Designer*Innen der Stadt. Und da sie ebenfalls sehr gern für ihre Freund*Innen kocht, haben wir ihr ein paar Fragen rund um das Thema gestellt.

Fragebogen

von Marie-Therese Haustein und Lukas Dubro


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Essen gehen oder kochen zuhause? Beides. Kochen macht Spaß, wobei ich am liebsten für andere koche. Ins Restaurant gehe ich aber auch sehr gerne. Groß aufkochen oder kleiner Snack? Das kommt darauf an, wie hungrig ich bin. Wenn ich snacke, dann gesund. Warm oder kalt? Warm! Paleo oder Raw? Keins von beidem. Essen mit Freunden oder allein vor dem Laptop bei der Lieblingsserie? Mit Freunden, keine Frage. Italienisch oder Französisch? Italienisch. Entrecôte oder vegetarisch? Entrecôte.

Zutaten aus dem Supermarkt oder vom Markt? Ich liebe Märkte, gehe momentan aber eher in den Supermarkt. Bio oder regional? Regional. Marke oder billig? Beides. Obst oder Gemüse? Obst und Gemüse! Ich mag es, beides zu mixen, und Obst an den Salat zu machen.

Wein oder Bier? Wein! Vor- oder Nachspeise? Nachspeise. Käse oder Jogurt? Käse. Süß oder salzig? Süß. Kaffee oder Schnaps? Kaffee nur am Morgen. Alkohol am Abend.

Kochen nach Rezept oder nach Gefühl? Ich nehme Rezepte als Grundlage und probiere damit herum. Mit oder ohne Knoblauch? Warum ohne? Natürlich mit! Gedämpft oder gebraten? Gedämpft. Wok oder Pfanne? Wok.

Foto: Till Janz und Hendrik Schneider

Marie-Therese Haustein mag 黑.






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Kolumnen


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Foto: Dick Smith


Proof Of Epic.

1. Shattered Grimes.

Nachdem ich zwei robuste Jahre lang Grimes' Feen-Charme erfolgreich Widerstand geleistet hatte, verliebte ich mich am Ende doch noch bis über beide Ohren in die Musikerin und ihr Album Visions, als ich nach meiner Rückkehr aus Berlin den Sommer im Haus meiner Mutter auf dem Land in Texas verbrachte. Ich kann mich noch genau daran erinnern: Ein paar Tage vor der Sommersonnenwende fühlte ich mich sensibel und romantisch – ich war bereit für etwas Neues. Ich entschied, dass es an der Zeit war, mich dazu zu bringen, Grimes zu mögen. Dann, in der Nacht der Sonnenwende, die mit einem Supermoon zusammenfiel, war ich mit meiner Mutter, meinem Stiefvater und ihren Cowboy-Freunden draußen auf dem See rudern. Als das Boot über den glitzernden Mond dahinglitt, hielt ich mir mein Telefon ans Ohr und spielte “Genesis”. Da war es um mich geschehen. Ich fühlte mich, als würde ich Herzen ins Wasser kotzen. Sechs Monate später bestellte ich mir die Platte. Die Lieferung dauerte länger als gewöhnlich. Als sie dann endlich bei mir eintraf, Foto: Vicky Malinowski

war sie vollkommen zerbrochen. Die Scherben habe ich an der Wand meines Wohnzimmers angebracht. Thus the courtship of me and Grimes continues to prove epic. 2. Break-up Streaking. Nachdem ich während meines letzten Besuchs in Seattle mit meiner Semi-Fernbeziehung Schluss gemacht hatte, unternahmen sie und ich gemeinsam mit drei schwulen Boys und einem sehr betrunkenen und party-müden Mädchen aus Denver nach einem Besuch in einer Ficken-3000-mäßigen Bar ein kleines Einkaufswagen-Abenteuer auf dem Capitol Hill. Wir liefen gerade den Hügel rauf, als wir einen verlassenen Einkaufswagen vor einem Wohnhaus entdeckten. Wir setzten das DenverMädchen hinein und machten uns wieder auf den Weg Richtung Norden. Dort sprangen wir in Büsche (eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, wenn ich betrunken bin), brachen in einen Wohnkomplex ein und rauchten Zigaretten in einem unverschlossenen antiken VW-Beetle. Als wir schließlich am Volunteer Park ankamen, verloren meine Ex-Semi-Gf-Freundin und ich den Rest der Posse aus den Augen, rissen uns die Kleider vom Leib und rannten ins Grüne. Wir jagten uns gegenseitig und umarmten uns dann,


