»Pasta makes me sad«
Cartouche #4
Cartouche #4
Impressum: www.cartouche-blog.de www.cartouche-blog.tumblr.com Cartouche sind:
Dank an:
Jamie-Jonathan Ball Nature boy Kyle Brayton Matthew Bromley Johann Clausen Indi Davies Dena Katharina Dermühl Lukas Dubro ecco2k1 Malte Euler Léo Favier Gregor Gille Patricia Heck Augusto Lima Max Link Ilka Hallmann Marie-Therese Haustein Kathren K Lina-Marie Koeppen Phillip Koll Kathy Kwon Sara Kwon Henning Lahmann John Londono Evelyn Malinowski Warren O'Neill Konstantin Pannicke Janja Josipa Perkovic Sissi Pitzer Noel Saavedra Lucy Sparks Paul Solbach Charlotte Thießen Tonje Thilesen Regina Weber Marius Wenker Rich West
Alexander Winkelmann,Simone, Jamie, Jonathan & JJ, Amande, Remi, Austin Brown, Nadine, Bruno, Bennet, Mincer Ray, Dan Bodan, Henning, Felix, Chris Kline, Piet, Stefan, Max Dax, Philipp Goll, Philipp, Konsti, Claire Boucher, Sam & Claudia, Fionn, Dave, Evelyn, Thomas Vorreyer, Rachel, Das Gift, Antje Öklesund, Zottie, Johann, Kosmetiksalon Babette, King Kong Klub, Kyra, Soren, Kevin Halpin, Philipp Asch, Naherholung Sternchen, Max, Stine, Andrea, Bundi, Kathrin, Matthias Heiderich, Jule, Silke, Dirk, Vladimir … To Be Continued
V.i.S.d.P./ Hrsg. Lukas Dubro Jagowstr. 29 10555 Berlin info@cartouche-blog.de
FANZINE
Neulich im Nathanja und Heinrich mit den Freund_innen gesessen. Draußen war Sommer, drinnen tranken wir Pastice. Alles hier fühlte sich gut und richtig an. Es ist eben jenes Gefühl, jene Zelebration des Moments, um die es in Cartouche No. 4 geht. Wir wollen ihn einfangen, den Sound dieser Tage. Und so finden sich auch in diesem Heft wieder Projekte von Menschen, die uns begeistern, indem sie das, was uns umgibt, in ihrer Arbeit reflektieren und somit einen Beitrag zum Hier und Jetzt leisten. Das erste Gespräch dieser Ausgabe führten wir mit dem Berliner Duo Easter. Die Musik von Stine Omar Midtsæter und Max Boss lässt sich nur schwer in Worte fassen, entfaltet zugleich aber eine einzigartige Atmosphäre. Wir haben die beiden im Wedding getroffen. Die Protagonisten von Gespräch zwei und drei sind Alexander Winkelmann und Yule FM. Beiden ist es auf eigene Weise gelungen, eine aufregende Kunstsprache zu entwerfen. Das großartige Interview mit Alexander Winkelmann führte unser neuer Autor Max Link.
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Über die Musik hinaus finden sich in Cartouche No. 4 aufregende Talente aus den Bereichen Fotografie und Design. Da wäre Tonje Thilesen, die eindrucksvolle Fotos von Menschen und Orten macht. Und die Designerin Lina-Marie Koeppen. In der Designstudie “Learn To Unlearn” geht sie der Frage nach, ob Design den Menschen dabei helfen kann, sich ihrer selbst zu bemächtigen. Ebenfalls begrüßen wollen wir Pen-Club-Mitglied Malte Euler und die Designerin Regina Weber. Unsere Gastautoren haben weitere wichtige Gegenwarts-Projekte unter die Lupe genommen. Henning Lahmann empfiehlt das erste Album des Avantgarde-Kollektivs Young Echo, Warren O’Neill und Kyle Brayton haben sich mit dem schwedischen Teenage-Rapper Yung Lean befasst, Evelyn Malinowski war auf den Spuren der Grimes-Gang unterwegs, Jamie Jonathan Ball hat in London den Designer Matthew Bromley getroffen und Paul Solbach geht dem Mythos Pop auf den Grund. Neu in diesem Heft ist der Don’t Panic Berlin Ausgehplan mit fünf Terminen, die ihr auf keinen Fall verpassen solltet. Vielen Dank an dieser Stelle an Indi Davies! Großer Dank gilt ebenfalls Charlotte Thießen und Augusto Lima vom Kassetten-Label Mouca, die für uns ein weiteres mal ein Mixtape mit ihrer Lieblingsmusik zusammengestellt haben. Den Link dazu findet ihr auf www.cartouche-blog.de Und nun: Umarmt mit uns das Jetzt!
Die Redaktion von Cartouche
So ganz weiß Stine Omar Midtsæter nicht, warum sie Max Boss an jenem Nachmittag in Berlin ansprach. War es Eingebung? Oder eine Laune? Sicher ist, dass in diesem Moment zusammenfand, was zusammengehört. Eine Freundschaft begann, die schon bald erste Früchte trug. Stine und Max drehten gemeinsam Videos und gründeten eine Band. Diese nannten sie zunächst Euroshit und dann Easter.
Die Musik von Easter ist schwer zu fassen, sie ist ein Mix aus verschiedenen Stilen, Epochen und Genres. Genau diese schwere Verortbarkeit hat der Band die kuriosesten Zuschreibungen eingebracht. Wir trafen Max und Stine an einem sonnigen Nachmittag im Hinterhof der Smaragd Bar in Wedding. Die beiden waren den ganzen Nachmittag baden und trugen während des Interviews keine Unterwäsche. Stine hatte einen leichten Sonnenstich. Nach einem Gespräch über Tropical Island, Essen und Musikvideos gab es eine Banane.
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EASTER
Stine, Max, Wedding haben viele noch nicht auf dem Zettel, weil es zu weit draußen liegt. Wie findet ihr den Bezirk?
Stine: Wir lieben Wedding! Ich lebe hier seit zwei Jahren mit meinen beiden Freunden Franz Augustin und Osman Eriksson.
Max: Ich bin letztes Jahr nach Wedding gezogen. Ich fühle mich hier wie zu hause. Im Augenblick versuche ich aber, Stine und meinen Bruder dazu zu überreden, mit mir nach Los Angeles zu ziehen. Stine: Dort soll es überall Taco-Stände geben. Habe ich zumindest gehört.
Du magst Tacos?
Stine: Ja. Max: Gibt dir ein gutes Gefühl. Stine: Tacos essen macht mich glücklich! Bohnen! Einer unser nächsten Songs dreht sich um Tacos! TV TRAY TACO NITE.
Gespräche
Um auf eure Band Easter zu sprechen zu kommen: Viele eurer Songs haben ein eigenes Video. Warum? Stine: Es macht Spaß, Musikvideos zu machen. Es wäre cool, ein Video für jeden Song zu haben. Nur um sie auf Youtube laden zu können. Zucker für die Augen. Max: Unser Plan war es, für jeden Song unseres neuen Albums ein Video zu drehen. Wir finden es besser, einen Youtube-Link zu posten. Es kommt besser an. Ihr dreht eure Videos also selbst? Stine: Ja. Wir sind beide ausgebildete Video Artists. Das habe ich zumindest so irgendwo gelesen. Das Video zu “The Heat” spielt in Tropical Island. Wie war es dort? Stine: Total krank. Alles war grau. Wir blieben bis drei Uhr morgens. Nachts ist dort fast niemand mehr - nur diese verängstigten Flamingos. Eines Tages werden wir sie befreien. Kakerlaken haben wir auch gesehen. Irgendwann saßen wir an diesem perfekt gedeckten Tisch voller Tapas. Jemand hatte sie auf der Flucht zurückgelassen. Max: Alles in allem war der Ort weniger bizarr, als ich es erwartet hatte. Keine Geisterstadt. Tagsüber waren eine Menge Menschen dort. In unserem Video laufen im Hintergrund immer Besucher durchs Bild. Ich wollte, dass niemand sonst zu sehen ist. Ich hatte auch gedacht, dass es dort einen richtigen Strand gibt. Leider ist an der Beckenkante Schluss. Ich hatte mir ausgemalt, Stine und mich dabei zu filmen, wie wir bis zum Bauchnabel im Wasser stehen. Daraus wurde aber nichts.
Easter
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Warum habt ihr euch für diesen Ort entschieden? Max: Es war tiefster Winter, draußen lag Schnee. Ich wollte das nicht mehr. Ich brauchte Wärme. 32 Grad Celsius heiß ist es in Tropical Island. Auch wollten wir dorthin, weil wir herausfinden wollten, wie es dort ist. Alle kennen es, aber niemand ist tatsächlich dort gewesen. Stine: Wir haben erst im Nachhinein bemerkt, wie gut es zu dem Song passt. Ich habe den Text dazu letztes Jahr auf Lanzarote geschrieben. Ich studierte Satanismus am Strand - umringt von dicken sonnenverbrannten Rentnern.
Würdet ihr nochmal dorthin?
Stine: Ich würde lieber an den Plötzensee fahren. Max: Sie haben dort zwar großartige Rutschen. Dennoch verstehe ich nicht, warum der White Trash dort hinfährt. Es ist teurer als tatsächlich in den Süden zu fliegen.
Gespräche
Ihr scheint genau zu wissen, was ihr visuell wie musikalisch wollt. Wie schwer ist es, eine eigene Kunstsprache zu entwickeln? Stine: Ich habe keine Ahnung davon. Easter ist nur das Aufeinandertreffen von uns beiden. Nur das, was dabei passiert. Max: Wenn es sowas wie einen Prozess gibt, dann ist er für jeden nachvollziehbar. Wir veröffentlichen alles, was wir machen. Es ist lustig zu beobachten, was andere Menschen in deiner Arbeit sehen. Da sind Dinge mit dabei, die wir so nie beabsichtigt hatten. Diese ganze Künstlichkeit und Kühlheit in unseren Visuals etwa. Dann ist es aber auch so, dass du dir deine Bandfotos anschaust und plötzlich verstehst, was die Leute meinen.
Easter
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Was ist dann eure Intention?
Stine: Maybe to put this image of a perfectly shaped horse ass into people’s head. Abgesehen davon mache ich Musik, weil es mehr Spaß macht als alles andere. Und weil ich die ganze Zeit mit Max zusammen sein möchte. Auch wollen wir mehr Spaß! Max: Ja. MEHR SPASS. In Großbuchtstaben. Stine: Mit Ausrufezeichen! Max: Wenn ich mit jemandem zusammenarbeite, geht es mir darum, möglichst keine Intentionen zu haben. Du bist viel freier ohne und kannst dich besser aufeinander einlassen. Das ist doch der Grund, weshalb du mit jemand anderem zusammenarbeitest: Weil du überzeugt davon bist, dass die andere Person es draufhat und deinen Horizont erweitern kann. Einfach loszulassen. Darum geht es bei Kollaborationen.
Wie schreibt ihr Lieder? Max: Den Ausgangspunkt bilden immer Stines Texte. Es gibt keinen Easter-Song, bei dem es nicht so gelaufen ist. Stine: Ich schreibe Gedichte. Und Max interagiert mit ihnen in Ableton. Was beeinflusst euch? Stine: Schwer zu sagen. Essen spielt aber definitiv eine große Rolle. Das ist zumindest meine Lieblingsbeschäftigung. Gespräche
Essen ist also wichtig?
Stine: Genau. Essen, Liebe, Hass und Pferde.
Geht es bei “Alien Babies” auch um Essen?
Stine: Dort geht es um Textur. Textur von komischem Zeug, das manche Leute “Essen” nennen.
