Hat die Lebensstilforschung eine Zukunft?

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Zusammenfassung Hat die Lebensstilforschung eine Zukunft + Sozialstrukturanalyse mit Lebensstilen (Otte)

Abstract Im Aufsatz steht gerafft, was im Buch ausführlich dargelegt wird: Wie sieht es mit der Lebensstilforschung derzeit aus? Welche Erklärungsrelevanz besitzt dieses Paradigma und was sind seine Defizite? Wie lässt sich die method(olog)ische Zerstreutheit der Typologien auf einen Nennerbringen? Wo liegt zukünftiger Forschungsbedarf und was sind die Lücken? Wie sieht es mit dem Theoriebezug aus? Diese und noch viel mehr Fragen werden in den hier besprochenen Texten diskutiert

Hat die Lebensstilforschung eine Zukunft? Die geraffte Antwort auf diese Frage lautet nach Otte: „Ja, aber...“ Diese „aber“ enthält genaue Spezifikationen, die sich deutlich vom bisher eingeschlagenen Weg unterscheiden und diesem durchaus kritisch gegenüberstehen. Zunächst stellt der Autor fest, dass der Lebensstilforschung in den bisherigen Bilanzen ein eher negatives Zeugnis ausgestellt wurde. So wird die Deutschlandzentriertheit genauso herausgestrichen, wie die Vielzahl und Unübersichtlichkeit der Typologien. Schliesslich sei der Lebensstilforschung die Ungleichheit abhanden gekommen (Vernachlässigung der materiellen Ressourcen und Verwischung sozialer Ungleichheit). In der Auseinandersetzung mit zwei Bilanzierungen (Meyer, Hermann) teilt Otte deren Aussagen nicht vollständig. Er kritisiert seinerseits Teile der Bilanzierungen und möchte ihnen seinen eigenen Bilanzierungsversuch gegenüberstellen. Bei Meyer – der dem Konzept des LS kritisch gegenübersteht und es allenfalls ergänzend zu bestehenden sozialstrukturellen Grössen als fruchtbar erachtet – werde die Frage, ob so ein zusätzlicher Rückgriff auf Stildimensionen (neben den „klassischen“ Ungleichheitsindikatoren) überhaupt sinnvoll sei, nicht (oder nur unzureichend?) beantwortet. Allerdings widmet sich Hermann mit seinem Bilanzierungsversuch dieser Frage und kommt zu gemischten Ergebnissen. Für manche Teilbereiche oder Fragen ist das LS-Konzept tauglich, indem es ein Plus an Erklärungskraft bereitstellt, in anderen dagegen nicht. Auch hier hat Otte einiges zu kritisieren. Die strenge Abhängigkeit des Lebensstils von der sozialen Lage sei keineswegs unhinterfragt gegeben. Indem einige Autoren eine Autonomie des LS postulieren, wird genau dieses Kriterium aufgeweicht. Weiter sieht er eine variablensoziologische Verengung und eine Vernachlässigung multivariater Ergebnisse bei Hermann, so dass auch diese Bilanz unbefriedigend ausfallen muss. Was folgt, ist die eigene Bilanzierung, in der auch Otte seiner Skepsis gegenüber der LS-Forschung genügend Raum lässt. Die weak points bzw. offenen Fragen sind in 9 Punkte gegliedert: 1) Subjektive Relevanz von Lebensstilen: Hier geht es um die Frage, ob die Akteure die LS auch als solche wahrnehmen und ob sie in ihrem Alltagsleben bedeutsam sind. Auch die Frage, ob


