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Notwendige Vorbemerkung
Sarah Nemtsovs Oper Ophelia spielt anders als die ihr zugrunde liegende Tragödie Hamlet, Prince of Denmark nicht kurz nach Ermordung des dänischen Königs im Garten von Schloss Kronborg. Die Shakespeares Hamlet bestimmenden Konflikte, Affekthandlungen, Fehlentscheidungen, Gewalttaten und Unglücke liegen in Ophelia schon länger zurück. Nicht nur Der graue König und der von ihm erschlagene Fortingbras, Regent von Norwegen, sind tot. Durch Mord, Totschlag, Hinrichtung oder Unfall umgekommen sind zu Beginn des Singspiels ebenso Prinz Hamlet, seine Geliebte Ophelia, deren Vater Polonius, ihr Bruder Laertes, der Königsmörder und Thronräuber Claudius, dessen Gemahlin Gertrude, Witwe des alten Monarchen und Mutter des Prinzen, sowie Guildenstern und Rosencrantz, zwei zur Figur des Mitläufers Rosenstern zusammengefasste Edelmänner.
Sie alle singen in Ophelia zwar als Solistinnen und Solisten, bilden gemeinsam aber das Toten-Ensemble, einen zumeist zehnstimmigen Pulk aus gespenstergleichen Gestalten, in dem jede Stimme vergeblich ihre Eigentümlichkeit zu bewahren versucht. Denn wie den Handlungsfortgang beherrscht auch den Gesangshintergrund der Grosse Schattenchor aus rund 40 Stimmen. Sie stehen für die Toten, zu denen sich die Verstorbenen hinzugesellen müssen. Unerbittlich ruft der Chor die verblichenen Einzelstimmen zu sich und nimmt sie auf in ihre Reihen.
Dieses Mehrfamilienmassaker überlebt haben einzig drei Charaktere: der junge Fortingbras, Sohn des erschlagenen Herrschers über Norwegen – dem nach dem Gemetzel auf Schloss Kronborg die dänische Krone zufällt –, Horatio, unverbrüchlicher Freund des Prinzen, sowie Ophelia. Dass sie überlebt hat, zugleich aber nicht mehr lebt, ist paradoxes Leitmotiv der Handlung: In Ophelias Figur durchdringen einander Traum und Realität, Wahn und Phantasie, Depression und Hoffnung, Liebe und Vernunft.
Die Hauptfigur erhält durch diese Wirklichkeitsverwerfung seelische Konturen, eine Geschichte und Zukunft. Deshalb ist Ophelias singende Gestalt in vier Figuren aufgespalten: Eine ertrank, eine wurde ertränkt und eine wählte in einem der vier Eibenwaldbäche den Freitod. Eine jedoch rettete sich und lebt weiter. Ophelia lässt das Geschehene Revue passieren und findet, wie durch ihr Vertrauen auf die eigene, unverwechselbare Vorstellungskraft, so durch Austausch mit den Schatten ihrer Vergangenheit, vor allem aber im gesungenen Gespräch mit Horatio, zu neuem Lebensmut – die Liebe zur Musik des Lebens.