Zusammenfassung Der Stil des Lebens (Simmel)
Abstract Georg Simmel beschreibt in diesem klassischen Beitrag das Auseinanderklaffen von subjektiver und objektiver Kultur. Eingebettet ist der Text in die „Philosophie des Geldes“. Dementsprechend spielen Gedanken zur Rolle des Geldes in der Gesellschaft und zum Warencharakter eine wichtige Rolle. Im zweiten Teil handelt Simmel die Unterschiede zwischen subjektiver und objektiver Kultur ab. Der zentrale Prozess, der zur Trennung der beiden Bereiche und damit zur Versachlichung (Kommodifizierung) und Entfremdung führt, ist die gesteigerte Arbeitsteilung. Waren Handwerker (und z. T. auch Künstler) früher für den ganzen Schaffensprozess ihrer Produkte verantwortlich und standen in engem Kontakt mit ihrer Kundschaft, so entfallen heute viele Interaktionen auf Zwischenhändler und die Spezialisierung sorgt für eine Entfernung von den Produkten der Arbeit. Drei Prozesse sind für die angesprochene – für den neuen Lebensstil so charakteristische – Trennung von objektiver und subjektiver Kultur verantwortlich: das Nebeneinander vieler Objekte, das Nacheinander der Moden und die Pluralität von Stilen (mehrere Stilen und Schulen machen es schwer einen Bezug zu Objekten zu entwickeln). Der Artikel lässt sich grob in folgende Passagen unterteilen: Die Rolle von Geld in der Gesellschaft und Intellektualität (591-616) Der Begriff der Kultur, Kulturgegenstände und Versachlichung (617-622), erkenntnistheoretische Herleitung der objektiven vs. subjektiven Kultur (623-627), objektive vs. subjektive Kultur (628-654), mannigfaltige innere Kulturerscheinungen (655-...) (Musik während der Lektüre: Beethoven, Sinfonie 6 und 8)
Die Rolle von Geld in der Gesellschaft und Intellektualität (Bildung) Geld ist vom Mittel zum Zweck geworden. Es hat den Handel angestiftet und sorgt für eine Dominanz des rational-kalkulierenden Motivs im Gegensatz zum emotionalen. Damit einher geht eine gesteigerte Relevanz von Intellektuelalität und Bildung. „Wie der, der das Geld hat, dem überlegen ist, der die Ware hat, so besitzt der intellektuelle Mensch als solcher eine gewisse Macht gegenüber dem, der mehr im Gefühle und Impulse lebt.“ Nicht umsonst hat Comte die Bankiers in seinem Zukunftsstaat die Spitze der weltlichen Regierung zugeordnet. Intellektuelles Wissen ist laut Simmel im Vergleich zu anderen Wissensarten ein Gemeingut: Sein Wert wird nicht geschmälert, wenn es viele wissen. Simmel hinterfragt die scheinbare Gleichheit, mit dem sich der Bildungsstoff scheinbar jedem bietet. Damit bläst er ins gleiches Horn wie die Theoretiker und Empiriker der Bildungsungleicheit heute. „...so bringt die allgemeine Erhöhung der Erkenntnisniveaus durchaus keine allgemeine Nivellierung, sondern das Gegenteil davon hervor.“ (-> siehe Wissenskluft und Digital Divide) Geld ist indifferent gegenüber seiner Verwendung, d. h. es kann für alle möglichen Zwecke aufgewendet werden. „Alle drei: das Recht, die Intellektualität, das Geld, sind durch die Gleichgültigkeit gegen individuelle Eigenheit charakterisiert.“ Ähnlich wie das Geld sich ab einer bestimmten Höhe quasi von selbst vermehrt, so lassen sich auch die Bildung und die kulturellen Erkenntnisse ab einer gewissen Schwelle viel leichter vermehren.
