Exklusion bei Luhmann und Foucault Ein organisationstheoretischer Vergleich Seminararbeit am
Institute of Organization and Administrative Science (IOU) Universität Zürich Prof. Dr. David Seidl
Autor:
Christoph Lutz
Hauptfach:
Soziologie
Nebenfach:
Management and Economics
Matrikelnummer: Adresse:
04-712-899 Reggenschwilerstrasse 28 9402 Mörschwil
E-Mail:
chrislutz@access.uzh.ch
Betreuerin:
Alexandra Lai
Abgabetermin:
30. Juni 2009
Zusammenfassung In dieser Seminarbeit werden die Systemtheorie von Niklas Luhmann und die Machttheorie von Michel Foucault einander gegenübergestellt und auf den Apsekt der Exklusion hin beleuchtet. Dabei werden verschiedenen Verständnisse von Exklusion deutlich. Bei Luhmann passt Exklusion gut in seine Organisationstheorie, bei Foucault drängt sich eher eine getrennte Betrachtung von Exklusion und Organisation auf. Trotz aller Unterschiede weisen die beiden Ansätze beim genauen Hinsehen Gemeinsamkeiten auf: So sind beide Exklusionsverständnisse historisch begründet, reich an empirischen Beschreibungen und gelegentlich widersprüchlich was die Theoriearchitektur anbelangt. Für die Organisationstheorie bietet die Integration system- und machttheoretischer Perpektiven wertvolle Anknüpfungspunkte, welche die bisherigen zum Teil etwas harmonieverliebten Herangehensweisen an Organisationsthemen kontrastieren.
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung
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2 Exklusion und Organisation in der Systemtheorie
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2.1 Drinnen und doch Draussen? Exklusion in der Systemtheorie . . . . . . . . . .
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2.2 Rausgeworfen? Exklusion und Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Exklusion und Organisation bei Foucault
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3.1 Erst ausgesperrt, dann eingesperrt: Exklusion in Foucaults Machttheorie . . .
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3.2 Foucaults Relevanz f端r die Organisationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4 Vergleich
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5 Fazit
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Literatur
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1 Einleitung Mit der Debatte um die neue Unterschicht und die wachsende Prekarisierung beträchtlicher Bevölkerungsteile in westeuropäischen Ländern (vgl. Schultheis & Schulz 2005 oder Bude & Lantermann 2006) rücken Exklusionsprozesse zunehmend ins Zentrum sozialwissenschaftlichen Interesses. Während die steigenden Arbeitslosenzahlen - bedingt durch die Wirtschaftskrise - Diskussionen, die hier ansetzen zweifellos begünstigen, gibt es in der Organisationstheorie noch Aufarbeitungsbedarf in dieser Hinsicht. In dieser Seminararbeit soll darum das Konzept Inklusion/Exklusion aus system- und machttheoretischer Perspektive betrachtet und verglichen werden. In Anbetracht der bisherigen Marginalisierung dieser Positionen in der Organisationstheorie (Miebach 2007) und mit Hinblick auf die gesellschaftliche Relevanz der Phänomene dürfte ein solcher Vergleich durchaus fruchtbar sein. Bei den systemtheoretischen Konzepten kommen Luhmanns Exklusionsbegriffe mit besonderem Fokus auf die Anwendung in Organisationen zur Sprache. Bei der machttheoretischen Perspektive konzentriere ich mich auf die Arbeiten Foucaults, die sich aus einem primär historischen Blickwinkel an organisationale Aspekte herantasten und dabei viele überraschende und berreichernde Einblicke gewähren. Für das Verständnis der auf den ersten Blick so unterschiedlichen Ansätze - hier die nüchterne, manchmal als affirmativ-konservativ verschrieene Systemtheorie, da die kritische, auf Brüche, Transformationen und Veränderungen ausgerichtete Machttheorie Foucaults - kann der Vergleich überraschende Gemeinsamkeiten bringen und das Verständnis von organisationalen Aspekten erhöhen. Meine Ausführungen gliedern sich in fünf Kapitel. Zunächst wird der Exklusionsbegriff der Systemtheorie aufgeschlüsselt. In einem ersten Schritt geschieht das in allgemeiner Form (Teil 2.1), dann mit besonderem Augenmerk auf Luhmanns Organisationstheorie (Teil 2.2). Im dritten Kapitel präsentiere ich Foucaults genealogischen Ansatz. Obwohl Foucault den Begriff der Inklusion/Exklusion nicht explizit in seinem Werk gebraucht (Stichweh 1997: 2), finden sich bei ihm doch vielfältige Anknüpfungspunkte, die das systemtheoretische Bild von Exklusion erweitern und hinterfragen. Sie werden überblicksartig vorgestellt (Teil 3.1). Im zweiten Teil bringe ich Foucaults Relevanz für die Organisationstheorie zur Sprache und versuche konkrete Anwendungsbereiche für theoriegestützte empirische Forschung aufzuzeigen (Teil 3.2). Anschliessend werden Luhmann und Foucault einander gegenübergestellt und auf spezifische Aspekte ihres Exklusionsverständnisses hin verglichen (Kapitel 4). In einem abschliessenden Fazit fasse ich die gewonnenen Erkentnisse zusammen und strebe eine vorsichtige Synthese bzw. Anreicherung untereinander an (Kapitel 5).