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während unsere Füße in der feuchten Wiese versickerten. It was then that I realized that my break-ups are always so epic. 3. Dad Gets iPhone. Nach all den Jahren der schnellen Handy-Evolution fand sich mein Vater (freiwillig) allein in einer Welt wieder, in der es ihm verwehrt wurde, Nachrichten zu schreiben, Emails oder Facebook von seinem Telefon zu lesen oder Snapchat zu benutzen. Als ich vor ein paar Wochen mit meiner Freundin Sarah McKee skypte, schickte mein Vater ein Foto von sich via Groupchat. In der einen Hand hielt er ein Glas Margarita, in der anderen ein iPhone 5s. It's pretty epic.

Dick Smith lives in Missoula, Montana with her cat, Spartikus. She wants to apply for a PhD program in Toronto but is afraid of being rejected. Instead she fills her time with audio collage (DJing), hiking, and taking care of herself. She misses her friends in Berlin and is a proud contributor to No Fear of Pop.

Berlin Die drei Künstler*Innen in dieser Kolumne haben eines gemeinsam: Obwohl sie in Berlin leben, spielen sie keinen Techno. Damit passen sie so gar nicht in das Bild, das viele Leute leider noch immer von der Stadt haben. Die Rede ist natürlich von der blödsinnigen “Berlin ist tot”-Debatte, in der die Stadt mal wieder auf ihre Klubkultur reduziert wurde. Dabei ist Berlin schon lange nicht mehr nur Techno. Wer mit offenen Augen durch Bezirke wie Neukölln oder Wedding läuft, dürfte das bemerkt haben. Klubs gibt es nur wenige. Dafür sind über die letzten Jahre viele Musiker*Innen dort hingezogen, die sich musikalisch weitab von Techno bewegen. Dazu gibt es Blogs, Labels und einen Radiosender. Um es mit den Worten von No-Fear-Of-Pop-Mastermind Henning Lahmann zu sagen: “Only in recent years, a different story began to unfold in the shadows of the overarching Kolumnen

club scene.” Und wer weiß, vielleicht schafft es diese Geschichte einmal, die des Techno abzulösen. Ein wichtiger Gradmesser für den Zustand der Nicht-Technokultur der Stadt ist seit ein paar Jahren das Torstraßenfestival, auf dem regelmäßig großartige Bands aus Berlin auftreten. Einer der Köpfe hinter dem Festival ist Norman Palm, mit dessen Musikprojekt Millennium ich anfangen möchte. Neben Norman besteht das Projekt aus Ville Haimala, der unter dem Namen Renaissance Man Klubmusik macht. Das besondere an Millenniums verspieltem Elektropop ist die Verpackung: Ihre Homepage besteht aus nichts anderem als einem gigantischen Smartphone-Bild. Auf einem Bandfoto sieht man die beiden Musiker in Hemd und Krawatte in einem Büro stehen und angeregt miteinander diskutieren. Vor ihnen ein Computerbildschirm, eine Kaffeetasse mit dem Bandlogo und ein Handy. Im Video zu “Q&A” schließlich spielen Ikonen des Berlin Undergrounds wie Britta Thie und Dan Bodan Bewerbungsgespräche nach, in denen sie ihre Eigenschaften (adaptive! energetic!) aufzählen. Das Setting: Hintergründe, deren Farben aus Powerpoint stammen könnten, und popart-mäßig präsentiertes Office-Inventar, darunter Wasserflaschen, Obstschalen und Uhren. Ja, die moderne Arbeitswelt ist bizarr, ein trister Ort mit noch tristeren Menschen, eigenartigen Ritualen und glänzenden Fetischobjekten. Doch wie sich dem entziehen? Die Band, die sich übrigens selbst als Start-Up bezeichnet, weiß die Antwort: Never work! Ein wenig erinnert die Ästhetik von Millennium an das Vaporwave-Genre, das mit Werbejingles, billigen 3D-Animationen und Webdesign aus den 90ern spielt. Wer mehr über Vaporwave erfahren will, dem sei der Text “Vaporwave and the pop-art of the virtual plaza” von Adam Harper ans Herz gelegt, in dem auch die politische Dimension des Genres beschrieben wird. Überhaupt lohnt es sich, Adam Harper zu lesen, verschriftlicht er doch regelmäßig, worüber zuvor niemand sonst geschrieben hat. In einem seiner Texte stellte Harper Ende vergangenen Jahres seine Lieblingsprojekte aus dem Online Underground zusammen. Dort vertreten war auch Cyan Kid, hinter dem sich der Berliner Musikproduzent und Videokünstler Max Boss verbirgt. Über sein neuestes Album Free schrieb Adam Harper Folgendes:


