Gegen das Vergessen (Argentinisches Tageblatt 17 August 2012

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HÜBEN UND DRÜBEN

Gegen das Vergessen Mit einem Dokumentationszentrum will Regula Langbehn die Erinnerung an die deutschsprachige Auswanderung bewahren Von Fabian Vögtle

Buenos Aires (AT) - “Es scheint so, als hätten die Deutschen in der Geschichte Argentiniens gar nicht existiert”, findet Regula Rohland de Langbehn. Das will sie ändern. Zusammen mit einigen Freunden und Kollegen hat die emeritierte Germanistin und Romanistin ihr Mammut-Projekt vergangene Woche konkret in Angriff genommen. Mit dem “Centro de Documentación de la Inmigración de Habla alemana en la Argentina” will sie eine Art Archiv aufbauen, das die deutschsprachige Auswanderung anhand von Orginalschriften und privaten Dokumenten bewahrt und für die Öffentlichkeit zugänglich macht. “Ich hätte schon vor 20 Jahren damit anfangen sollen”, meint Langbehn, die Foto: fv seit 1970 in Buenos Aires lebt und von 1987-2006 als Bewahrerin: Regula Rohland de Langbehn beim Recherchieren. Professorin am Lehrstuhl Langbehn freut sich über alle für Deutsche Literatur an der Uni- sie in den kommenden Wochen und versidad de Buenos Aires (UBA) Monaten auf das Dokumentations- Dokumente, die sie erhält. Besonders interessieren sie dabei lehrte. Denn es werde zu viel von zentrum aufmerksam machen. So soll etwa auf dem Treffen des Schriften zur Auswanderung vor der Vergangenheit weggeschmissen, da viele nicht mehr wüssten, Dachverbandes der deutschen Ver- dem Nationalsozialismus und aus was sie mit deutscher Literatur, bände im September das Projekt in dem 19. Jahrhundert, die immer Zeitungen, Zeugnissen oder alten einer kurzen Ansprache und anhand mehr in Vergessenheit geraten, unFotos ihrer (Ur-)Großeltern anfan- von Flyern vorgestellt werden. ter anderem weil viele Akten und Zunächst wird das Dokumentations- Dokumente zwischen 1945 und gen sollen. Das Dokumentationszentrum zentrum im Dachgeschoss Lang- 1955 durch die Enteignungen deutsoll eine doppelte Anlaufstelle wer- behns eine Heimat finden. Doch scher Unternehmen und Institutioden. Einerseits will sie, dass die sobald die Sammlung größer wird nen durch den argentinischen Staat Leute wissen wohin sie ihre Sachen und sich als öffentliches Archiv zu verloren gegangen sind. geben können, bevor sie im Müll Recherchezwecken für Besucher Die emeritierte Professorin will landen. Andererseits will die enga- öffnet, muss ein neuer Ort gefunden alles mögliche zusammentragen - ob gierte Langbehn mit einer Samm- werden. Dieser könnte etwa an ei- private Familienfotoalben, Briefe, lung interessierten und forschenden nem Institut der Universidad Nacio- Arbeitsverträge und offizielle PapieArgentiniern einen zentralen Zu- nal de San Martín zu finden sein, re oder auch gesammelte deutschgang zur deutschen Auswandererge- zu der Langbehn Kontakte hat. Doch sprachige Werke oder Notizen aus schichte geben. “Es geht vor allem sie weiß, dass nicht von heute auf Kirchengemeinden, Vereinen und darum, die deutschen Einwanderer morgen ein argentinisches Pendant Schulen. Denn nicht immer gibt es in die argentinische Geschichte ein- zum renommierten Martius-Staden- ausführlich publizierte Lebenserinzubinden”, sagt sie und ergänzt: Institut in Sao Paulo entstehen wird, nerungen wie im Falle von Daniel “Die Deutschen kommen das sich mit Bibliotheken, einem oder etwa wie bei Luis E. Schnelnirgendwo vor. Das ist nicht ge- umfangreichen Archiv und eigenen ler. Sein für die Familie in spanirecht.” Veröffentlichungen seit Jahrzehnten scher Sprache gestaltetes Heft erObwohl sie