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Fußball im Stehcafé
Sechs Schreibwilde Frauen Thematisieren Freiburg Und Seine Besonderheiten In 58 Geschichten Und Gedichten
Sie sind zwischen Ende 40 und Anfang 80, sie sind in ganz unterschiedlichen beruflichen Bereichen tätig –oder waren es, vor der Rente. Was die sechs Frauen aus Freiburg und Umgebung verbindet, ist ihre Liebe zum Schreiben. Oder besser: dass sie ganz wild darauf sind, sich Geschichten auszudenken und zu Papier zu bringen. „Die Schreibwilden“ nennen sie sich – und das mit dem Papier ist wörtlich gemeint: Soeben erschienen ist ihr richtiges, gedrucktes, papiernes Buch.
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„Chikiding!“ lautet der neugierig machende Titel, den Alex Devesper, Ellen Göppl, Claudia Hellstern, Sabine Lauffer, Uta Neumann und Ilse Reichinger als Überschrift über ihre 58 Geschichten und Gedichte gewählt haben, in denen sich alles um Freiburg dreht. Die Stadt, die ihnen laut Prolog Heimatstadt oder Wahlheimat ist, die Stadt, die viele lieben, die manche auch nervt und die jedenfalls „niemanden kaltlässt“.
Was es mit „Chikiding“ auf sich hat? Das sei der „energetische Ausruf“ ihres früheren Salsalehrers gewesen, um die Leute auf Trab zu halten,
Chikiding!
58 x Freiburg von Die Schreibwilden
Verlag: tredition, 2022
260 Seiten, broschiert
Preis: 9,99 Euro sagt Ellen Göppl, die Autorin der gleichnamigen Kurzgeschichte. Darin geht es um eine sehr beleibte ältere Dame, die regelmäßig zu den „in den Nuller-Jahren legendären Salsapartys im Hauptbahnhof“ geht und dort zu einem leichtfüßigen Vögelchen wird, das schließlich einfach davonfliegt. Und als Titel für das Buch hätten sie diesen Kunstnamen gewählt, „weil wir alle etwas chikiding sind“.
Das bestätigt nicht nur der von Claudia Hellstern verfasste Text „Der beste Kaffee in ganz Freiburg“. Darin nimmt eine äußerst gestresste Frau, die täglich zwischen zwei Arbeitsstellen pendeln muss, eine Auszeit aus ihrer Routine, entknäult sich aus dem Gedränge und gönnt sich einen Espresso in einem Stehcafé in der Eisenbahnstraße. Sie lässt sich von einem Alemannisch-Sprecher in elegant tailliertem weißem Hemd in ein Gespräch verwickeln, in dem es auch um ihr Lieblings-Hass-Thema Fußball geht. Zwar kommt ihr die Stimme bekannt vor, auch sein Gesicht und die „wahrscheinlich gefärbte“ schwarze
Ponyfransenfrisur. Doch sie kommt erst viel später drauf, mit wem sie sich da stundenlang unterhalten hat.
Auf die Idee, eben diese Stadt aus unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen in ihren vielen Facetten sichtbar zu machen, kamen die Schreibwilden, die sich in Workshops am privaten Institut für kreatives Schreiben kennenlernten und seit 2016 regelmäßig austauschen, „durch das Freiburgjubiläum“: Sie hatten sich damals mit Erfolg für die Ende 2018 ausgeschriebenen städtischen Projektförderungen beworben und „wurden ein bisschen gesponsert“.
Zehn Monate hatten sie, um ihre Stücke zu schreiben – und schafften es. Die geplante Präsentation ihrer teils verrückten, teils kriminalistischen und manchmal auch schrägen und abgefahrenen Geschichten über Aktuelles und Vergangenes während einer 2020 geplanten Rundfahrt in einer historischen Straßenbahn „hat dann allerdings Corona vermasselt“. Lesungen sind für dieses Jahr geplant. Und ein neues Projekt.
Warum Ich Meine Beste Freundin T Tete
Die Schmutzige Frau Putin Im Wartezimmer
von Amanda Michalopoulou
Übersetzung:
Michaela Prinzinger
Verlag:
Bahoe Books, 2022
300 Seiten, gebunden
Preis: 24 Euro
Toxische Abhängigkeit
(ewei). Maria ist neun, als sie 1976 von Ikeja nach Athen kommt. Und sich fremd fühlt. Vor allem in der Schule stößt die Tochter griechischer, von der Regierung beauftragter „Entwicklungshelfer“ bei der Rückkehr aus Nigeria auf Misstrauen und Ablehnung; sie wird nicht nur von Mitschülern gehänselt und ausgegrenzt.