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2 Exklusion und Organisation in der Systemtheorie In diesem Kapitel wird das systemtheoretische Grundverständnis für die Betrachtung von Exklusion und Organisation gelegt. Grundkenntnisse der Luhmann’schen Theoriearchitektur werden dabei vorausgesetzt. Im ersten Teil werden nach der Definition von Inklusion/Exklusion die konzeptionellen Grundlagen fürs Verständnis von Exklusion erarbeitet. Im zweiten Teil kommt dann die Anwendung dieser Begriffsfassung auf organisationale Kontexte zur Sprache. 2.1 Drinnen und doch Draussen? Exklusion in der Systemtheorie
Inklusion wird bei Luhmann als Mechanismus definiert, nach dem „im Kommunikationzusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehandelt werden“ (Luhmann 1994: 20). Exklusion bezeichnet dann das Gegenteil, also die Tatsache, dass Menschen im Kommunikationszusammenhang eines Systems nicht betrachtet werden. Luhmann unterscheidet zwei Formen von Exklusion, die ich nach Kronauer (2002: 126ff.) Eklusion 1 und Exklusion 2 nennen möchte. Exklusion 1 bezieht sich dabei auf die systemtheoretische Sicht, dass in der funktional differenzierten Gesellschaft keine alles inkludierende Instanz vorhanden ist, wie dies in früheren Epochen die Familie (segmentäre Differenzierung) oder der soziale Stand (stratifikatorische Differenzierung) war. Stattdessen werden die Menschen in die verschiedenen Funktionssysteme teilinkludiert. „Um an der Kommunikation der Funktionssysteme teilhaben zu können, dürfen die Individuen nur partiell (als Personen) in sie eingebunden sein, d. h. als Träger bestimmter Rollen und gebunden durch die jeweiligen Regeln der Kommunikation. Dies ist in der Tat die Voraussetzung, dass sie in der Lage sind, die Rollen zu wechseln und an mehreren oder allen Funktionssystemen teilzunehmen“ (ebd.: 127). Im Gegensatz dazu bezeichnet Exklusion 2 das Ausgeschlossensein von Funktionssystemen, also das völlige Draussen und damit die gesellschaftliche Irrelevanz. Es geht gar nicht mehr um Ausbeutung oder Unterdrückung, sondern um das Ignoriertwerden (Luhmann 1995: 147). Besonders sichtbar wird dies in Parallelgesellschaften wie den Favelas der brasilianischen Grossstädte, aber auch in heruntergekommenen Industriequartieren der westlichen Gesellschaften. Diese zweite Form der Exklusion lässt sich als „Exklusionsbereich der
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Gesellschaft“ fassen (Nassehi 2006: 51). Sie kommt dem, was im Alltagsverständnis unter Exklusion begriffen wird, wohl näher als Exklusion 1. Für Luhmann bringen die unterschiedlichen Exklusionsverständnisse verschiedene Anwendungsgebiete mit sich, die sich v. a. räumlich fassen lassen (Luhmann 2005: 227). So birgt die vorwiegend in funktional differenzierten Gesellschaften relevante Exklusion 1 also die Exklusionsindividualität (Nassehi 2006: 51) - wenig Erklärungskraft in Entwicklungsländern, wo es oft um alles oder nichts geht. Dort erreichen dann Theorien funktionaler Differenzierung ihre Grenzen und müssen durch Totalexklusion ergänzt oder ersetzt werden. Da sich Luhmann jedoch primär mit funktional differenzierten Gesellschaften auseinandersetzt, liegt sein Augenmerk auch vornehmlich auf Exklusion 1. Er sieht v. a. drei Mechanismen, die darauf hindeuten, dass in funktional differenzierten Gesellschaften nicht mehr auf Exklusion 2, sondern eben auf Teilinklusion oder Exklusionsindividualität gesetzt wird (Luhmann 1995: 144): 1. Umformungen früherer Exklusionen in Inklusionen: Während vorher die Anormalen (Foucault 2003a) ausgessperrt wurden, geht man im Zuge der Umstellung von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung zum Einsperren über. Die Individuen sollen nicht ignoriert werden, sondern sie sollen sich bessern, indem sie sich selbst disziplinieren. 2. Philosophische Theorien ohne aussen: In den Werken von Kant, Schelling und Husserl lässt sich ein Denken festmachen, das ohne Aussen auskommt und damit die Vorstellung von Exklusion 1 bekräftigt. 3. Erfindung von Kultur: Dieser Punkt fällt in einen ähnlichen Kontext wie der vorhergehende. Dabei wird besonders die Tatsache betont, dass der Begriff der Nation sich verändert und sich von seiner alten Semantik der Herkunft löst. Mit dem Aufkommen des Nationalstaates kommt es mehr und mehr zu Vergleichen zwischen den Gesellschaften, die primär auf die kulturelle Basis abzielen. In diesen Vergleichen könne nichts ausgelassen werden, alles muss sozusagen eingeschlossen sein (Luhmann 1995: 146). Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die beiden Exklusionsformen und ihre zentralen Charakterstika (in Anlehnung an Kronauer 2002, Luhmann 1995 und 2005 sowie Nassehi 1997 und 2006).