Kochst du gern?
Stine: Ja!
Isst du auch gern?
Stine: Ja!
Magst du Pasta?
Stine: Ich hasse Pasta.
Max: Pasta deprimiert dich.
Easter
Stine: Pasta makes me sad. Nicht, dass ich allergisch wäre oder so. Aber wenn du kreativ sein willst, solltest du die Finger davon lassen. Diese ganze Sache ist ein großes Problem unserer Zeit: Die Leute essen viel zu viel Pasta. Es ist billig und einfach zuzubereiten. Sad, sad pasta.
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Stine, du sagtet bereits, dass Tacos dich glücklich machen. Was lässt dein Herz sonst noch höher schlagen?
Stine: Bananen! Heute am See haben wir nur Bananen gegessen. Gestern gab es selbstgemachtes Bananen-Eis. Wir haben sie zerstampft und in den Tiefkühler gepackt. Happy Days.
Was isst du, bevor du schreibst? Stine: Drogen! Kartoffeln! Lust auf schwedischen Tabak? Nein, danke!
Stine: Du kennst das aber, oder? Wenn ich ihn nehme, fühle ich mich gut, und ich kann mich besser konzentrieren, was sich wiederum positiv auf meine Kreativität auswirkt. I love Snus.
Geht ihr gern in Restaurants essen? Stine: Nicht genug. Ich mag es, dass du auf Tour gezwungen bist, Essen zu gehen. Du lernst viele tolle neue Sachen kennen. Als wir in Den Haag waren, haben wir zum ersten Mal Surinamesisch gegessen. Es war so gut. Ich hatte einen großen Pfannkuchen mit Tofu, Kartoffeln, Tempeh, Bohnen und allem anderen, was gelb ist und gut dazu schmeckt. Vielleicht ist die Liebe zum Essen ja das, was eure Musik so besonders macht. Was sagt ihr zu den Zuschreibungen, die euch verpasst worden sind? Würdet ihr euch selbst “Post Human” nennen? Max: Das ist die beste Beschreibung von allen. Stine: Die Leute müssen immer alles labeln. Zuerst fand ich es nervig. Inzwischen kann ich drüber lachen. Müssen wir es wenigstens nicht selber machen.
Gespräche
Nichtsdestotrotz zeigt es: Eure Musik ist schwer zu greifen. Wie lang habt ihr an eurem neuen Album The Softest Hard gearbeitet?
Habt ihr Pläne für eure Band?
Stine: Einen Monat. Der Ablauf war ein ganz anderer. Jeden Tag Gedichte schreiben und Songs aufnehmen.
Max: Das Datum für die ReleaseParty stand schon fest. Verschieben konnten wir ihn nicht, dafür war der Termin zu wichtig. Es war der Tag, an dem wir uns Jahre zuvor kennen gelernt hatten, und einen Tag vor dem Ende der Welt. Das Album wurde am Nachmittag vor der Party fertig. Der Upload dauerte eine halbe Ewigkeit. Stine: Wir wollen in Japan groß rauskommen. Zumindest, um dort hinreisen zu können. Max: Wegen der Süßigkeiten.
Ihr steht also auch auf japanische Süßigkeiten?
Max: Ja. Als wir in Paris waren, schenkte uns der Promoter Octopus Poop. Es passieren da eine ganze Reihe chemischer Reaktionen. Du brauchst ein Youtube-Tutorial, um herauszufinden, wie du es zubereitest. Es hat einen knusprigen Geschmack. Ich habe versucht, es in Berlin zu bekommen. Aber vergebens.
Ihr scheint Essen echt zu lieben. Stine: Kunst und Essen verliefen bei uns schon immer parallel. Cannot do without. Easter
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Lukas Dubro lernt wieder Chinesisch. von Lukas Dubro
Fotos von Tonje Thilesen
Tonje Thilesen liebt das Internet. “It provides me with daily lulz, how can you not love it?”, sagt die gebürtige Norwegerin. Sie selbst versorgt ihre vielen Follower auf Facebook, Instagram und Twitter mit neuer Musik, Bildern und dem neuesten Gossip. Wer nun aber denkt, dass Tonje den ganzen Tag nur vor dem Computer abhängt, der irrt. Tonje ist auch “in real life” äußerst umtriebig. Wenn sie nicht gerade um die Welt reist, um auf Festivals Stars wie Björk für Pitchfork zu fotografieren oder Bands auf Tour zu betreuen, organisiert sie in Berlin Konzerte, legt Platten auf und schreibt für den Musikblog No Fear Of Pop. Ihre ersten Bilder schoss Tonje mit 14 Jahren, wobei sie am liebsten Spinnen und andere Insekten ablichtete. Musik hingegen entdeckte sie wenig später, als sie anfing, in besetzten Häusern auf Konzerte zu gehen. Mit Punk, Emo und Hardcore sozialisiert, hat Tonje bis heute eine Schwäche für Post-Rock. Aber auch Kendrick Lamar und schwedische Popmusik haben es ihr angetan. Ihren ersten Blog startete die Wahlberlinerin, um ihre Lieblingsmusik mit ihren Freund_innen zu teilen, bei No Fear Of Pop schreibt sie seit 2010. Für Cartouche hat Tonje in dieser Ausgabe Easter fotografiert. Wir freuen uns, dass sie sich ebenfalls Zeit genommen hat, unseren Fragebogen zu beantworten. Begrüßt mit uns eine der aufregendsten Nachwuchs-Talente unserer Tage.
Fragebogen
Tonje Thielesen
17 Shooting im Studio oder auf Location? Location. Echte Lomo oder Instagram? Instagram. Peter Lindbergh oder Steven Meisel? Lindbergh. Kochen oder Streetfood? Kochen. California Rolls oder Makhi? California. Lol oder Rofl? Lol :-) Blogs oder Magazine? Blogs. Berlin oder NYC? Berlin. Auf ein Konzert gehen oder eine Platte kaufen? Beides? Leben f端r den Moment oder Heiraten, ein Haus bauen und einen Baum pflanzen? Einen Baum pflanzen okay. Auf keinen Fall aber lasse ich mich irgendwo nieder. Nostalgia oder Future pop? Future pop. Gitarren oder Synthesizer? Synthesizer. Katzen oder Hunde? Katzen. Keine Frage. Vogue oder Indie-Fashion-Mag? Ich w端rde keins von beiden lesen. High Fashion oder Low Price? Low Price.
Marie-Therese Haustein verehrt Ann Demeulemeester und zieht bald in den Wedding Foto von Dena
von M.T. Haustein, H. Lahmann, L. Dubro
Berlin hat in letzter Zeit eine Vielzahl spannender Bands und Projekte hervorgebracht. Einige von ihnen haben wir in Cartouche mit Dan Bodan, Hush Hush und Nadine & The Prussians bereits vorgestellt. Sie alle spielen mitreißenden Gegenwartspop. Diesem Kreis ebenfalls zugerechnet werden kann Yule FM. Der Musiker kombiniert in seinen Stücken Autotune, AkkustikGitarre und elektronische Beats zu etwas, das man in der Art noch nicht gehört hat. Zugleich wohnt der Musik der Geist von DIY-Bedroom-Produktionen inne. Alles hier ist selbst gemacht. Neben der Musik betreibt Felix das Kunst- und Musiklabel H as in Records und geht befreundeten Bands bei Aufnahmen zur Hand. Wir haben uns mit dem studierten Künstler in seiner Wohnung in Berlin Neukölln getroffen, um mit ihm über die Möglichkeiten und Grenzen von DIY, sein Projekt Yule FM und seine Pläne zu sprechen.
Yule FM
Gespräche
YULE FM
Gespr채che
Felix, du bist nicht nur Musiker und Produzent, du betreibst auch ein Label. Worum geht es bei H as in Records?
Anfänglich war die Idee hauptsächlich, mit Malern aus meinem Umfeld, mit denen es im weitesten Sinne so etwas wie einen Konsens gab, eine Gruppe zu gründen. Der Gemeinschaftsgedanke ist in der Kunstwelt ja relativ gering ausgeprägt, was ich nicht nachvollziehen kann. Der Zusammenschluss sollte letztendlich jedem in irgendeiner Weise von Vorteil sein, im Mindestfall der Einbettung in ein Gefüge wegen. Letztendlich ist das Label auch viel mehr eine Geste als eine Institution. Warum nennst du es dann Label?
Ich nenne es der Einfachheit halber Label. Das versteht jeder und es entstehen keine Folgefragen. Und auf eine Weise umschreibt das ja auch ganz gut das Wesen der Sache, eben bis auf die Motivation, bei der Profit nicht wirklich ein Thema ist. Ferner ist bei uns alles möglichst demokratisch. Wie stehst du generell zu DIY? Ist das eine Chance? Oder siehst du das eher kritisch?
Das finde ich total schwer zu beurteilen, zumal ich es auch nicht anders kenne. Ich habe aber natürlich schon öfter empfunden, dass es toll wäre, wenn mir jemand die ganze zusätzliche Arbeit um das eigentliche Musikmachen herum abnehmen würde. Andererseits ist die Identifikation schon größer, je mehr man für die Ausprägungen seines Tuns verantwortlich ist. Ich kann mit PR nichts anfangen. Dasselbe gilt für ein Großteil der Dinge, die um eine Veröffentlichung herum passieren, und ich stecke letztendlich nur sehr wenig Energie in die Bekanntmachung all dessen.
Gespräche
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Du fändest es also nicht schlecht, wenn dir jemand hilft?
Solange keine Obligationen daraus entstehen, ja. Ich frage schon immer viele in meinem Umfeld nach ihrer Meinung, weil es mich interessiert, was andere über meine Arbeit denken. Bei Entscheidungen bin ich immer unsicher. Sobald das aber zu einem Diktat wird, macht das natürlich nicht mehr so viel Sinn. Das ist dann auch eher gefährlich, wenn man tendenziell unsicher ist und sich von Fremdmeinungen schnell umstimmen lässt. Solange einem aber gewisse Dinge ohnehin egal sind, könnte es wiederum klappen, wie es das wahrscheinlich in vielen Fällen tut.
Du machst ja viel selber. Warum?
Das sind verschiedene Kapitel. Wenn man länger Musik macht, erarbeitet man sich ja parallel auch gewisse Methoden, und viele Vorstellungen entwickeln sich innerhalb des Arbeitsrhythmus, die oft so konkret sind, dass man nicht unbedingt noch jemanden etwas daran ändern lassen will. Außerdem lässt die Art, wie ich Musik mache, nicht viel Raum für zusätzliche Hilfe. Die Arbeit an neuen Sachen ist an sich wirr und chaotisch, ich probiere viel herum, und jemand anderen dort mit einzubeziehen, wäre höchstwahrscheinlich ziemlich kompliziert. Darüber hinaus habe ich gen Ende relativ klare Vorstellungen und ein strenges Verhältnis zum Endprodukt, weshalb es schwer für mich ist, Kontrolle abzugeben. Bislang bin ich ganz zufrieden mit der Entscheidung, alles selber gemacht zu haben, glaube aber, dass auch vieles besser hätte laufen können, hätte ich meine Unsicherheiten mal überwunden.
Andererseits ist die Identifikation schon größer, je mehr man Deine künstlerische Ich glaube nicht Vision umzusetzen, wirklich, dass es jemals für die scheint dir wichtig so etwas wie eine konkrete Vorstellung von Ausprägungen zu sein. Was war deine musikalische einem Endprodukt gegeben hat. Was es immer gibt, seines Tuns Vision für Yule FM? sind Interessenspunkte, die über Phasen wichtig sind. Eine verantwortlich gewisse Nahbarkeit in der Musik zum Beispiel ist immer wichtig gewesen; ist. sie sollte nie hermetisch sein, sondern offen.