“Free is an attractively diverse album bringing together dream pop, future dub, seapunk, cosmic disco, and freeform sonics, and though it sounds like the work of a Utopian collective jamming live.” Hinzuzufügen wäre, dass trotz der Experimentierfreudigkeit beim Sound wieder Max Boss' Leidenschaft für betörend schöne Harmonien und knackige Beats zum Vorschein kommt. Ein weiterer Beleg hierfür ist das neue Album New Cuisine seines anderen Projekts Easter, das im Vergleich zu seinem Vorgänger gut laut geworden ist. Wesentlich für die Musik von Cyan Kid ist, dass sie komplett am Computer entsteht. Schließlich erzeugt Max Boss auf diese Weise eine gewisse Künstlichkeit, die wiederum gut in sein Gesamtkonzept passt. Ganz anders verhält es sich mit der Musik von Johanne Swanson. Die Popsongs ihres Musikprojekts Yohuna wirken um einiges organischer, was zum einen an der Instrumentierung

Kolumnen

liegt - Johanne greift auf physische Instrumente zurück, am liebsten auf Lo-Fi-Synthies aus den 80ern, Effektgeräte und Gitarren. Aber auch Johannes unverfremdeter Gesang trägt seinen Teil zu diesem Eindruck bei. Wegen ihrer Ästhetik kann die Musikerin daher eher in das Lo-Fi-Movement um Künstler*Innen wie Casiotone for the Painfully Alone (heute Advance Base) oder Julia Holter eingeordnet werden. Dafür spricht auch, dass kürzlich erst ihr Song “Badges” auf einem Sampler des Labels Orchid Tapes veröffentlicht wurde, auf dem auch schon einige EPs und Alben von anderen Lo-Fi-Projekten wie Foxes in Fiction und Happy Trendy erschienen sind. “Badges” ist das schönste Stück, das Johanne bisher aufgenommen hat. In der Ballade richtet sich die Musikerin gegen Schönheitsideale: Man muss nicht hübsch sein, um anderen den Atem zu rauben, lautet Yohunas Botschaft. Es macht Spaß ihm zuzuhören, diesem neuen Sound Berlins. Lukas Dubro


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No Fear Of Pop empfiehlt Ob eine Stadt wirklich Weltformat hat, erkennt man noch immer am besten daran, wie sehr sich die Popkultur mit ihr auseinandersetzt. Schaut man auf Berlin, so kommt man wohl noch immer nicht um die Feststellung herum, dass sich so ernsthaft niemand schert um unsere ach so internationale Metropole. Was hätten wir denn anzubieten aus den letzten Jahren? “Schwarz zu Blau”? Oder schlimmer noch, Kraftklub gar, mit ihrer ekelerregend hymnenhaften Absetzbewegung “Ich will nicht nach Berlin”? Schwerlich relevant jenseits von Chemnitz. Und sonst? Geleerte Irrelevanz, irrelevante Leere.

Wolkendecke und schenkt uns ein paar kostbare Momente, an deren lichter Zugänglichkeit man sich für ein paar Sekunden festhalten mag. Das bedrohliche “Contagious” oder vielleicht auch “Gaze” sind solche Tracks, die zwar nie die Melancholie vertreiben, aber wer wollte das auch, es gießt ja eh gleich wieder wie aus Eimern, vor allem aber das magisch flackernde, jedoch geradezu tragisch kurze “Our”. Ansonsten dominiert bedrückende Gleichgültigkeit, London entpuppt sich als ein mäandrierender, träger Fluss, der es niemals bis zum Meer schaffen wird: Ghettoville ist ein Abschiedsgeschenk, das die Bedachte unbarmherzig niederringt.