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Differenzierungsstufe Ort Begriff Kernidee Primäre Verwendung
Exklusion 1 Funktional Entwickelte Länder Exklusionsindividualität Vollinklusion in Teilbereiche Theoretisch-reflexiv
Exklusion 2 Segmentär, Stratifikatorisch Entwicklungsländer Exklusionsbereich Teilexklusion, Vollexklusion Empirisch-praktisch, Alltagsnah
Tabelle 1: Formen der Exklusion in der Systemtheorie und ihre Merkmale 2.2 Rausgeworfen? Exklusion und Organisationen
Luhmann (2001: 390ff.) betont, dass nicht Funktionssysteme, sondern Organisationen in der modernen - also primär funktional differenzierten - Gesellschaft für Exklusion zuständig sind. So werden die meisten Personen zwar voll in die Funktionssysteme inkludiert, indem sie an deren Kommunikationszusammenhängen beteiligt sind, aber trotzdem aus den meisten Organisationen ausgeschlossen. Wenn sich psychische Systeme z. B. an Zahlungen beteiligen, werden sie ans Wirtschaftssystem gekoppelt. Gleichzeitig sind sie nur an sehr wenige Organisationen geknüpft und nur temporär durch deren Kommunikationen thematisiert. Die paradoxe Einheit der Differenz der Exklusion, wie sie sich auf der gesellschaftlichen Ebene und bei den Funktionssystemen zeigt1 , wird also im organisationalen Zusammenhang aufgelöst - und zwar genau so, „ [...] dass die Gesellschaft in ihren Funktionssystemen für Inklusion aller optiert, die Organisationen dagegen für Exklusion aller“ (ebd.: 392). Somit ist die Gesellschaft durch ihre Organisationen mit Diskriminierungsfähigkeit ausgestattet. Die universalen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, die in den Funktionssystemen breite und konsensfähige Gültigkeit geniessen, werden im organisationalen Kontext gelockert. Es kann nun Verschiedenheit markiert werden. Leider geht Lumann in seinen organisationssoziologischen Ausführungen nur sehr kurz auf den Exklusionsbegriff ein und belässt es bei diesen oben geschilderten skizzenhaften Ausführungen. Im Anschluss an diese Überlegungen greift Nassehi (2006: 60-66) die Thematik unter dem Titel „Organisationen als Exklusionsmaschinen“ auf und fügt weitere Aspekte hinzu: Zum einen ist in der Moderne eine sprunghafte Steigerung der Relevanz von Organisationen festzustellen (vgl. Jäger & Schimank 2005), die diese zur zentralen Inklusionsinstanz in die Gesellschaft werden lässt. Zum anderen können leichter als früher Karrieren fehlerfreundlich realisiert werden. Diese entwickeln sich zum primären Inklusionsmodus in Organisationen. Damit einhergehend lässt sich ein Wandel von eher „politisch 1
Kronauer (2002: 126-132) behandelt die systemtheoretischen Widersprüche ausführlich. Ihm zufolge lassen sich Exklusion 1 und Exklusion 2 in der funktional differenzierten Gesellschaft auf Gesellschaftsebene nicht vereinbaren. Mehr dazu findet sich in Kapitel 4.
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induzierten“ zu „ökonomisch programmierten Formen der Selbstbeschreibung der Gesellschaft“ beobachten (Nassehi 2006: 63). In letzteren sind Exklusionen leicht durchführbar und legitimierbar. Als prototypisches Beispiel von Exkludierten nennt Nassehi (ebd.: 64) den Langzeitarbeitslosen, der kaum mehr die Möglichkeit habe, sich an Organisationen anzudocken. Trotz Vollinklusion in die Funktionssysteme - ein Langzeitarbeitsloser wird wie alle anderen auch von Wirtschaftskommunikation erfasst, wenn er an der Supermarktkasse bezahlt und seine Rechtsfähigkeit bleibt auch ohne Job weiterhin bestehen - überwiegt das Empfinden der (organisationalen) Exklusion, wie sich in empirischen Studien feststellen lässt (vgl. Bourdieu 1997, Solga 2006, Tietze 2006)2 . Während die persönliche Erfahrung von Exklusion durch Organisationen für die meisten Individuen zur Normalität gehört, ist für die Unterprivilegierten, z. B. bei Langzeitarbeitlosen, eine Häufung solcher Situationen charakteristisch. Insgesamt lässt die Beschäftigung mit Inklusion und Exklusion auf organisationstheoretischer Ebene noch viele Fragen offen: Zum einen fehlt ein integrativer Ansatz, zum anderen braucht es Anknüpfungspunkte für die Fülle empirischer Untersuchungen, die sich mit stark divergierenden Themen am Leitbegriff der Exklusion orientieren3 . Eine breit angelegte, über die systemtheoretischen Überlegungen hinausgehende Organisationstheorie der Exklusion harrt momentan noch der Formulierung.
3 Exklusion und Organisation bei Foucault In diesem Kapitel wird Foucaults Werk auf die Exklusionsproblematik hin untersucht und auf seine Fruchtbarkeit für die Analyse von Organisationen getestet. Dabei werden konzeptionelle Grundkenntnisse der Foucault’schen Diskurs- und Machttheorie vorausgesetzt. 3.1 Erst ausgesperrt, dann eingesperrt: Exklusion in Foucaults Machttheorie
Obwohl Foucault den Exklusionsbegriff selbst nicht gebraucht hat, finden sich in seinen Werken überall Stellen, wo die Bedeutung von Exklusionssprozessen deutlich wird. In seinem Frühwerk, besonders in „Wahnsinn und Gesellschaft“, spielt das Motiv des Ausschlus2
Besonders deutlich zeigt sich das z. B. bei jugendlichen Türken in Hamburg Wilhelmsburg, denen der Eintritt in die Diskothek verweigert wird: „Die Tatsache, dass einige Türsteher Türken den Eintritt verwehren, nimmt daher in den Schilderungen der Ausgrenzung mehr Platz ein als die Unmöglichkeit für türkische Staatsbürger, sich an bundesdeutschen Kommunalwahlen beteiligen zu können“ (Tietze 2006: 156). 3 Das breite Feld reicht über vielfältige Untersuchungen zu Arbeitsmarktthemen, über ethnographische Studien in der Migrationsforschung bis hin zu grossangelegten sozialstrukturanalytischen Projekten.