Yule FM
Mir ist aufgefallen, dass es bei dir keine klassischen Songstrukturen gibt. Alles wirkt skizzenhaft und kollagiert.
Naja, es gibt gewisse Liedstrukturen, die viel verwendet werden, welche mir beim Hören von Musik aber nicht sonderlich viel geben und die ich dementsprechend auch nicht in so großem Ausmaß verwende. Es gibt dennoch natürlich immer Teile eines regulären Liedaufbaus.Es gibt keine Bridges oder Outros oder Akkordwechsel innerhalb eines Liedes, keinen wirklichen Chorus, sondern nur Strophen, oder nur Chorus und keine Strophen, es gibt Soli und Intros. Diese sind aber eher so etwas wie eine Präsentation des Themas, in der Art wie man das aus der klassischen Musik kennt, sodass man sich besser auf die anderen Instrumente und den Gesang konzentrieren kann. Wobei geht es beim Auto-Tune? Ist das Schüchternheit oder ein Stilelement?
Es ist auf jeden Fall ein Stilelement. Ganz sicher war es kein Witz, den Effekt in das Genre einzuführen. Autotune wird ja von vielen belächelt. Es ist aber ein guter Effekt, und er macht auch nichts synthethischer als zum Beispiel ein Reverb es tun würde. Das ist genauso unecht wie Autotune. Dass es mehr in bestimmten Genres und eher monokausal praktiziert wird, bedeutet nicht, dass es keine Sinnhaftigkeit über die Richtigkeit der Tonhöhen hinaus hätte.
Auf deiner Internetseite findet man keine Bilder oder Infos über dich. Spielst du gern mit Anonymität?
Also maßgeblich ist, dass es mir einfach nicht so wichtig ist. Texte um Musik herum und Informationen über die Musiker interessieren mich generell nicht so sehr. Sofern ein essentieller Zusammenhang besteht, erschließt er sich oft ohnehin über die Musik. Und wenn nicht, dann ist sowieso dieser Gedanke, über kreative Menschen über ihr kreatives Schaffen hinaus Bescheid zu wissen, ein bisschen überbewertet. Sicherlich kann das förderlich sein und Sachen interessanter machen. An sich sollte es aber keine Rolle spielen. Ich habe das aber auch nie aktiv so gestaltet, dass es keine oder wenige Informationen zu Yule FM gibt. Ich finde es auch spannender, interessante Bilder zu nehmen, die zu der Ästhetik der Band einen Beitrag leisten, statt die involvierten Personen in den Vordergrund zu stellen.
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Yule FM
23 Ist das in unserer digitalen Zeit generell nebensächlich geworden?
Ich denke schon. Dieses Star-Ding gibt es ja heute nicht mehr so. Es gibt nicht mehr die fünf Personen, die so sehr im Rampenlicht stehen, dass jeder über ihre Arbeit und ihr Leben Bescheid weiß. Stattdessen gibt es tausende von Personengruppen und tausende von Bands. Es ist nicht mehr so einfach, dein Wissen zu teilen, wenn dein Gegenüber in den meisten Fällen die Band nicht kennt, von der du ihm erzählen willst. Es ist also naheliegend, dass das an Wichtigkeit verliert. Wohin möchtest du hin als Künstler?
Ich werde total nervös, wenn ich eine Weile lang nicht an Musik gearbeitet habe.
Wenn es ausreichen würde, allein mit der Musik oder den Dingen, die ich aus Eigeninteresse mache, über die Runden zu kommen, würde ich mich schon freuen. Aber die finanzielle Seite der Musik ist ja eher schwierig heutzutage, du musst viele Konzerte spielen, was mich aber nicht so interessiert. Ich gebe mir eigentlich nur Mühe, eine annehmbare Reproduktion dessen zu machen, was ich in den Aufnahmen erarbeitet habe, was immer viel Verzicht beinhaltet. Auch wäre es schön, sich nicht mehr um jede Kleinigkeit kümmern zu müssen, und wenn ich eine breitere Aufmerksamkeit für meine Musik bekäme. Aber auch ohne das bin ich schon sehr froh, das alles in dem Ausmaß machen zu können, wie ich es tue. Es würde ohne jene Beschäftigung ein Loch entstehen, das sich nicht so einfach füllen ließe. Ich werde total nervös, wenn ich eine Weile lang nicht an Musik gearbeitet habe.
Foto von Kathren K
Illustration von Felix M
Der Terminkalender von Matthew Bromley ist immer bis zum Rand gefüllt. Nicht nur hat das Londoner Design-Talent Blast Skates gegründet, eine aufregende junge SkateboardFirma. Er gestaltet auch Kinderbücher bei dem Verlag Usborne Publishing und illustriert für verschiedene Publikationen und Marken wie Nobrow Press, Anorak Magazine, Boxer Books und Nike ID. Die verbleibende Zeit nutzt er, um seine Arbeiten auszustellen oder skaten zu gehen. Jamie Jonathan Ball hat sich an der Themse mit Bromley über Blast Skates, Illustration und seine Leidenschaft für das Skaten unterhalten. Natürlich ging es auch um die Frage, wie er all seine Projekte unter einen Hut bekommt.
1. Blast Skates habe ich gegründet, weil...? ...ich gern skate und zeichne. Nach meinem Abschluss an der Uni habe ich, wie viele andere auch, freiberuflich gearbeitet. Allerdings verlor ich angesichts der vielen Unsicherheiten schnell den Mut. Ich überlegte, was ich anderes tun könnte. Ich schaute meine Zeichnungen durch, bis ich auf die Idee kam, Illustration mit Skateboarding zu verbinden. Hinzu kam der Gedanke, dass es da draußen so viele großartige unentdeckte Illustratoren gibt, denen ich eine Plattform bieten wollte. 2. Das Blast-Logo ist inspiriert von...? ...Firmen-Maskottchen aus den 50er und 60erJahren. Ich wollte ein Logo, das Spaß macht. Viele Skateboard-Logos sind sehr abstrakt. Deshalb fährt mein gelbes Männchen auf einem Skateboard. Ich habe die Farbe gelb gewählt, weil es die glücklichste Farbe überhaupt ist. Hast du dir einmal Van Gogh’s Sonnenblumen angesehen? 3. Ein Skateboard zu gestalten beinhaltet...? ...zwei Arbeitsschritte: Zunächst mussten wir die Form des Brettes bestimmen. Ich wollte Boards bauen, auf denen ich persönlich auch fahren würde. Am Anfang habe ich die Formen meiner Lieblingsdecks als Vorlage genommen. In einer Fabrik namens A Third Foot bei Birmingham ließ ich die ersten Prototypen herstellen und ließ sie meine Freunde Probe fahren. Basierend auf ihrem Feedback habe ich die Formen dann angepasst. Wir haben jetzt drei unterschiedliche Standardformen. Im Anschluss daran folgt das Artwork. Hier liegt die Idee zugrunde, dass jede Edition eine bestimmte geschichtliche Epoche zum Thema hat. Wir haben in der Steinzeit angefangen und gehen jetzt chronologisch weiter. An jeder Serie sind drei Designer beteiligt, die jeweils ein Board gestalten. All den Decks liegt ein Comicbuch des Illustrators Kyle Platts bei.
Fünf Fragen an...
Matthew Bromley
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4. Meine Zeit einzuteilen ist...? ...alles andere als einfach. Dennoch weiß ich, was getan werden muss. Ich möchte nicht nach Hause kommen und vor einem weiteren Computerbildschirm sitzen. Ich will raus und skaten. Je nach Jahreszeit ist dafür mal mehr, mal weniger Zeit. Es ist wichtig, eine Balance zu finden. 5. Projekte auf die ich stolz bin...? ...gibt es viele. Ich habe für Anorak gearbeitet, einem Kinder-Magazin, das jungen Illustratoren eine Plattform bietet. Ich habe mich dort um den Druck gekümmert und das Format Anorak TV produziert. Ich habe auch ein Buch gestaltet, dass sich um Goober the Goblin dreht, eine Figur, die ich mir ausgedacht habe. Gerade erst wurde mein Buch “Gnarbunga” für einen Kinderbuch-Preis nominiert. Dort geht es um ein Monster aus Matsch, das Skateboarding entdeckt. Kinder, die als Juroren an dem Wettbewerb teilgenommen haben, haben mir später Briefe geschrieben, die ich sehr inspirierend fand. Du findest sie auf meinem Blog. Im Dezember 2012 habe ich gemeinsam mit dem Design-Kollektiv Labor in Frankfurt ausgestellt. Thema der Ausstellung war Geheimnisse, sie richtete sich an Erwachsene und Kinder. Das war das erste Mal, dass ich meine Arbeiten international gezeigt habe. Ich bin dort hingefahren, um die Präsentation vorzubereiten, habe ein paar tolle Freunde kennengelernt und habe einen Teil Deutschlands erlebt, in den sich Touristen eher selten verirren.
Jamie Jonathan Ball is an illustrator and book designer currently lost in the jungles of London
Fragen von Jamie Jonathan Ball
Foto von Rich West
Ob sich aus jeder Lüge ein eigenes Universum schält, in dem diese Lüge dann wahr ist, und ob ich Alexander Winkelmann nun wegen des rauhen Berliner Oktoberwindes, einer kaum mehr nachzuvollziehbaren Kette verschiedener Ereignisse – oder doch nur einfach so – auf einem Konzert des schottischen Performancekünstlers Momus kennengelernt habe, kann ich an dieser Stelle leider nicht weiter ausführen. Ich sollte lieber gleich auf den Punkt kommen. Auf den ersten Treffen fiel mir an dem jungen Berliner die fast schon übertriebene Höflichkeit auf, aber noch erstaunter war ich seltsamerweise darüber, dass er darauf zu bestehen schien, bei seinem vollen Namen, Alexander, gerufen zu werden. Die extreme Höflichkeit stellt sich bald als natürlicher Wesenszug, als absolut unaufgesetzt heraus, und man kann sich nur darüber wundern, wieso diese ausgesprochene Höflichkeit, die ja so vollkommen natürlich ist, nicht von allen Menschen in dieser Weise gepflegt wird. Man wusste bald, dass es auch okay war, ihn einfach „Alex“, gerne auch „Ali“ zu rufen, bloß „Winkelmann“ habe ich bisher noch niemanden sagen hören. Obwohl er selbst sehr gerne seinen Familiennamen benutzt, er hat aus diesem ein Symbol gemacht, das aussieht wie eine menschliche Triangel. Ali Winkelmann ist immer genauso gut gelaunt, wie seine Musik menschlich ist. Er ist alles kennender Autodidakt, wie ich nun in mehreren Gesprächen mitbekommen habe. Man hört das der Musik an, die so klingt, als hätte sich jemand jahrelang ernsthaft mit dem Songschreiben beschäftigt, sich dann aber mit einem Mal von allen Regeln, Erwartungen und sonst noch allem befreit. Oh!, Verzeihung, jetzt klinge ich wie ein PR-Text. Gespräche
ALEXANDER
Aber es ist genau so. Alex Winkelmann musste für seine eigenartige Lo-Fi-Vision eine Phantasiesprache erfinden, und ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, aber ich hatte immer das Gefühl, dass dieses gesungene Phantasieprodukt Melodien und Töne transportiert, die vielen Menschen im Kopf rumsäuseln. Nur brauchten sie eben erst die Erfindung einer neuen Sprache (die übrigens alle Vokale der unsrigen Sprache umfasst), um ihren Weg in die hörbare Außenwelt zu finden. Man muss dazu sagen, dass der Effekt dieser ganzen Sache erst in der LivePerformance Alexander Winkelmanns zu seiner vollen Geltung kommt. Es ist eine seltsame Erfahrung, zumindest bis zu jenem Moment, wenn man versteht, was hier eigentlich los ist: man erwartet ein Konzert, aber man bekommt eine Performance. Meistens fängt es mit einem Schrei an. Der Schrei hat im Werk des jungen Künstlers eine dreifache Aussage:
WINKELMANN
A:
Niemand, weder das Publikum noch der Künstler selbst, hat darum gebeten, geboren zu werden.
