Zusammenfassung Lebensstilforschung

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Lizentiatsprüfung der Philosophischen Fakultät

Zusammenfassung Lebensstilforschung

Autor:

Christoph Lutz

Hauptfach:

Soziologie

1. Nebenfach:

Management and Economics

2. Nebenfach:

Publizistikwissenschaft

Matrikelnummer:

04-712-899

Adresse:

Reggenschwilerstrasse 28 9402 Mörschwil

E-Mail:

chrislutz@access.uzh.ch


Inhaltsverzeichnis Tabellenverzeichnis

II

Abbildungsverzeichnis

II

1 Klassiker der Lebensstilforschung

1

1.1 Georg Simmel: Der Stil des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1.2 Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

1.3 Weber: Wirtschaft & Gesellschaft, Die protestantische Ehtik und der Geist des Kapitalismus . . . . .

2

2 Moderne Lebensstiltheorien

3

2.1 Bourdieu: Die feinen Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

2.2 Schulze: Die Erlebnisgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

2.3 L체dtke: Expressive Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

3 Metaanalysen und empirische und theoretisch-re exive Kritik: Otte, Hartmann, Garhammer 5 3.1 Gunnar Otte: Hat die Lebensstilforschung eine Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

3.2 Peter Hartmann: Lebensstilforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

3.3 Manfred Garhammer: Das Leben eine Stilfrage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

4 Bedeutende Typologien

9

4.1 Marktforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

4.1.1

AIO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

4.1.2

VALS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

4.1.3

gfk Socio-Styles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

4.1.4

Sinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

4.2 Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 4.2.1

Pierre Bourdieu: 3 Geschmackssorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

4.2.2

Gerhard Schulze: 5 Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

4.2.3

Gunnar Otte: 9 Lebensstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

5 Spezi sche empirische Studien

15

5.1 Lebensstile und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 5.1.1

Klocke & L체ck: Lebensstile in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

5.1.2

Kalmijn & Bernasco: Joint and separated leisure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

5.1.3

Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

5.2 Lebensstile und Freizeit: Aktivit채ten von Jugendlichen im europ채ischen Vergleich . . . . . . . . . . . . 18 5.3 Empirische Lebensstilforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

6 Zusammenfassung der Zusammenfassung

21

I


Tabellenverzeichnis 1

Milieus nach Schulze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

Abbildungsverzeichnis 1

Ein paar geile Soziologen: Simmel, Veblen und Weber (von links nach rechts) . . . . . . . .

1

2

Wirtschaft und Gesellschaft von Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

3

Ein paar geile neuere Soziologen: Bourdieu, Schulze und Lüdtke (von links nach rechts)

3

4

Peter Hartmanns wegweisendes Buch unterscheidet vier Aspekte der Kritik an bisherigen Typologien: Benennung bzw. Beschreibung, Facetten, Dimensionen und Verwendungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

5

Der Lebensstilforscher Garhammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

6

Die AIO-Typologie von Wells (links) und Tigert (rechts im Bild) unterscheidet zwischen Lebensstilen von Welsen und Tigern und versucht diese empirisch herzuleiten. . . . . . . 10

7

Die einsame Masse (Bild links) und die Bedürfnispyramdie von Maslow (Bild in der Mitte) bilden das theoretische Fundament der VALS-Typologie, die ihren Namen dem Dorf Vals verdankt (Bild rechts) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

8

Die Sinus-Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

9

Konstitutiv für Schulzes Erlebnisgesellschaft und Milieutheorie ist die gesteigerte Innenund Erlebnisorientierung, die man auf Bildern wie dem obigen unschwer erkennen kann. 14

10

Die Meta-Typologie von Otte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

11

Laut Klocke & Lück orientieren sich Geschwister unterschiedlichen Geschlechts seltener im Lebensstil aneinander als Geschwister gleichen Geschlechts. Dieses Bild lässt anderes erahnen, ist aber trotzdem nicht in der Lage den Befund zu widerlegen. . . . . . . 16

12

Europäische Jugendliche praktizieren viele Freizeitaktivitäten. Am beliebtesten sind Medienkonsum, Musik und Sport. Die Norweger haben mit 6 Stunden am meisten Freizeit, die Franzosen mit 3 Stunden am wenigsten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

13

Die Cityblock Methode ist ein Distanzmass, bei dem nur bestimmte Richtungen erlaubt sind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

14

Eine Korrespondenzanalyse aus den Regeln der Kunst von Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . 20

15

Laut Hradil ist Lebensstilen häufig eine bestimmte Art der expressiven Zurschaustellung und Stilisierung von Lebensweisen eigen. Das stimmt, wie man nach einer kurzen Google Bildersuche mit dem Stichwort „lifestyle“ unschwer erkennt. . . . . . . . . . . . . . . 21

16

Ein letzter schlagender Beweis, dass Lebensstilen häufig „eine bestimmte Art der expressiven Zurschaustellung und Stilisierung von Lebensweisen eigen“ ist. . . . . . . . . . . . 22

II


Zusammenfassung Lebensstilforschung

1 Klassiker der Lebensstilforschung Verschiedene soziologische Klassiker haben die Beschäftigung mit LS angeregt. Im Folgenden möchte ich drei davon behandeln: • Georg Simmel • Thorstein Veblen • Max Weber

Abbildung 1: Ein paar geile Soziologen: Simmel, Veblen und Weber (von links nach rechts)

1.1 Georg Simmel: Der Stil des Lebens Gemäss Simmel ist der moderne (und v. a. grossstädtische) LS durch ein Auseinanderklaffen von objektiver und subjektiver Kultur gekennzeichnet. Durch die Arbeitsteilung entfernen sich die Güter mehr und mehr von den Menschen. Es findet eine Versachlichung und Entpersönlichung statt. Drei Tendenzen sind ersichtlich: • Nebeneinander von Objekten: Im Gegensatz zu früher besitzen wir mehr Dinge und können uns nicht mehr mit allen Besitztümern intensiv beschäftigen. Wir haben keinen unmittelbaren Bezug mehr zu den Gegenständen.

1


• Schnelles Nacheinander von Moden: Dieser Punkt spricht die immer schneller werdenden Modezyklen an. Durch die geschwinden Wechsel sind ständig neue Anpassungen notwendig, die eine enge Bindung zu den Dingen ebenso erschweren wie das zuvor genannte Nebeneinander von vielen Objekten. • Pluralität von Stilen: Gleichzeitig ist eine grosse Pluralität von Stilen und Anschauungsweisen ersichtlich, so dass es uns schwer fällt eine dauerhafte Identität zu errichten. All diese Punkte deuten auf die Individualisierung hin, die mit dem Auseinanderklaffen von objektiver und subjektiver Kultur einhergeht. Simmel schaut sich verschiedene spezifische LS etwas genauer an: Besonders erwähnenswert ist seine Behandlung des grossstädtischen Typen in „Die Grossstädte und das Geistesleben“. Demzufolge ist die Grossstadt durch eine Affektlosigkeit und Verstandeshoheit im Vergleich mit dem Gefühl gekennzeichnet. Dass die Finanzindustrie in den grossen Städten beheimatet ist, erstaunt nicht, stellt sie doch die protoypische Verköperung dieser Intellektualität und Geldbezogenheit dar. Ferner zeichnet sich der grossstädtische im Gegensatz zum ländlichen Typen durch Gleichgültigkeit, ja sogar Aversion aus. Dies ist aber vonnöten, wenn man die ständige Reizung und Nervenüberflutung der Grossstadt bedenkt.