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in der Zeit eine Aufwertung der LS-Dimension zu konstatieren ist (Buchmann & Eisner), figuriert hier. Hinweise für die subjektive Releveanz von LS liegen nur kursorisch vor. „Trotz dieser Hinweise bleibt offen, ob LS als Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien relevanter geworden sind oder sogar Strukturdominanz erlangt haben.“ Zudem nehmen sich die Leute weiterhin in vertikalen Dimensionen wahr und verorten sich so. Individuelle Gestaltbarkeit der Subjektivität: Dieser Punkt zielt auf die Frage ab, inwiefern LS gewählt werden können oder strukturdeterminiert sind. Da das LS-Paradigma die Wahl- und Gestaltungsfreiheit der Ressourceninvestition betont, sollte eher ersteres zutreffen (Autonomie des LS). Hier kommt es ein bisschen auf die Forschungsperspektive drauf an. Qualitative Studien kommen zu anderen Ergebnissen als quantitative. Mit der Referenz auf Schulze geht Otte auf die Widersprüchlichkeit dieser Frage ein: Obwohl Schulze relativ klare Gruppen (Milieus) bildet, die sozialstrukturell verortet sind, betont er die Unabhängigkeit des Geschmacks. Insgesamt steht Otte der Entstrukturierungsthese etwas skeptisch gegenüber und sieht eine fehlende empirische Evidenz. Zudem weisen viele LS- und Milieu-Typologien eine vertikale Strukturdimension auf (z. B. SINUS). Auch die These der Entökonomisierung kann nicht bewiesen werden. Hier spielen Forschungslogiken eine Rolle: häufig wird nach Konsumgütern gefragt, die nicht teuer sind, so dass eine Entökonomisierung plausibler erscheint als bei einem Fragemix oder bei der Integration teurer Güter. „Nichtsdestotrotz gibt es zahlreiche Hinweise, dass LS heute als primär alters- und bildungsstrukturiert anzusehen sind.“ In der Zusammenfassung sind LS also irgendwo in der Mitte zwischen freier Gestaltbarkeit und Strukturdeterminiertheit. Eigenständige Erklärungskraft von Lebensstilen: Wie viel Varianz des Verhaltens können LS erklären? In welchen Bereichen sind sie stark, wo schwach? Hier wird die These vertreten, dass LS nicht als eigenständiger Approach und monopolistische Erklärungsdimension gewählt werden sollen, sonder als Ergänzung. Es gibt nur wenige Studien, die die Erklärungskraft von LS quantitativ und vergleichend untersuchen (Hartmann 1999). Wie die Tabelle zeigt, sind LS und Milieus schwach erklärungskräftig (2-8% Varianzaufklärung) und je nach Feld und Frage unterschiedlich gut geeignet. Am besten ist die Eignung für die Frage nach der Arbeitnehmerorientierung und für die Einstellung zur Leistungsgerechtigkeit. Bei der Parteipräferenz (Sonntagsfrage) ist die Milieu-Variable gegenüber der sozialen Klasse überlegen. Je nach Partei gestaltet sich die Prognosekraft der Milieus aber unterschiedlich hoch. Gut geeignet sind sie für die Grünen und für die SPD. Je nach Bereich sind Klasse oder Milieu erklärungskräftiger: Im Bereich Wirtschaft/Arbeit erstere, im Bereich Freizeit/Kultur letztere. Bei einer Studie zur Gewaltbereitschaft Jugendlicher erweist sich der LS (Milieu) auch unter Kontrolle als erklärungskräftig. Allerdings deutet die vergleichsweise geringe Erklärungsleistung eher auf eine ergänzende Rolle der LS als u. V. hin. Vergemeinschaftung durch Lebensstile: Inwiefern bilden LS-Gruppen einheitliche Akteure? Wie orientieren sich Menschen mit gleichem LS aneinander? In der Theorie wird eine solche Wirkung zumindest postuliert (erhöhte Binnenkommunikation). Allerdings liegen zur Homogenität sozialer Netzwerke nach LS nur wenige Studien vor (Klocke & Lück 2001, Lutz 2009;). Somit bleibt die relative Bedeutung von LS als Vergemeinschaftungsinstanz ungeklärt. Konfliktpotential von LS: Nach Bourdieu sind LS Anlass für Konflikte, zumindest latenter Art. Als Beispiel manifester Konflikte, die mit unterschiedlichen LS einhergehen, können Prozesse der Gentrifizierung gesehen werden. Erklärendes Verstehen durch Lebensstiltypologien: Bei diesem Punkt geht es um eine ganzheitliche Einordnung des LS-Konzepts in eine umfassendere (Handlungs)Theorie. Mit