B:
Der Schrei ist ein Losschreien (besser: Loslassen) aller Zweifel und Hemmungen.
C:
Im Schrei des Künstlers fühlt sich auch der Zuhörer von allem befreit.
Jetzt ist es aber höchste Zeit, ihn selbst sprechen zu lassen. Alexander hat an einem Freitagabend zu Pasta in seine Neuköllner Wohnung geladen. Wir wollen uns über etwas größere Fragen unterhalten, Leben und Lebensführung, „so diese Geschichte“, wie er selbst sagen würde.
DER ERSTE MENSCH DER MUSIK MACHT Alex, leben wir nicht in Zeiten, in denen der größte Wert der ist, sich selbst zu verwirklichen? Jeder kann alles werden, so scheint es, so wird es einem erzählt. Kennst du diese Phase eines Lebens, in der man gar nicht so recht weiß, was man mit sich anfangen will, weil einem ja erstmal alles offen steht?
Das war bei mir in einer Phase während des Studiums, als ich gemerkt habe, dass sich die Werte ein wenig verschoben haben. Ich habe ja Design studiert und wusste zu einer Zeit gar nicht mehr, wie ich das vereinbaren will mit den eigenen Interessen. Im Grafikdesign hat mir die Wucht und überhaupt Gespräche
die Möglichkeit eines für mich interessanten Ausdrucks gefehlt. Ich hab dann auch überlegt, ob es überhaupt noch etwas bringt, das Studium abzuschließen. Da war für mich klar, was ich machen will, aber das Medium, in dem ich mich ausdrücken wollte, das hatte ich eben noch nicht. Aber der Glaube und die Gewissheit waren von Anfang an vorhanden, und mit diesem Grundvertrauen bin ich dann auch nach Berlin gezogen. Berlin war zu der Zeit schon ein für mich gemachtes Nest. Woher aber das Grundvertrauen kam? Keine Ahnung.
Im Endeffekt kann ich aber sagen, dass sich alles Wichtige für mich von selbst eingestellt hat.
Bist du jemand, der eher darauf wartet, dass die wichtigen und richtigen Dinge sich von alleine einstellen, also zu einem kommen?
Einschub: Ein auffälliger Zug von Alexanders Gesprächsduktus lässt sich übrigens nur auszugsweise abbilden. In die Hauptsätze mischen sich einschubartig Geistesblitze, die nicht weiter erklärt werden können, weder von ihm selbst noch vom Interviewer. Eine quirlige Ideenfülle möchte ausgedrückt werden, das führt zu den sogenannten Sprüngen der Gedanken, der Leser muss sich das bitte dazu imaginieren.
Ja, auch. Warten und sich Zeit nehmen finde ich essentiell, vor allem muss man seinen Gefühlen gegenüber aufmerksam bleiben. Was natürlich nicht heißt, dass man passiv bleibt, sondern ganz im Gegenteil ständig an sich werkelt, und zwar in keinem Kontext von der Uni, sondern für sich selbst.
Kann man da (d)eine Lebensphilosophie herauslesen?
Kann man, muss man aber nicht. Das geht ja oftmals eher einher oder zusammen. Im Machen spiegelt sich eine Philosophie wider.
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Wolltest du dich eigentlich schon immer musikalisch äußern?
Kann ich gar nicht so genau sagen. Das ging in der Pubertät los, mit Popmusik, oder zuerst noch mit alternativen Musikszenen und Moden, die mich irgendwie angemacht haben. Gleichzeitig hat sich bei mir die Erkenntnis eingestellt, dass man ja auch mit dem Selbst spielen kann, mit der Identität. Ich war in Alabama bei einer Gastfamilie, und der Vater dort spielte Gitarre.
Oh yeah. Damals habe ich aber noch so Sachen wie The Cure oder Deftones gehört, bei denen mir die Stimmung gefallen hat, die diese Songs transportiert haben. Als ich dann nach einem Jahr wieder nach Deutschland zurückkam, nach Hameln, habe ich dort versucht weiterzumachen, was sich aber als gar nicht so einfach herausstellte. Da war dann keiner so richtig da, der verstanden hat, was ich machen wollte. Aber das Musikmachen war nicht die konstante Leidenschaft, das wäre jetzt zuviel. Eigentlich sah ich mich lange Zeit eher als Musiknerd, als Fan des Ganzen. Aber da muss ja noch mehr da sein bei dir?
Wie alt warst du da?
16. Ich habe dann dort mit ein paar������� Schulfreunden Musik gemacht, Gitarre gespielt und, da fällt mir auch ein, schon zu diesem Zeitpunkt Texte geschrieben, auch auf Englisch lustigerweise. (lacht) Alexander Winkelmann
Ja, sicher. Diese jugendliche Lust, auf die Bühne zu gehen, so etwas verspürt man ja auch in sich, wenn man ehrlich zu sich selbst ist. Aber auch da schon das Verlangen, etwas Tolles, Großes zu machen. Dieses Verlangen wurde irgendwann bei mir geweckt und wurde dann auch sehr stark.
Aber wann das war, kann ich dir gar nicht sagen. Kannst du prägende Hörerlebnisse nennen, wenn du dich eben schon als Musiknerd bezeichnet hast?
The Fall, Glenn Branca, Rhys Chatham, Scott Walker, Brian Eno, Fennesz, Silver Apples, Mayo Thompson, Velvet Underground, Talk Talk, Boredoms, Momus, Godspeed You Black Emperor auf jeden Fall. Darauf komme ich immer wieder zurück. Dann kam irgendwann Krautrock für mich, Faust, Neu!, Can, Harmonia, La Düsseldorf, diese Geschichte. Logischerweise dann auch die Punk und PostPunk-Sache, Wire, Gang of Four, This Heat und P.I.L und so. Grunge nie so wirklich, auch wenn ich das natürlich mitbekommen habe, da hat mir aber schon immer der Zugang gefehlt. Ich konnte aber auch immer was mit der Wucht von Led Zeppelin anfangen. Und die Monks! Aktuellere Bands wären Liars, Stars of the Lid, The Books, Animal Collective, Black Dice, Deerhunter, Health, Lightning Bolt,
Manitoba oder auch sowas wie Apex Twin, Mouse on Mars, Four Tet, Burial, Shed, Snoleoparden, DJ Koze, Clark, usw. Setzt du dich dann auch manchmal hin und versuchst diese Sachen auseinander zu nehmen? Das zu analysieren, was dich daran so interessiert? Das Geheimnis eines guten Songs zu entschlüsseln?
Nee, sowas mache ich eigentlich nicht. Was ich schon manchmal gemacht habe, ist Lieder nachzuspielen. Und was ich in letzter Zeit auch mal gemacht habe, ist mehr auf die Struktur der Songs zu achten, die bei mir hängen geblieben sind. Aber das kann man jetzt nicht wirklich auseinandernehmen nennen. Jetzt gar nicht mal unbedingt, weil ich denke, damit etwas kaputt zu machen, ich hab das einfach nicht in Betracht gezogen. Wir waren eben noch dabei stehen geblieben, von deiner Erfahrung in den USA zu reden, erzähl doch noch ein bisschen davon.
Was, glaube ich, wichtig für mich war und was auch toll war: dass mich dort absolut niemand kannte. Ich war ein vollkommener Niemand in den Staaten. Man kann jemand komplett Neues sein, jemand, der man sein möchte. Das ist doch auch der Traum von vielen, oder? Nach Berlin zu kommen und jemand ganz Neues sein, sich selbst neu zu erfinden. Diese Erfahrung, jemand Neues zu sein, keine Erwartungen erfüllen zu müssen, ist doch eine extrem belebende Erfahrung. Es ist ja so, wie es bei Proust steht: Der Mensch als soziale Person ist immer Konstrukt der anderen.
Ja, ich habe schon gemerkt, dass mir das sehr gut getan hat. Irgendwann war man da der crazy german guy, und in anderen Kreisen eines der alternative kids. In der dortigen Schule gab’s eine Lehrerin, die eine Unterrichtsstunde nur mir zuliebe gemacht hat. „Nur dem Alex gewidmet“. Das war so eine Phase, in der ich ungemein glücklich war, einfach Gespräche
da zu sein, zu spüren, wie ich mich entwickle. Davor war ich eigentlich ein Heimwehkandidat, aber das gab es dann so gar nicht mehr. Ich glaube, heute kann ich schon sagen, dass diese Erfahrung mich geprägt hat, obwohl man bei sowas sicherlich vor���� sichtiger sein muss. Da sind so viele unbekannte Variablen, bei denen am Ende so etwas wie ein „Charakter“ herauskommt. Deine Musik hat ja auch viel mit Selbstüberwindung zu tun, also damit, aus den Ruinen der Gewohnheiten, wie Cocteau sagt, auszubrechen, alles, was einen hindert und hemmt, in einem Performance-Akt zu überwinden, sozusagen zu transzendieren.
Stimmt, die Musik, das Programm, das ich live zusammenstelle, ist in gewisser Weise darauf angelegt, dass ich mich selbst überwinde. Und dann stellen sich bei mir solche Zustände ein, die mich, wie soll ich sagen, zufriedener zurücklassen. Vorbild waren da für mich Konzerterfahrungen, die ich mit einem Grinsen auf dem Gesicht verlassen habe, die mich glücklich gemacht haben.
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Ich will, dass sich meine Erfahrung, die ich auf der Bühne mache, auf das Publikum überträgt. Mentale Blockaden will ich wegreißen. Im besten Falle geht man dann verändert aus einem Konzert heraus. Erinnerst du dich gerne an deine Kindheit zurück und wie kann man sich dich als Kind vorstellen?
Ich hatte eine wunderschöne Kindheit, ja wirklich, ich erinnere mich auch gerne daran zurück, ohne das Ganze an irgendwelchen bestimmten Daten festzumachen. Ich war viel draußen unterwegs, Rollenspiele gemacht, so diese Geschichte. Ich habe sowieso, was ja eigentlich klar ist, viel gespielt, am Tresen unseres Restaurants, dem Jägerhof, habe ich immer gezeichnet und gleichzeitig mit meinen Action-Figuren gespielt, He-Man, Mask. Wenn ich Filme geschaut habe, habe ich oft draußen nach Schauplätzen gesucht, wo so etwas stattfinden könnte, und wo dann in meiner Phantasie auch immer jemand um die Ecke kam und etwas passiert ist. Alexander Winkelmann
Kann man sagen, dass du dir diese eigene Welt bis heute bewahrt hast?
Ich war auf jeden Fall ein Spätzünder, habe diese Sache lange betrieben. Aber ich kann mich noch daran erinnern, dass ich irgendwann einfach mit diesen Spielereien aufgehört habe, und es dann später nochmal probiert habe, wieder damit anzufangen. Ging aber nicht mehr. Man kann aber sagen, dass die Erinnerungen auf jeden Fall ein großer Fundus für das sind, was ich heute mache. Meistens wird die Erinnerung ja durch irgendetwas getriggert, ein Licht, ein Geruch, und dann ist alles wieder da. Da freue ich mich immer, wenn so etwas passiert, wenn man Stimmungen oder Gefühle wiederfühlen kann. Das ist natürlich nicht nur an die Kindheit gebunden. Ich bin da auch oft melancholisch, wenn ich in der Stadt wieder an einen Platz komme, an dem ich mal verliebt gesessenhabe, fühle mich aber gleichzeitig sehr lebendig.