1.2 Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute Thorstein Veblen zeichnet in seinem Buch „Theorie der feinen Leute“ ein satirisch-kritisches Bild der müssigen Klasse, also der gegenwärtigen Oberschicht. Demonstrativer Müssiggang und demonstrativer Konsum sind die wichtigsten Verhaltensweisen dieser Gruppe. Tätigkeiten, die zum demonstrativen Müssiggang gerechnet werden können sind: Krieg führen, Sport, Priestertum und Regieren. Die verschwenderische, müssige und nutzlose Tätigkeit wird der produktiven Arbeit gegenübergestellt. Die Dichotomie von Werkinstinkt und Wettbewerbsgeist spiegelt den Gegensatz zwischen männlicher, geistiger, öffentlicher, mit beseelten Dingen arbeitender Tätigkeit auf der einen Seite und webiblicher, körperlicher, privater, mit unbeseelten Dingen arbeitender Tätigkeit auf der anderen Seite wider. Der demonstrative Müssiggang und Konsum bringt gesteigertes Prestige mit sich und demonstriert Reichtum und Macht. Deshalb ist es untbehrlich, dass man sein Hab und Gut möglichst stark zur Schau stellt, auch wenn man wenig besitzt, wie dies in den unteren Klassen der Fall ist. Veblen hat ein negatives Menschenbild, aber ein positives Technikbild. Für ihn sind maschinell gefertigte Produkte den Erzeugnissen der Handarbeit überlegen. Handarbeit hat nur den Zweck darauf aufmerksam zu machen, dass man es sich leisten kann Geld aus dem Fenster zu schleudern für sinnlose Tätigkeit. Auch dem Sport, der Religion und den akademischen Traditionen steht er kritisch bis ablehnend gegenüber. Dafür zeichnet sich Veblen durch ein fortschrittliches Frauenbild aus.

1.3 Weber: Wirtschaft & Gesellschaft, Die protestantische Ehtik und der Geist des Kapitalismus Eigentlich möchte ich gar nicht allzu viel zu Weber sagen, da er in der Prüfung nicht so prominent vorkommen wird wie Simmel und Veblen. Ein Bild muss trotzdem sein

2


Wie man aufgrund dieses Bildes unschwer erkennen kann, dreht sich die Weber’sche LS-Theorie ganz klar um den Gegensatz zwischen Klasse und Stand. Lebensstile oder Lebensführung sind charakterisch für die vormodernen (Berufs)Stände. Sie manifestieren sich in den Waffen, in der Kleidung und im Ausdruck. Auch religiöse Lebensstile werden von Weber beschrieben: besonders der protestantisch-kapitalistische. Er zeichnet sich durch innerweltliche Askese, eine strenge und sparsame, aber fleissige Lebensweise aus. Ansonsten könnte der Begriff der Rationalisierung zum Begreifen der modernen Lebensführung beitragen. Was hierunter figuriert, sollte bekannt Abbildung 2: Wirtschaft und Gesellschaft von Max Weber

sein.

2 Moderne Lebensstiltheorien Die moderne Version der Trias von „Simmel - Veblen - Weber“ lautet „Bourdieu - Schulze - Lüdtke“.

Abbildung 3: Ein paar geile neuere Soziologen: Bourdieu, Schulze und Lüdtke (von links nach rechts)

Wie das Bild zeigt, ist dieses Klassikertrio moderner und v. a. farbiger als die schwarzweissen Klassiker. Auch hat sich die Bartmode seitdem verändert und man schaut nachdenklicher, intellektueller oder einfach cooler (Lüdtke) aus der Wäsche. Dementsprechend ausgearbeiteter und analytischer kommen die neuen Theorien daher. Zuerst möchte ich Bourdieu behandeln, dann Schulze und schliesslich Lüdtke.

3


2.1 Bourdieu: Die feinen Unterschiede Ein paar Worte zu Bourdieu: geboren 1930 in Denguin, gestorben am 23. Januar 2002 in Paris, einer der grössten Soziologen des 20. Jahrhunderts mit vielfältiger Forschungstätigkeit zu den unterschiedlichsten Themen. Für mehr Infos zu Person und Werk siehe die Unterlagen zu meinem anderen Prüfungsthema (Merz-Benz).

2.2 Schulze: Die Erlebnisgesellschaft Geri Schulze hat eine an der Individualisierungsthese und zahlreichen anderen soziologischen Strömungen geschulte LS-Theorie vorgestellt, die er mit einer Milieutheorie koppelt. Anhand von Daten aus der Stadt Nürnberg werden die Milieus und die alltagsästhetischen Schemata veranschaulicht. Drei Schemata (Hochkultur, Spannung Trivial) - unterschieden nach Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie - und fünf Milieus (siehe unten) sind vorhanden. Jedes von ihnen ist durch eine spezifische Soziodemographie gekennzeichnet. Eingeordnet wird die Milieutheorie in das Konzept der Erlebnisorientierung. Demnach ist die Moderne durch gesteigerte Erlebnisorientierung, durch Innenorientierung anstelle der Aussenorientierung charakterisiert. Reflexion, Unwillkürlichkeit und Subjektbezogenheit sind Merkmale des Erlebnisses. Tabelle 1: Milieus nach Schulze

Alter Bildung

unter 40

über 40

hoch mittel niedrig

Selbstverwirklichungsmilieu ————————————– Unterhaltungsmilieu

Niveaumilieu Integrationsmilieu Harmoniemilieu

Darüberhinaus stellt Schulze einen Wechsel des primären Situations- und Aktionsmodus fest. Was die Situation betrifft, so lassen sich drei Formen unterscheiden: begrenzen, nahelegen und auslösen. Im Zuge der Verbreitung der Erlebnisgesellschaft geht die Situation vom Begrenzen zum Nahelegen über. Im Aktionsmodus sind ebenfalls drei Formen zu unterscheiden: wählen, symbolisieren und einwirken.

2.3 Lüdtke: Expressive Ungleichheit Hartmut Lüdtke ist zweifellos einer der grössten und grossartigsten Soziologen aller Zeiten. In 20 Jahren wird man ihm einen Tempel in seiner Heimatstadt Marburg errichten. Momentan ist er leider noch kaum bekannt - aber schon emeritiert. Es wird deshalb schwer werden mit dem Tempel. Jedenfalls: Eine gründlichere und ausgereiftere Lüdtke-Rezeption muss endlich stattfinden! Bei Gelegenheit - d. h. v. a. bei Zeit - werde ich mich persönlich daran machen, ein Plädoyer für Hartmut Lüdtke zu verfassen. Darin werde ich all seine Vorzüge preisen. Nachteile hat er keine. Wie könnte

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er auch. Seine LS-Theorie ist perfekt, sein Buch „Expressive Ungleichheit“ extrem packend und seine Studien zur Freizeitgesellschaft sind jetzt schon legendär (z. B. unterschiedliche Schwimmbadtypen). So, nun aber zu seiner Theorie. Lüdtke versucht die anderen LS-Theorien und Typologien zu verstehen. Es gelingt ihm auch zu einem gewissen Grad, aber nicht völlig1 . Seine Theorie ist im Gegensatz zu Bourdieus Zugang von einer individualistischen Grundhaltung geprägt und von rational-choice Gedanken beeinflusst. Trotzdem werden die sozialen Zwänge und Ressourcen nicht vergessen und ebenfalls in den Modellrahmen integriert. Insgesamt kommt Lüdtkes Theorie sehr fragmentiert und etwas willkürlich zusammengestellt daher. Die vielen Bausteine aus den unterschiedlichen Theorien - so auch sozialpsychologische Identitäts- und Vergleichstheorien, die der SIT oder SCT ähneln - sorgen für ein Flickwerk und lassen kein konzises Bild der Theorie zu. Dazu trägt auch die Formulierung in Form von empirisch üperprüfbaren Forschungshypothesen bei, die für mehr Verwirrung als Klärung sorgt. Lüdtke unterscheidet vier Dimensionen des LS: • Sozialökonomische Situation • Kompetenz • Performanz • Motivation Den eigentlichen Kern des LS, seine operationale Basis, macht die Performanz aus, also das Verhalten. Dieses äussert sich in Ausgaben, Verhalten und Zeitverwendungsmustern, an der Ausstattung in den Bereichen: Ernährung, Kultur und Freizeit, Selbstdarstellung, aber auch am interaktiven Verhalten (Netzwerk, Vereine, Geschmack, Affiliation und Distinktion allgemein). Ähnlich wie andere Autoren sieht Lüdtke für die Entstehung von LS bestimmte sozialstrukturelle Bedingungen (Wertewandel, Ressourcen, Angebotsvielfalt etc.) als nötig an. Erst wenn diese erfüllt sind, kann man sich durch Wahl den bevorzugten Stil zusammenstellen. Dabei spielen Trägheitsmomente, die u. a. durch Opportunitäts-, Gerinungs-, Verfestigungs- und Bewährungsmomente erklärt werden können, eine tragende Rolle.

