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EINFACH SELBSTBETRUG

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»DAS IST EINFACH SELBSTBETRUG«

RAINER GRIESSHAMMER ÜBER 65.000 PLASTIKTÜTEN UND EINEN FLUG NACH TENERIFFA

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Verhalten und Verhältnisse bedingen sich gegenseitig. Davon ist der Freiburger Umweltexperte und Autor Rainer Grießhammer überzeugt. Im Interview mit chilli-Redakteurin Tanja Senn verrät er, wie jeder Einzelne zu mehr Klimaschutz beitragen kann – und wo individuelles Handeln an seine Grenzen stößt.

chilli: Von selbst gemachtem Shampoo bis zur Resteküche: Es gibt tausende Tipps, wie man seinen Alltag nachhaltiger gestalten kann. Was können solche Kleinigkeiten bewirken? Grießhammer: Wenn man aktiv wird, sollte man versuchen Sachen umzusetzen, die möglichst viel bringen. Ich habe mal die zehn wichtigsten Maßnahmen zusammengestellt, die jeweils ein paar hundert Kilogramm CO2 einsparen.

chilli: Zum Beispiel?

Grießhammer: Heizenergie sparen, indem man die Raumtemperatur um ein Grad senkt, Heiznischen dämmt oder automatische Heizventile einbaut. Strom spart man, indem man Lampen durch LEDs ersetzt, Zeitschaltuhren verwendet oder im Kühlschrank die Temperatur auf sieben Grad hochsetzt. Andere Maßnahmen sind die Umstellung der Ernährung, der Übergang zum Carsharing oder innerdeutsch mit der Bahn statt mit dem Flugzeug zu reisen.

chilli: Die Tipps hören sich alle so positiv an. Aber eigentlich geht es doch vor allem um Verzicht: kein Fleisch, kein Auto, keine Flugreisen. Grießhammer: Ich versuche immer, die positiven Aspekte herauszustellen. Wenn man zum Beispiel seinen Ernährungsstil ändert, dann lebt man nicht nur gesünder, es kann auch billiger sein. Oder wenn man in der Stadt öfter das Rad nimmt, spart man Zeit und muss keinen Extrasport machen. Viele Maßnahmen bringen noch andere Vorteile neben dem Klimaschutz. Richtiger Verzicht, finde ich, spielt nur bei Fernflügen eine Rolle – nach Teneriffa kann man eben nur fliegen.

chilli: Also ganz ohne Verzicht im Alltag geht es nicht? Grießhammer: Eigentlich schon. Viele denken, wenn ich mich umweltfreundlich verhalten will, muss ich die ganze Zeit irgendetwas machen. Tatsächlich bringen aber Einmal-Entscheidungen die größten Effekte. Wenn man umzieht, ist zum Beispiel die Frage: Große oder kleine Wohnung? Gedämmt oder nicht gedämmt? Wie weit ist der Arbeitsplatz entfernt? Oder wenn man – auch als Mieter – Maßnahmen durchführt, um die Heizenergie zu senken: Das macht man einmal und muss die nächsten zehn Jahre nicht mehr daran denken. Das sind Dinge, bei denen man oft gar nicht bemerkt, was für starke Auswirkungen sie haben. Ansonsten ist wichtig, sich nicht alles auf einmal vorzunehmen, sondern zu schauen: Was fällt einem leicht?

chilli: Auf Plastiktüten zu verzichten, reicht aber nicht. Grießhammer: Das ist zur Müllvermeidung gut, bringt aber nichts für den Klimaschutz. Ein Ferienflug nach Teneriffa hat den gleichen Klimaeffekt wie die Produktion und Verbrennung von 65.000 Plastiktüten. Viele fühlen sich schon als Umweltschützer, weil sie den Müll trennen, ab und zu in den Bioladen gehen und ein paar Glühlampen durch LEDs ersetzt haben. Aber gleichzeitig haben sie eine große Wohnung, ein großes Auto, fliegen regelmäßig in den Urlaub. Das ist einfach Selbstbetrug.

