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IN EIGENER SACHE
HALTUNG BEWIESEN CHILLISTEN WÜNSCHEN EIN SCHÖNES FEST
Fröhliche Weihnachten: Wer sich maskiert, handelt solidarisch. Und das braucht es auch im neuen Jahr.
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Liebe Leserin & lieber Leser,
Foto: © iStock.com/SergeyChayko
am 1. März hatte das erst hernach allgegenwärtige Robert-Koch-Institut erklärt, die Gesundheitsgefahrenlage sei „mäßig bis gering“. Drei Wochen später erließ Freiburgs Oberbürgermeister Martin Horn ein Begehungsverbot für öffentliche Plätze, quasi eine Ausgangssperre. Es gehörte viel Mut, viel Haltung dazu. Das RKI musste seine Einschätzung so schnell revidieren wie die Umsätze vieler Freiburger Unternehmen nach dem ersten Lockdown auf knapp über die Nachweisgrenze absackten. Auch in der Medienlandschaft waren die gewohnten Erlöse wie vom Winde verweht. Doch uns war sofort klar, dass wir nicht klein beigeben und haben das ganze Jahr über den 16. Jahrgang unseres Stadtmagazins kreiert. Haltung bewiesen auch unsere Anzeigenkunden, die sich als verlässliche Partner erwiesen, manche sogar von sich aus anriefen und fragten, ob sie „in diesen Zeiten“ extra einen Platz im Blatt haben könnten. In der Krise zeigt sich der Charakter. In der Hauptsache als Krisenmanager unterwegs war Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach. Die Kultur ist in Deutschland nicht als systemrelevant markiert. Neun Milliarden für die Lufthansa sind kein Problem. Kleinkünstler aber, Kulturhäuser, Maler, Fotografen, Autoren, Schauspieler, Tänzer (denken Sie sich den Genderstern bitte einfach dazu) – fallen zumeist runter vom politischen Tisch. Ob Kultur nun systemrelevant ist, auch darüber sprachen wir mit von Kirchbach im Titel-Interview. Ein Weihnachtsgeschenk für unsere Leser haben wir auch im Blatt. „Jess, ich brauche in diesen
depressiven Tagen eine gute Weihnachtsge-
schichte, eine, die das Ernste nicht verschweigt, aber auch was Lustiges, was Heiteres hat“, sagte ich zu Jess Jochimsen. Der Freiburger Kabarettist sagte: „Mach ich.“ Danke. Unser Kolumnist Florian Schroeder hat derweil den Deutschen Kleinkunstpreis 2021 gewonnen. Nicht zuletzt, weil er sich als Redner auf einer Demo vor sogenannte Querdenker stellte und Tacheles gesprochen hat. Glückwunsch. Die chillisten wünschen trotz allem ein schönes Fest, einen guten Rutsch und einen hoffnungsvollen Start ins neue Jahr. Bleiben Sie, bleibt uns gewogen. Und zuversichtlich. Und gesund.
Herzlichst, Ihr Lars Bargmann, Chefredakteur & die chillisten
HEFT NR. 8/20 10. JAHRGANG
> 26 Kleiner Piks, große Wirkung?