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ses eine tragende Rolle. Exemplarisch werden die Leprakranken genannt, die man in der Renaissance systematisch aussonderte (Foucault 1994: 251ff.). Aber nicht nur sie, sondern ganze Bevölkerungsgruppen wurden unsichtbar gemacht. „Im 17. Jahrhundert wurden die Irren mit den Obdachlosen, Kriminellen, Alten, Müssiggängern und Kranken zusammen interniert“ (Ruffing 2008: 32), wobei mit Internierung in diesem Zusammenhang nicht Inklusion gemeint ist, sondern das Gegenteil: Wegssperren und Ausschliesen. Diese Prozesse hielten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an und nahmen mit dem Beginn der Moderne allmählich ihr Ende (Gertenbach 2008). Ein gutes Beispiel für die vormoderne Verbannungspraktik ist die Ausgliederung von Strafgefangenen nach Australien durch die Britische Krone. In Anbetracht der Tatsache, dass insgesamt 160000 Sträflinge dorthin geschafft wurden und diese Art der Strafpraxis bis 1868 anhielt, zeigt sich, dass solche (Total)Exklusionen keinesfalls nur Ausnahmefälle waren, sondern vielmehr weitumfassende Phänomene, und dass sie noch lange Nachhall fanden und vermutlich immer noch finden. In seiner frühen Schaffensphase behauptet Foucault, dass sich die Vernunft wesentlich übers Ausgeschlossene definiert und dass der Umgang mit dem Wahnsinn im Speziellen und dem Marginalisierten, Kontrollierten, Fremden im Allgemeinen - stark zur Identität der abenländischen Kultur beigetragen habe (Foucault 2007). Trotz der Wichtigkeit solcher frühen Exklusionen für den Souverän und die Vernunft, ging man allmählich zu subtileren Formen der Machtausübung über. Nicht mehr der Ausschluss und die gesellschaftliche Ächtung oder Irrelevanz, sondern der Einschluss, die Internierung, Überwachung und Kontrolle standen neu im Mittelpunkt. Es entwickelten sich Diskurse, die sich durch einen Wissensdrang auszeichneten, der gerade das Gegenteil vom vorherigen Desinteresse implizierte. Nun sollten die Anormalen (Foucault 2003a) nicht mehr mit einem möglichst gründlichen und billigen Besen weggewischt werden, sondern im Interesse der Macht begann man sich für sie zu interessieren. Man versuchte sie zu kategorisieren und ihren Verhaltensweisen auf den Grund zu gehen. Ein ganzes Netz von Diskursen, das diese vormals Ausgeschlossenen (Wahnsinnige, Perverslinge, Straftäter, Gefangene, Kranke) thematisierte, ihnen zu einem gewissen Grad eine Stimme lieh, führte nun zur Inklusion der vormals Exkludierten (Foucault 1977). Die neue Disziplinarmacht, im Gegensatz zur alten Souveränitätsmacht, liess sich auch im Strafrecht beobachten. Anstelle der vorher schnell verhängten Folter und Todesstrafe - als Sinnbild für die endgültige Exklusion - tritt nun die rational organisierte und bis aufs Kleinste durchkalkulierte Gefängnisstrafe, deren zentrales Symbol das von Jeremy Bentham entwickelte Panopticon darstellt (Foucault 2003b: 250-271, siehe Abbildung nächste Seite).
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„In these two contrasting descriptions - one of an execution, the other of a timetable - we see the contrast between traditional and disciplinary modes of domination. [...] Extremes of violence inflicted on the body speedily diminished and, in some cases, even disappeared, but were replaced, according to Foucault, by complex, subtle forms of correction and training“ (Burrell 1998: 18). Diese Umstellung vom Aussperren aufs Einsperren (Nassehi 2006: 49) bedeutet, dass es nun keinen Aussenbereich der Macht mehr gibt. Vollständige Exklusion ist so gut wie ausgeschlossen, da der Ausschluss aus einem Bereich der Gesellschaft oder aus einer Organisation automatisch den Einschluss in andere Bereiche oder Organisationen impliziert (Gertenbach 2008: 318). Aus dem Gefängnis Entlassene werden z. B. in modernen Gesellschaften durch verschiedene Betreuungs- und Resozialisierungsprogramme sofort wieder in die Gemeinschaft „eingeschlossen“.
Abbildung 1: Plan des Panopticons (Ruffing 2008: 63) Ein dritter und letzer Beitrag zur Reflexion des Exklusionsphänomens findet sich in Foucaults Auseinandersetzung mit der Sicherheitsgesellschaft, die in der wissenschaftlichen Diskussion unter dem Label der Gouvernementalität läuft. Im Zentrum steht dabei der Begriff der „Selbstregulierung der Gesellschaft“ (ebd.: 321), bei der es um die Abstimmung von Freiheit und Sicherheit geht. Im Gegensatz zur Disziplinarmacht soll das Machtgefüge nicht mehr durch rigide Kontrolle und strenge Normen gestützt werden, sondern es findet eine Verlagerung vom Individuum auf den Gesellschaftskörper statt. Subtilere Formen der
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Gefahrenerkennung und Risikobeurteilung ersetzen die strengen Disziplinartechniken und versuchen durch die Biopolitik (Foucault 1977) den (öffentlichen) Raum zu kontrollieren. Hier spiegelt sich Exklusion in den Versuchen wider, die Bevölkerung nach ihrer politischen Relevanz zu kategorisieren, beispielsweise mit der Bildung von Milieus und der gezielten Ausrichtung von Programmen auf bestimmte Zielgruppen - und damit einhergehend die Vernachlässigung anderer Segmente oder Gruppen (Opitz 2006). Die drei hier skizzierten Exklusionsverständnisse Foucaults sind jeweils mit unterschiedlichen Phasen seines Werks verknüpft und nicht so idealtypisch formuliert wie aus den Ausführungen hervorgehen mag. Als Gesamtbild lässt sich eine zunehmende Verfeinerung der Machttechniken feststellen. Die groben, am Körper ausgerichteten Formen der Bestrafung, Züchtigung und des Ausschlusses verlagerten sich zunehmend auf die Psyche des Einzelnen und schliesslich auf eine ganze Gesellschaft, auf den Volkskörper, den es möglichst rational und effizient zu verwalten galt und immer noch gilt. Die folgende Tabelle gibt einen groben Überblick über Foucaults Exkusionsbegriffe und dient mehr zur Orientierung als zur strikten Verortung.
