Zusammenfassung Das Leben: eine Stilfrage? (Garhammer)
Abstract Dieser Artikel, der eigentlich „Das Leben eine Stilfrage – Lebensstilforschung 100 Jahre nach Simmels „Stil des Lebens“ heisst, geht ähnlich vor, wie Ottes (2005) Beitrag. Der Autor bilanziert, dass sich die Sozialstruktur (soziale Ungleichheit, Ressourcenverteilung etc.) nicht unbedingt drastisch verändert habe. Was aber anders geworden sei, ist die Semantik, also die Wahrnehmung der Sozialstruktur. Lebensstile sind dabei keinesfalls frei schwebend, sondern besonders durchs Alter, den Beruf und die Bildung strukturiert. Mit dem Aufkommen der LSF geht eine Veränderung des Blickwinkels von Struktur in Richtung Kultur einher. Zudem beklagt Garhammer den fehlenden Rückgriff auf die Klassiker und die fehlenden theoretischen Grundlagen der Forschung. Schliesslich hält er die empirische Forschung selbst für mangelhaft. Paneldaten liegen nicht vor und Veränderungen sozialräumlicher Milieus über die Zeit hinweg sind kaum untersucht. (Musik während der Lektüre: Schubert, Sonate 566 in E-Dur, D 625 in F-Moll) UML 2 in 5 Tagen
Einleitung Der Lebensstilbegriff geniesst gerade Hochkonjunktur. Allenthalben ist von Life-Styles, gesteigerten Möglichkeiten und Optionen sowie Ästhetik und Kultur die Rede1. In der Soziologie erscheinen viele Artikel und Sammelbände. Was steckt dahinter?
Das Leben eine Stilfrage – eine Frage, die selten gestellt wird Der in der Einleitung angedeutete Boom der Thematik ist einerseits ein Grund zur Freude, andererseits aber auch Anlass zur Selbsthinterfragung der Profession. Die wichtigste Frage wird laut dem Autor in den empirischen LS-Studien gar nicht gestellt: „Was bedeutet es für die moderne Gesellschaft, wenn das Leben zu einer Stilfrage wird?“ Diese Frage verweist auf die Klassiker Simmel und Weber. Wieso ist die Stilisierung (Innenorientierung bzw. Erlebnisorientierung würde wohl Schulze sagen) seit den 1970er Jahren so wichtig geworden? Garhammer sieht den Wertewandel als entscheidenden Prozess. „Alles, was Zeitgenossen an Pflichten und Lebenslagen erleben, nehmen sie damit durch den Filter der Stilisierung ihres Lebens wahr.“ Diese kulturelle Freiheit referiert auf den Begriff der Autonomie der LS (von mir interpretiert und vom Autor nicht explizit so erwähnt).
1
Die Suppe ist die neue Lieblingsnahrung der Grossstädter
Der Lebensbereich, wo sich der LS inszenieren lässt, ist inbesondere die Freizeit und der Kultur(Geschmack) bzw. Konsumbereich. Er beschränkt sich vorwiegend auf das Privatleben jenseits der öffentlichen Sphäre.
Die Erklärungsleistung des Lebensstilkonzepts Der Autor greift auf Hartmann (1999) zurück. Die wesentlichen Ergebnisse können in der entsprechenden Zusammenfassung nachgelesen werden. Garhammer hält Hartmanns Vorgehen zwar für lobenswert, kritisiert aber „die Prämisse der Argumentation“. Sein Verständnis von Verhaltensvorhersage orientiert sich am statistischen Kriterium der Varianzaufklärung (möglichst grosses R^2). Gerade Schulze wählt einen anderen Weg und kritisert dieses nomothetische quantiativ ausgerichtete Modell der Verhaltensvorhersage. Zentrales Argument ist dabei der historisch schnelle Wandel des Gegenstandsbereichs der Soziologie: der Gesellschaft. Bei der Erklärung von Verhalten durch Lebensstile oder soziale Milieus lässt sich Zirkularität kaum vermeiden, da in die Bildung der Typologie oft Indikatoren eingehen, die später erklärt werden. Dann bespricht Garhammer die Habilitation von Werner Georg, der sich auf Daten von Conrad & Burnett (AIO-Typologie mit Namen) stützt. Problematisch findet der Autor die Unschärfe der verwendeten Methoden der Cluster- und Faktorenanalyse. Während es früher noch LS-Theorie oder zumindest Ansätze dazu gab (Bourdieu, Schulzes hermeneutisch-wissenssoziologischer Zugang, Lüdtkes individualistische Handlungstheorie), so zieht man sich heute auf die empirische Ebene zurück und beurteilt die theoretische Frage als unbeantwortbar. Fazit: die empir(ist)ische Operationalisierung von Verhaltenserklärung als erklärte Varianz kann die tieferliegenden Prozesse nicht ans Licht rücken. Ihr fehlt der theoretische Unterbau, das, was Otte (2005) mit „erklärendes Verstehen durch Lebensstile“ bezeichnete.