Ralf Schumann akupunktiert Geigen
Foto: © pt Foto: © j. jochimsen
> 16-18 Keine Weihnachtsgeschichte: Jess Jochimsen über Corona und Kreuze
Fondation Beyeler RODIN/ARP 13.12.20 – 16.05.21
IN EIGENER SACHE EDITORIAL 3
GASTKOLUMNE FLORIAN SCHROEDER 7 MEHR KOLUMNEN 24, 47, 50
TITEL HERAUSFORDERNDES 2020 10-12
Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach resümiert das Pandemie-Jahr
HINTERGRUND NEUE STADIONVERORDNUNG 14-15
Befugnisse für Beamte: Fans und Fraktionen protestieren
WEIHNACHTSGESCHICHTE 16-18
Warum das besinnliche Fest für Jess Jochimsen ein Trauerspiel ist
GEHEIMDIENSTE 20-21
Razzia in der KTS war rechtswidrig: Behörden in der Defensive
SZENE
RUSTIKAL NEBEN DEM EIS Grabenkämpfe beim EHC
22
CORONA-KIDS 24-25
Paare nutzten ersten Lockdown vergnüglich
AKUPUNKTUR BEI GEIGEN 26
Ralf Schumann behandelt verstimmte Streichinstrumente
HOLZFIGUREN-UNIKUM 27
Günther Roth hat ein Herz für schöne Dinge
WIRTSCHAFT DOPPELHAUSHALT 28
Haushaltsentwurf liegt vor, Freiburger Schuldenberg wächst
TOURISMUS 29
Zahl der Übernachtungen sinkt, aber weniger als in anderen Städten
STERILIUS 30
Desinfektionsmittel per Elektrolyse: Emmendinger Start-up mischt mit
MOLEKÜLKOPIERER 31
Revolutionär: Biocopy zerlegt und kopiert Viren
ENERGIEWENDE 32
Badenova macht Kehrtwende und baut neue Windräder
Leinwand
LUDWIG AMMANN ÜBER CINEMA UND CORONA
Ausstellung
CRITICAL ZONES ERWEITERT HORIZONTE
Musik
RETTUNGSRINGE FÜR KLANGKÖRPER
> 34-49 cultur.zeit: News aus Freiburg zu Kultur, Musik, Literatur und Leinwand
cultur.zeit
KULTUR 34-43
Ludwig Ammann über Kino & Corona, Bilanz Freiburger LivestreamingDienste, Julian Windisch zum Theater Freiburg, Rodin und Arp in der Fondation Beyeler, Critical Zones am ZKM verlängert, Opéra national du Rhin spielt zum Jahreswechsel, DVD-Tipps
MUSIK 44-47 Finanzspritze aus dem Gemeinderat, 3 Fragen an Heirs to the Wild, CD-Tipps
LITERATUR
Die Bücher des Jahres der Freiburger Buchhändler
48-49
IMPRESSUM
chilli – Das Freiburger Stadtmagazin
chilli Freiburg GmbH Paul-Ehrlich-Straße 13, 79106 Freiburg fon / Redaktion 0761-76 99 83-0 fon / Anzeigen 0761-76 99 83-70 fon / Vertrieb 0761-76 99 83-83 www.chilli-freiburg.de
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Chefredaktion Lars Bargmann (bar): bargmann@chilli-freiburg.de Redaktion Till Neumann (tln): neumann@chilli-freiburg.de Philip Thomas (pt): philip.thomas@chilli-freiburg.de Stella Schewe (ste): schewe@chilli-freiburg.de Liliane Herzberg (herz): herzberg@chilli-freiburg.de Kulturredaktion Michaela Moser (mos): moser@chilli-freiburg.de Erika Weisser (ewei): weisser@chilli-freiburg.de Maria Schuchardt (mas): schuchardt@chilli-freiburg.de Gastautoren Ludwig Ammann, Jess Jochimsen, Florian Schroeder, Ralf Welteroth Lektorat Beate Vogt Grafik Miriam Hinze (Leitung), Julia Rumbach, Sven Weis Titel © Klara Beck (HD) cultur.zeit Titel Auguste Rodin, Der Denker, Originalfassung, 1881/82 (Detail), Bronze (Auguste Griffoul, 1896), 72 x 34 x 53 cm, MAH Musée d’art et d’histoire, Genf, © MAH, Genève, Foto: Flora Bevilacqua; Hans Arp, Torso-Garbe, 1958 (Detail), Marmor (Santelli / Malakoff, 1959), 79,5 x 37 x 28,5 cm, Privatsammlung, © 2020, ProLitteris, Zürich, Foto: Manolo Mylonas Bildagenturen iStock, pixabay, freepik Anzeigenannahme per E-Mail anzeigen@chilli-freiburg.de Anzeigenberatung Christoph Winter (Leitung), Marlene Weber-Schick, Jennifer Patrias, Maria Schuchardt, Giuliano Siegel Vertrieb Fredrik Frisch, frisch@chilli-freiburg.de Druckunterlagenschluss Jeweils am 28. des Vormonats. Es gilt die Preisliste Nr. 11 Druck & Belichtung Poppen & Ortmann KG, Freiburg Themenheft dieser Ausgabe Freiburg kauft ein Nächster Erscheinungstermin 17. Februar 2021 Ein Unternehmen der Die im Magazin enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigung und Einspeicherung in elektronische Systeme. Gleiches gilt für den Nachdruck von uns entworfener Bilder u. Anzeigen.