chilli: Demgegenüber stehen die Menschen, die sagen: Ich kann als Einzelner doch eh nichts ändern, da ist die Politik gefordert. Grießhammer: Es stimmt beides: Verhalten und Verhältnisse bedingen sich gegenseitig. Ein Beispiel sind energieeffiziente Haushaltsgeräte. Von denen gibt es jetzt so viele, weil engagierte Menschen die gefordert und gekauft haben. Deswegen wurden sie von der Industrie entwickelt und später im Rahmen der Ökodesign-Richtlinie vorgeschrieben. Ohne die Nachfrage wäre das viel später gekommen. Ganz klar ist, rein durch Verhaltensmaßnahmen und ohne politische Änderungen wird Klimaschutz nie erfolgreich sein. Es braucht beides. chilli: Die Corona-Krise trägt dazu bei, dass auch viele Betriebe merken: Umweltschutz und Kosteneinsparungen können Hand in Hand gehen. Denken Sie, die Effekte bleiben nach der Krise? Grießhammer: Vor einigen Jahren ist ja mal dieser isländische Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen ausgebrochen. Da konnte in Europa auch ein paar Wochen lang nicht geflogen werden. Damals gab es bei vielen Unternehmen schon Videokonferenzen, aber danach sind sie doch zu ihrer vorigen Routine zurückgekehrt. Es war einfach nicht lange genug, um die Infrastruktur aufzubauen. Das hat sich jetzt geändert: Die Unternehmen haben dafür gesorgt, dass ihre Mitarbeiter zu Hause Laptops haben oder auf die nötige Software zugreifen können. Zudem hat es eine deutliche Verbesserung der Videokonferenz-Systeme gegeben. Ich denke, vieles davon wird im Kern erhalten bleiben.

Foto: © Arne Bicker

RAINER GRIESSHAMMER

Zur Person: Rainer Grießhammer war 30 Jahre lang Geschäftsführer des Öko-Instituts in Freiburg. Heute leitet er die Stiftung „Zukunftserbe“ sowie die „Amber Foundation“ und ist Honorarprofessor für Nachhaltige Produkte an der Uni Freiburg. Zudem hat der 67-Jährige mehrere Bücher zum Thema Umweltschutz veröffentlicht – das neueste 2019 unter dem Titel „#klimaretten“. Vergangenes Jahr hat er das Bundesverdienstkreuz für seine Leistungen für das Gemeinwesen erhalten.

APP GEHT’S!

Apps und Online-Initiativen bieten eine Vielzahl an Möglichkeiten, den eigenen Alltag ein Stückchen nachhaltiger zu gestalten. Hier drei Vorschläge:

TAUSCHBÖRSEN

Das Computerspiel ist schon hundert Mal durchgedaddelt, das Buch gelesen und die Hose passt nicht mehr? Warum nicht einfach gegen etwas Neues tauschen, statt es wegzuwerfen? Diese Idee steckt hinter Online-Tauschbörsen wie „Tauschticket“ oder „Tauschgnom“. Im kleinen Stil gibt es solche Initiativen auch regional – etwa die Verschenk- und Tauschmärkte auf den Homepages des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald oder des Landratsamts Ortenaukreis.

RESTEKÜCHE

Ein Sandwich vom Vortag oder Sushi, das nicht aufgehoben werden kann: Die App „To good to go“ will Lebensmittel von Supermärkten, Cafés oder Restaurants vor der Tonne retten. Über sie erwirbt man für ein paar Euro die „Magic Bag“ – eine Überraschungstüte mit älteren, aber einwandfreien Lebensmitteln, die man bei dem gewählten Laden in seiner Nähe abholt. Auch in der Region machen zahlreiche Betriebe mit.

FAIR-FASHION

Klamotten vom Flohmarkt, aus dem Second-Hand-Laden oder von ausgewiesenen Öko-Labels sind sicher die umweltfreundlichste Variante, um sich einzukleiden. Doch was, wenn man auf Mode von großen Marken nicht verzichten will? Dann kann man zumindest checken, welche Hersteller einigermaßen ökologisch produzieren. Die App „Good on you“ ermöglicht es jedem Smart-phoneNutzer, mit ein, zwei Klicks Vergleiche anzustellen. Manko: Das Programm ist nur in Englisch und mit vorheriger Registrierung nutzbar. chilli

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