3 Metaanalysen und empirische und theoretisch-re exive Kritik: Otte, Hartmann, Garhammer

3.1 Gunnar Otte: Hat die Lebensstilforschung eine Zukunft? Otte hat in seinem Artikel „Hat die LSF eine Zukunft?“ neun Punkte vorgebracht, die in der Forschung in diesem Bereich noch offen sind: 1. Subjektive Relevanz von LS 1 „Man

darf natürlich nicht erwarten, dass diese Studien nach meinem theoretischen Rekonstruktionsschema und entwickelten Forschungsprogramm angelegt sind“, so Lüdtke zu anderen Programmen.

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2. Individuelle Gestaltbarkeit der Subjektivität 3. Erklärungskraft von Lebensstilen 4. Vergemeinschaftungswirkungen von Lebensstilen 5. Konfliktpotential von Lebensstilen 6. Erklärendes Verstehen durch Lebensstile 7. Pluralisierung von Lebensstilen 8. Bedeutungsverlust von Lebensstilen 9. Lebensstile im Lebensverlauf Daneben hält er die Theoriearmut, die mangelnde Vergleichbarkeit und Alltagsferne der Typologien und deren Erhebungsaufwand für problematisch. Um diese Probleme zu lösen, schlägt er ein konzeptionelle Konstruktion der Lebensstile vor, die mit 10 Items sehr sparsam zu operationalisieren ist. Lebensstile könnten die klassische Sozialstruktur nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Wie die empirische Untersuchung zeigt, sind LS je nach abhängiger Variable unterschiedlich gut in der Lage Verhalten vorherzusagen. Im wirtschaftlichen Bereich sind sie eher schwach, im kulturellen und politischen Bereich dagegen nicht sooooo schlecht.

3.2 Peter Hartmann: Lebensstilforschung Auch Hartmanns Lebensstilbeitrag lässt sich sehen. In seinem wegweisenden Buch zur Lebensstilforschung wagt Hartmann 1999 eine Bestandesaufnahme der Forschungs- und Theorieversuche. Zunächst liefert er eine weitschweifige reflexionsgetränkte Definition des Begriffs, die sich am Stilbegriff abarbeitet und die theoretischen Debatten (Strukturierung vs. Entstrukturierung, Habitus, Wahlfreiheit und Bewusstheit) nicht ausspart. Im dritten Kapitel - das ich eventuell für die Prüfung herauspicken könnte - bespricht der Autor die gängigen Typologien der Marktforschung: der AIO-Ansatz, der VALS-Ansatz, der Gfk Approach und die Lebenswelten des Sinus Instituts. Kontrastiert werden die komerziell orientierten Typen der Marktforschung mit denjenigen der akademischen Sozialforschung. Hier geht der Autor auf Bourdieu, Uusitalo, Sobel, Lüdtke, Schulze, Giegler & Spellerberg ein. Auch der Musikkonsum mit der Omnivores-These werden nicht ausgespart. Nach dieser sekundäranalytischen Abhandlung folgt die empirisch-orientierte Metaanalyse und Synthese der einzelnen Typologien. Die Synthese wird seinerseits mit Hinblick auf die Erklärungskraft empirisch überprüft (Kapitel 6). Es folgt eine Zusammenfassung und Schlussfolgerung. Die Begriffe "Lebensstil", "Lebensweiseünd "Lebensführung"werden nicht einheitlich verwendet und definiert. Allen gemeinsam ist, dass sie sich äuf Systeme von Handlungen, Tätigkeiten oder Verhalten beziehen."Lebensweise wurde vor allem in der DDR verwendet. Lebensweise und Lebensführung werden beide von Max Weber verwendet. Letztere findet sich häufiger in der Religionssoziologie (Protestantismusthese), erstere dagegen eher in seiner Klassentheorie (ständischer Lebensstil). Somit

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hat Lebensführung eine ethische Konnotation, die dem Lebensstil abgeht. Hartmann plädiert dafür, die Begriffe nicht pauschal begrifflich zu trennen. Mehrere Gründe werden dafür angegeben (u. a. Rekurs auf Weber, der die Begriffe auch nicht strikt trennte, Stilbegriff in anderen Sprachen, Unklarheit, was denn Stilisierung genau ausmacht, andere Verwendung des Begriffs Lebensstil in der Marktforschung...). In diesem Buch sind die Begriffe darum entweder synonym oder sonst ist "Lebensführung der Ober- und Lebensstil der Unterbegriff". Was macht nun den Stil im Lebensstil aus, fragt sich der Autor. Dieser Frage geht er im Folgenden nach. Es werden drei Definitionen bzw. Aspekte des Begriffs vorgeschlagen und ausführlich besprochen (siehe dazu auch die Abbildung auf dieser Seite): • Ausdruck • Form • Erkennbarkeit / Identifizierbarkeit Ein weiterer Punkt der Theorieschau betrifft schliesslich die Frage der Wahlfreiheit und Un- bzw. Bewusstheit von Stilen. Hier wird der Gegensatz zwischen Strukturierungsund Entstrukturierungsansätzen offenbar. Nichtintentional ist der Lebensstil bei starker Strukturiertheit und bei fehlender Wahlfreiheit. Der intentionale Typus betrachtet LS als frei wähl- und gestaltbar. Damit sind sie von Strukturvariablen relativ unabhängig (Autonomie des LS). Die nichtintentionale Sicht findet sich bei Bourdieu, Goffman, Hahn und Richter. Die intentionale eher bei Lüdtke und Schulze. Eine andere Frage betrifft das Un/Bewusstsein der LS. "Die erste umstrittene Frage ist also die, ob LS bewusst sind [...] Getrennt von der ersten Frage ist als zweites zu klären, ob LS gewählt werden oder nicht. Sind LS Elemente der Gestaltung des Lebens oder Elemente der Anpassung?"Die erste Frage betrifft

Abbildung 4: Peter Hartmanns wegweisendes Buch unter-

das Bewusstsein: Kennt ein Akteur seinen

scheidet vier Aspekte der Kritik an bisherigen Typologien: Be-

LS? Ist er sich seiner Position und Rolle be-

nennung bzw. Beschreibung, Facetten, Dimensionen und Ver-

wusst? Die zweite dagegen geht auf die De-

wendungszusammenhang

termination (bzw. Strukturiertheit) von LS ein.