Den Geist der modernen Zeit, die dominante Lebensauffassung bezeichnet Simmel als rechnenden. „Ihr Erkenntnisideal ist, die Welt als ein grosses Rechenexempel zu begreifen, die Vorgänge und qualitativen Bestimmtheiten der Dinge in einem System von Zahlen aufzufangen...“ Duch das Geld ist eine viel grössere Quantifizierbarkeit und genauere Messbarkeit der Alltagswelt gegeben, als dies früher der Fall war. „Es ist aber offenbar, dass, was hier das Handelsgeschäft überhaupt für die Präzisierung der Werte und Ansprüche leistet, durch Geld in sehr viel schärferer und exakterer Weise geleistet werden kann.“
Der Begriff der Kultur, Kulturgegenstände und Versachlichung Simmel behandelt den Begriff der Kultur. Als Kontrastfolie dient (wie überraschend) derjenige der Natur. Ein erster wichtiger Satz: „Indem wir die Dinge kultivieren, d. h. ihr Wertmass über das durch ihren natürlichen Mechanismus uns geleistete hinaus steigern, kultivieren wir uns selbst.“ Somit handelt es sich bei Kultur um einen Werterhöhungsprozess. Mit der Zeit, d. h. von früher bis heute, werden die Gege(be)nstände immer kultivierter. „Aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen.“ Somit lässt sich eine Trennung von subjektiver und objektiver Kultur vermerken. Ein Beispiel dafür sind die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die sich keineswegs allzu sehr verfeinert haben. In der Bildung sieht Simmel diesen Übergang bzw. das Dominantwerden der objektiven über die subjektive Kultur in der Vermittlung von Sachkenntnissen statt persönlicher Charakterbildung manifestiert.
Erkenntnistheoretische Herleitung der objektiven vs. subjektiven Kultur Dieser Abschnitt ist ätzend und glaub’s nicht unbedingt notwendig, zu besprechen. Er fängt mit einem Rückgriff auf Platon an und behandelt dann so ähnliche Sachen wie im Exkurs „Wie ist Gesellschaft möglich“ aus Soziologie. Es geht also um Wahrnehmen, zusammensetzen, Vorstellungen vs. Realität, Zugänglichkeit, Konstruktion, Ideen (Platons Ideenbegriff, nicht der umgangssprachliche etc.), kurz: um Philosophie.
Die objektive vs. die subjektive Kultur Ab Seite 627 wird’s wieder besser verständlich. Denn hier kommt Simmel auf den Boden der Tatsachen zurück und beginnt die objektive Kultur aufzudröseln. Sie ist im wesentlichen die Kultur der Gegenstände. Nur ein gewisser Teil der Dinge – der objektiven Kultur – kann durch Aneignung zur subjektiven Kultur zugehörig werden. Wichtiger Satz: „Der ganze Stil des Lebens einer Gemeinschaft hängt von dem Verhältnis ab, in dem die objektiv gewordene Kultur zu der Kultur der Subjekte steht.“ Mit zunehmender Arbeitsteilung drängt sich die Objektivität mehr und mehr auf. „Die Erweiterung der Konsumtion aber hängt an dem Wachsen der objektiven Kultur, denn je sachlicher, unpersönlicher ein Produkt ist, für desto mehr Menschen ist es geeignet.“ Auch die Kommodifizierung – also das „Ware-Werden der Arbeit“, wie es Simmel bezeichnet, trägt zu diesem Objektivierungsprozess bei. Früher hatten die Arbeiter und Handwerker noch einen persönlichen
Bezug zu ihren Produkten, waren über den ganzen Produktionsprozess hinweg an deren Entstehung beteiligt. Heute – zu Simmels Zeiten – ist die industrielle Produktion versachlicht und entpersönlicht. „Den jetzigen Zustand in der Wissenschaft kann man als eine Trennung des Arbeiters von seinen Arbeitsmitteln im weiteren Sinn bezeichnen, und jedenfalls in dem hier fraglichen.