Hast du das Gefühl, dass du solche Momente andern mitteilen kannst, und hast du überhaupt den Anspruch, so etwas auszudrücken?
Da bin ich eher skeptisch. Ich versuche das eigentlich nicht, eine persönliche Stimmung in einem Lied auszudrücken. Welche Bedeutung ein Song für den Hörer gewinnt, kann man, denke ich, erstaunlich wenig beeinflussen. Ich glaube schon, dass die meisten Love-Songs aus solchen Momenten entstehen, wobei das, was da ausgedrückt wird, für den Hörer natürlich eine ganz andere Bedeutung annimmt. Es geht darum, etwas möglichst Universelles zu sagen, zu dem jeder einen Zugang finden kann. Sind dann die Songs die besten, die so universell und geheimnisvoll sind, weil man alles in sie hineinprojizieren kann?
Was mir dazu einfällt, ist, dass Songs selbst zur persönlichen Erinnerungen werden können, die dann wie ein Geruch funktionieren, und beim Hören dann meist eher das ausgelöst wird, was man persönlich mit ihnen verbindet. Man eignet sich den Song dann an?
Klar, weil sie dafür ja nicht gedacht waren. Wenn ich zum Beispiel „Wonderful Life“ von Black höre, dann finde ich mich oft in all den Zeiten wieder, in denen ich diesen Song gehört habe. Geht dir das heute verloren, weil du soviel durcheinander hörst?
Nein, eigentlich nicht. Ich versuche mir das zu bewahren, und wenn ich dann manchmal den Computer nach Songs durchsuche, merke ich auch, dass das funktioniert. Gespräche
Aber um nochmal darauf zurückzukommen: Trotzdem bin ich kein Fan von postmoderner Offenheit. Ich finde, manchmal braucht man auch noch klare Botschaften. Bei Ton Steine Scherben oder bei den Sex Pistols ist die Aussage doch klar, denke ich, und das finde ich auch gut. Statements finde ich schon gut. Gerade heutzutage finde ich eine Positionierung wieder interessant. Findest du nicht, dass die Sachen, die man nicht versteht, also Geheimnisse, interessanter sind?
dem Unbewussten, das irgendwie ausgedrückt werden will, den Ausdruck vorziehen, der ein durchdachtes Konzept hat?
Ich finde das mittlerweile eigentlich recht langweilig, keine Aussage über sein eigenes Werk treffen zu wollen. Womit ich jetzt die Technik, das Unbewusste sprechen zu lassen, im automatischen Schreiben, nicht ausschließen will. Das Ganze sollte aber nicht erzwungen werden, sondern sich natürlich ergeben. Aber du arbeitest doch sehr intuitiv?
Ich verstehe den Reiz daran schon – wenn man sagt, da ist etwas in mir, das will ausgdrückt werden, auch wenn ich gar nicht weiß, was es ist. Scott Walkers Tilt habe ich beim ersten Mal auch nicht verstanden, aber trotzdem fand ich das reizvoll, das hat mich kolossal interessiert oder umgehauen wegen der Neuheit des Ausdrucks. Das ist für mich auch schon wieder ein Statement. Überspitzt gesagt, würdest du dann
Das auf jeden Fall. Ist Intuition etwas, das man wieder lernen muss?
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Ich weiß gar nicht, ob man das verlernen kann. Mit der Intuition geht ja eine gewisse Geisteshaltung einher, also eine nicht intel������ lektuelle Arbeitsweise. Es muss immer Sinn und Unsinn, eine gewisse Art von Rahmen, dann wieder keinen Rahmen geben. Das Intuitive verbinde ich mit einer Art von Ruhe, es hat für mich etwas Meditatives. Aber aus der Ruhe muss es wieder nach oben gehen, auf die Ruhe folgt immer eine große Aktivität bei mir. Abwechslung ist ja alles. Also glaubst du nicht an die buddhistische Ausgeglichenheit?
viel mehr machen, überanstrengen, ans Limit gehen. Nietzsche, Max Stirner, Gurdijeff, Ouspensky, solche Leute. Gurdijeff hat in Paris mit seinen Jüngern überanstrengende Versuche gemacht, um die Vielheit der Person und den Wesenskern offen zu legen, um den Roboter in sich zu überwinden. Das habe ich so für mich entdeckt. Dass es im Endeffekt auf die Psyche, auf das Selbstbewusstsein des Menschen ankommt, von wo alles Weitere seinen Lauf nimmt. Dass es da viel zu entdecken gibt. Carl Gustav Jung hast du ja dein PDF der Freiheit gewidmet, wie kamst du zu ihm?
Das Versenken im Nirwana hat für mich einen zu sehr passiven Aspekt. Da fehlt mir der aktive Teil. Für mich gilt eher: vollkommenes zur Ruhe kommen, um danach die Aufmerksamkeit sprechen zu lassen. Das ist auch ein Aspekt von solchen Meditationsmethoden, der dann bei solchen Leuten wie Heidegger oder Krishnamurti mitspielt. Ich bin eher für die Schulen, deren Lehre lautet:
Ach ja, mit Jung hatte ich auch eine ganz wunderbare Zeit. Die Bücher über Symbole und die Archetypen habe ich damals gelesen. Das hat mich von Anfang an angesprungen und interessiert. Für mich persönlich empfinde ich beim Lesen immer, dass sich mein Möglichkeitsrahmen ungemein erweitert. Dadurch, dass da einer war, der die Angelegenheiten der Psyche
Alexander Winkelmann
Grafiken von A. Winkelmann
so formulieren konnte, kann man diese Dinge erst an sich wiedererkennen, an sich selbst erforschen. Das hat ja auch viel mit Freiheit zu tun. Während Freud ja mit seiner Triebgesteuertheit den Menschen als zwanghaft dargestellt hat, ist Jungs Menschenbild viel optimistischer und betont, dass der Mensch sich selbst verwirklichen kann. Build yourself als Methode sozusagen. Stimmt. Man sucht nach solchen Leuten, die zu einem sprechen, die einen supporten. Mich haben dann auch die Forschungen der sogenannten humanistischen Psychologie interessiert, Abraham Maslow zum Beispiel, der sich im Gegensatz zu Freud mit den Menschen beschäftigt hat, die glücklich waren, denen es gut ging. Das hat mich direkt berührt und dann schaut man, was solche Leute sonst noch gefunden haben. Das human potential movement, sowas finde ich spannend. Das sind für mich prägende Gebiete.
Um noch bei dem menschlichen Potenzial und dem Aspekt der Befreiung zu bleiben, das ist ja auch eine Art Katharsis, die du bei deiner Performance versuchst, für dich selbst und auch für deine Hörer?
Man braucht schon eine große Konzentration, eine hohe Aufmerksamkeit, um verändert aus einem Abend herauszugehen. Es hat auch viel mit Performance zu tun. Wenn ich mir meine Lieder auf Aufnahmen anhöre, dann merke ich, dass dies dort nicht so ganz zu transportieren ist. Man muss selbst vor Ort sein, damit es ein Erlebnis wird. Hast du manchmal sowas wie Einflussangst? Als jemand, der überall mal reinhört, alles aufnehmen möchte?
Nee, eigentlich nicht. Gibt es denn einen Punkt, an dem du sagen musst: Stopp, ich mache jetzt was Eigenes? Fotos von Johann Clausen
Das sagt man ja nicht, das macht man einfach. Das Gefühl unterzugehen in der Vielheit der Sachen, die es schon gibt, kennst du nicht? Obwohl sich deine Songs so anhören, als seist du der erste Mensch, der Musik macht, hast du diese naive Weltsicht auf das Musikmachen nicht, dafür hast du dich viel zu viel damit beschäftigt. Ich kann natürlich nicht hingehen und irgendjemanden kopieren. Das ist nicht mein Anspruch. Man muss seinen eigenen Beitrag leisten, in seiner eigenen Sprache. Dazu muss man sich erstmal kennenlernen. Ich hatte natürlich Phasen, in denen mich gewisse Einflüsse blockiert haben, und es wäre für mich auch interessant gewesen, unbefangener ans Komponieren heranzugehen. Aber das hatte ich nunmal nicht. Jetzt, nachdem ich schon Einiges gemacht habe, kann ich erst feststellen, wohin die Reise bei mir ging, also welche Tendenzen ich in meiner Musik erkenne, von welcher Basis ich ausgehe,von der ausich arbeiten kann.
Und ich kann feststellen, welches Material es wert ist, mit Leuten geteilt zu werden. Ich empfinde meine Entwicklung als total offensichtlich, dap-dap-dap. Ich hab keine Angst, weil ich doch schon genug Selbstvertrauen habe und von mir überzeugt bin. Ohne dieses Grundvertrauen geht es nicht. Das gehört ja auch dazu, ohne ein bisschen Größenwahnsinn kann man nichts erschaffen. Vielleicht muss jeder Mensch diese Erfahrung im Leben einmal machen, nämlich, dass seine Stimme auch etwas zählt. Ja, dazu fällt mir ein: Ich hatte mal mit 17, als ich gerade zurück aus den USA war, Michael Rother, dem Gitarristen von Neu! geschrieben, ob ich nicht zum Gitarrenunterricht zu ihm kommen könnte. Er hat damals verneint und mir auch mit einem Brief geantwortet und geschrieben: Nein, Alexander, du musst da deinen eigenen Weg finden.
Max Link lebt als Autor in Berlin Neukölln. Er schreibt außerdem für Spex und den Freitag. Interview von Max Link
Mouca ist ein DIY-Musik-, Poesie-, und Video-Label, das in Porto und Berlin beheimatet ist. Seit Sommer 2012 haben Augusto Lima und Charlotte Thießen fleißig Kassetten überspielt, auf denen neben neuen, aufregenden Bands auch eine Vielzahl befreundeter, nicht minder spannende Künstler_innen zu finden sind.
Tracklist - Mouca Cartouche no.2 1. The Courtneys - 90210 2. The Anna Thompsons - Fuck You 3. The Yawns - Summers Wasted 4. Free Time - Just One 5. Delta Love - I Swear 6. Ageing Children - I'm Gonna Get My Dog 7. Islet - Triangulation Station 8. Manors - No One Told You 9. Skiing - Hiddensee 10. Lullatone - Splitting a Banana Split 11. Las Kellies - Golden Love 12. Advance Base - Love Goes Home To Paris In The Spring (The Magnetic Fields cover)
37 Denn darum geht es bei Mouca: Musik zu unterst체tzen, die den beiden Musikliebhaber_innen am Herzen liegt. F체r die Zukunft haben sie sich vorgenommen, die Bande zwischen Berlin und Porto noch weiter zu st채rken. Auf dem zweiten Cartouche-Tape haben sie ein weiteres Mal Menschen und Musik aus verschiedenen Kontexten zusammengebracht.
LEARN TO
U N L E A R N
Kann Design den Menschen dabei helfen, sich ihrer selbst zu bemächtigen? Dieser Frage geht die Jung-Designerin Lina-Marie Koeppen in ihrer MÜbelkollektion "Learn To Unlearn" nach.
“Obwohl wir meinen, unsere Identität selbst aufzubauen, (re-)produzieren wir doch nur Gesellschaft. Wir lernen und geben weiter, was von anderen als normal definiert wurde, und passen unser eigenes Verhalten daran an. Auf diese Weise entwerten wir unsere eigene Individualität", umreißt Lina das Problem.