Zeit Macht Methode Kernidee
Exklusion 1 Vormoderne (16.-18.Jhd.) Souverän Ausschluss, Verbannung Vollexklusion
Exklusion 2 Moderne (Ende 18.-20. Jhd.) Disziplinarisch Einsperren Kontrolle, Beobachtung
Exklusion 3 Postmoderne (Gegenwart) Gouvernemental Steuern, Planen (Bio)Politik
Tabelle 2: Formen der Exklusion bei Foucault und ihre Merkmale
3.2 Foucaults Relevanz für die Organisationstheorie
Obwohl Foucault sich als Historiker und Philosoph verstand, gab es in den letzen Jahren einige Versuche seine Forschung und Überlegungen für die Wirtschaftswissenschaften und insbesondere die Organisationstheorie fruchtbar zu machen (vgl. z. B. den Sammelband von McKay & Starkey 1998 oder Barratt 2004). Besonders in den Critical Management Studies (CMS) gehört sein Werk zu einer zentralen Quelle für Reflexionen und empirische Untersuchungen in den Bereichen Management, Marketing und Accounting. Die Fragestellungen, die sich in der Organisationsforschung mit Foucaults Diskurs- und Machttheorie untersuchen lassen, sind vielfältig und höchst relevant. Burrell (1998: 23ff.) nennt folgende Bereiche, in denen Foucaults Werk besonders viel Erklärungskraft aufweist: IsomorphismusÜberlegungen, totale Institutionen, neue Technologien - besonders das Aufkommen von Informationstechnologien wie dem Internet sowie die Moderne-Postmoderne Debatte. Im
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Folgenden werde ich kurz auf diese Bereiche eingehen und versuchen sie mit dem Aspekt der Exklusion in Verbindung zu bringen. Isomorphismus-Überlegungen Mit der Frage, wieso sich Organisationen so stark ähneln, beschäftigt sich insbesondere der Neoinstitutionalismus (vgl. Di Maggio & Powell 1983, Walgenbach 2006). Foucault kann hier fruchtbar angewendet werden, weil er eine dezidierte Position vertritt, die empirisch untersucht werden kann. Seine Behauptung, dass sich alle Organisationen untereinander stark gleichen (Foucault 1994) regt zur Reflexion über die Kategorisierung von Organisationen an. Was bewirkt eine so und so geartete Einteilung? Und was heisst das für die Inklusion bzw. den Ausschluss von Personen aus Organisationen? Gibt es so etwas wie Grundfähigkeiten oder -voraussetzungen, die man erfüllen muss um sich erfolgreich in Organisationen einzugliedern? Wann, wo, wie und wieso wird man ausgeschlossen? All diese Fragen und noch viele weitere werden durch Foucaults Überlegungen angeregt. Totale Institutionen Geht es um die Untersuchung totaler Institutionen (Goffman 2009) wie Gefängnisse, psychiatrische Anstalten oder Kliniken ist Foucaults Einfluss und Relevanz unbestreitbar. Da sich aber die Organisationstheorie und -forschung eher mit konventionellen Organisationen also Produktions- und Dienstleistungsbetrieben - befasst, wurde Foucault hier bisher selten berücksichtigt4 . „Die Ausblendung durch die Organisationstheorie ist dadurch erklärbar, dass diese Theorien (gemeint sind die Machttheorie Foucaults und Bourdieus Theorie symbolischer Gewalt, C. L.) die Schattenseiten der Macht klar aufzeigen, so dass die [...] erwähnte Tabuisierung des Machtthemas hier noch stärker greift“ (Miebach 2007: 90). Die Thematisierung von Machtaspekten und Kontroll- und Überwachungsmechanismen dürfte momentan dringlicher denn je sein. Damit einhergehend würden auch Exklusionsprozesse ins Blickfeld rücken, die in Organisationen täglich stattfinden: Mobbing, symbolische Gewalt, Stress durch Überwachung, Kontrolle und Leistungsdruck. Foucaults Sicht der Diszplinarmacht in totalen Institutionen würde somit bei der sorgfältigen Anwendung auf konventionelle Organisationen ein Gegengewicht und eine kritische Stimme zu den gängigen Modellen liefern und - im besten Fall - den Exkludierten eine Stimme geben. Neue Informations- und Kommunikationstechnologien Mit dem Aufkommen von Internet und Handy hat sich unsere Alltagswelt stark gewandelt. Besonders sichtbar sind diese Veränderungen am Arbeitsplatz, also in Organisationen. 4
Eine Ausnahme bilden die oben erwähnten CMS, die jedoch im disparaten Feld der Organisationstheorie eher eine Aussenseiterrolle einnehmen.