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Im Fazit werden die Bemühungen um eine gute Definition zusammengefasst. Zudem versucht Hartmann die drei gebrachten Begriffsspektren von Stil (Ausdruck, Form, Identifizierbarkeit) zu synthetisieren. Sie scheinen keineswegs unabhängig voneinander zu stehen. Müsste der Autor sich für ein Kriterium entscheiden, würde er wohl die Identifizierbarkeit wählen. Somit könnte man Personen aggregieren und LS-Gruppen bilden. Wichtig sei zudem das Element der Wiederholung. Der Autor möchte sich nicht auf eine Seite der Wahl bzw. Zuordnung und Bewusstsein vs. Unbewusstsein stellen. Bei den Typologien der Marktforschung werden AIO, VALS, gfk Socio-Styles bzw. Euro-Styles sowie die Sinus Milieus betrachtet. Uusitalo und Sobel gelten ebenfalls als Pioniere der empirischen LSF. Über Faktorenanalysen findet Uusitalo drei Dimensionen des LS: modern - traditionell, Vielfalt der Lebensentfaltung - Verharren bei einer begrenzten Menge lebensnotwendiger Aktivitäten und räumlich mobil - räumlich immobil. Sobel untersucht für die USA die Abhängigkeit der Ausgaben nach Lebensbereichen vom Einkommen, SES und von der Schulbildung. Die Ausgabenstruktur lässt sich in vier Faktoren unterteilen: sichtbarer Erfolg, Notwendigkeit, Unterhaltung ausser Haus, Unterhaltung im Haus. Bei den neueren deutschen empirischen Studien bespricht der Autor zunächst Lüdtke und Schulze. Giegler und Spellerberg wählen eher empirisch-deskriptive Zugänge. Bei Lüdtke geht der Autor auf einzelne Hypothesen ein. Ihn interessieren insbesondere die Kapitalhypothesen und die Lebenslaufhypothsen. Bei Schulze widmet er einen längeren Teil den alltagsästhetischen Schemata und deren Dimensionen (Genuss, Distinktion, Lebensphilosophie) mit Entwicklung über die letzten Jahrzehnte hinweg. Spellerbergs Studie sticht v. a. durch Repräsentativität heraus: "Das eigentlich Besondere an Spellerbergs Untersuchung ist aber nicht ihr theoretischer Hintergrund, sondern ihre Datengrundlage: Spellerbergs Untersuchung ist die einzige Untersuchung der deutschen Sozialforschung, die LS erstens mit repräsentativer nationaler Stichprobe und zweitens mittels alltäglicher, symbolischer Praktiken erhebt."

3.3 Manfred Garhammer: Das Leben eine Stilfrage? Garhammer geht bei seinem Resüme ähnlich vor wie Otte (2005). Zusätzlich zu dessen Punkten bringt er noch weitere interessante Aspekte hinzu. Einerseits diskutiert er die Datenbasis für LS-Untersuchungen, andererseits handelt er die Frage ab, ob LS ein Konstrukt der Werbewirtschaft seien und wie es sich mit der Suche nach Glück und Identität verhält. Folgende Punkte und offene Fragen handelt der Lebensstilforscher Garhammer in seinem Text ab: • Erklärungsleistung von Lebensstilen • Vergemeinschaftung • Pluralisierung von Lebenssstilen • Individuelle Gestaltbarkeit der Subjektivität (Strukturiertheit vs. Unstrukturiertheit) • Bedeutungsverlust von Lebensstilen (Blinde Flecken der LSF: Armut und Exklusion)

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• Moderne Lebensführung - Suche nach Glück und Identität • Die Datengrundlage • Moderne Lebensstile - Ein Konstrukt der Werbewirtschaft? Insgesamt kommt er zu ähnlichen Schlüssen wie Otte. Im Gegensatz zu ihm kritisiert Garhammer an den Analysen, die die Erklärungskraft von Lebensstilen mittels R 2 messen wollen, das fehlende theoretische-konzeptionelle Gerüst. Es fehlt wesentlich an einer Erklärungsbasis, die verstehen hilft, warum LS in gewissen Bereichen (v. a. kultureller Natur) relativ erklärungskräftig sind, in anderen dagegen kaum oder überhaupt nicht. Auch die Vergemeinschaftung durch LS wird je nach Forschungszugang und Position anders interpretiert. Hitzler, der sich mit Jugendszenen beschäftigt, bejaht die Frage: Es gäbe durchaus Vergemeinschaftung und Verbindung über Lebensstile. Quantitative Studien sprechen dagegen eher von erhöhter Binnenkommunikation innerhalb von Milieus oder LS-Gruppen. Bezüglich Pluralisierung von LS und individuelle Gestaltbarkeit der Subjek-

Abbildung 5: Der Lebensstilforscher Garhammer

tivität findet sich wenig Neues bei Garhammer. Die Stabilität alltagsästhetischer Schemata, die von Hartmann zwischen 1975 und 1985 festgestellt wurde, deutet eher auf eine Widerlegung der Pluralisierung hin, wenngleich eine Pluralisierung der Lebensformen und der Angebotsspielräume zweifellos nachweisbar ist.

4 Bedeutende Typologien Es gibt fast so viele LS-Typologien wie Forscher. Aufgrund des Holismusanspruchs der LS (alle Bereiche können im Prinzip zur Operationalisierung von LS verwendet werden) und wegen der Vielfalt und Intransparenz der gewählten Methoden und der Verschiedenheit der Daten kommen die Soziolgen zu Typologien, die auf den ersten Blick nur schwer vereinbar sind. Schaut man etwas genauer hin - z. B. indem man Metaanalysen durchführt, wie das schon einige Male passiert ist -, so stellt man fest, dass sich doch eine gewisse Anzahl von Grundtypen immer wieder findet. Am besten scheint mir Ottes Einteilung in neun Typen in der Lage die gängigen Typologien zusammenzubringen.

4.1 Marktforschung 4.1.1 AIO

Der AIO-Ansatz leitet sich von der sinnigen Abkürzung „Activities (A), Interests (I), Opinions (O)“ ab und wurde 1967 zum ersten Mal von Wells und Tigert formuliert. Man verwendete ihn zur Segmentierung von Produktmärkten unterschiedlicher Ausprägung. Unterschieden wurden z. B. eine swinging make-up Userin und eine heavy user of shortening Hausfrau. Erstere braucht viel Make-up, ist extrovertiert und geht ausser Haus, letztere verbraucht dagegen viel Waschmittel und sorgt dafür, dass

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der Haushalt reibungslos läuft. Conrad & Burnett haben den AIO-Ansatz Mitte der 1970er Jahr in den deutschsprachigen Raum übertragen und eine Typologie mit witzigen Namen erstellt: „Eddi der Coole“, „Tim und Tina - die fun-orientierten Jugendlichen“, „Martin und Martina - die trendbewussten Mitmacher“, „Monika - die Angepasste“, „Wilhelmine - Die bescheidene Pflichtbewusste“, „Frank und Franziska Die Arrivierten“ etc. „Auf Basis von Faktoren- und Clusteranalysen entwickelten Conrad und Burnett 1985 elf Life-Style-Typen und 1990 zwölf Typen, die sie je nach der Verteilung der Variable Geschlecht mit männlichen oder weiblichen oder beiden Vornamen und einer Kurzbeschreibung bezeichneten.“ (Hartmann 1999: 54)

Abbildung 6: Die AIO-Typologie von Wells (links) und Tigert (rechts im Bild) unterscheidet zwischen Lebensstilen von Welsen und Tigern und versucht diese empirisch herzuleiten.

In der Sozialforschung hat man diese Typologie nicht allzu gut aufgenommen. Problematisch ist der grosse Erhebungsaufwand, der es verunmöglicht die AIO-Typologie in sozialwissenschaftlichen Befragungen anzuwenden. Werner Georg hat sich allerdings für seine LS-Typologie auf AIO gestützt.