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Einen Weg, aus diesem Kreis auszubrechen, sieht Lina darin, Normalit채t und Gewohnheiten auf den Kopf zu stellen.
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Genau das hat die Designerin in ihrer Studie getan. Den Kern ihrer Arbeit bilden archetypische Einrichtungsgegenst채nde, denen Lina eine neue Form gegeben hat. Wir sehen St체hle mit zwei statt vier Beinen, einen Besen, der zugleich eine Lampe ist, und ein Regal, das viel Platz einnimmt, aber wenig Stauraum bietet.
Indem die Gegenstände von ihrer konventionellen Gestalt und Funktion befreit werden, sind die potenziellen Nutzer_Innen gezwungen, sie neu zu entdecken und zu definieren. Und auf diesem Wege sich selbst.Â
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Lina-Marie Koeppen ist eine Produkt- und ObjektDesignerin aus Amsterdam. Zu ihrem kreativen Ich hat die gebürtige Berlinerin während eines zweijährigen Schulaufenthalts in Australien gefunden. Dass sie einmal Objekte gestalten würde, hat sich während ihres Studiums an der AMD Hamburg herauskristallisiert, wo ihr viele Freiheiten gelassen wurden. Im Anschluss an ihren Bachelor ging es nach Eindhoven, wo sie ihren Master an der Design Academy machte. Danach folgten eigene Ausstellungen und Features in Design-Magazinen. Seit Mai 2013 arbeitet Lina als Designerin bei dem renommierten Design-Kollektiv Droog in Amsterdam, wo sie kleine und größere Objekte, Möbel und Räume gestaltet, Grafiken erstellt und Kleidung entwirft. Die Arbeit entspricht ihrem Naturell: So arbeitet sie am liebsten jeden Tag an etwas Neuem. Wenn es nach ihr geht, kann das in Zukunft auch so weitergehen.
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Fotos von Lina-Marie Koeppen
No Fear Of Pop: Young Echo Nexus
on Ramp Recordings in 2013 Empfehlung
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Der Dub: Erschaffen aus den Fragmenten des Raggae und der Kultur der sound systems der großen karibischen Community, die hier eine neue Heimat gefunden hat und die diese Stadt prägt wie sonst kaum eine andere auf den britischen Inseln. The Wild Bunch: Tricky, Massive Attack, Unfinished Sympathy. Portishead. Glory Box. Der Geburtsort einer der wirkmächtigsten und folgenreichsten Genres der elektronischen Musik: Trip Hop. Und später, nach der Jahrtausendwende, als die letzten Nachwehen dieser schleppenden, rauen, sehnsuchtsvollen Beats verklungen waren, eine Neugeburt, wieder im Geiste der westindischen Tradition: the second city of dubstep. Bristol, Südwestengland. Wohl nicht zuletzt ob ihrer fehlenden Größe konnten sich hier stets stärker als in der nur wenige Autostunden östlich gelegenen Hauptstadt des Empire musikalisch eng verwobene Szenen festsetzen und ausbreiten und dabei Stile prägen, die es auf ihrem Zenit noch immer vermochten, den Geschmack interessierter Kreise auf dem gesamten Kontinent zu bestimmen. Derzeit mögen die Hypes eine kleine Pause einlegen, aber eines bleibt gewiss für jene Musiker, die heute in Bristol leben und arbeiten: In kaum einer anderen Stadt bewegt man sich von vornherein in einem so stark aufgeladenen, ja metaphysisch überhöhten Spannungsfeld kanonisierter musikalischer Vergangenheit. In eben dieses Spinnennetz des fast übermächtigen Gewesenen hinein hat sich vor wenigen Jahren Young Echo gegründet, ein Kollektiv von inzwischen neun jungen Künstlern, die in unterschiedlichen Zusammensetzungen schon seit längerem im Verbund Musik machen: Seb Gainsborough alias Baba Yaga alias REI alias Vessel, der mit letzterem Projekt so etwas wie das erste Aushängeschild der Gruppierung geworden ist, vor allem seit Veröffentlichung seines Debüt-Albums „Order of Noise“ auf Tri Angle Records im vergangenen Jahr. Joseph McGann, der in erster Linie unter dem Namen Kahn reüssiert, als leidenschaftlicher Verfechter fast traditioneller Interpretationen von Dubstep und Grime, und als solcher noch am engsten verwoben ist mit den Clubs und sound systems von Bristol. Kahns selbstbetitelte, im Frühjahr auf Black Box erschienene EP gehört zweifellos zu den überzeugendsten Zeugnissen der ungebrochenen Vitalität des UK Underground im Jahr 2013. Dann wäre da Amos Childs, der für das Duo Jabu die Beats produziert und sich zusammen mit Cris Ebdon als Zhou zeitgemäßem Dubstep widmet, wenn letzterer nicht als Ishan Sound solo auf ähnlichem Territorium wirkt. Jabu wird komplettiert durch Alex Rendall, dessen Vocals inzwischen wohl das stärkste Wiedererkennungsmerkmal des Kollektivs geworden sind. Schließlich Sam Kidel, dessen dem Noise verpflichtete, unzugängliche Soundskulpturen wie die Musik Vessels jene äußersten, schlecht beleuchteten Ränder des Techno ausarbeiten. Komplettiert wird die Gruppe durch Sam Barrett alias Neek sowie MC Jack Richardson und Komponist Paul Zaba, die aber nicht zum Kern zu rechnen sind und auch nicht an der hier besprochenen LP mitgewirkt haben.
Artwork von Ramp Recordings
Young Echo selbst, ursprünglich erschaffen als Name für eine noch immer bestehende, halbwegs regelmäßig produzierte Internet-Radiosendung, die die Freunde gemeinsam bestreiten, fungiert im Grunde nur als der nicht weiter determinierende Kokon für die ansonsten durchaus weit voneinander entfernten Spielarten elektronischer Musik der einzelnen Mitglieder. Und erst Nexus führt dieses zerstreute, diversifizierte Werk der sechs erstmals auf einer LP zusammen. Was allerdings keine Kohärenz zur Folge hat: Die 13 Songs sind genau so verschieden, wie die Hintergründe und Ansätze der einzelnen Künstler es vermuten lassen würden. Wenn überhaupt, so ist als kleinster gemeinsamer Nenner stets der Dub zu verorten, als beinahe natürliches Habitat einer jeden elektronischen Musik, die ihre Wurzeln in Bristol hat. Ansonsten aber fällt es schwer, auf Anhieb signifikante Gemeinsamkeiten zu finden zwischen einem stark fokussierten Song wie „Blood Sugar“, der irgendwo an der Schnittstelle von Dubstep und „Pop“ einzuordnen wäre, und experimentellen, improvisierten Introspektionen wie dem Opener „Radial Sheaves“ oder dem letzten Stück „Ephemeral, Sometimes / Eternities, Never“, die im bewusst sperrigen Verbund das Album umklammern. Dass die Musiker dennoch darauf verzichtet haben, einzeln in der Tracklist aufgeführt zu werden, ist durchaus als Statement zu verstehen. Nexus – der Titel selbst verdeutlicht, dass hier die Verbindungen, die Verknüpfungen der sonst voneinander isolierten Werke zutage treten sollen. Es ist ein Album von Young Echo. Ob es gelingt, diese Botschaft tatsächlich auch musikalisch zu transportieren, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Sich völlig von der jeweils eigenen musikalischen Identität zu verabschieden, so weit wollten die sechs Musiker nämlich dann doch nicht gehen; und so ist auf dem Backcover der LP zumindest im Kleingedruckten fein säuberlich aufgelistet, wer für welchen der 13 Tracks tatsächlich als Autor verantwortlich ist. Wenn echte Synergie doch einmal klappt, dann am ehesten mit dem Titelstück, das relativ in der Mitte des Albums zu finden ist und nicht nur deshalb wie der Kristallisationspunkt von Nexus wirkt. Dieses Stück wird als einziges Killing Sound zugeschrieben, einem amorphen Projekt, das von Childs, Gainsborough, Kidel und Rendall ins Leben gerufen wurde, um die gemeinsamen musikalischen Schnittpunkte auszuloten. Hier allein scheint durch, Empfehlung
No Fear Of Pop
Jabu
wie Young Echo tatsächlich klingen könnte – und vielleicht in Zukunft ja auch klingen soll. Dass ein tatsächliches künstlerisches Zusammenspiel möglich ist, beweist ein für den britischen Wire produziertes, kürzlich ins Netz gestelltes Video, das die Mitglieder bei einer improvisierten Live-Session zeigt (http:// vimeo.com/72749024). Umgeben von einer Aura offensiv zur Schau gestellter Ernsthaftigkeit entsteht eine Ahnung von der kumulativen kreativen Energie, die die Künstler als Kollektiv, als Young Echo zu entfesseln imstande sind.
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Kahn
Vessel
So aber dient Nexus zunächst einmal nur als Werk- und Rückschau, vielleicht als eine Art Zwischenbilanz, und so sollte die Platte auch gehört und betrachtet werden. Wenige der Stücke sind neu. So geistert das betörend sehnsuchtsvolle, durchaus wenig subtil originären Trip Hop reminiszierende „My Child, My Chain“ schon seit mindestens zwei Jahren als Youtube-Clip durchs Netz, aufgenommen von Gainsborough zusammen mit der befreundeten Künstlerin Lily Fannon – die schon auf „Order of Noise“ als gelegentliche Vokalistin diente und auch auf Nexus wiederholt mitwirkt. Die drei Tracks von Jabu, auf denen Rendall seine charakteristischen Stream of Consciousness-Raps ausstellt, fanden sich schon im letzten Jahr auf einem streng limitierten Live-Tape, das vom winzigen Bristoler Label No Corner herausgebracht worden war. Und auch wenn es diese drei Stücke sind, die neben Nexus am meisten herausstechen und der LP so etwas wie einen inneren Leitfaden geben, verlieren sie hier doch etwas von der atemraubenden, fast bedrohlichen Wucht, das die Kassette zu einer der wichtigsten Veröffentlichungen des Jahres 2012 gemacht hatte. Am Ende ist Nexus zu allererst notwendig und nützlich als die längst überfällige Einführung in das Schaffen eines der interessantesten, einer wirklichen Avantgarde verpflichteten musikalischen Kollektive der Gegenwart. Ob die LP dagegen auch als Album im eigentlichen Sinne funktioniert, das möge jeder für sich entscheiden. Eine der essentiellsten Veröffentlichungen dieses Jahres ist Nexus so oder so ohne jeden Zweifel.