»WIE IM TATORT«
Die Liste der Ehrenämter von Helmut Knosp ist lang. Seit 60 Jahren leistet der 83-jährige Malermeister in Rente seinen spenden- und tatkräftigen Beitrag zur oft zitierten Vielfalt Freiburgs: Der Mundenhof verdankt ihm etwa zwei Dutzend ganz besondere Tiere, die jahrelang von ihm geleitete Rettungstauchergruppe „Pinguin“ hätte es ohne seine finanzielle Förderung schwer. Im Schwarzwaldverein ist er bis heute als Naturschutzwart aktiv, ebenso als Musikant bei den Freiburger Jagdhornbläsern. Für sein Engagement erhielt er nun das Verdienstkreuz am Bande.
Foto: © ewei
„Da ich kein Anzugträger bin, werde ich wohl wenig Gelegenheit haben, mir den Orden vorschriftsgemäß ans Revers zu heften. Aber man freut sich natürlich dennoch über diese Anerkennung. Es gefällt mir schon, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, all meine Ehrenämter zu dokumentieren und mich für das Bundesverdienstkreuz vorzuschlagen. Dabei habe ich einfach immer nur gemacht, was mir sinnvoll erschien. Und was mich interessierte, was mir Spaß machte. Über meinen Vater bin ich beispielsweise schon mein Leben lang Mitglied im Münsterbauverein. Und da ich von ihm nicht nur diese Mitgliedschaft, sondern auch unseren gutgehenden Malerbetrieb übernommen und da ich selbst viel gearbeitet habe, war ich in der Lage, mich finanziell an den verschiedenen Renovierungsarbeiten zu beteiligen. Und daraus ergaben sich dann halt auch Spenden für das Augustinermuseum, den Schlossbergturm und etliche andere Projekte. Zum Mundenhof, wo ich seit meiner Verrentung vor 18 Jahren als Aushilfs-Tierpfleger mitarbeite, kam ich über eine persönliche Freundschaft. Ich war ja ab 1962 Mitglied in der Rettungstauchergruppe Pinguin, die 1958 von der Berufsfeuerwehr gegründet und später der Kriminalpolizei unterstellt wurde. Und während meiner Zeit als Vorsitzender und Einsatzleiter der „Pinguine“, 1974 bis 1994, stieß irgendwann Peter Mattuschek zu uns. Er war damals Chef-Tierpfleger und überzeugte mich bald von der Notwendigkeit, Tierpate zu werden. Also übernahm ich die Patenschaft für die Kamelstute Aicha, wurde Mitglied im Förderverein und kaufte gleich noch ein paar ungarische Zackelschafe, deren Nachkommen ich oft auf ihrer Weide besuche. Als Aicha starb, machten wir uns auf die Suche nach einer Nachfolgerin. Und fanden und kauften sie bei einem Zirkus in Gossau in der Schweiz. Doch nachdem wir unsere „Marketa“ im Pferdeanhänger nach Freiburg gebracht hatten, mussten wir leider feststellen, dass sie nicht so willig war, wie man uns gesagt hatte. Sie trat um sich und reagierte ziemlich bissig auf Menschen, Kamele und alles, was in ihre Nähe kam. Nur zu mir war sie immer freundlich. Das sind halt so Geschichten, an die man sich gern erinnert. Nicht nur deshalb ist mir der Mundenhof besonders ans Herz gewachsen. Oft denke ich auch an meine aktive Zeit bei den Pinguinen zurück. Da waren wir viel unterwegs, haben viel erlebt. Manche Einsätze waren schon ziemlich gruselig; wir mussten ja nach Menschen suchen, die ums Leben gekommen waren. In den 40 Jahren als Rettungstaucher habe ich mehr als 100 Ertrunkene aus den Seen und Flüssen hier in der Region geborgen. Darunter waren auch drei Mordopfer, die zu verschiedenen Zeiten in hiesigen Gewässern versenkt worden waren. Wie im „Tatort“ suchten wir diese ab – und wurden fündig. So gelang es uns, drei Täter zu überführen, die dann zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden. Aber ich habe auch einige Leben gerettet. Und das macht mich besonders froh“.