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Was bedeutet das Aufkommen von neuen Kommunikationstechnologien für die Mitarbeiter in grossen Betrieben? Werden dadurch neue Freiräume geschaffen oder zusätzliche Kontrollpunkte? Gleichen die IT-gesteurten Produktionsanlagen gar dem Panopticon und sind nicht Grossraumbüros bereits eine Art Umsetzung dieses Bentham’schen Plans? Solche Fragen können aus einer Machtperspektive und mit Bezug auf Foucault spannende und vielleicht überraschende Einblicke aufs Phänomen Organisation liefern (Burrell 1998: 26). Exklusionsphänomene und -prozesse liessen sich z. B. durch die Untersuchung der Arbeitsplatzausstattung mit neuen Technologien festmachen oder durch die Forschung in Bezug auf die unterschiedliche Nutzung des Internets in verschiedenen Bevölkerungsgruppen (vgl. Zillien 2006). Diese unter dem Stichwort des Digital Divide figurierenden primär quantitativen Herangehensweisen könnten durch qualitativ-psychologische Studien zur Kontrollund Machtausübung in Unternehmen ergänzt werden. Moderne-Postmoderne Debatte Schliesslich sei noch kurz auf die immer noch andauernde Debatte zur Postmoderne verwiesen. Hier geht es v. a. um den ideen- und dogmengeschichtlichen Aspekt der Organisationstheorie(n). Foucaults dezidiert anti-modernistischer und kritischer Kurs kann helfen, die Entwicklungen verschiedener Theorierichtungen aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Es geht dabei einerseits um die Arbeit an Begriffen, d. h. um die Frage, ob verschiedene Theoriestränge die Phänomene, die sich in der Organisationswelt abspielen, adäquat beschreiben können und wie sich diese Diskurse zeigen, entwickeln und verästeln. Andererseits soll gezeigt werden, dass es keinen kontinuierlichen, einheitlichen und richtigen Weg auf eine bessere und erleuchtete Zukunft hin gibt und dass mit Begriffen wie „Aufklärung“, „Fortschritt“ und „Rationalität“ sorgfältig umgegangen werden sollte (Burrell 1998: 26). Im Bezug auf Exklusion kann das heissen, dass genau beobachtet und „archäologisch“ dokumentiert werden muss, wie sich Organisationstheorien entwickeln, welche Linien prominent werden und welche Denkrichtungen oder Schulen verschwinden. Im Sinne von Thomas Kuhns (2007) Paradigmenwechsel könnte dann mittels inhalts- oder zitationsanalytischer Verfahren untersucht werden, welche Diskurse auf welche Art und Weise und aus welchen Gründen Legitimität und Zuspruch geniessen. Wie die obigen Ausführungen zeigen, ist das Anwendungsfeld von Foucaults Diskurs- und Machttheorie in der Organisationstheorie und -forschung sehr breit. Auch wenn man spezifisch die Exklusionthematik in den Vordergrund stellt, bleiben viele anregende Fragen, die mit verschiedenen empirischen Methoden beantwortet werden können.
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4 Vergleich In den letzten beiden Kapiteln wurden zwei in vielerlei Hinsicht verschiedene Theorien der Exklusion vorgestellt. In diesem Kapitel werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet um das Verständnis zu vertiefen. Ich möchte dies anhand verschiedener Leitunterscheidungen tun: der Temporalität, der Alltagsnähe bzw. dem Bezug zur Empirie, der Begrifflichkeit oder dem Exklusionsverständnis, der Widersprüchlichkeit und dem Organisationsbezug. • Temporalität Während Luhmanns Theorie zwar geschichtlich argumentiert und den sozialen Wandel für das Exklusionsverständnis berücksichtigt, bleiben diese Bezüge eher oberflächlich. Sein Augenmerk liegt auf der Beschreibung der Gegenwart: Wie lässt sich Exklusion in der funktional differenzierten Gesellschaft in ein polykontexturales Gesellschaftsbild einfügen, wo es keinen Mittelpunkt und keine zentrale Inklusionsinstanz (mehr) gibt? Ganz anders bei Foucault. Sein Verständnis ist ein historisches. Ihn interessieren die Brüche, Diskurse und Bedingtheiten, die sich in den Machtverhältnissen wiederfinden. Um diese Prozesse nachzuzeichnen muss in der Tiefe gegraben werden. Dementsprechend weit ausgreifend sind denn auch seine Studien, sei es zur Genese der Sexualität, sei es zum Übergang von der Exklusion durch komplettes Aussperren, zur Inklusion durch Gefängnisse und totale Institutionen. • Alltagsnähe und Bezug zur Empirie Luhmanns Überlegungen zur Exklusion zeigen sich in Anbetracht der sonstigen Abstraktionslage seiner Theorie5 überraschend lebensnah. Er scheut sich nicht konkrete gesellschaftliche Verhältnisse, z. B. die Favelas in den brasilianischen Grossstädten (Luhmann 1995: 147), herauszugreifen um seine Gedankengänge zu illustrieren. Trotzdem ist unübersehbar, dass seine Herangehensweise eine theoretisch-deskriptive ist. Foucault dagegen verbindet Empirie und Theorie, wobei er mit vielen Beispielen arbeitet und geschichtliche Transformationen somit anschaulich darstellt. Im Gegensatz zu Luhmann, der eine einheitliche, in sich relativ geschlossene Theorie sozialer Systeme formuliert hat, kann - und will - Foucault den Geschlossenheitsanspruch nicht erfüllen. Das zeigt sich in der Vielfältigkeit seines Werkes und in der Betonung 5
Sehr treffend um die fehlende Bodenhaftung zu verdeultichen, ist in diesem Zusammenhang sein berühmtes Zitat: „Diese Theorieanlage erzwingt eine Darstellung in ungwöhnlicher Abstraktionslage. Der Flug muss über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen“ (Luhmann 1984: 13).