London, natürlich, hat solche Probleme nicht. Tausendfach wurde die Hauptstadt des Empire besungen, gepriesen und beklagt, ein endloser Strom validierender, sich komplementierender Narrative, die die Stadt bestätigen als die Urstätte der Popmusik, neuweltlicher Ambitionen jenseits des Atlantiks zum Trotz. Generationen von Musikern haben sich an ihr abgearbeitet, und jüngst hat Darren Cunningham alias Actress der Geschichte ein weiteres Kapitel hinzugefügt. Ghettoville (Werk Discs / Ninja Tune) heißt das epochale Werk, das mehr oder weniger eindeutigen Andeutungen zufolge Cunninghams letztes unter diesem Namen sein soll. Ohne das Sujet beim Namen zu nennen, agiert Actress genau wie schon Burial zuvorderst als Kartograph Londons, der mit seinen Sounds die versteckten, unterdrückten Räume des kollektiven Gedächtnisses seiner Stadt aufdeckt und festhält. Wo letzterer aber wenigstens den night bus nahm, der im Anschluss an sein Meisterwerk Untrue einem ganzen Subgenre seinen Namen gab, stapft Cunningham offenbar zu Fuß durch die Distrikte südlich der Themse, der Stimmung nach vermutlich im Regen; mit welchem Ziel, das wird nie ganz klar. Und angesichts der schieren Größe der Metropole verwundert es kaum, dass Ghettoville so vor allem eines geworden ist: lang, um nicht zu sagen langatmig, und von opaker Schwermut durchdrungen. Für die Hörerin ist das durchaus anstrengend. Die 71 Minuten der LP fordern, ohne irgendeine Art von Erlösung zu versprechen. Und warum auch? Hinter der nächsten Ecke wartet ja doch nur eine weitere Reihe trist dunkelrot verklinkerter Nachkriegsbauten. Nur gelegentlich bricht die Sonne durch die dichte südenglische

Dass Cunningham durchaus in der Lage ist, ein wenig fokussierter zu arbeiten, beweist sein mutmaßliches Nachfolgeprojekt Levantis. Vorgestellt wurde es im Herbst letzten Jahres mit der Veröffentlichung der 12” Believe (Trilogy Tapes), ohne jedoch seine Autorenschaft zu enthüllen. Allein die Tatsache, dass der erste Track “Music Hall” um Elemente herum arrangiert ist, die auf Ghettoville in den Stücken “Don’t” und “Time” wieder auftauchen, verrät Cunningham als den Mann hinter Levantis. Wobei die Unterschiede zwischen seinen beiden künstlerischen Erscheinungsformen erst beim zweiten Hinhören deutlich werden. Auch Believe ist verschwommen, haltlos, ohne viel Hoffnung, aber immerhin stets nahe am Viervierteltakt, zu dem man sich rhythmisch bewegen könnte, wenn man wollte, bis die Apokalypse kommt – in dieser Stadt vermutlich in Gestalt der von schmelzenden Polkappen anschwellenden Nordsee. Insgesamt ist Levantis

Cartouche

Artwork: Workshop


beinahe schon zu nah am Katalog des immer noch sehr gehypten mittelenglischen Labels Opal Tapes, das sich hauptverantwortlich dafür zeichnet, dass diese Spielart des verschmutzten House in den letzten Jahren zum dernier cri an beiden Ufern des atlantischen Ozeans werden konnte; eine Herangehensweise an Tanzmusik, die Cunningham selbst mit seinen frühen Werken als Actress, Hazyville und Splazsh mit zu initiieren half. Heute sind wir dieser Musik fast schon wieder überdrüssig; zu sehr ähneln sich viele Veröffentlichungen. Warum Cunningham ein neues Projekt aus der Taufe hebt, um sich ihr wieder ganz ungeniert hinzugeben, bleibt somit eher rätselhaft, auch wenn Believe für sich genommen durchaus zu überzeugen weiß. Maßgeblich definiert wurde die genannte Unterart des House vor zwei Jahren durch die beiden Leipziger Produzenten Mix Mup und Kassem Mosse, deren kollaboratives MM/KM, ebenfalls beim Londoner Label Trilogy Tapes erschienen, noch immer darauf wartet, an Kunstfertigkeit und Ideenreichtum übertroffen zu werden. Kassem Mosse alias Gunnar Wendel immerhin hat sich kürzlich dazu durchringen können, endlich sein Debütalbum zu veröffentlichen, unbetitelt (Workshop) – was nur konsequent ist angesichts des Umstands, dass es neun ebenso namenlose Tracks versammelt. Ob es von Leipzig handelt oder dem vermeintlich sinkenden Stern Berlins à la Kraftklub den Todesstoß versetzen will ist nicht bekannt, jedenfalls aber ist auch diese LP ein sehr urbanes Werk, das zudem jene städtische Leichtigkeit umarmt, die Cunningham in London nicht mehr finden konnte oder wollte. Es dämmert auch in dieser Metropole, aber der hereinbrechenden Nacht fehlt das Bedrohliche; ihre Straßen sind schattig und dreckig und staubig, dennoch kann, ja will auf ihnen getanzt werden. Und kein Niederschlag, nirgends. Kurz bevor wir uns abwenden wollten und ohne die genialen Einfälle von MM/KM bloß zu wiederholen, hat Wendel dem stagnierenden Genre neues Leben eingehaucht. Zurück zum Regen, zurück nach London: Ohne sich noch länger mit ihrem Verflossenen Dean Blunt aufzuhalten, mit dem zusammen sie als Hype Williams jahrelang von der Kritik gefeiert wurde, arbeitet sich auch Inga Copeland lieber an ihrer Wahlheimat ab. Während Blunt im letzten Jahr mit The Redeemer noch ein klassisches breakup album veröffentlichen musste, um über die gemeinsame Kolumnen