Aufgezeichnet von Erika Weisser
Der Beruf des Diebes ist nicht leicht. Immerhin müssen Gauner stets bei Nacht arbeiten. Da kann es schon mal zur Übermüdung kommen. Wegen vermutlich fehlender beruflicher Krankenversicherung dürften Ärzte
HELLWACH
wohl nur widerwillig Gegenmittel verschreiben. Vielleicht um sich Abhilfe zu verschaffen, entwendete deshalb ein Ganove bei einer Tour durch das Industriegebiet Breisach kurzerhand einen Sattelauflieger mit 24 Tausend Liter Energydrink im Wert von 110.000 Euro. Müdigkeit dürfte nun kein Problem mehr sein. Nun sollte es nicht lange dauern, ehe er wieder im Wartezimmer sitzt. Dieses Mal mit einem Herzkasper. herz
MIND-MAPPING FÜR AKTIVISTEN
Foto: © tln
Wer einst auf Demos linke Politsprüche rief und sie trotz aller Eindringlichkeit vergessen hat, kann nun sein Gedächtnis auffrischen – und obendrein eine Zeitreise in die Geschichte diverser sozialer Bewegungen unternehmen: Das IZ3W, für Forschungen zu Kolonialismus, Ausbeutung und antiimperialistischem Widerstand im globalen Süden über Freiburg hinaus bekannt, hat ein Memory-Spiel mit 40 politischen Parolen entwickelt, das nicht wie üblich aus Zwillingskarten besteht, sondern aus zwei Hälften eines Ganzen, etwa „no“ .... „pasaran“. Und wer das Ergänzungsstück zu „Ho Ho“ finden will, sollte nicht an den Weihnachtsmann denken. ewei
MAGENVERSTIMMUNG
Foto: © privat
Screenshot: © pt
Kauderwelsch in Kommentarspalten ist nichts Ungewöhnliches. Einen ganz besonderen Leckerbissen servierte nun dieser Schreiber, der die Verlagsräume des chilli auf Google Maps offensichtlich für eine Dönerbude gehalten und mit knurrendem Magen wieder verlassen hat. Immerhin hat das chilli als Stadtmagazin auch Gastro und Gusto auf der Karte. Für fehlenden Service, labbrige Pommes und zu wenig Fleisch im Kebab möchten wir uns natürlich in aller Form entschuldigen. Beim „nicht guten“ Preis-Leistungs-Verhältnis widersprechen wir allerdings höflichst. pt
NACHGEWÜRZT!