“ Auch beim Konsumenten findet eine Entfernung von den Dingen statt. Er hat kein persönliches Verhältnis zu seiner Ware mehr. Indem mehr und mehr Zwischeninstanzen zwischen Konsumenten und Produzenten treten anonymisiert sich dieses Verhältnis weiter. Das Auseinanderklaffen von subjektiver und objektiver Kultur zeigt sich an ganz konkreten Punkten, so z. B. in der Wohnungseinrichtung. Ein „Verwachsen“ der Persönlichkeiten mit den Gegenständen, wie es für die Grosseltern charakteristisch war, ist heute nur noch selten zu beobachten. Als nächstes behandelt Simmel die Dimensionen, die für das Auseinanderklaffen von subjektiver und objektiver Kultur verantwortlich sind: Vielheit der Gegenstände, Nacheinander bzw. Wechsel der Moden und schliesslich die Vielheit der Stile. Ad „Vielheit der Gegenstände“: Das sollte klar sein. Weil wir heute mit tausenden von Gegenständen umgeben sind, haben die einzelnen Stücke nicht mehr die selbe Bedeutung wie es früher bei nur wenigen Sachen der Fall war. Die Gegenstände sind uns gleichgültig, da sie ja eh leicht ersetzbar sind. „Die Kulturobjekte erwachsen immer mehr zu einer in sich zusammenhängenden Welt, die an immer wenigeren Punkten auf die subjektive Seele mit ihrem Wollen und Fühlen hinuntergreift... Dinge und Menschen sind auseinandergetreten.“ Ad „Nacheinander bzw. Wechsel der Mode“: Auch das sollte klar sein. Durch die hohe Fluktuation und den schnellen Wechsel der Moden ist es schwer sich an Gegenstände zu gewöhnen. Ständig wechselt das Neue das Alte aus. Simmel erklärt die Mode durch die sozialen Klassen (ähnlich wie das Bourdieu und Veblen tun: die hohen Klassen versuchen sich gegen die tiefen abzugrenzen und diese versuchen die hohen zu imitieren, wobein immer neue Distinktionsspiele oder eben Moden entstehen). „Unruhige, nach Abwechslung drängende Klassen und Individuen finden in der Mode, der Wechsel- und Gegensatzform des Lebens, das Tempo ihrer eigenen psychischen Bewegungen wieder.“ Ad „Vielheit der Stile“: Dies ist meiner Meinung nach der schwammigste der drei Punkte, deckt er sich doch zu einem gewissen Grad mit Punkt 1. Mit Stilen meint Simmel Kunstrichtungen und – schulen. „Dies ist also ungefähr der Umkreis, in dem Arbeitsteilung und Spezialisation, persönlichen wie sachlichen Sinnes, den grossen Objektivationsprozess der modernsten Kultur tragen.“ Anschliessend beschreibt der Autor das Auseinanderklaffen von objektiver und subjektiver Kultur für verschiedene Lebensbereiche: die Familie (bzw. die Ehe), das Recht, die Religion. Auf Seite 649 kommt er auf den Begriff des Stils zu sprechen: dieser hat die Aufgabe verschiedene Inhalte formgleich auszudrücken. Sodann verknüpft er die Aussagen zu seiner Kultursoziologie mit denen seiner Wirtschaftssoziologie, d. h. er bringt Geld und Kultur zusammen. „Durch diese Vermittlung knüpft sich also der Stil des Lebens, insoweit er von dem Verhältnis zwischen objektiver und subjektiver Kultur abhängig ist, an den Geldverkehr.“ Das Geld funktioniert als Skelett – als „Gelenksystem“ – der objektiven Kultur. „Im grossen und ganzen wird das Geld wohl am wirksamsten an denjenigen Seiten unseres Lebens, deren Stil durch das Übergewicht der objektiven Kultur über die subjektive bestimmt wird.“
Mannigfaltige innere Kulturerscheinungen Zunächst geht Simmel auf die Wirkung der Kunst auf uns Individuen aus: Kunst schafft sowohl Nähe als auch Distanz. Sie spannt einen Schleier um uns, „gleich dem feinen bläulichen Duft, der sich um ferne Berge legt.“ Die Kunst bringt uns den Dingen näher, indem sie Distanz zu ihnen schafft. In diesem Zusammenhang behandelt der Autor auch das Phänomen des negativen Geschmacks, also die Distinktion. Was die Wissenschaft und deren Distanzen anbelangt, konstatiert er: „Wir können das also zunächst so bezeichnen, dass die Entwicklung auf eine Überwindung der Distanz in relativ äusserlicher Hinsicht auf eine Vergrösserung derselben in innerlicher Hinsicht ginge.“ Die Beziehungen entwickeln sich so, dass man den nächsten Kreisen ferner rückt, den ferneren aber näher. Das Geld spielt in dieser Beziehung die Rolle des Distanzüberbrückers. Auf der anderen Seite trägt es auch zur Lockerung der engen Beziehungen bei. „Auf diese Weise entsteht wie gesagt eine innere Schranke zwischen den Menschen, die aber allein die moderne Lebensform möglich macht.