Zeit hinweg zu kommen, ist copeland, wie ihr Soloprojekt neuerdings schlicht genannt werden soll, schon zwei Schritte weiter. Denn was hilft die Liebe, wenn man die Miete nicht bezahlen kann? Because I’m Worth It (ohne Label) mag klingen wie ein trotziger Nachruf auf eine gescheiterte Liebesbeziehung, ist hier aber viel eher profanökonomisch zu verstehen: London mag zwar die Welthauptstadt des Pop sein, das sollte allerdings nicht davon ablenken, dass sie zuallererst eines der Zentren des globalen Finanzkapitals ist: Cash moves everything around me, und everything is judged by numbers, stellt Copeland im Track “DILIGENCE” verbittert fest. Zwar eröffnet die Stadt durchaus Möglichkeiten der Aneignung urbaner Räume, wie sie in „advice to young girls“ aufzeigt – übrigens eine Kollaboration mit Actress und der einzige Track, der nicht von Copeland selbst produziert wurde – je mehr man sich jedoch Gedanken darüber machen muss, wie man im nächsten Monat für das winzige Zimmer aufkommen soll, desto mehr verliert die Metropole ihre Magie, desto mehr schränkt sie ein anstatt zu befreien. London bricht ihr Versprechen und wird zur city of sorrows, was in der Frage des zentralen Stücks “Inga” kulminiert: Is it the kinda place you’d die for? Vielleicht lieber nicht. Also doch zurück nach Berlin, in die Stadt, die vor ein paar Jahren schon einmal kurzfristig Heimat war für Inga Copeland und Dean Blunt? Eine Antwort auf diese Frage bekam ich per Mail schon im Sommer 2011:

came here to hide played one or two times here never doing it again, cplnd Berlin, so verstehen wir, ist nicht einmal eine verbitterte Abrechnung wert.

Henning Lahmann ist der Kopf hinter No Fear Of Pop und schreibt auch sonst hier und da über Musik


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Bücher Aphex Twin’s Selected Ambient Works Volume II (33 1/3), Marc Weidenbaum, Bloomsbury, 144 Seiten

Es war sicher eine große Herausforderung, über Selected Ambient Works Volume II von Aphex Twin ein Buch zu schreiben. Schließlich ist das Album schwer zu greifen. Da wäre zum einen die unübersichtliche Tracklist (nur einer der 25 Tracks hat einen offiziellen Titel). Zum anderen hat sich Richard D. James, wie Aphex Twin mit bürgerlichem Namen heißt, in letzter Zeit geweigert, Interviews zu geben. Der Journalist Marc Weidenbaum hat die anspruchsvolle Aufgabe dennoch gelungen gemeistert. Im neuesten Band der Reihe 33 1/3, die sich mit bedeutenden Musikalben beschäftigt, untersucht der Autor die Rezeption von Aphex Twins Ambient-Meilenstein, seinen Hintergrund und den Einfluss auf die damalige Zeit. Zugleich feiert Weidenbaum das Album als wegweisend und erklärt, was es so zeitlos macht. Dabei vergleicht er Selected Ambient Works Volume II mit Stanley Kubricks rätselhaftem Monolith aus dem Film 2001: eine Odyssee im Weltraum. Ein Monolith “aus dünner Luft entstanden”. Moondog, Amaury Cornut, Le Mot et le Reste, 136 Seiten