MYSTERIEN-FÖRDERUNG
Es geht zu Herzen, dass die Bundesregierung in der Weihnachtszeit auch an die Soloselbständigen denkt. Als Geschenke kriegen sie nicht etwa schnöde Schlipse oder eine Autogrammkarte von Helene Fischer: 75 Prozent des Vorjahres-Umsatzes gibt es bei der sogenannten Novemberhilfe. Aber nur, wenn der Soloselbständige 80 Prozent seiner Leistungen in einem Bereich erbracht hat, der weggebrochen ist. Beispiel: Ein Techniker, der in diesem Jahr ausschließlich auf Konzerten für Licht und Ton und Strom gesorgt hat und seit März keine Einnahmen hat, soll 75 Prozent bekommen. Wenn der Techniker aber im vergangenen Jahr nur 60 Prozent seiner Einnahmen durch Konzerte bekommen hat und 40 durch anderes, geht er leer aus. Aber ist der Soloselbständige nicht deshalb Soloselbständiger, weil er eben nicht monoton ständig dasselbe machen will? Ich jedenfalls freue mich auf die deutscheste Weihnacht aller Zeiten und stelle mir das so vor: Alle Corona-Geschädigten dürfen dem Weihnachtspeter Altmaier einen Wunschzettel schreiben. Nur heißt der eben „Antragsformular auf Geschenkbereitstellung durch die Weihnachtsbewilligungsstelle des Christkindreferats II”. Punkt 1 legt fest, dass man erst mal einen Steuerberater, Rechtsanwalt oder Gemeindepfarrer kontaktieren muss. Da muss das Jesuskind zuerst seine Betriebsausgaben nachweisen, bevor es mit Gold, Weihrauch und Myrrhe beschenkt wird. Aber für jedes Wunder wird ein zinsgünstiger Kredit im Rahmen der gesetzlichen Mysterien-Förderung eingeräumt. Eine schlechte Nachricht für die Regierung allerdings ist: Wissenschaftler haben jetzt festgestellt, dass Corona gar nicht davon weggeht, dass man Geld an Konzerne verteilt. Das ist allerdings eine verdammte Überraschung – das hat doch bei der Klimakatastrophe so gut funktioniert! Darum hat sich der Bund entschieden, wissenschaftliche Fakten großzügig zu ignorieren und beschenkt große Ketten wie McDonalds und Starbucks besonders reich. Die machen nämlich genau dasselbe wie im letzten Jahr: Ungesunde Hamburger und schlechten Kaffee verkaufen. Dafür bekommen sie 75 Prozent aus dem Vorjahr. Wenn es nur halbwegs läuft und sie auch noch Glühwein außer Haus verkaufen, verdienen sie im Krisenjahr 110 Prozent. Und dieses Geld versteuern sie dann in Luxemburg, Irland oder auf den Cayman Islands. Hurra, was für ein tolles Krisenjahr! Die nächste Pandemie kann kommen! Wenn es das mitkriegt, wird das Christuskind vor Wut in die Krippe kotzen.
Foto: © Privat Florian Schroeder, Kabarettist, studierte in Freiburg, lebt in Berlin und vergibt die chilli-Schote am goldenen Band.
Kulturbürgermeister als Krisenmanager: Für Ulrich von Kirchbach ist nicht nur die erneute Schließung von Museen „rational nicht erklärbar“.
»DIE NERVEN WAREN SEHR ANGESPANNT« KULTURBÜRGERMEISTER ULRICH VON KIRCHBACH ÜBER DAS CORONA-KRISENJAHR 2020
Das Jahr 2020 war – neben dem Flüchtlingsjahr 2015 – das herausforderndste in den 18 Jahren, die Ulrich von Kirchbach in Freiburg Kultur- und Sozialbürgermeister ist. Im Gespräch mit chilli-Chefredakteur Lars Bargmann spricht der zweifache Familienvater über tiefe Wunden und harte Treffer, Hoffnungsschimmer und Rettungsschirme - und klare Forderungen an die Politik in Berlin und Stuttgart. chilli: Herr von Kirchbach, Sie haben Ende Oktober nach Verkündung des zweiten Lockdowns als Vorsitzender des Landesverbands des Deutschen Bühnenvereins an Ministerpräsident Winfried Kretschmann geschrieben, dass Theater- und Konzertsäle sichere Orte waren und gefordert, schnell wieder Regelungen mit einer Publikumsbeschränkung von 500 Personen oder 25 Prozent der Platzkapazität zu erlauben. Was hat er geantwortet?