4.1.2 VALS „Vals2 (rätoromanisch Val) ist eine politische Gemeinde im Kreis Lumnezia/Lugnez, Bezirk Surselva des Kantons Graubünden in der Schweiz. Vals ist eine walserdeutsche Sprachinsel im rätoromanischen Val Lumnezia. Die Walser sind Nachkommen von Oberwallisern, die vor rund 700 Jahren einwanderten und die höchsten Täler Graubündens besiedelten.“ (Quelle: Wikpedia.de) 2 Daneben

gibt es noch die VALS-Typologie, die sich auf Werte (Values) und Lebensstile (Lifestyles) bezieht. Sie wurde anfangs der 1970er - soviel ich weiss in Stanford - entwickelt und folgt einem psychologischen Grundgerüst. Im Gegensatz zu AIO werden für VALS vorwiegend latente Konstrukte verwendet also Werte und Einstellungen und nicht manifestes Verhalten. Daneben sollte die VALS-Typologie theoretisch fundiert sein: einerseits durch die Bedürfnistheorie von Maslow, andererseits durch Riesmans einsame Masse (siehe Abbildung 7, nächste Seite). Das Besondere an der VALSTypologie ist die Unterscheidung einer inner-directed und einer outer-directed route. Zudem sind die Stile hierarchisch nach Bedürfnissen angeordnet. Zuoberst stehen die „Integrated“, die sich sowohl über die innenorientierte als auch über die aussenorientierte Route definieren. Auf den untersten Stufen können die „Belonger“, „Sustainers“ und „Survivors“ kaum zwischen den verschiedenen Routen wählen, müssen sich alos mit dem zufrieden geben, was sie haben. Erst in der Zone der doppelten Hierachie - was wohl ungefährt der Mittelschicht entspricht - ist die „Wahl“ zwischen den Pfaden möglich. Die VALS-Typologie von Mitchell wurde in der Sozialforschung heftiger kritisiert als AIO, ist aber trotzdem in der Form von RISC nach Europa übergeschwappt. Problematisch an der Typologie ist ihre schwache Erklärungskraft: die gängigen soziodemographischen Variablen performen gleich gut oder sogar besser. Zudem wird die Schiefe, die normative Hierachie der Typen und der Erhebungsaufwand bemängelt.

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Abbildung 7: Die einsame Masse (Bild links) und die Bedürfnispyramdie von Maslow (Bild in der Mitte) bilden das theoretische Fundament der VALS-Typologie, die ihren Namen dem Dorf Vals verdankt (Bild rechts)

4.1.3 gfk Socio-Styles Von allen Typologien der Marktforschung sind die gfk Socio-Styles von Cathelat wohl am umstrittensten. Das hat einerseits mit der intransparenten, induktiven und hyperempirizistischen Herleitung der Typologie zu tun, andererseits mit Cathelats Auftreten als Marketing-Guru. Die Typologie umfasst drei Dimensionen und Hauptgegensätze: Bewegen vs. Beharren (Modernitätsdimension), Güter vs. Werte (Haben vs. Sein bzw. Materialismus vs. Postmaterialismus) und emotional vs. rational.

4.1.4 Sinus Die Lebenswelten des Sinus Instituts sind vorwiegend im deutschsprachigen Raum bekannt. Eigentlich handelt es sich dabei um Milieus und nicht um Lebensstile und so umfassen die Typen auch hauptsächlich latente Einstellungsvariablen. Zwei Dimensionen sind für die Sinus Milieus relevant: vertikale Achse des Status und horizontale Achse der Modernität. Durch diese Aufteilung bilden sich 9-10 Milieus, die denjenigen von Otte (2004) und auch ein wenig dem sozialen Raum von Bourdieu gleichen. Die folgende Grafik habe ich Internet gefunden. Darauf sieht man die Milieus. Wie im entsprechenden Abschnitt bei Hartmann (1999: 70ff.) lohnt es sich vielleicht, einen kurzen Exkurs zum Begriff des Milieus zu machen. Was sind die Unterschiede zwischen Milieus und Lebensstilen? Während Milieus eher auf die Makrostrukturen der Gesellschaft abzielen und die latente Dimension der Werthaltungen und Einstellungen umfassen, beziehen sich LS deutlicher auf performative Aspekte, also auf das konkrete Handeln. Typische Bereiche und Facetten von Lebensstilen sind: Freizeitaktivitäten, Kulturkonsum, Musikgeschmack, Wohnungseinrichtung, Konsumgüter und -verhalten allgemein. Wenn von Milieus die Rede ist, befasst man sich dagegen eher mit Einstellungen, Werten, Lebenszielen oder Grundorientierungen. Häufig spielt bei den Milieus auch eine sozialräumliche Komponente mit hinein, so wenn Schulze seine fünf Milieus durch erhöhte Binnenkommunikation charaktersiert sieht. Zu den Sinus-Milieus ist noch erwähnenswert, dass sie ursprünglich auf der Basis qualitativer Interviews zu politischen Themen gewonnen wurden, also ein politikwissenschaftliches Konstrukt darstellen. „Von 1979 bis 1981 wurden systematisch 1700 zwei- bis dreistündige narrative Interviews durchgeführt und auf Tonband aufgezeichnet.“ In Hartmann (1999) wird die Herleitung der Sinus-

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Abbildung 8: Die Sinus-Milieus

Milieus etwas ausführlicher erläutert als dies bei gfk, VALS und AIO der Fall ist. Am wichtigsten ist aber die Typologie selbst, wie wir sie in Abbildung 8 sehen.

4.2 Sozialforschung Im Gegensatz zu den Typologien der Marktforschung kommen die Typologien der Sozialforschung weniger feingliederig und theoretisch fundierter daher. Ferner dienen sie anderen Zwecken (nicht der Marktsegmentierung und Positionierung von Produkten, sondern der Analyse sozialer Strukturen) und sind transparenter dokumentiert.

4.2.1 Pierre Bourdieu: 3 Geschmackssorten Bourdieu unterscheidet drei Geschmackssorten, je nach Klasse: legitimer Geschmack, mittlerer Geschmack und Notewendigkeitsgeschmack. Der legitime Geschmack zeichnet sich durch Sicherheit, Distanz und (Decodierungs)Wissen aus. Er wirkt locker und nicht gesucht bzw. beflissen, wie der Geschmack des Kleinbürgertums. In seiner Interesselosigkeit gleicht der legitime Geschmack der Kantianischen Ästhetik und deren Formulierung des Geschmacks als interesselosem Wohlgefallen (im

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Gegensatz zum körperlichen Sinnenvergnügen, das barbarisch und roh daherkommt). Der prätentiöse Geschmack versucht den legitimen Geschmack nachzuahmen, was aber nicht gelingt, da letzterer immer wieder neue Distinktionen hervorbringt. Schliesslich sei der Notwendigkeitsgeschmack der unter(st)en Klasse(n) erwähnt. Ihm fehlt es an den nötigen Mitteln sich zu stilisieren und so erhebt er die Not zur Tugend und macht das Funktionale, Einfache und Billige zum Schönen und Begehrten. Vermittelt werden Geschmack und soziale Lage durch den Habitus. Weitere Infos finden sich in meinen Unterlagen zu Bourdieu.

4.2.2 Gerhard Schulze: 5 Milieus Hierzu siehe Tabelle 1. Die Milieubschreibungen die folgen stammen aus einer Seminararbeit: Nach Schulze existieren in der Erlebnisgesellschaft fünf soziale Milieus: das Niveaumilieu, das Harmoniemilieu, das Integrationsmilieu, das Selbstverwirklichungsmilieu und das Unterhaltungsmilieu. Mit den gewählten Bezeichnungen soll die im Milieu dominierende existentielle Problemdefinition zum Ausdruck gebracht werden (ebd: 281). Im Folgenden werden die fünf Milieus nach Schulze kurz dargestellt: Das Niveaumilieu setzt sich aus älteren Personen über vierzig mit höherer Bildung zusammen, die sich vom Stiltypus her auf das Hochkulturschema ausrichten (ebd: 283). Die meistens Angehörigen dieses Milieus beteiligen sich an der Hochkulturszene, man trifft sie an einem Konzert, im Theater oder im Museum (ebd: 283). Als primäres Weltbild dominiert die Dimension der Hierarchie, die viele Aspekte der Welt, wie etwa Bildung oder Einkommen, jedoch auch Geschmack oder Konversationen, in eine von oben nach unten verlaufende Ordnung abstuft (ebd: 284). Existentielle Problemdefinition ist das Streben nach Rang (Schulze, 2000: 259). Das Milieu geniesst die Welt durch Kontemplation, die Lebensphilosophie zentriert sich auf das Ideal der Perfektion, abgrenzen will man sich vom Barbarischen (ebd: 287 f.). Den Kern des Harmoniemilieus bilden ältere Personen über vierzig, die eine niedrige Schulbildung haben und deren persönlicher Stil eine Nähe zum Trivialschema aufweist (ebd: 292). Das Harmoniemilieu bleibt gerne zu Hause, tritt es doch einmal in die Öffentlichkeit, bleibt es unauffällig (ebd: 292). Die Welt wird als bedrohlich empfunden, die Wirklichkeit wird daher mit einem Ur-Misstrauen betrachtet. Primäre Perspektive ist die Dimension der Gefahr, aus der die Suche nach Geborgenheit als existentielle Problemdefinition resultiert (293 f.). Die Lebensphilosophie ist Harmonie und die muss einfach sein, alles Komplizierte würde nur zusätzliche Angst erregen (ebd: 294). Die höchste Genussform ist Gemütlichkeit. Distanzieren will sich das Harmoniemilieu besonders vom Exzentrischen (ebd: 297). Dem Integrationsmilieu gehören ältere Personen über vierzig mit mittlerer Bildung an. Der Stiltypus lehnt sich sowohl ans Hochkultur- als auch ans Trivialschema an (ebd: 301). Das Milieu weist keine Extreme auf, kennzeichnend sind stattdessen Durchschnittlichkeit, Mittellage und Mischtypen. Existentielle Problemdefinition ist das Streben nach Konformität (ebd: 301 f.). Das Selbstverwirklichungsmilieu setzt sich aus jüngeren Personen unter vierzig mit höherer Bildung zusammen. Der persönliche Stil lässt sich sowohl durch Nähe zum Hochkultur- als auch zum