Neue Gemeinschaften durch Lebensstile In Anlehnung an das Klassenkonstrukt stellt sich bei Lebensstilen die Frage, ob sich die Gruppen als solche selbst erkennen und ein Bewusstsein ausbilden (LS an sich vs. LS für sich bzw. subjektive Relevanz von LS). Milieu bringt diesen Aspekt deutlicher zum Tragen als LS. Für Hitzler muss die Frage nach neuen Gemeinschaften durch LS eindeutig mit JA beantwortet werden. Beispiel: Die TechnoSzene. Allerdings handelt es sich hier mehr um eine Szene als um einen LS.
Pluralisierung der Lebensstile – ein Mythos Spricht die Erweiterung der Angebote auf dem Produktmarkt auch für eine Pluralisierung der Lebensstile? „Verbreitet in der Literatur ist der Dreisatz: grössere Pluralität = mehr Wahlmöglichkeiten = mehr Autonomie“. Hier handelt es sich jedoch – wie der Autor nicht müde wird zu erwähnen – um verschiedene (Handlungs)Ebenen. Häufig wird von der Pluralisierung der Lebensformen auf eine gesteigerte Autonomie der LS geschlossen. Für die empirische Beantwortung dieser Frage fehlt allerdings das Datenmaterial und damit das Fundament. Eine Lösung des Problems bieten rekonstruktive Fragen. So können Kohorten- und Alterseffekte (Lebenszykluseffekte) getrennt
werden. Laut Hartmann vollziehen sich Kohorten- und Alterseffekte nebeneinander. Die Replikation von Schulzes Schemata durch Hartmann fürs Jahr 1975 spricht eher gegen die Pluralisierungsthese.
Lebensstil und Klassenlage Zunächst ein Rückblick auf Bourdieu. Man ist sich in der Forschung einig, ihn als Klassiker zu behandeln, hält seine Kernthesen aber zugleich für überholt. Gegen die Snob-Hypothese und den höheren Wert kultureller Kenntnisse der herrschenden Klasse wurde die Omnivores-These vorgebracht. Siehe die diesbezügliche Diskussion in meiner Liz. Weiterhin gilt aber die starke Hochkulturabhängigkeit von der Bildung. „Insgesamt liegt zu Bourdieus These der Statusreproduktion durch soziale Schliessung über statuskonforme LS auch heute keine systematische Forschung vor.“
Armut und andere blinde Flecken der LSF Die deutsche Position in der sozialen Ungleichheitsdebatte zeichnet sich durch eine Relativierung der Rolle von Einkommen aus. Dafür spricht der Begriff der horizontalen Ungleichheit. Damit das Leben überhaupt stilisiert werden kann, braucht es ein gewisses Entwicklungsniveau samt WFS. Hölscher und Bourdieu sehen unter(st)e Schichten von der Stilisierung des Lebens weitgehend ausgenommen. Die blinden Flecken der meisten LS-Typologien liegen demnach auch bei den unteren Schichten und bei Geschlechtsfragen.
Moderne Lebensführung – Suche nach Glück und Identität Schulze spricht von Innenorientierung und Erlebnisorientierung. In den 1990er werden durch Globalisierung und Deregulierung für breite Bevölkerungsschichten Exklusionsthematiken in den Vordergrund gerückt. „Alter und Bildung treten deutlich treten deutlich als stilgenerierende Faktoren hervor.“ Eine Funktion von LS liegt in der Identitätssicherung, wie Lüdtke paradigmatisch herausstreicht. „Die Beantwortung der Frage, wie Lebensführung als Identitätsarbeit konkret aussieht, wird konsequent nicht eingelöst.“
Die Datengrundlage Inwiefern greifen Daten nach Werten und Einstellungen die Lebenspraxis wirklich ab? Instrumente und Fragestellungen der Zeitbudgetforschung wären deshalb für die LSF nützlich.
Lebensstile – ein soziales Konstrukt der Werbewirtschaft? Die immer neuen und genaueren Typologien sind auch ein methodisches Artefakt (siehe die 16 gfk Eurostyles). Marktforscher neigen eher zu feinen Typologien, Soziologen dagegen eher zu gröberen. „Überzeugen ist Hölschers Hinweis auf Lifestyle-Typen als soziales Konstrukt der Werbewirtschaft.“
Fazit Hier fasst Garhammer die wichtigsten Überlegungen nochmals zusammen. Georg sagt, nicht die effektiven Ungleichheiten, sondern eher die Semantik habe sich gewandelt. Konsum und Freizeit haben eine Auwertung erlebt. Eine Besprechung und Referenz auf die Klassiker könnte das Feld befruchten.