sich selbst zum Sam- der Erhaltung und Pflege der deut- zählt nicht nur von dem Leben seimeln zwingen müsse, hat sie in ih- schen Kultur in Brasilien widmet. ner Eltern in Deutschland, deren rem Haus in San Isidro eine erstaun- Doch zumindest ein bisschen wird Emigration während der Weimarer liche Anzahl in Argentinien heraus- man sich daran orientieren. Republik, der Integration in Argengegebener deutschsprachiger Bütinien mit Sprachproblemen und Der Katalog cher und Schriften aus dem 19. und ständiger Arbeitssuche. Der ein Jahr Bisher hat Langbehn in ihrem nach der Ankunft der Eltern im Jahr 20. Jahrhundert. Sie möchte eben bewahren, was die Deutschen hier Katalog immerhin 1600 Einträge 1923 geborene Schneller liefert in hergestellt haben. “Meine Projekte geordnet, nach Festschriften, Jahres- diesem privaten Geschichtsheft die gehen dahin, dass ich alte Sachen berichten und Lebenserinnerungen. zu den Anekdoten und Geschichten sichtbar mache”, erklärt sie ihre Rund die Hälfte der Sammlung sind passenden Bilder und Zeugnisse der solche Autorenschriften. Es handelt Zeit gleich mit. Motivation. sich um Tagebücher und AutobioZwar sind seine LebenserinneBislang ohne konkrete grafien. Es gibt davon einfach zu- rungen, wie in anderen Fällen auch, Unterstützung sammengeklebte Blätter genauso auf Spanisch verfasst, da seine EnZwar stünden die Botschaften wie professionell gebundene Bü- kelkinder der deutschen Sprache und einige Institute hinter dem ak- cher. Zu letzteren zählen die Lebens- schon nicht mehr mächtig sind, doch tuellen Projekt, jedoch gebe es we- erinnerungen von Alfredo Daniel, zumindest gibt er ihnen ihre Herder konkrete finanzielle noch orga- die er seinen Kindern und Enkeln kunft mit auf den Weg. In seinem nisatorische Unterstützung. Und so gewidmet hat und seinen Freun- Vorwort zitiert Schneller dazu pasbleibt der sich gerade in der Grün- den, die sich für sein Leben, seine send Goethe: “Zwei Dinge sollen dungsphase befindende Verein erst Meinungen und seine Gedanken Kinder von ihren Eltern bekommen: mal eine sehr individuelle Angele- interessieren. Er schreibt über die Wurzeln und Flügel.” Ein Satz, der genheit. Langbehn kann das Doku- Kindheit in Deutschland, seine auch Germanistin Regula Langbehn mentationszentrum jedoch nicht Auswanderung 1936 und über die gefallen dürfte, die sich mit ihrem ganz alleine aufbauen, da sie auch Erlebnisse der Integration in Bue- Projekt nicht zuletzt als Historikenach ihrer Emeritierung unter ande- nos Aires. rin beweisen wird. rem weiterhin Vorträge hält, Doktoranden betreut und zurzeit die noch nicht vorhandene Übersetzung des Briefwechsels von Goethe und Wer alte Tagebücher, Briefschaften, Literatur, Fotos oder Zeugnisse Schiller erarbeitet. von Familienmitgliedern besitzt und nicht genau weiß, was er damit Um kompetent aufgestellt zu machen soll, der kann sich an Regula Langbehn wenden. Genauso willsein, hat sie in ihrer sechsköpfigen kommen sind ihr Festschriften, Jahresberichte und Zeitschriften von deutGruppe mit ihrer Vertrauten Monischen Schulen,Vereinen und Kirchengemeinden. Gerade erst hat sie von ca Bader unter anderem eine erfahder 1898 gegründeten Deutschen Schule Quilmes in einer Schachtel alte rene Bibliothekarin, die später auch Dokumente überreicht bekommen, darunter Zeugnisse von Schülern aus als fest angestellte Kraft des Dokudem Jahr 1920. mentationszentrum fungieren soll, Kontakt: sowie einen Buchprüfer und JurisRegula Rohland de Langbehn ten. Zusammen mit ihrem Team, Telefon: 011-4723-4002 dem auch ein interessierter Arzt des E-Mail: rrohland@gmail.com Deutschen Hospitals angehört, will