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Spannungsschema bestimmen (ebd: 312). Das Milieu weist einen Hang zur Selbstdarstellung auf und dominiert daher stärker die Öffentlichkeit als die andereren Milieus. Anzutreffen ist das Milieu in Studentenkneipen, in Jazzkonzerten oder im Kleinkunsttheater (ebd: 312). Auch bildet das Selbstverwirklichungsmilieu das Zentrum von sozialen Bewegungen. Kein anderes Milieu weist so viele Anhänger der Grünen oder der Alternativbewegung auf (ebd: 319). Im Selbstverwirklichungsmilieu dominiert als primäre Perspektive der innere Kern, existentielle Problemstellung ist das Streben nach Selbstverwirklichung (ebd: 313 f.). Das Milieu geniesst die Welt durch Kontemplation und Action, grundlegende Wertvorstellungen sind Perfektion und Narzissmus (ebd: 317). Das Unterhaltungsmilieu ist die soziale Grossgruppe von jüngeren Personen unter vierzig, die einen niedrigen Schulabschluss aufweisen und deren Stiltypus sich auf das Spannungsschema ausrichtet (ebd: 322). Das Unterhaltungsmilieu ist wenig in der Öffentlichkeit sichtbar, da es oft in Angebotsfallen verschwindet, wie etwa im Automatensalon, im Fitnessstudio oder am Autorennen (ebd: 322). Primäre Perspektiven sind Bedürfnisse, die sich negativ in der Ablehnung von Langeweile konkretisieren. Existentielle Problemdefinition ist das Streben nach Stimulation (ebd: 260). Genuss wird in Form von Action gesucht, die Lebensphilosophie ist Narzissmus. Distanzieren will man sich vom Kon-

Abbildung 9: Konstitutiv für Schulzes Erlebnisgesellschaft und Milieutheorie ist die gesteigerte Innen- und Erlebnisorientierung, die man auf Bildern wie dem obigen unschwer erkennen kann.

ventionellen (ebd: 326).

4.2.3 Gunnar Otte: 9 Lebensstile Otte erstellt seine Typologie theoretisch deduktiv, leitet sie also nicht aus den Daten ab, sondern aus einer Synthese bisheriger Untersuchungen. Die Stile gleichen den Sinus Milieus und umfassen zwei bzw. drei Dimensionen. Eine vertikale Ungleichheitsdimension und zwei horizontale Dimensionen: Bewegen vs. Beharren sowie Aktionsradius (häuslich vs. ausserhäuslich). Neun Typen kommen in dieser Typologie vor: Konservativ Gehobene, liberal Gehobene, Reflexive, Hedonisten, Aufstiegsorientierte, Konventionalisten, traditionelle Arbeiter, Heimzentrierte und Unterhaltungssuchende. Die Beschreibungen erspare ich mir. Ich nehme an, man versteht ungefähr, wie jeder Typ aufgebaut und charakterisiert ist.

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Abbildung 10: Die Meta-Typologie von Otte

5 Spezi sche empirische Studien

5.1 Lebensstile und Familie Hier figurieren folgende Autoren und Werke: • Klocke & Lück (aus meiner Forschungsarbeit entnommen) • Kalmijn & Bernasco (dito) • Sonstige

5.1.1 Klocke & Lück: Lebensstile in der Familie Am ersten Punkt der von Otte (2004) aufgezeigten Defizite der Lebensstilforschung (gemeint ist die unzureichende Untersuchung von Vergemeinschaftungswirkungen und Konfliktpotentialen von Lebensstilen) knüpfen Klocke & Lück (2001) an. Sie bringen Lebensstil und Familie zusammen, indem sie in einem explorativ ausgerichteten Forschungsprojekt die Lebensstilvielfalt in verschiedenen Lebensphasen - besonders der Familienphase - untersuchen und den Stellenwert der Familie nach Lebensstilgruppen aufschlüsseln. Zudem stellen sie die Frage nach der Heterogenität bzw. Homogenität von Lebensstilen innerhalb von Familien. Dabei zeigt sich, dass die Familienmitglieder eher zu gleichen oder ähnlichen Lebensstilen neigen als zu komplementären. Dies gilt sowohl für Ehepartner als auch in Eltern-Kind-Beziehungen und - wenn auch in abgeschwächter Form - zwischen Geschwistern. Dabei ist weiter festzuhalten, dass hier geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen. Gleichgeschlechtliche Geschwister zeigen eine ausgeprägtere Lebensstilorientierung aneinander als andersgeschlechtliche. Die in der Studie formulierte Komplementaritätshypothese, dass sich gegensätzliche Eigenschaften und Lebensstile (so z. B. der häusliche Harmonietyp als Prototyp einer gutbürgerlichen Hausfrau und der zurückgezogene arbeitsorientierte Typ als Brotverdiener der Familie) anziehen, kann folglich widerlegt werden. Gegensätze gesellen sich seltener als gleich und gleich. Als Erklärung könnten milieu- und klassenspezifische Kennenlernbiographien sein, die sich schliesslich in Homogamie äussern. Die psychologischen Prozesse hinter den Verbindungen stecken und die intensivere Untersuchung weiterer Determinanten der Lebensstilvererbung (z. B. in peer groups)

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Abbildung 11: Laut Klocke & Lück orientieren sich Geschwister unterschiedlichen Geschlechts seltener im Lebensstil aneinander als Geschwister gleichen Geschlechts. Dieses Bild lässt anderes erahnen, ist aber trotzdem nicht in der Lage den Befund zu widerlegen.

können leider wegen dem quantitativ-explorativ ausgerichteten Design der Studie nur unzureichend aufgedeckt werden. Trotzdem hat die Studie von Klocke / Lück für den deskriptiven Teil meiner Arbeit Vorbildcharakter. Sie soll in einem etwas weniger ambitionierten Ausmass für die Schweiz repliziert werden, wo die Frage nach der Vergemeinschaftungswirkung von Lebensstilen bisher kaum erforscht ist.