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dem Holismus-Anspruch der LS-Forschung ist ein strittiges Stichwort gegeben. Hier steht also nicht die praktisch-empirische Erklärungskraft im Vordergrund, sondern das theoretische Erklärungspotential (Wieso können LS erklären, was sie erklären? Welche Logiken tragen dazu bei, dass sie gerade in diesem Bereich erklärungskräftig sind?). Hier arbeitet Otte mit einem Beispiel (Sinus-Milieus für Parteipräferenzen). Insgesamt konnte der Anspruch theoretischer Erklärungen nur eingeschränkt eingelöst werden (gute Beispiele vorbehalten: Bourdieu, Vester und Konsorten). Pluralisierung von Lebensstilen: Haben sich die Lebensstile in den letzten Jahren tatsächlich pluralisiert? Wie sieht es mit dem sozialen Wandel aus? Eine Pluralisierung der Lebensformen ist festzustellen. Auch auf dem Gütermarkt hat eine Produkterweiterung stattgefunden. Daraus lässt sich aber nicht automatisch auf die Pluralisierung der LS schliessen, obwohl im Bewusstsein vieler Leute so ein Prozess durchaus ablaufen dürfte. Stabilität von Lebensstilen im Lebensverlauf: Wie stabil sind LS im Lebensverlauf? Die verbreitete Annahme ist, dass LS relativ stabil sind und sich nicht zu schnell ändern. So entwickelt sich ein hochkultureller Geschmack durch lebenslanges Lernen und scheinen einen Kultivierungsprozess vorauszusetzen. Bedeutungsverlust von Lebensstilen: Mit zunehmenden ökonomischen Problemlagen würden auch die Lebensstile an Bedeutung verlieren, so die These. Da das LS-Paradigma an die individuellen Ressourcen geknüpft sei, verliere es in Krisenzeiten an Relevanz (siehe Inglehart, Knappheitsthese und Wertewandel). Für Hochkulturindikatoren kann eine zunehmende Alters- und Bildungsabhängigkeit konstatiert werden, aber „insgesamt scheint die Schlussfolgerung angebracht, dass die Lagerung alltagsästhetischer Schemata seit Mitte der 1980er Jahre weitgehend stabil geblieben ist.“ Fazit: Bei keinem Punkt ist eine gesicherte Befundlage festzustellen. Ingesamt gibt es also noch viele offene Fragen.

Im zweiten Teil des Artikels stellt Otte seine eigene Konzeption und seine Desiderata vor. Zuerst unterscheidet er vier Typen der Lebensstilforschung, die sich danach unterscheiden, ob sie allgemein oder themenzentriert sind und ob sie typologisch oder variablenorientiert sind: Sinus, Spellerberg, Georg (allgemein typologisch), Preisendorfer (themenzentriert, typologisch), Gerhards/Rössel und Schulze (allgemein, variablenorientiert), Klein / Schneider / Löwel (themenzentriert, variablenorientiert). Besonderes Potential sieht Otte bei letzteren (themezentriert, Variablenorientierung). In der Neuorientierung der typologischen LS-Forschung werden vier Defizite behandelt: 1) 2) 3) 4)

Mangelnde Vergleichbarkeit Fraglicher Realitätsgehalt Theoriearmut Erhebungsauwand

All diese Punkte sind „methodologisch-methodisch“ begründet, womit es sich um induktives Vorgehen handelt. Ottes Vorschlag liegt darin die LS-Typen konzeptuell zu bilden, also nicht per Cluster-Analyse, sondern durch bewusste theoretische Konstruktion.


Sozialstrukturanalyse mit Lebensstilen? Dies ist die ausf端hrliche Version des Artikels.


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