Mithilfe erwünscht

Freitag, 17. August 2012

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“Kleider nicht am Körper bügeln” Von Sandra Trauner Frankfurt/Main - “Versuchen Sie nicht, die Säge mit den Händen anzuhalten” oder “Kleider nicht am Körper bügeln” - Warnhinweise dieser Art gibt es wirklich. Obwohl vermutlich den meisten Menschen klar sein dürfte, dass eine Bohrmaschine “Nicht zur Körperhygiene geeignet” ist und man ihre Gebläse “nicht als Fön verwenden” sollte. Mit absurden Warnhinweisen dieser Art beschäftigt sich eine Ausstellung im Frankfurter Museum für Kommunikation. Sie ist in Zusammenarbeit mit einer Zeitschrift für Bildbearbeitung entstanden, die zu diesem Thema einen Wettbewerb ausgeschrieben hatte. Die 50 besten Einsendungen sind vom 16. August bis 21. Oktober am Frankfurter Museumsufer zu sehen. Einen der ersten Preise - es gab mehrere erste Plätze für Profis, Semiprofis, Auszubildende und Amateure - gewann Jana Gragert aus Reichenberg mit der Warnung “Brennende Kerzen nicht unbeaufsichtigt lassen”. Wenn Kerzen unbeaufsichtigt sind, so ihre These, fangen sie nämlich an zu tanzen. In ihrer Bildmontage wiegen sich zwei weiße Kerzen feuersprühend im Tangoschritt. Stefan Bungart aus Stuttgart lässt Auberginen wie Pinguine über den Südpol wackeln. Auf ihrem Rücken prangt der Aufkleber “Gentechnisch verändert”. Viele bizarre Warnschilder haben wir den US-Amerikanern zu verdanken, erklärte Museums-Chef Helmut Gold bei der Vorbesichtigung am Dienstag. Dortige Hersteller wollen sich damit gegen Klagen wappnen, falls Kunden das Produkt falsch benutzen und dadurch zu Schaden kommen. Der “Stella-Award” ehrt - beziehungsweise brandmarkt - die absurdesten Schadenersatzforderungen. Benannt wurde er nach einer Frau, die eine halbe Million Dollar Schadenersatz plus Schmerzensgeld erhielt, nachdem sie sich bei McDonald’s mit heißem Kaffee verbrüht hatte. Die Folge dieser Rechtsprechung: Die Warnhinweise an US-Produkten werden immer abstruser. Initiativen wie M-Law sammeln sie und veröffentlichen sie im Netz. Auf der Hitliste der “Wacky Warnings” ganz oben: Der Ratschlag auf einem Kinderwagen “Baby vor dem Zusammenfalten entfernen” und der Hinweis auf einer Klobürste “Nicht für die Körperhygiene geeignet”. Ein Hersteller rät sogar, den Rohrreiniger besser nicht zu verwenden, “wenn Sie diese Warnung nicht verstehen oder nicht lesen können”. Das hatte vielleicht Florian Janßen aus Bad Tölz im Hinterkopf, als er für den “Docma”-Wettbewerb ein Warnschild in Szene setze, das er im Urlaub auf Korsika entdeckt hatte. Es warnt in komplett unverständlichem Pseudo-Deutsch vor Fehlern beim Surfen. In seiner Bildmontage rollt eine Monsterwelle auf den Strandurlauber zu, der leider auch keine Ahnung hat, was der Text ihm sagen will. Ob es die Hinweise wirklich gibt oder ob sie nur gut erfunden sind, habe für die Jury keine Rolle gespielt, erklärte der Chefredakteur der Zeitschrift, Christoph Künne. Für sie zählte nur die perfekte technische Umsetzung und die originelle Bildidee. Wie die von Jaroslaw Reisig aus Kressbronn, der sich einen unglücklichen Graffiti-Sprayer ausdachte, der nicht an der Milchprodukte-Unverträglichkeit Laktoseintoleranz leidet, sondern an “Lackdoseintoleranz”. Die Aufgabe habe darin bestanden, Warnhinweise bildlich so umzusetzen, dass sie “in ihrer Übersteigerung die Absurdität ihrer Vorbilder möglichst noch übertreffen”, erklärten die “Docma”-Leute. Das Museum sprang auf den Zug auf und warnte die Journalisten: “Bitte verwenden Sie diese Presseeinladung nicht als Pizzabelag!” (dpa)