5.1.2 Kalmijn & Bernasco: Joint and separated leisure Ebenfalls mit den Vergemeinschaftungswirkungen von Lebensstilen befassen sich Kalmijn / Bernasco (2001). Ihre Studie aus den Niederlanden zeigt auf, dass das Freizeitverhalten bei verheirateten und zusammenlebenden Paaren keineswegs so individualisiert abläuft wie es von vorherigen Untersuchungen angenommen wurde. Die gegenseitige Abhängigkeit der Partner und die zusammen verbrachte Zeit führen zu einem "joint-lifestyle", zu einem einheitlichen Lebensstil in Partnerschaften. "Like children, shared activities, mutual friends and collective consumption in marriage function as a form of marital capital"(ebd.: 639). Ähnlich wie Klocke / Lück (2001) fragen sich die Autoren, ob die Lebensstile - ausgedrückt im Freizeitverhalten - zwischen den Ehepartnern gleich sind (jointlifestyle) oder sich unterscheiden. Diesem deskriptiven Teil folgt ein erklärender. Welche Faktoren sind für die Gleichheit oder Unterschiedlichkeit der Stile verantwortlich? Die Resultate der empirischen Untersuchung zeigen, dass ein Grossteil der Paare einen joint-lifestyle aufweist, also viele Freizeitaktivitäten zusammen verbringt. Ausser sportlichen Tätigkeiten und Heimaktivitäten, werden alle Hobbys mehrheitlich mit dem Partner und nicht allein ausgeführt. Gesellschaftliche und kulturelle Tätigkeiten werden fast ausschliesslich gemeinsam absolviert. Die Autoren identifizieren vier Faktoren bzw. Variablenbündel, die zur Erklärung der Gemeinsamkeit der Lebensstile (operationalisiert am Freizeitverhalten) beitragen: Lebenszyklus, Arbeitsleben, Homogenität in Bezug auf soziodemographische Merkmale (gleiches Alter, gleicher Hintergrund, gleicher Beruf der Partner) und schliesslich geteilte Wertvorstellungen. Davon hat der Lebenszyklus am meisten Erklärungskraft, gefolgt vom Arbeitsleben und den übrigen Faktoren. In Bezug auf den Le-

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benszyklus wird konstatiert, dass die gemeinsam ausgeführten Tätigkeiten - also die joint lifestyles - mit der Dauer der Beziehung zunehmen und vor der Trennung wieder abnehmen. Wenn Kinder im Haushalt leben, neigen die Paare weniger stark zu gemeinsam verbrachter Freizeit. Bei der Betrachtung des Arbeitslebens wird festgestellt, dass die Arbeitstätigkeit der Frau keinen Effekt auf die gemeinsam verbrachte Freizeit hat. Auch die Homogamieeffekte sind relativ schwach ausgeprägt: Gleichheit in den religiösen und politischen Einstellungen sowie im Bildungsgrad führt nur zu unwesentlich stärker ausgeprägten joint-lifestyles. Als Fazit hinterfragen die Autoren die Individualisierungsthese, nach der die expressiven Praktiken in Ehen und Partnerschaften zunehmend losgelöst vom Partner vonstatten gehen und Autonomie und Privatheit an Relevanz gewinnen. Sie unterstreichen die weiterhin grosse Bedeutung der gegenseitigen Abhängigkeit in Partnerschaften.

5.1.3 Andere Schliesslich seien noch Studien aus dem amerikanischen Raum erwähnt, die den Einfluss der Gemeinsamkeit bzw. Homogenität der Lebensführung, besonders was die Freizeitaktivitäten anbelangt, auf die Zufriedenheit ermitteln und besonders bei der Generierung der letzten Hypothese hilfreich waren. Crawford et al. (2002) zeigen auf, dass Ehepaare bei gemeinsam verbrachter Freizeit nicht viel zufriedener sind, als wenn die Freizeit getrennt verbracht wird. Handelt es sich um Tätigkeiten, die sowohl der Frau als auch dem Mann gefallen, so sind lediglich die Männer zufriedener mit der Ehe (marital satisfaction) bei gemeinsam verbrachter Freizeit. In Anbetracht der Tatsache, dass in der Literatur bisher galt: Gemeinsam verbrachte (Frei)Zeit führt zu erhöhter Zufriedenheit in der Beziehung, überraschen die Resultate dieser Studie. Die bereits etwas ältere Studie von Orthner (1975) kommt zu ähnlichen Schlüssen. Auch hier wird ein Geschlechtsunterschied festgestellt. Gemeinsam verbrachte Freizeit wirkt sich bei Männern und Frauen unterschiedlich auf die Zufriedenheit mit der Ehe aus. Auch die Zeitdimension spielt in die Zufriedenheit mit hinein. Im Verlaufe einer Beziehung ändert sich die Relevanz der joint-leisure, ähnlich wie dies bei Kalmijn / Bernasco (2001) beschrieben ist. Der Autor kommt zum folgenden Schluss: „Categorized statements, such as ’doing things together indicates marital adjustment’, cannot be supported by this study“ (Orthner 1975: 101). Einen letzten Bezugspunkt stellt schliesslich die Untersuchung von Holman & Jacquart (1988) dar. Im Gegensatz zu Orthner (1975) finden sie keinen bedeutenden Lebenszykluseffekt des Einflusses joint-leisure und Zufriedenheit in der Partnerschaft. Nicht die Dauer des Zusammenlebens, sondern die Kommunikation kommt als intervenierende Variable zwischen die Homogenität der Freizeit und die Zufriedenheit mit der Ehe. Während bei geringen Kommunikationslevels kein Einfluss festzustellen ist, spielt bei hohen Levels die gemeinsam verbrachte Zeit sehr wohl eine Rolle für das Wohlbefinden und marital satisfaction.

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5.2 Lebensstile und Freizeit: Aktivitäten von Jugendlichen im europäischen Vergleich Dieser Artikel untersucht das Freizeitverhalten europäischer Jugendlicher. Er bleibt deskriptiv und wendet keine hypothesenprüfenden Verfahren an. Allerdings werden mit der unterschiedlichen Ausgestaltung des Schulsystems und verschiedenen sozioökonomischen Bedingungen Faktoren (ad hoc) herausgearbeitet, die wirksam sein dürften. Insgesamt haben die Jugendlichen aus den betrachteten skandinavischen Länder (FI, NO) und Bulgarien sowie den USA am meisten Freizeit. Die Gestaltung variiert aber je nach Land: Der TV-Konsum ist in Osteuropa (BU, CZ, RO) am grössten, Sport in NO und den USA, Instrumente spielen in der CH, lesen in RU und RO, abhängen in Skandinavien und BU, Dating in NO und USA und arbeiten in den USA.

Abbildung 12: Europäische Jugendliche praktizieren viele Freizeitaktivitäten. Am beliebtesten sind Medienkonsum, Musik und Sport. Die Norweger haben mit 6 Stunden am meisten Freizeit, die Franzosen mit 3 Stunden am wenigsten.

In diesem Abschnitt werden ausgewählte Freizeitaktivitäten behandelt. Von allen Freizeitaktivitäten ist die Nutzung elektronischer Medien am verbreitetsten bzw. nimmt am meisten Zeit in Anspruch. Osteuropäische Jugendliche verbringen mehr Zeit mit Fernsehen als westeuropäische. Dies

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könnte jedoch mit dem Zeitpunkt der Umfrage zu tun haben (1992), da freies Fernsehen damals noch nicht so lange erhältlich war. Die Motive fürs Fernsehen sind vielfältig: Unterhaltung, Problembewältigung und Alltagsflucht, Langeweile... Auch Musik wird sehr viel gehört. Durschnittlich verbringen die Jugendlichen 2 Stunden mit Radio (Musik) hören. Sport ist ebenfalls eine wichtige Freizeitaktivität. Norweger verbringen die meisten Zeit damit. Russen, Bulgaren, Rumänen und Franzosen am wenigsten. Die beliebtesten Sportarten sind: Schwimmen, Fahrrad, Fussball, Tennis, Joggen, Badminton, Volleyball, Basketball, Aerobic und Squash. „Playing sports is likely to have a positive influence on adolescent development in Europe.“ Musik wird in der Schweiz am zeitintensivsten betrieben. Die durchschnittliche Zeit derjenigen, die Musik machen beträgt 1,16 Stunden. Die Vermutung der Autoren für die Streuung liegt in soziökonomischen Differenzen. Am meisten Bücher gelesen werden in RU. Das hat aber damit zu tun, dass das Sample dort aus Privatschülern besteht. Mädchen lesen tendenziell mehr Bücher als Jungs. Abhängen ist in FI und NO am beliebtesten. Gründe dafür könnten im Schulsystem und in den freien Nachmittagen liegen. Ausserdem dürfte der Zeitpunkt der Datensammlung (Mai) eine Rolle gespielt haben. Auch Dating und Geld verdienen sind in Skandinavien am häufigsten praktiziert.