Henning Lahmann ist der Kopf hinter no fear of pop und schreibt auch sonst hier und da über Musik Nexus
von Henning Lahmann
Keine Künstlerin wurde im letzten Jahr so sehr gefeiert und verehrt wie Claire Boucher. Während der Sailor-Moon-Sammelkarten-Look ihren Feen-Gesang unverwechselbar machte, sind ihre urbanen, alles-macht-so-viel-Spaß-Tanzbeats tanzbar und poppig zugleich. Mit ihrem ikonografischen björk-esquen Stil hat sie sich eine Fangemeinde erspielt, die in ihrer Art über das gewöhnliche Fan-Sein hinausgeht. Um so lustiger erscheint es da, dass sich die Künstlerin darüber aufregt, wenn man ihr gegenüber erwähnt, ihren Song „Oblivion“ an einem Abend in drei verschiedenen Bars gehört zu haben. Über ihre enorme Popularität hinaus lässt sich aber noch etwas anderes beobachten: Grimes ist die Anführerin einer Gang. In vielen Interviews, die sie seit Erscheinen ihres erfolgreichen Albums Visions gegeben hat, hat Boucher fast unaufhörlich von ihren Freunden erzählt, manchmal auch nur, um direkten Fragen auszuweichen, wie in diesem Fall: „In my sphere, gender isn't a big thing...“. Während einer Performance bei dem Radiosender KEXP-FM erläutert sie die Bedeutung ihrer Freund_innen für ihr eigenes künstlerisches Schaffen: “I'm self-taught but, like, basically all my friends are musicians except for me, or, like, until I also started being a musician, so like all my friends are just musicians but, um, like, every single piece of gear here is just the same gear that my friends use and, like, the only reason I, I just got it was, like, cause I knew how to use their gear, so I just got the same thing... you know, I just, like, got into music cause everyone else was doing it and had, like, showed me how do it.” Grimes hat nicht nur dieselben Ansichten zum Thema Gender wie ihre Freund_innen, sie orientiert sich auch an ihnen, wenn es um ihre Musik geht, oder arbeitet mit ihnen zusammen. Das zeigt sich auch in ihrem Video zu „Genesis“, wo wir auf Grimes rechte Hand sowie einige andere Personen aus der Grimes Gang treffen. Bewaffnet bis unter die Zähne fahren sie durch Los Angeles, trinken Champagner und leben ihren Fetisch für Hip-Hop-Videos aus. Auch wird auf einem anderen Level das für sich schon parodistische „Windowlicker“-Video von Chris Cunningham zitiert. Höhepunkt des Clips ist der Moment, in dem die Sängerin, ihr brennendes Schwert über dem Kopf schwingend, auf die Kamera zuläuft. Zwar lässt uns das Video zu „Nightmusic“ mit unserer geliebten Grimes allein, dennoch ist die Präsenz von Bouchers Freund_innen immer deutlich zu spüren. Kurzum: Mit ihrer Gang alles zu teilen, gehört bei Grimes einfach dazu. Zur Grimes-Gang zählt auch die Berliner Band 케이프. Wenn sie auf der Bühne ihren hitverdächtigen Song "Anyong" anstimmt, strahlt sie über das ganze Gesicht. Das hat einen einzigen Grund: In dem Moment fühlt sich das Duo seinem großen Idol Grimes sehr nahe. Anyong ist der Künstlerin gewidmet. 케이프 sprechen Grimes' Sprache, fühlen sich ihr verwandt und reden über die Künstlerin, als seien sie auf dem Weg zu einer Party bei ihr zuhause. Ganz bewundernswert ist dabei, dass es ihnen egal ist, wenn andere ihre Leidenschaft nicht nachvollziehen können.
GRIM GANG
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ES
Habt ihr euch bewusst dazu entschlossen, wie Grimes zu klingen, oder ist das von ganz allein passiert? Lass es uns so ausdrücken: Grimes ist der einzige Grund, warum wir atmen, essen, lachen und weinen! Passte sie in eure Bauhaus-zu-Pop-Formel? Grimes hat diese Formel sogar noch transzendiert. Sie ist unsere Meisterin, wir lernen von ihr. Wie reagiert ihr darauf, wenn jemand sagt, "Anyong" klinge wie "Genesis"? Wir fühlen uns geehrt. Es ist das größte Kompliment, in einem Atemzug mit ihr genannt zu werden! Stellt euch vor, ihr könntet einen Tag mit Grimes abhängen. Was würdet ihr tun? Uns Sterne, Hamster und Einhörner auf die Fingernägel lackieren, zu Grimes’ Songs Karaoke singen, Totenschädel malen, nach fantastischem Schmuck für den Tag stöbern, von Ryan Gosling abgeholt werden, um mit ihm in einem alten Cabrio herumzufahren. Unser Haar weht im Wind, während wir zu HipHop tanzen und über unsere neuen Insider-Witze lachen, die wir uns ausgedacht haben, weil wir jetzt BFF's sind. Das Ganze machen wir dann spontan zu einem Musikvideo, das ein neuer Internet-Hype wird. Wenn ihr der Grimes-Gang beitreten und euch einen Gangster-Namen ausdenken müsstet, was für einer wäre es, und welcher davon würde Grimes gefallen? hmmm … Crimes (aber vielleicht würde sie das nicht mögen), Caperz? Iceberg Sizzl? Wet C-eal? C-gullz? C-Rius Lee? OMYCodz?
von Evelyn Malinowski
Wir sehen also: Grimes steht im Zentrum einer Bewegung, von der sie zugleich geliebt und respektiert wird. Während Claire Boucher ihren Zauber in der Welt versprüht, sitzen ihre Anhänger_innen bewundernd um sie herum und notieren mit großem Enthusiasmus jedes einzelne Wort. Sie alle spinnen kräftig mit am Mythos Grimes. Evelyn Malinowski is a loving bully who lives in western Montana and Berlin. She has been known to play in bands such as Man meets Bear. She loves paradoxes and her cat Spartikus.
Grimes Gang
Foto von John Londono
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Das erste, das man über Yung Lean wissen sollte, ist, dass er gerade mal 16 Jahre alt gewesen ist, als er sein Debüt Unknown Death 2002 geschrieben hat. Das zweite, dass er aus Schweden kommt. Manch einer dürfte Yung Lean wegen seines Alters nicht ernst nehmen. Wem es aber gelingt, seine Ressentiments gegenüber Teenage-Rappern einmal ablegen, der findet hier eine der aufregendsten Platten des Jahres. Offenbar ist das auch anderen geglückt. Seitdem Unknown Death 2002 im Juli auf dem New Yorker Hip-Hop-Label Mishka erschienen ist, hat sich die Fangemeinde der Swedish Sad Boys stetig vergrößert. Und das, obwohl hinter der Musik nicht mehr steckt als ein paar Kids, die Spaß haben wollen. Zwar hat die Musik von Unknown Death 2002 nachdenkliche Momente, im Kern ist und bleibt sie aber verspielt. Womit wir wieder bei Vourteilen wären: Hätte man von einem 16-Jährigen etwas anderes erwarten können? Empfehlung
von Kyle Brayton & Warren O’Neill
Dennoch ist Unknown Death 2002 anders als alles, was man in diesem Jahr gehört hat. Traurige Gefühle werden über schmachtendes Autotune transportiert, das neben den Shout-Outs der Sad Boys Crew immer wieder zum Einsatz kommt. Yung Lean gibt zu, dass er manchmal weint. Auch denkt er über seine Umgebung nach (“I love nature and everything around me” rappt er in “Lightsaber”). Zugleich benutzt er Slang und Wortspiele (“I’m a reacher, I’m reaching out but I can’t reach her/You need me, well I guess I don’t need her” heißt es in “Emails”). Die Texte bewegen sich dabei am Rande der Absurdität - harte Drogen und Arizona Eistee existieren problemlos nebeneinander. Man muss sich immer wieder vor Augen führen, dass es sich hier um einen Teenager handelt, der all diese bizarren und expliziten Dinge sagt. Beachtlich auch die Rap-Performance: Die runtergepitchte Stimme hat einen guten Flow. Mal rappt Yung Lean schnell und verwirrend, mal langsam und nachdenklich. Das herausstechendste Feature von Unknown Death 2002 ist aber die Produktion. Die Beats stammen vom Hip-Hop-Produzenten-Duo Friendzone und dem Newcomer suicideyear. Der Sound ist dunstig, weit und geerdet zugleich. Wegen der Produktion könnte Yung Lean dem rap/based-Genre zugerechnet werden, unter das auch Main Attrakionz und Lil B fallen. Der Lil-B-Vergleich ist von daher treffend, da beide dieselbe swaggy attitude teilen, die immer wieder in Yung Leans Lyrics durchscheint ("“Bitches on my dick because I’m so luxurious” rappt er in “Lightsaber//Saviour”). Auch verzichten beide auf Oktavierungen ihrer Stimme, wobei sie sich sehr stark auf die emotionale Modulation verlassen. Die Reime wirken improvisiert, obwohl Yung Lean immer aus dem Takt kommt, tut das dem Sound keinen Abbruch. Doch Lil B ist bei Weitem nicht die einzige Referenz. Yung Lean hat auch Ähnlichkeiten mit anderen Künstlern, bei denen die Fiktion einen großen Teil ihrer Arbeit ausmacht. Wie Kool Keith, MF Doom und Madlib, als er noch als Quasimoto unterwegs gewesen ist. “Watching Space Jam/Lean’s never sober” singt Yung Lean, “Lost in Space” von Kool Keith geht hingegen so: “Hotel unknown/drinking brew watching Sesame Street“. Auch wenn er keine Maske trägt und sich nicht wie ein Cartoon-Charakter verkleidet, ist die Figur Yung Lean genauso fiktiv wie Madvillian und Quasimoto. Die Fiktionalität dürfte von vielendie-hard old-school Hip-Hop-Fans übergangen werden, Empfehlung
Yung Lean
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ist doch davon auszugehen, dass sie vor allem nach einer Ausrede suchen werden, den Rapper wegen seiner "unrealen" Herkunft abzulehnen. Für die wachsende globale und netzaffine Yung-LeanFangemeinde dürfte das aber keine weitere Rolle spielen, hat doch der Hintergrund eines Künstlers für sie keinen Einfluss auf die Wahl ihrer Musik. Auf Twitter zählte Yung Lean Harmony Korine als Inspirationsquelle auf. In der Tat gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Unknown Death 2002 und Harmony Korines neuestem Streich Spring Breakers. So liegt bei beiden der Fokus auf weißen Teenagern aus der Mittelklasse, die ihre Gangster-Fantasien ausleben. Der Mix aus Sex, Gewalt und Kindheit ist ebenfalls bei beiden feststellbar. Dieser Eskapismus zeigt sich bei Yung Lean in Zeilen wie "Optimus Prime/Do her from behind", "I can buy you lemonade/I can buy you drugs” und “Posted in the Death Star/Snorting coke with Darth Vader". Wie auch in Spring Breakers finden die Gewalt und der Sex an einem fast schon traumähnlichen Ort statt, an dem Konsequenzen und Verantwortung nicht existieren. Genauso wie Vanessa Hudgens und ihre Freundinnen darüber glücklich sind, dass alles, was beim Springbreak passiert, dort auch bleibt, ist Yung Lean in der Lage, seine eigenen Waffen/Drogen/ Sci-Fi/Video-Game-Träume auszuleben, ohne sich der harten Realität stellen zu müssen. Sicherlich mögen viele diese Attitüde als taktlos empfinden, dennoch muss man im Hinterkopf behalten, dass es sich hier um einen 16-Jährigen handelt, der mit Bricksquad Monopoly, Videospielen und dem Internet aufgewachsen ist. Das Resultat ist also kaum überraschend. Zwei weitere wichtige Referenzen sind Pokémon und Arizona Eistee. Klar wird das im Clip zu seinem Song "Hurt". Das Pokémon-Revival konnte zuerst bei Robb Bank$ in dessen Video zu "Counting" beobachtet werden. Selbstverständlich zählt der Rapper zu denjenigen, die Einfluss haben auf Yung Lean. Welche Bedeutung das Franchise für Yung Lean hat, lässt sich schwer sagen, schließlich war er gerade mal drei oder vier Jahre alt, als Pokémon den Höhepunkt seiner Beliebtheit erreichte. Dennoch funktioniert das Zitat hervorragend. Die Visuals machen deutlich, wie sehr sich Yung Lean an der 90erund frühen 00er-Jahre-Ästhetik abarbeitet. Sein Name hingegen ist keine Referenz. Yung Lean nannte er sich, weil er es lustig fand. Bleibt noch Yung Leans Background zu erzählen: Aus einer "normalen Nachbarschaft mit vielen Hipstern" kommend, trinkt er gern Bier und nippt an Hennessey - so wie viele andere in seinem Alter. Auch wenn zu bezweifeln ist, dass Yung Lean mit seinen Sad Boys "YOLO" ruft, hat er eine Bewährungsstrafe bekommen, nachdem er von der Polizei beim Kiffen erwischt wurde. Für ein derartig triviales Delikt festgenommen zu werden und zugleich mit Lyrics über einen viel härteren Lifestyle herumzuspielen - es sind diese Widersprüche, dieser Eskapismus, der so viel Spaß macht. Das Entscheidende an Yung Lean ist jedoch die Imitation. Es handelt sich hier um einen Teenager, der aus verschiedenen Einflüssen und Referenzen einen gut konturierten Namen geschaffen hat.