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von Transformationen (Ruffing 2008: 7). Sowohl bei Foucault als auch bei Luhmann dürften persönliche Erfahrungen die Beschäftigung mit Ausschlussprozessen begründet oder zumindest gefördert haben. Autobiographische Bezüge zu totalen Institutionen und Exklusion finden sich bei Foucault in seiner Jugend, die nach Ruffing nicht sehr glücklich verlaufen ist: „Foucault litt als Heranwachsender unter Angstzuständen, stürzte sich hemmungslos in die Arbeit und verfiel kurzzeitig dem Alkohol. Sein Internatszimmer dekorierte er mit Abbildungen von Folterszenen“ (ebd.: 9). Luhmann wurde mit nur 15 Jahren in die deutsche Wehrmacht eingezogen und geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft, die er nicht sehr schmeichelhaft umschrieb: „Die Behandlung war gelinde gesagt nicht nach den Regeln der internationalen Konventionen“ (Horster 1997: 28). Somit dürften beide Autoren eine gewisse Prädisposition zur Beschäftigung mit der Exklusionsthematik haben, was sie verbindet. • Exklusionsverständnis Auffallend ist die starke Deckung der Verständnisse von Exklusion. Obwohl Foucault - im Gegensatz zu Luhmann - den Begriff „Exklusion“ nicht ausarbeitet und er deshalb auch zu einem gewissen Grad ins Werk hineininterpretiert ist (Gertenbach 2008: 313), sind doch die relativ präzisen Unterscheidungen offenkundig: Totalexklusionen, wie sie in der Vormoderne häufig waren, werden in der Moderne weitgehend durch Internierungen abgelöst. Die Souveränitätsmacht weicht mehr und mehr einer die Psyche kontrollierenden Disziplinarmacht. Sehr ähnliche Veränderungen finden sich bei Luhmann mit dem Übergang von Exklusion als Exklusionsbereich, der in vormodernen und primär stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften dominant war, zu Exklusionsindividualität, der zentralen Exklusionsform in funktional differenzierten Gesellschaften. Sowohl Foucault als auch Luhmann betonen, dass der Begriff der vollständigen Exklusion viel zu grob und vereinheitlichend für die Beschreibung der Gegenwart sei. Vielmehr finden sich die Gesellschaftsmitglieder - oder bei Luhmann die psychischen Systeme - in einem mehrdimensionalen Geflecht von verschiedenen (Teil)Inklusionen und (Teil)Exklusionen wieder (Stichweh 1997: 5f.), die untereinander teilweise kompensiert werden können, aber gleichzeitig nach räumlichen Kriterien segregiert sind. Überhaupt fällt der stark räumliche Bezug bei Luhmann und Foucault auf. Indem Luhmann Entwicklungsländer als Zonen von Exklusionsbereichen fasst, stimmt er mit Foucault überein, bei dem je nach Institution und Organisation die Disziplinarmacht anders wirkt. Auch hier ist die räumliche Komponente offensichtlich: es gibt kein Zentrum, von wo aus ein alles beherrschender Souverän über Inklusion und Exklusion entscheiden könnte, sondern die Macht- und Widerstandspunkte sind
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verstreut, vielfältig oder - um mit dem systemtheoretischen Vokabular zu sprechen - polykontextural. Foucault geht mit seinem dritten Exklusionsverständnis, das ich Exklusion 3 genannt habe, über Luhmann hinaus. Er thematisiert postmoderne Varianten des Ausschlusses, die den Gesellschaftskörper, also die effiziente Verwaltung und Steuerung der Bevölkerung, ins Visier nehmen. Der konkrete Bezug zum Körper kommt in der Sexualität zum Vorschein, die unsere Leben durchdringt: „Allgemein wird also der Sex am Kreuzungspunkt von ’Körper’ und ’Bevölkerung’ zur zentralen Zielscheibe für eine Macht, deren Organisation eher auf der Verwaltung des Lebens als auf der Drohung mit dem Tode beruht. [...]Wir hingegen leben in einer Gesellschaft des ’Sexes’ oder vielmehr der ’Sexualität’: die Mechanismen der Macht zielen auf den Körper, auf das Leben und seine Expansion, auf die Erhaltung, Ertüchtigung, Ermächtigung oder Nutzbarmachung der ganzen Art ab“ (Foucault 1977: 142). Luhmanns Systemtheorie kann mit ihrer strikten Trennung von sozialen, psychischen und organischen Systemen körperliche Exklusionsprozesse in der Gesellschaft nur unzureichend aufgreifen. Ihr Schwerkpunkt liegt ganz klar auf der kommunikativen Ebene, indem sie Exklusion als kommunikationstheoretisches Phänomen fasst. Foucaults Konzept der Biopolitik, das in Exklusion 3 reflektiert wird, weist deshalb den Vorteil auf, spezifischer auf die empirische Realität eingehen zu können und der Gegenwart der Postmoderne neue Facetten abzugewinnen. Die systemtheoretische Perspektive kann demgegenüber mehr leisten, wenn es um die Beschreibung von Individualisierungstendenzen geht. Der geteilte und teilinkludierte Mensch - das Dividuum statt dem sonst stets postulierten Individuum (Nassehi 1997: 125) - wird zur Leitfigur der Moderne. Diese Überlegung ist keineswegs neu und findet sich schon in Simmels Idee der Kreuzung sozialer Kreise in ähnlicher Form (vgl. Simmel 1992: 456-511), aber im Kontext der Systemtheorie kommt sie stärker und pointierter zur Geltung. So lässt sich dann genau untersuchen, wie die Personen oder Dividuen von Kommunikationssystemen thematisiert werden und was dies für die Identität des Einzelnen bedeutet. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass sich Personen nicht primär über die Zugehörigkeit und den Einschluss in Teilsysteme definieren, sondern wesentlich über Nicht-Zugehörigkeiten. „Individualität ist Exklusion“ (Nassehi 1997: 127). Die Systemtheorie hat mit ihrer Exklusionsindividualität also Erklärungsvorteile gegenüber Foucault, was die Selbstdefinition und die Identitätsbildung von Personen angeht.
