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TURBO-E-LADESTATION
ZUKUNFTSMUSIK NEVERMORE
von Katerina Poladjan Verlag: S. Fischer, 2022 192 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro von Cécile Wajsbrot Übersetzt von Anne Weber Verlag: Wallstein, 2021 230 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro
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DAS BLAUE ENDE DER ZEIT
von Victor Boden Verlag: p.machinerie, 2022 644 Seiten, broschiert Preis: 23,90 Euro
Klänge einer Zeitenwende
(ewei). Es ist der Morgen des 11. März 1985. Während der Nachtschicht in einer „tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau“ gelegenen Glühbirnenfabrik scheppert Chopins Trauermarsch aus einem Transistorradio. „Ihr wisst, was das bedeutet“, warnt der Vorarbeiter die Belegschaft, zu der auch Janka gehört.
Sie bewohnt zusammen mit ihrer kleinen Tochter Kroschka, ihrer Mutter Maria Nikolajewna und der Großmutter Warwara Michailowna ein Zimmer in einer ‚Kommunalka‘. Sechs Mietparteien leben in diesem großzügigen, längst zur Gemeinschaftswohnung umfunktionierten ehemaligen Bourgeoisie-Domizil mit Bad, Klo und Küche. Diese teilen sich vier Familien und zwei Einzelzimmerbewohner.
Einer von ihnen ist Matwej Alexandrowitsch. Und er deutet die Musik aus seinem privaten Radio auch gleich richtig: „Da ist in Moskau wieder einer gestorben“, sagt er zu Maria Nikolajewna. Der dritte innerhalb von 28 Monaten – nach Breschnew und Andropow nun auch Tschernenko.
Was die Bewohner der Kommunalka an diesem einzigen Tag des Romans nicht ahnen können: Die Ernennung von Michail Gorbatschow zum KPdSUGeneralsekretär leitet eine Zeitenwende ein. Der Trauermarsch wird zur Zukunftsmusik. Freilich eine trügerische – und nur für eine kurze Zeitspanne.
Alltägliche Horrorszenarien
(ewei). Eine Übersetzerin lässt sich in Dresden nieder, um dort an einer neuen französischen Version von Virginia Woolfs Roman „To the Lighthouse“ zu arbeiten. Dabei setzt sie sich besonders mit dem Kapitel „Time passes“ auseinander, das, in einzelnen Passagen über die Erzählung verteilt, im Original mitzulesen ist.
Bald wird deutlich, welch komplexes Unterfangen eine literarische Übersetzung ist: Die namenlose Frau will ganz nah am Originaltext bleiben und ihn anderssprachigen Lesern mit all seinen Besonderheiten zugänglich machen. Doch sie hat oft Mühe, sinnerhaltende Entsprechungen zu finden. Vorsichtig tastet sie sich an jeden Satz heran, erwägt verschiedene Varianten, verwirft sie wieder, sucht nach treffenderen Formulierungen.
Ihre häufig ins Philosophische mündenden literarischen Selbstgespräche führt sie vorwiegend während nächtlicher Streifzüge durch die einst zerstörte und wiederaufgebaute Stadt. Dabei schweift sie ab, gerät beim Nachdenken über das Vergehen der Zeit unversehens in andere Zeiten, andere Räume, begegnet einer verstorbenen Freundin, findet sich in der verbotenen Zone um Tschernobyl wieder.
Anne Weber hat Cécile Wajsbrots ungewöhnliches Buch ins Deutsche übersetzt – und erhielt dafür den Leipziger Buchpreis 2022.
Verfolgt in der Galaxie
(ewei). Ein Alptraum: Der Ich-Erzähler namens Brenner hat jegliches Zeitgefühl verloren. Er weiß nicht mehr, ob er „Stunden oder Tage in diesem Elend zubrachte“. In diesem geschlossenen und dämmrigen Raum mit der schmutzigen Betondecke, wo er sich nicht bewegen kann und ihm obendrein „beißende Luft die Atemwege zerkratzt“.
Er kann keinen klaren Gedanken fassen, kann sich nicht erinnern, wie es dazu gekommen war, dass seine Papiere verschwunden waren. Ebenso wie seine Frau und die beiden Kinder. Wie sich sein ganzes bisheriges Leben „in Luft aufgelöst“ hatte. Klar ist ihm nur, dass er niemandem trauen kann, auch seiner Ärztin nicht, die ihm „glattweg eine Psychose einreden“ wollte. Und dass es ein Fehler war, die Polizei zu rufen, als er morgens in seiner über Nacht leergeräumten Wohnung aus seinem schrumpfenden Bett fiel.
Nach dem Verhör wird er zu seiner Zelle gebracht – und springt durch ein sich öffnendes Loch in der Wand. Er landet in einer zerstörten Stadt, wo er den Auftrag erhält, die Erde zu vernichten Dabei ahnt er nicht, dass er „zu einer Schlüsselfigur einer kosmischen Krise mutiert und bereits die halbe Galaxie“ hinter ihm her ist.
Mehr sei hier gar nicht verraten über diese spannende Sci-Fi-Geschichte des Freiburger Autors Victor Boden.