Es ist verwunderlich, wie wenig Literatur über die musikalische Avantgarde der 70er-Jahre in Deutschland erschienen ist. Schließlich sind Phänomene wie Krautrock international von großer Bedeutung und wirken bis heute nach. Dennoch: Texte findet man darüber kaum. Eine Ausnahme bilden drei Monografien aus der Reihe “Formes” des französischen Verlags Le Mot et le Reste. In der jüngsten Veröffentlichung der Reihe “Moondog” geht es um den gleichnamigen Experimental-Musiker Louis Thomas Hardin. Weniger bündig als Robert Scottos autorisierte Biografie von 2007 ist dieses Buch eher eine Einführung in das Werk des blinden US-amerikanischen Komponisten und Musikers. So erfährt man, dass viele Musiker*Innen und Bands unterschiedlicher Richtungen von ihm sehr beeinflusst worden sind, unter andem die frühen Minimalisten wie Steve Reich, La Monte Young, Stereolab, Mouse on Mars oder Devendra Banhart. Man lernt auch, was die Musik und das Leben von Moondog prägte: Der Besuch eines Sonnentanzes der Arapaho, der Sound der Straße New Yorks, wo Cartouche

er als Obdachloser 20 Jahre lebte, und die Liebe zu nordischer Mythologie. Dem Band liegen eine kommentierte Diskografie und schwarz-weiß Fotos bei. Man liest ihn in wenigen Stunden - und verspürt viel Vergnügen!

Beyond Plastic: Ein Mixtape im Buch-Format, Alex Ketzer, 291 Seiten

Wir leben in einer Zeit, in der dank des technischen Fortschritts Treffen und Gespräche rein virtuell stattfinden können. Auch Interviews für Zeitschriften und Bücher werden immer seltener von Angesicht zu Angesicht geführt, meistens tauscht man E-Mails aus. Diese Entwicklung macht Beyond Plastic des Kölner Grafikdesigners Alex Ketzer so besonders: Er hat sich persönlich mit seinen Gesprächspartner*Innen getroffen und mit ihnen über die gemeinsame Leidenschaft für Vinyl gesprochen. Dafür unternahm Ketzer, der das Buch ebenso herausgibt wie gestaltet hat, im Sommer 2012 eine zweiwöchige Interview-Reise durch Deutschland - von Köln bis Frankfurt, über Hamburg, Berlin, Leipzig und Dresden. Die Interviewten waren Musiker*Innen, Labels, Magazine, Vertriebe und andere Protagonist*Innen der zeitgenössischen deutschen Indie-Elektro-Szene. Fast alle sind mit dabei: Aim, Fauxpas Musik, Giegling, Liebe*Detail, Smallville und Uncanny Valley. Herausgekommen ist ein literarischer Musik-Roadtrip, der schon jetzt als wichtige Landkarte der Szene gilt. Finanziert wurde das Buch über Crowdfunding; mehr als 250 Abbildungen sowie 12 exklusive Tracks der Protagonisten auf CD liegen ihm bei.

David Armengou macht den Buchladen Echo Bücher


Bagels und Tapes – auf dem Mixtape dieser Ausgabe finden zwei Dinge zusammen, die unsere Herzen höher schlagen lassen. Zusammengestellt wurde es von Kyra La Mariana, Chefin des Bagel-Cafés Two Planets, und Augusto Lima, Gründer des Kassetten-, Video- und Poesie-Labels Mouca. Two Planets gibt es seit April diesen Jahres, neben selbstgebackenen

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Bagels mit Creamcheese und Lachs werden dort auch Brownies, Cookies und Bonanza-Kaffee serviert. Mouca wiederum wurde 2012 von Augusto Lima und Charlotte Thießen ins Leben gerufen. Zur Zeit arbeitet Augusto mit Chad Matheny an neuen Veröffentlichungen mit Man Meets Bear, Branches und Beach Arabs.

ONWE - Unpaid Internships (Trust-fund Blues) Splendidid - Fruit Salad Monsterheart - West Spazzkid - Kokeshi Doll Dream Panther - Fuck all Laker Haters, Kobe Time (rest in) Metta World Peace Dream Wife - Believe Útidúr - Vultures Power Animal - Empty Parking Lot, Scary Dog, Snowing The Spookfish - Floating Around (Snake Song) Pictureplane - Post Physical Yohuna - Para True Snacs - Retreat WOB - I Myself and I Wanna Live Hand Habits - It Doesn´t Matter Slow No Wake - Walk Through Walls Bellows - See Bright, Be Fine

Mixtape

www.cartouche-blog.de/mouca-3



Zeichnung: Marius Wenker


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