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• Widersprüche In ihrer Thematisierung von Inklusion und Exklusion verstricken sich beide Theorien in Widersprüche. In der Systemtheorie passiert dies bei der gleichzeitigen Verwendung von Exklusion 1 und Exklusion 2. Denn wie können Personen in funktional differenzierten Gesellschaften - und das ist ja die Voraussetzung für Exklusion 1 vollständig in die Teilsysteme inkludiert sein, während sie gleichzeitig durch Exklusion 2 aus ihnen ausgeschlossen sind (Schroer 2004: 220)? Luhmann umgeht dieses Paradoxon und behauptet Vollinklusion sei nur ein Postulat (Kronauer 2002: 128). Wenn dies so ist, muss aber angegeben werden, wieso manche Personen ausgeschlossen werden, andere hingegen nicht. In der Systemtheorie wird nur darauf verwiesen, dass das Ausmass an Exklusion 2 durch Temporalisierung6 und Interdependenzunterbrechung7 vermindert wird. Eine Auflösung des Widerspruchs wird dadurch nicht erreicht. Erst beim Übergang auf die Organisationsebene lassen sich diese Probleme umschiffen (siehe Teil 2.2). Bei Foucault zeigt sich die Widersprüchlichkeit oder Uneinheitlichkeit eher in der Überlappung der verschiedenen Exklusionsformen. Es wird nicht deutlich, wie sie sich genau überlagern und beeinflussen. Hinzu kommen die Unklarheiten in Bezug auf den Begriffsapparat, da er nicht explizit von Exklusion spricht. Besonders in der Gouvernementalitätsdebatte wird viel posthum interpretiert, was der Konsistenz der Theorie nicht gerade förderlich ist. • Organisationsbezug Weder Foucault noch Luhmann haben eine explizite Exklusionstheorie der Organisation ausgearbeitet. Bei Letzterem beschränken sich die Ausführungen diesbezüglich auf ein paar wenige Seiten in „Organisation und Entscheidung“. Ersterer hat gar nicht den Anspruch eine solche Theorie zu formulieren (siehe Teil 3.2). Bei Luhmann drängt sich ein Organisationsbezug jedoch eher auf als bei Foucault, denn mit seiner analytischen Trennung von Gesellschaft, Organisation und Interaktionssystemen hat er - Luhmann - ein Analyseinstrument zur Verfügung, das Exklusion genau einordnen kann. Damit ist die Systemtheorie wohl eher in der Lage eine allgemeine Theorie der Inklusion/Exklusion bereitzustellen als die disparaten machttheoretischen Ansätze Foucaults. Diese bieten ihrerseits einen eher empirischen Zugang zu Organisationsthemen an, während bei Luhmann die theoretischen Potentiale grösser sind. Geht man auf die Ebene der Theorien ein, so erkennt man schnell, dass Luhmann eher 6
Dieser Begriff geht auf die Dauer von Exklusion 2 ein. Er behauptet, dass extreme Ungleichheit, wie sie in Exklusion 2 zum Ausdruck kommt, sich rasch ändert und nicht lange dauert. 7 Damit ist gemeint, dass sich die Exklusion aus einem Funktionssystem nicht auf die Inklusion/Exklusion in anderen Funktionssystemen auswirken
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auf die Beschreibung von Makrophänomenen aus ist - sein Ziel war es eine umfassende Gesellschaftstheorie aufzustellen und nicht eine Handlungstheorie -, während Foucault sich primär auf die Mikroebene konzentriert. Beide schrammen nicht komplett an der Mesoebene der Organisation vorbei, aber ihr primäres Augenmerk liegt anderswo. Wie der Vergleich gezeigt hat, weisen Luhmanns Systemtheorie und Foucaults Macht- und Diskurstheorie viele Gemeinsamkeiten auf was die Thematisierung von Exklusion anbelangt. Obwohl beide Ansätze aus unterschiedlichen Kontexten kommen, verbindet sie doch die Lust am Querdenken und ihre analytische Schärfe. Damit sind sie eine wertvolle Quelle für die Betrachtung von Exklusiondynamiken - nicht nur, aber doch auch - im organisationalen Zusammenhang.
5 Fazit Die Analyse von zwei unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Theorien hat gezeigt, dass sich für die Betrachtung von Organisationen vielfältige Blickwinkel auftun, wenn Aspekte der Exklusion mitberücksichtigt werden. Sowohl Luhmanns Systemtheorie als auch Foucaults Diskurs- und Machttheorie vermögen mit ihren Beiträgen zur Organisations- und Exklusionsthematik wertvolle Impulse für weitere theoretische Ausarbeitungen und v. a. theoriegeleite empirische Forschung in diesem Bereich zu liefern. In Bezug auf die Luhmann’sche Unterscheidung von Exklusionsindividualität und Exklusionsbereichen stellt sich z. B. die Frage, wie die beiden Konzepte miteinander verknüpft werden können und wie sie zueinander stehen. Bei Foucault bedarf insbesondere der wenig ausgearbeitete Begriff von Exklusion 3 weiterer Klärung. Die Verbindung von Aspekten beider Theorien könnte ebenfalls vorangetrieben werden, denn das Machtdefizit der Systemtheorie (Mohe & Seidl 2008: 24f.) und das Systemdefizit der Machttheorie könnten durch die gegenseitige Anreicherung zumindest teilweise behoben werden. Allerdings ginge dadurch auch die klare Fokussierung verloren, die die beiden Ansätze auszeichnet. Wenn man bedenkt, dass es sich bei der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion um „die Leitdifferenz des nächsten Jahrhunderts8 “ (Luhmann 1995: 147) handeln könnte, wird die Relevanz exklusionstheoretischer Reflexion nur allzu deutlich. Foucault und Luhmann können als hellsichtige Begleiter in diesen kontingenten Zeiten zumindest dafür sorgen, dass man sich intellektuell nicht von neuen und spannenden Gedanken exkludiert sieht. 8
Gemeint ist das 21. Jahrhundert. Luhmann schrieb den Aufsatz in den 1990er Jahren.
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