Kyle and Warren write for truantsblog.com and are members of the official Drake fanclub
Foto von Nature boy
Artwork von ecco2k1
Mode: Regina Weber Fotograf: Phillip Koll Hair & Makeup: Patricia Heck Model: Janja Josipa Perkovic Textildesign: Noel Saavedra Modestrecke
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Historical Pattern
Modestrecke
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Historical Pattern
Mir fehlt eine Rippe, sagt die Bibel. Romulus war high auf Wolfsmilch, sagt Diokles. Amerika, sagen die Gründerväter,wurde von guten und gerechten Menschen erschlossen. Und die hinterhältige Schwester des Mythos, die Prophezeiung, sagt uns, dass am Ende alles in Flammen aufgehen wird. Kurzum: Im Anfang war das Wort, und ohne das Wort wurde nichts. Niemand darf in der aufgeklärten Welt heute noch so ungestraft Liturgien abhalten wie Musiker auf der Bühne. Doch ohne festen Glauben trägt das Wasser nicht den Jünger und die Bühne nicht den Traum. Damit das klappt, bedarf es kultischer Verehrung, Dope und Myrrhe und Menschen, die darüber reden. Erst durch die Verschwörung mit dem Gefeierten, dem Fantum, erhält der Mythos im Pop seinen Glanz. Aber über Musik reden heißt, nicht über Musik zu reden. Petitessen aus Sternenstaub machen mehr Spaß, ein Machetenhieb in das Gestrüpp der Referenzen hinein ist befriedigender. Als Ökonomen der Aufmerksamkeit speisen Musiker ihre Fans vorauseilend mit dem nötigen Gesprächsstoff. Ob sich die Mythenbildung nun in huldvollen Bandbios erschöpft oder in der Schaffung von Kunstwesen wie Ziggy Stardust mündet – die Ausgestaltung ist nachrangig.
Dagobert und der Mythos Pop
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Allen gemein ist die Vorstellung, dass der Wille den Weg vorgeben kann, sich Bahn bricht gegen alle Widrigkeiten sozialer Herkunft, astraler Konstellationen oder tausendfachen Scheiterns. "Making it", worüber Musiker gerne lamentieren, um weniger Musik spielen zu müssen, ist eine Abwandlung des amerikanischen Traums. Die Hartnäckigkeit eilt dem Ruhm des Interpreten quasi voraus. Wer nicht aufgibt, gehört belohnt, raunt etwa die Platte von Meat Loaf seinem hadernden Käufer aus dem Plattenregal heraus zu. Das Martyrium des unglücklichen Fleischbergs, nach angeblich 40 Türweisungen bei Plattenlabels endlich 43 Millionen Einheiten seines Albums „Bat out of Hell“ verkaufen zu dürfen, adelt exemplarisch das immer wieder besungene Thema: Die große Liebe ist möglich, und Meat Loaf schleppt das Kreuz in ihrem Namen über die Via Dolorosa, der verdammte Held. Das verkannte Genie in der Einsiedelei und der späte Ruhm, das sind die vielleicht häufigsten Spielarten des Gründungsmythos. Stichwort Hütte, Bon Iver, Vergletscherung der Gefühle, die Band lernte sich beim Fußballspielen im Pausenraum der Sparkassenfiliale Castrop-Rauxel während eines Fortbildungsseminars in Umzugslogistik kennen.
Aber, der Post-PostPowerstrip beginnt auch hier die Hüllen fallen zu lassen. Eine neue Form des Gründungsmythos findet momentan mit dem Berliner "Schnulzensänger" Dagobert statt. Er ist ein Avantgardist wider Willen, aus der Einöde des Schweizer Berglands herabgestiegen wie Zarathustra, um den Menschen Weisheit zu bringen. In angeblich fünf Jahren der Abgeschiedenheit formuliert Dagobert eine zeitgemäße Liebeserklärung, die über die Songtexte hinausgeht. Eine Figur ohne Trennschärfe, aus der Welt gefallen, gewandet in Widersprüche, Einzeiler auf den Lippen und weinende Frauen am Arm. Dagoberts Lieder handeln von der Unmöglichkeit und klingen nach Autoscootermusik, so ein treffender Kommentar. Es ist nicht ganz klar, ob immerhin die Rahmenhandlung stimmt, Dagobert also kein Mittekind ist, oder einfach alles reiner Bullshit ist. Der Gründungsmythos wird bei Dagobert zur Kunstform an sich. Seinen hippen Fans gefällt die Mitwisserschaft um diese Ironie-Raffinade, seinen reiferen Fans die Exotik des schweizerdeutschen Zungenschlags. Doch der Mummenschanz bleibt durchsichtig, vor allem weil Dagobert während seiner lakonischen Performance immer aussieht, als würde er sich auf den Lachanfall im Backstagebereich freuen. Aber wer verlangt denn schon nach Ernst? Niemand. Dagobert und der Mythos Pop
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Ernst ist auch nicht das, was die Zuschauer der Schaubude wollen. Absichtlicher Kitsch bleibt Kitsch und die kognitive Dissonanz der größte "Enabler" der Popkultur. Was Dagobert macht, ist die logische Konsequenz der Überhöhung des Rockstars, die schon lange einer brutalinszenatorischen Tristesse Platz macht. Es bedarf keines Übermenschen mehr, um Content zu transportieren; welcher Restglanz den Celebs zwischen Regenbogenpresse und digitaler Komprimierung noch übrig bleibt, muss auf der Bühne um so heftiger aufgeblasen werden. Normalaffekt gegen Spezialeffekt. Lady Gaga ist, das erfährt man rasch, eine professionelle Muckerin, die eine gottlose Erwartungshaltung befriedigen muss. Pomp und Provokation werden zum Selbstzweck und bieten der vergleichsweise antiken Vorstellung die Stirn, die Aura des Accomplishments müsse dem Musiker reichen, um seine Songs mit Magie zu laden. Wenn einer wie Dagobert ohne Spezialeffekte und Substanz auskommt, muss er wohl weise sein.
Paul Solbach schreibt und lebt in Berlin von Paul Solbach
Ludwig Mies van der Rohe zählt zu den herausragenden Vetreter_innen der Bauhaus-Schule. Viele seine Bauwerke bestechen durch ihre klare rechteckige Form. Eben diese geometrische Perfektion hat der Illustrator Malte Euler zum Anlass genommen, um im Rahmen einer Gruppenarbeit zum neunzigsten Bauhaus-Geburtstag eine Studie über die Arbeit des Bauhäuslers anzufertigen. Die Fragestellung: Wie belebt der Mensch Mies van der Rohes Rechteck-Architektur? Um diesen Kontrast herauszuarbeiten, griff Malte auf Pinsel und Tusche zurück, zwei Werkzeuge, die Fehler provozieren. Für Cartouche fügte Malte seiner 2009 angefertigten Studie zwei neue Werke hinzu: Die neu sanierte Tankstelle bei Montreal und das Lemke Haus in Hohenschönhausen. Malte Euler ist ein Grafiker und Illustrator aus Berlin. Unter anderem entwarf er Cover für das Label Stil vor Talent und zeichnete als Ghost-Painter für die Fernseh-Serie Sturm der Liebe. Im Feld der Gestaltung hat Malte in verschiedenen Bereichen betätigt wie Film, Fotografie, Web- und UI-Design. Dabei interessierte ihn auch die technische Seite. Beim Pen Club ist Malte seit Anfang an dabei. An dem Zeichner_innen-Treff schätzt Malte die entspannte Atmosphäre und der Austausch mit den anderen Zeichner_innen.
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27-09-13 18 Uhr Dean Blunt Berghain Kantine
22-11-13 21 Uhr Bite Club Hoppetosse
TBA Everything Is True: Objekt & Call Super All Night Long Chesters
Unsere Freunde vom Bite Club Team haben hart an ihrem brandneuen "Street Food Market" an der Spree gearbeitet. Nun ist er fertig und präsentiert euch beste Feinkost zu bezahlbaren Preisen. Alle Stände und Wagen wurden mit Bedacht ausgewählt. Dazu gibt es bis spät in die Nacht Musik. Der Markt hat Potenzial einmal ganz groß zu werden. Schaut deshalb vorbei, solange er noch frisch ist! Am 27. September ist es wieder soweit. Nach der Ankündigung, dass die Londoner Künstler Inga Copeland und Dean Blunt getrennte Wege gehen, sind wir gespannt darauf, wie es mit ihrem gemeinsamen visionären Projekt Hype Williams weitergehen wird. In der Zwischenzeit könnt ihr euch die eine Hälfte des Projektes in der Berghain Kantine ansehen. Dort stellt Dean Blunt am 22. November sein viel gefeiertes Album The Redeemer vor. Das DJ-Team Objekt & Call Super hat in der letzten Zeit viel Zuspruch erhalten. Umso interessanter erscheint die Party-Reihe "Everything Is True", die unsere Freunde in dem intimen Club Chesters gestartet haben. Als wären die beiden für sich nicht allein schon genug, legen neben ihnen jedes mal einige weitere aufregende Künstler auf.
Ausgehn
Bilder von Lucy Sparks
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Indi Davies is a writer, illustrator and co-founder of the blog Don't Panic Berlin.
Don't Panic Berlin empfiehlt:
Fünf Termine in Berlin, die ihr auf keinen Fall verpassen solltet 04-10-13 20 Uhr Polymorphism #9 Berghain
13-10-13 15 Uhr J.A.W x Steve Reid Foundation w/ Free Spirits Prince Charles
Ob ihr von den Headlinern gehört habt oder nicht, spielt keine Rolle. Ihr könnt euch darauf verlassen, dass die Leute von der CTM großartige Projekte auf die Bühne holen. Entsprechend bedenkenlos könnt ihr bei ihren Events vorbeischauen - vorausgesetzt natürlich, dass ihr auf experimentelle Musik steht! Über ihr jährliches CTM-Festival hinaus organisieren sie regelmäßig die Polymorphism-Nächte im Berghain, wo es die volle Bandbreite an experimentellen Soundkünstlern, Musikern und Produzenten zu sehen gibt. Am 10. Oktober folgt die nächste Ausgabe, zu der unter anderem geladen sind: Lorenzo Senni, Oneohtrix Point Never und Stellar Om Source. Die J.A.W Family kombiniert auf ihren Parties Improvisations-Musik mit DJ-Sets. Ganz in diesem Zeichen steht auch ihr Event im Prince Charles, wo neben vielen tollen Bands Gilles Peterson, Floating Points und Fourtet hinter den Plattentellern stehen werden. Mit der Party soll Geld für die Steve Reid Foundation gesammelt werden, die dem schwer erkrankten Saxophonisten und Komponisten Arthur Blythe helfen möchte. Ein weiterer Teil der Erlöse geht an die Betreiber des Festsaal Kreuzberg. Der Veranstaltungsraum ist in diesem Sommer komplett ausgebrannt. Go support the causes!
Zusammengestellt von Indi Davies
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