Fotos: © Julia Rumbach von Kirchbach: Wie üblich dauert es im Staatsministerium mehrere Wochen, bis man eine Antwort bekommt. Viele kritisierten, dass gerade Museen und Theater, auch Gastronomie und Hotels, in denen professionelle Hygienekonzepte erarbeitet wurden, in den zweiten Lockdown geschickt wurden. Das waren doch sichere Orte. Das weiß man auch in Stuttgart. Gerade die Schließung von Museen ist rational nicht erklärbar, wenn auf der anderen Seite die Menschen in Straßenbahnen dicht an dicht stehen. Es braucht jetzt schnell einen Strategiewechsel, einen klaren Stufenplan, wann was wieder möglich ist. Zum Beispiel, dass Museen zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder öffnen dürfen und dann zeitgleich oder kurze Zeit später die Theater. Natürlich unter der Prämisse, dass dann die Fallzahlen stimmen. Ich denke, dass eine Inzidenz um die 50 dafür ausreichend wäre.
chilli: Welche Rolle spielt für Freiburg dabei das Impfzentrum an der Messe? von Kirchbach: Das ist psychologisch wichtig, ein Zeichen der Hoffnung. Bis Mitte des Jahres sind voraussichtlich alle geimpft, die geimpft werden wollen. Vielleicht werden wir Herdenimmunität erreichen, auf jeden Fall aber werden die Zahlen massiv nach unten gehen. Und dann feiern wir das Ende der Pandemie und auch den Höhepunkt des Stadtjubiläums mit dem Festwochenende.
chilli: Wie tief sind die Wunden, dass ausgerechnet im Jubeljahr Corona kam? von Kirchbach: Das ist schon bitter. Das Jahr hatte hervorragend angefangen, bei der Nacht der Narren Ende Februar waren noch 10.000 Leute auf dem Münsterplatz. Das kann man heute kaum glauben. Dann war’s plötzlich aus mit großen Veranstaltungen. Doch wir wollten das Jubiläum nicht sang- und klanglos beenden. Der Gemeinderat hat dann beschlossen, es bis Mitte 2021 fortzuführen. Und ich bin überzeugt, dass wir noch einiges realisieren können.
chilli: 2020 war vor allem für die vielen Menschen aus der Kultur eine existenzielle Bedrohung. Was hat die Kulturverwaltung bisher getan, um die Einrichtungen, Institutionen und Kulturschaffenden im Überlebenskampf zu unterstützen? von Kirchbach: Das war in der Tat sehr hart für alle – die Verordnungen stellten für viele faktisch ein Berufsverbot dar. Ich bin selber als Vorsitzender der Alemannischen Bühne unmittelbar tangiert. Wir bekommen keinerlei Zuschüsse, uns hat das sehr hart getroffen. Ohne Rücklagen hätten wir vielleicht sogar zum Insolvenzgericht gehen müssen. Ich habe viele schwierige Situationen und Gespräche erlebt, mit Personalräten wegen der Kurzarbeit, aber auch mit Leuten, die emotional am Ende waren. Es gab zwar gewisse Erleichterungen nach dem SGB II (Sozialgesetzbuch, d. Red.) als ultima ratio, um finanziell über die Runden zu kommen, aber psychologisch ist das für viele fatal. Deshalb haben wir versucht, mit verschiedenen Programmen ...