5.3 Empirische Lebensstilforschung Wie werden LS erstellt? Welche Verfahren verwendet man dazu? Gängig sind Clusteranalyse, Korrespondenzanalyse und Faktorenanalyse. Darüberhinaus existieren auch deduktive Herleitungen, die mit Punkteverfahren und Indices arbeiten (Otte 2004). Am häufigsten verwendet wird mit Abstand die Clusteranalyse, deshalb ein paar Worte dazu. Eine wichtige Frage besteht hier darin, wie Ähnlichkeit definiert wird: Wann sind sich Personen ähnlich? Es gibt eine Vielzahl von Lösungen und unterschiedliche Distanzmasse. Am einfachen Beispiel mit 8 Personen und 6 dichotomen Variablen beschreibt der Autor die City-Block Methode. Hier sind nur bestimmte Richtungen möglich (Nord-Süd, Ost-West, nicht aber Luftlinie), ganz im Gegensatz zur direkten euklidischen Distanz. Für das Beispiel bildet der Autor eine Paarvergleichsmatrix, wo jede (euklidische) Entfernung der Personen zu jeder anderen Person abgetragen ist. Sobald die Distanzen berechnet wurden, können die Personen auf unterschiedliche Arten in Gruppen aufgeteilt werden (z. B. agglomerativ, divisiv). Hier spielen die Kriterien, wie lang die Analyse weitergetrieben werden sollen, eine Rolle. Gütekriterien, die angeben, wie homogen die Cluster sind, sollten der Transparenz wegen angegeben werden: Je höher der Konsistenzwert, desto homogener sind die Cluster. Zudem sollte die Berücksichtigung weiterer Cluster nur noch zu marginaler Verbesserung des Gesamtmodells führen. Untereinander sollten die Cluster so unterschiedlich wie möglich sein. Um das zu messen können λ-Werte verwendet werden, die sich wie Korrelationskoeffizienten interpretieren lassen: Überdurchschnittlich hohe Werte einzelner Variablen in einem Cluster deuten darauf hin, dass diese Variable im Cluster bedeutend vertreten ist. Tiefe Werte stehen für Üntypischikeit"der Variablen. Neben der Clusteranalyse sind Korrespondenzanalyse und Faktorenanalyse prominente Verfahren der LSF. Gute Beispiele für das erstgenannte Verfahren finden sich bei Bourdieu, z. B. in den „feinen

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Abbildung 13: Die Cityblock Methode ist ein Distanzmass, bei dem nur bestimmte Richtungen erlaubt sind.

Unterschieden“ oder in „Homo Academicus“. Untenstehend ein Beispiel aus den „Regeln der Kunst“, das diese Methode gut veranschaulicht. Zur Interpretation: Wichtig sind die Achsen, die den Raum aufspannen. Sie sind zu einem gewissen Grad Interpretationssache und müssen vom Forscher selbst definiert werden. Kleine Abstände deuten Nähe an, grosse Abstände dagegen Distanz. Personen oder Klassen, die im Schema nahe beieinander sind, ähneln sich mit Hinblick auf die betrachteten Dimensionen.

Abbildung 14: Eine Korrespondenzanalyse aus den Regeln der Kunst von Bourdieu

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6 Zusammenfassung der Zusammenfassung Die LSF hat sich in den 1980er als eigenständiges Forschungsfeld insbesondere im deutschsprachigen Raum etabliert. Sie versucht gängige Gegensätze der Soziologie zu überbrücken und bildet einen Mittelweg zwischen Schicht- und Klassentheorie und Risikogesellschaft, in der die totale Wahlfreiheit und Individualisierung herrscht. Merkmale des Lebensstils sind gemäss Müller: • Ganzheitlichkeit • Frewilligkeit • Charakter • Verteilung von Stilisierungschancen (soziale Grundlagen der Stilisierung) • Verteilung von Stilisierungsneigungen (persönliche und klassenspezifische Grundlagen der Stilisierung) Hinzu kommt (bei anderen Autoren) bei anderen Autoren das Stichwort „Autonomie“. LS sind demnach kaum oder zumindest nicht völlig von der Sozialstruktur determiniert. Sie enthalten verschiedene Dimensionen, von denen die prominentesten folgende sind: Bewegen vs. Beharren (Modernität), Sein vs. Haben, Aktionsradius, Ästhetik, Distinktion, Lage und emotional vs. rational. Wichtig ist ferner die Untescheidung von Strukturierungs- und Entstrukturierungsansätzen. Erstere gehen davon aus, dass objektive Ressourcen (Einkommen, Bildung, Alter) weiterhin äusserst relevant für die Gestaltung des Lebens sind, dass die LS also zu einem guten Stück von der Sozialstruktur beeinflusst sind, letztere streichen die Gestaltungs- und Wahlfreiheiten hervor, die mit dem gesteigerten Angebotsund Wohlstandsniveau einhergehen. Die Individualisierungsthese und Schulzes Erlebnisge-

Abbildung 15: Laut Hradil ist Lebensstilen

sellschaft sind Beispiele für Entstrukturierung (zudem Hör- häufig eine bestimmte Art der expressiven ning, der Autonomie des LS behauptet), Bourdieu, Rich- Zurschaustellung und Stilisierung von Leter, Hradil, Otte, aber auch Goffman und Hahn sind Bei-

bensweisen eigen. Das stimmt, wie man nach

spiele für Strukturierung. Sie alle finden die LSF als Er-

einer kurzen Google Bildersuche mit dem

gänzung der Sozialstrukturanalyse zwar angebracht, hal-

Stichwort „lifestyle“ unschwer erkennt.

ten es aber verfehlt sie komplett zu ersetzen. Was alle LSForscher eint, ist die Behauptung, dass rein objektive und objektivistische Schichtungs- und Klassenanalyse zu kurz greift und man deshalb kulturelle und symbolische Aspekte sozialer Ungleichheit berücksichtigen muss, wie sie im LS zum Ausdruck kommen.

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Aus diesen Punkten lassen sich Definitionen des Lebensstils ableiten, von denen ich die wichtigsten zu Abschluss dieser Zusammenfassung anfügen möchte: „Unverwechselbare Struktur und Form eines subjektiv sinnvollen, erprobten (d. h. zwangsläufig angeeigneten, habitualisierten oder bewährten) Kontextes der Lebensorganisation (mit den Komponenten: Ziele bzw. Motivationen, Symbole, Partner, Verhaltensmuster) eines privaten Haushalts (Alleinstehende/r, Wohngruppe, Familie), den dieser mit einem Kollektiv teilt und dessen Mitglieder deswegen einander als sozial ähnlich wahrnehmen und bewerten“ (Lüdtke 1989: 40). Müllers Definition ist einfacher und besser verständlich. Ihr zufolge sind LS durch drei Charakteristika gekennzeichnet: Ressourcen, HH- und Familienform und Wertvorstellungen. „Unter dieser Vorgabe könnte man Lebensstile als raum-zeitlich strukturierte Muster der Lebensführung fassen, die von Ressourcen (materiell und kulturell), der Familien- und Haushaltsform und den Wertvorstellungen abhängen.“ (Müller 1992: 376). Reduced to the max ist schliesslich die dritte und letzte Definition, die ich von Hradil habe: Lebensstile als „gleichartige Organisationen des Alltagslebens von Menschen“. Ihnen ist häufig eine bestimmte Art der expressiven Zurschaustellung und Stilisierung von Lebensweisen eigen.

Abbildung 16: Ein letzter schlagender Beweis, dass Lebensstilen häufig „eine bestimmte Art der expressiven Zurschaustellung und Stilisierung von Lebensweisen eigen“ ist.

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