“ (siehe dazu auch die Grossstädte und das Geistesleben) Das Geld schiebt sich nicht nur zwischen Mensch und Mensch, sondern auch zwischen Mensch und Ware. Mit dem Kreditverkehr thematisiert Simmel eine besondere Art des Geldverkehrs (668 ff.). Kreditzahlung erscheint vornehmer als Barzahlung, weil er Vertrauen voraussetzt. Diese wiederum entspricht dem Wesen der Vornehmheit, das sich nicht ständig fürchten muss betrogen zu werden (ostentative Haltung des Reichtums). Die Barzahlung hat dagegen etwas Kleinbürgerliches Miefiges an sich. Ferner übt der Kredit ebenfalls eine distanzierende Wirkung auf den LS aus. „Aber die Fäden, an denen die Technik die Kräfte und Stoffe der Natur in unser Leben hineinzieht, sind ebensoviele Fesseln, die uns binden und uns unendlich Vieles unentbehrlich machen, was doch für die Hauptsache des Lebens gar sehr entbehrt werden könnte... Wie wir einerseits die Sklaven des Produktionsprozesses geworden sind, so andererseits die Sklven der Produkte.“ Anschliessend kommt Simmel auf eine zweite Stilbestimmtheit des Lebens zu sprechen (Was war nochmal die erste? So im Nachhinein ist das noch schwer nachzukonstruieren... ich würde jetzt mal spontan auf die Distanz tippen, bin mir dessen aber überhaupt nicht sicher): den Rhythmus, d. h. wie schnell und regelmässig die Lebensinhalte auftreten. In diesem Kontext lässt sich auch von Wellenbewegungen oder der Dichotomie von Regelmässigkeit vs. Unregelmässigkeit reden. Routine erlaubt uns zuerst mal Kraftersparnis. Was die Grundbedürfnisse, wie Nahrung und Behausung anghet, hat sich der Mensch weitgehend von der Natur unabhängig gemacht, so dass er nicht mehr an deren Rhythmen gebunden ist. Die Kultur hat unsere natürlichen Regungen schon längst überformt. Am Beispiel der Musik versucht Simmel dies zu verdeutlichen. In primitiven Gesellschaften war das ryhthmische Element (trotz Disharmonien, Lärm etc.) das herausstechendste, heute hat es sich aber fast ausgeebnet. Der Begriff des Rhythmus lässt sich auf den der Symmetrie übertragen. „Die Natur ist nicht so symmetrisch wie die Seele es fordert, und die Seele nicht so symmetrisch, wie die Natur es fordert.“ Geordnetheit und Regelmässigkeit der Aktivitäten und Verhaltensweisen, z. B. der Mahlzeiten, findet sich auf hoher, aber nicht auf höchster gesellschaftlicher Stufe und Entwicklung. „Der Naturmensch arbeitet genau so unregelmässig, wie er isst.“ Auf den Lebensstil gewendet unterscheidet Simmel zwei grundlegende Formen: einen „RhythmischSymmetrischen“ und einen „Individualistisch-Spontanen“. Beide Formen haben ihren Reiz und finden historische Beispiele. „Die Totalität des Ganzen steht in einem ewigen Kampfe gegen die Totalität des Individuums.“ Erneut wird das Geld ins Spiel gebracht. Es sei bezeichnend, dass man es flüssig nennt.
Und „gerade dieses an sich wesenlose Wesen des Geldes ermöglicht, dass es sich auch der Systematik und Rhythmik des Lebens leihe, wo das Entwicklungsstadium der Verhältnisse oder die Tendenz der Persönlichkeit darauf hindrängt.“ Als dritte Wesensart neben der Rhythmik und der anderen (Distanz?) kommt das Tempo hinzu. Geld und dessen Vermehrung steigert für gewöhnlich das Lebenstempo (z. B. durch Mobilität, Anm. von mir selbst). Mit dem Begriff der „Schwungkraft“ kann diese Temposteigerung passend umschrieben werden. Ein Grund – oder der Grund schlechthin – wieso das Geld das Lebenstempo steigert, liegt auch darin, dass es Spaltungen und Unterschiede schafft. „Das Geld hat eine neue Gleichung zwischen den Dingen gestiftet... Ihr Geldwert nun schafft eine Gleichung und Vergleichung zwischen ihnen, die keineswegs eine stetige Funktion der andern, aber doch immer der Ausdruck irgend welcher, aus jenen entstandener bzw. kombinierter Wertgedanken ist.“