»PSYCHO-
LOGISCH
FATAL«
chilli: … etwa? von Kirchbach: Wir haben beispielsweise 30 Konzerte im Basler Hof ermöglicht, das Programm vom Kommunalen Kino auf der Mensawiese mit Lesungen und Filmen lief über mehrere Monate, auch die Asphalt-Sessions auf dem Parkplatz des E-Werks haben wir gefördert.
chilli: Mit Geld? von Kirchbach: Wir haben sowohl ideell als auch finanziell unterstützt.
chilli: Bund und Länder haben Milliarden in die Krise gepumpt, das Freiburger Rathaus? von Kirchbach: Wir haben uns mit circa 800.000 Euro beteiligt. Es gab 100.000 Euro Sonderzuschüsse für Musikstätten, in denen live gespielt wird, 100.000 Euro Mieterlass für städtische Häuser, viele Projektförderungen, auch falls deren Aufführungen dann nicht realisiert werden konnten. Wir haben unser Ermessen im Kulturdezernat voll ausgeschöpft. Ich bin meinen Bürgermeisterkollegen und dem Gemeinderat dankbar, dass sie da mitziehen.
chilli: Gibt es da wie bei den Bundes- und Landesprogrammen auch Trittbrettfahrer? von Kirchbach: Wir schauen da sehr genau hin. Steuergeld sollen die bekommen, die es wirklich brauchen. Bei allen Programmen gibt es vereinzelt Mitnahmeeffekte.
chilli: Wie entscheiden Sie? von Kirchbach: Wir entscheiden nach vielen Gesichtspunkten, einer ist, dass bestimmte, fürs kulturelle Leben wichtige Einrichtungen ohne schnelle Hilfen im nächsten Jahr vielleicht gar nicht mehr existieren. Immer wenn die eigenen Einnahmen die bisherigen Zuschüsse übertreffen, der Lockdown also besondere Wunden reißt, müssen wir eingreifen. Deswegen werden wir das ensemble recherche, das Barockorchester, das Jazzhaus, den Verein Jugend pro Arte und die Albert-Konzerte mit insgesamt 435.000 Euro fördern. Das Land kann also sehen, dass die Stadt tatkräftig unterstützt.
chilli: Das neu gegründete Kultur-Bündnis Freiburg hat Mitte November bei einer Kundgebung eine ganze Reihe von Forderungen aufgestellt: Etwa das Schaffen einer Stelle für einen Nachtbürgermeister zum Wiederaufbau der Nachtkultur. von Kirchbach: Man sollte die Bezeichnung Bürgermeister nicht verwässern. Ich kann mir eher einen oder eine Nachtmanagerin vorstellen, jemand, der sich
kümmert. Dieser Ball liegt nun auf dem politischen Spielfeld, aber Aktionismus bringt wenig. Die Kultur muss neben der Unterhaltung auch noch etwas Sinnstiftendes enthalten, ansonsten wird sie beliebig. Wenn man den Kulturbegriff zu weit fasst, kann die provokante Frage gestellt werden, ob ein Stripteaselokal Kultur ist?
chilli: Zumindest keine förderungswürdige. Die Stadtspitze möge private Vermieter von Probe- und Spielstätten auffordern, auf Teile von Mieten zu verzichten. von Kirchbach: Es gehört nicht zu unseren Aufgaben, Briefe an private Vermieter zu schreiben. Diese könnten auch kontraproduktiv sein.
chilli: Das Rathaus soll ein Förderprogramm zur Übernahme von Proberaummieten für in Notlage geratene Musikschaffende starten. von Kirchbach: Wir investieren gerade 1,1 Millionen in 16 neue Proberäume an der Karlsruher Straße …
chilli: … das ist das Trostpflaster fürs gescheiterte Musikhaus auf dem Güterbahnhof … von Kirchbach: Dieses Projekt ist kein Trostpflaster, sondern schlichtweg sensationell in Zeiten wie diesen. Die Musikzentrale ist aus verschiedenen Gründen gescheitert, das war überfrachtet. Diese 1,1 Millionen Euro hätten im neuen Doppelhaushalt sicher nicht mehr das Tageslicht erblickt. Unter normalen Umständen hätten Sie vielleicht recht, aber nach 30 Stunden Haushaltsklausuren, in denen der Oberbürgermeister und alle Dezernenten gekämpft haben, in denen die Nerven sehr angespannt waren, in denen jeder zurückstecken musste, in denen zunächst 100 Millionen Euro fehlten, in diesem Licht bekommt diese Investition eine ganz andere Bedeutung.