Auch in der großen neuen Wohnung fühlt sie sich beengt: Sie vermisst die kolonialen Ausmaße des Hauses in Afrika und die stets freundlichen Bediensteten. Untröstlich ist sie. Bis Anfang 1977 eine andere Außenseiterin ihre Schulbank teilt: Anna. Sie ist stolze Tochter von Widerstandskämpfern, die nun, nach dem Ende der Militärjunta, aus ihrem Pariser Exil zurückkehren. Trotz aller politischen Unterschiede im familiären Hintergrund werden die beiden zu besten Freundinnen – allerdings in einer toxischen Beziehung, in der Anna die Bestimmende ist. Bis Maria sich emanzipiert und nach Jahren gemeinsamen Engagements in den aufblühenden sozialen Bewegungen eigene Wege geht.
Am 23. Februar, bringt Amanda Michalopoulou ihren autobiografisch inspirierten Roman nach Freiburg – zum Tischgespräch an der Langen Tafel bei Suppe und Brot im Literaturhaus. Aus ihren Texten liest die Freiburger Dramatikerin Theresia Walser.
von Lou Bihl
Verlag:
Unken, 2023
260 Seiten, gebunden
Preis: 20 Euro
Panzer im Matsch von Annette Pehnt
(ewei). Unter den sechs Personen, die sich im Wartezimmer einer Ärztinnenpraxis eingefunden haben, ist kein Wladimir. Auch kein Wolodymyr. Hier sitzen drei ältere Menschen – Frau Luxner, Frau Glueck und Herr Wissmer – und drei ganz junge: Kevin, Kira und Amira.
Und doch sind Wladimir und Wolodymyr an diesem 3. März, dem achten Tag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, mit im Raum. Nicht nur, weil auf dem stummgeschalteten Fernsehbildschirm „Putins Panzer tonlos durch den Matsch rollen“. Auch das Gruppen-Geplauder dreht sich um den Krieg, die Zeitenwende und Putins Psyche, um Waffenlieferungen, Sanktionen und Diplomatie, um Irrtümer, Fehler, Stärken und Schwächen von Politikern – im Allgemeinen und im Besonderen.
Dabei kamen die sechs Patienten nur zusammen, weil alle mit ihrem Gewicht kämpfen und unter Anleitung der Ärztin diverse Pfunde loswerden wollen. Doch das Seminar für gesunde Ernährung mutiert im Laufe der zehn Sitzungen zusehends zu einem Diskussionsforum über das aktuelle politische Geschehen, wobei unterschiedliche Weltsichten diametral aufeinanderprallen. Für den scharfsinnigen Roman, der am 24. Februar erscheint, hat die Freiburger Autorin Lou Bihl gründlich recherchiert – und eine dramatischunterhaltsame Lektüre mit vielen Einsichten geschaffen.
Verlag:
Piper, 2023
176 Seiten, Hardcover
Preis: 22 Euro
In der selbst gewählten Falle
(ewei). Beim Blick aus dem Fenster ihres schicken Lofts sieht die namenlose Frau über die Dächer einer namenlosen Stadt. Sie steht oft dort. Denn sie hat nichts zu tun, sie langweilt sich, sie verlässt nicht einmal die Wohnung.
Auch nicht zum Einkaufen oder Haareschneiden: Das besorgt ihr gleichfalls namenloser Gatte, den sie durchgängig Meinmann nennt. Er ist im einst gemeinsamen Haus geblieben, als er ihr das Apartment besorgte, wo sie „endlich und ohne Alltagsbelastung ihre literarische Seite verwirklichen“ sollte. Fast täglich kommt er vorbei, füllt den Kühlschrank auf, putzt, kocht und leistet ihr nach dem Essen gelegentlich Gesellschaft im Bett.
Das klingt nach Komfortzone –wissend, dass die Autorin Annette Pehnt in Freiburg lebt, drängt sich beim Lesen die Vorstellung von Häusern in Herdermer Hanglage auf. Ist es aber nicht: Meinmann, der sie mit ihrer erschlichenen Zustimmung hierher verfrachtete, um ihr vorgeblich zur Freiheit zu verhelfen, spielt ein perfides Spiel mit Verachtung und Abhängigkeit.
Sichtbar werden ihre dadurch ausgelösten inneren Abgründe in den Episoden, die sie über eine freundliche, aber „schmutzige“ Frau schreibt, die in beklemmende Situationen gerät.
Lesung: 17. Februar, 19.30 Uhr, Literaturhaus Freiburg