Ehrenrettung für Lüge und Irrtum Von Andreas Heimann Reinbek - Ehrlichkeit steht hoch im Kurs, Lügner gelten als moralisch suspekt. Doch ganz so einfach ist es nicht. Wolf Schneider, schon immer gerne ein Querdenker, hält volle Breitseite dagegen: Ehrlichkeit kann auch penetrant sein oder grob unhöflich und oft gleichzeitig dumm. Auf die Frage “Wie findest du meine neue Frisur?” ist eine unehrliche Antwort manchmal eindeutig vorzuziehen. Und überhaupt seien Lügen besser als ihr Ruf, argumentiert Schneider in seinem jüngsten Buch “Die Wahrheit über die Lüge”. Der Autor, in früheren Jahren Moderator der NDR Talkshow und Leiter der Henri-Nannen-Schule in Hamburg, ist ein passionierter Vielschreiber. Vor allem durch seine Ratgeberbücher zur Sprachpflege ist er bekannt geworden. Unterhaltsam schreiben kann er, das zeigt er auch in seinem neuesten Werk. Langweilig wird einem beim Lesen nie. Umfangreich recherchiert ist es auch. Und dass Schneider Oscar Wilde genauso selbstverständlich zitiert wie Karl Marx oder Arthur Schopenhauer ist mehr als NameDropping. “Warum wir den Irrtum brauchen und die Lüge lieben” lautet der Untertitel. Schneider belegt an vielen Beispielen, dass Irrtum und Lüge allgegenwärtig sind, eher der Normalzustand als die Ausnahme. Der Irrtum folgt geradezu notwendig aus der Beschränktheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit: Wir sind einfach nicht schlau genug, um uns nicht immer wieder zu irren. Viele Irrtümer erscheinen in der Rückschau kurios: “Die Menschen werden es bald satthaben, jeden Abend in eine Sperrholzkiste zu starren”, sagte 1946 ein Hollywood-Filmproduzent voraus. “Die Mauer wird auch in fünfzig oder hundert Jahren noch bestehen”, behauptete Erich Honecker Anfang 1989 - totaler Quatsch, wie sich in beiden Fällen zeigte. Manche Irrtümer hielten sich jahrhundertelang, wie die Vorstellung von der Erde als Mittelpunkt des Universums. In der Politik gehört es zum Alltagsgeschäft, Wähler und politische Gegner in die Irre zu führen, häufig durch vernebelnde Sprache. Schneider zeigt das an einer Reihe von Beispielen: dem Nullwachstum etwa, das wirtschaftliche Stagnation bedeutet oder der Vollbeschäftigung, bei der es noch Hunderttausende von Arbeitslosen gibt. Dass auch Journalisten oft Irreführung betreiben, kritisiert Schneider nicht zum ersten Mal. Ihre Aufgabe, verfälschte und erlogene Nachrichten zu verhindern, nehmen sie nach seiner Überzeugung nicht ernst genug. Häufig schummeln sie schon in der Überschrift: “Nie mehr Zahnweh” sei noch eine der harmlosen Varianten. Irren und Lügen gehört zum Menschsein. In vielen Fällen sei das nicht schön, aber auch nicht so schlimm: “Die Wahrheit ist oft verletzend und meistens unbequem. Wir haben das Recht, sie nicht zu mögen. Es ist die Lüge, die uns wärmt.” Das Sprichwort “Ehrlich währt am längsten” überzeugt Schneider nicht: Wer das glaubt, der irre sich, argumentiert er. Und wer es immer wieder zum Besten gibt, ohne es zu glauben - der lügt. (dpa)


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