chilli: Das Kulturbündnis fordert einen Spielstättenrettungsfonds, die Stadt soll aktiv neue Nachtclubs fördern, freiwerdende Ladengeschäfte „mit kulturellem Potenzial“ selber anmieten. von Kirchbach: Man kann alles fordern. Aber wir haben über das, was wir an Rettungsschirmen jetzt schon aufgespannt haben, nichts Weiteres geplant. Der Haushalt ist auf Kante ge-
Dezernent zur Debatte: „Ich will gar nicht, dass Kultur systemrelevant ist.“
Foto: © Julia Rumbach
näht, genehmigungsfähig und fordert viele einschneidende Entscheidungen. Kulturelle Zwischennutzungen in leerstehenden Flächen zu organisieren, kann ein verfolgenswerter Ansatz sein. chilli: Auch JUPI fordert in einem Stadtvisionen-Papier, dass die Clublandschaft stärker gefördert werden soll. Mit einem Gründertopf sollen junge Unternehmer ermutigt werden, neue Locations zu eröffnen. Dafür soll die Verwaltung die Sanierung des Kleinen Hauses im Theater schieben … von Kirchbach: Damit profiliert sich JUPI und das ist auch in Ordnung. Aber die sogenannte klassische oder Hochkultur gegen eine andere Kultur auszuspielen, ist der falsche Weg. chilli: Warum sind Sie Schirmherr der neuen Aktion Kulturgesichter0761? von Kirchbach: Weil ich die Idee sehr pfiffig finde. Durch die Plakate wird Kultur sichtbar, aber auch die Menschen dahinter. Es geht auch um deren wirtschaftliche Existenz, und das muss man mal zeigen. chilli: Was machen Sie konkret? von Kirchbach: Wir stellen unter anderem 10 Tage lang 200 Plakatwände unentgeltlich zur Verfügung. chilli: Die privat gestartete Aktion United we Stream Upper Rhine, die auch vom chilli unterstützt wurde, hat in fünf Monaten mit 28 Streams 18.600 Euro für 140 Künstler eingespielt. 132 Euro für jeden. Wie bewerten Sie das Streamen? von Kirchbach: Das hatte in der Not seine Berechtigung, aber die Menschen lechzen nach Liveerlebnissen. Als die Theater wieder offen waren, war jede Veranstaltung sofort ausverkauft. Wie gesagt, wir brauchen jetzt einen Stufenplan. Warum
sollten die Museen nicht wieder öffnen? chilli: Auf 60 Millionen Euro war die Sanierung des Augustinermuseums taxiert, am Ende werden es fast 90 sein. Ist das Museum die Elbphilharmonie zu Freiburg? von Kirchbach: Mitnichten. Die ist mindestens zehn Mal so teuer geworden. Das Augustinermuseum ist nach dem Münster das zweitwichtigste denkmalgeschützte Gebäude. Für den Unterhalt sind wir ohnehin zuständig. Bei allem Ärgernis, für ein Museum mit diesem Rang lohnt sich das.
chilli: Gab es in diesem denkwürdigen Jahr auch Lichtblicke? von Kirchbach: Es gab viele Veranstaltungen, die mich berührt haben. Die Solidarität am Anfang war groß, man und frau standen zusammen. Und die Digitalisierung, etwa bei den Schulen,
hat einen Schub bekommen. chilli: Unser Kolumnist Florian Schroeder hat unlängst den Deutschen Kleinkunstpreis bekommen, nicht zuletzt, weil er gezeigt habe, dass Kultur systemrelevant ist. Ist sie das? von Kirchbach: Ich will gar nicht, dass Kultur systemrelevant ist. Kultur ist da, um Unruhe ins System zu bringen. Kultur ist sinnstiftend und demokratierelevant.
chilli: Herr von Kirchbach, vielen Dank für dieses Gespräch.