02 — 2014
Zurück an die
Spitze!
CIVIS & SONDE
Deutsche Bank deutsche-bank.de/ideen
Engagement, das alle weiterbringt Deutschland baut auf innovative Ideen Seit 2006 hat der Wettbewerb „Ausgezeichnete Orte im Land der Ideen“ bereits mehr als 2.600 starke Projekte ausgezeichnet. Diese Projekte haben vielfach Vorbildcharakter bewiesen und neue Initiativen ins Leben gerufen. Die jährlich steigenden Teilnehmerzahlen zeigen: Das Engagement der Menschen für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands ist groß. Dies fördern und unterstützen wir gerne.
CIVIS & SONDE
»Das Wohlfühlen von heute sichert nicht den Wohlstand von morgen.« Edmund Stoiber
CIVIS & SONDE 02 — 2014
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Liebe Leserin, lieber Leser,
die vor Ihnen liegende Ausgabe von CIVIS mit Sonde steht ganz im Zeichen der aktuellen Wirtschaftspolitik. Viel gelesen haben wir in der letzten Zeit über Themen wie beispielsweise die kalten Progression, das TTIP-Abkommen oder die Energiewende. Die Bundesregierung hat schwierige Entscheidungen zu den Themen Mindestlohn oder Mütterrente gefällt und auch das Thema Steuererhöhungen kommt in gefühlter Regel mäßigkeit auf die politische Tagesordnung. Trotz zahlreicher kontroverser Debatten sind sich alle zumindest in einem Punkt einig, nämlich dass gute Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum in Deutschland geschaffen werden müssen. Nur über das „wie“ scheiden sich die Geister.
Den Menschen in Deutschland geht es vor allem dann gut, wenn es auch der Wirtschaft gut geht.
„Das Wohlfühlen von heute garantiert nicht den Wohlstand von morgen“, sagte Edmund Stoiber vor kurzem auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Inzell. Wie recht er mit diesem Satz hat, beweist die kürzlich erschienene Herbstprognose der Europäischen Kommission, die für die EU ein äußerst schwaches Wirtschaftswachstum voraussagt und Deutschland sogar am Rande der Rezession entlangschlittern sieht. Gerade mit Blick auf die zahlreichen Steuergeschenke wird es also höchste Zeit, dass wir nach dem Verteilen wieder mehr über das Erwirtschaften sprechen.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen!
Wie kann die Politik bessere Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Wachstum schaffen? Wie müssen wir uns für die kommenden Jahre aufstellen, um auch international wettbewerbsfähig zu sein? Welche Rolle spielt dabei zukünftig die Digitalwirtschaft? Über diese und viele andere Fragen wollen wir in der vor Ihnen liegenden Ausgabe von CIVIS mit Sonde diskutieren. Herzlich danken möchten wir wieder den zahlreichen Autoren für ihre klugen Anregungen und Gedanken zu den verschiedenen wirtschaftspolitischen Fragen.
PS: Haben Sie CIVIS mit Sonde schon online unter www.civis-mit-sonde.de oder auf Facebook und Twitter besucht? Schauen Sie doch mal rein!
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02 — 2014
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Made in Germany
Petra Bahr im Gespräch mit Rainer Dulger 24
Die Schöpfung auch morgen bewahren
Julia Klöckner über die Arbeit ihrer neuen CDU-Kommission 28
Was ist die große Idee?
Armin Laschet über die Arbeit seiner neuen CDU-Kommission 32
Zur Arbeit der Zukunft und zur Zukunft der Arbeit Thomas Strobl über die Arbeit seiner neuen CDU-Kommission 36
Volles Geld für volle Leistung:
Schluss mit der kalten Progression! Carsten Linnemann mit Antworten zur kalten Progression 40
Kalte Progression im Einkommensteuertarif abbauen Michael Fuchs über die Ungerechtigkeit der kalten Progression 44
Deutschlands Wirtschaft stärken
Wolfgang Steiger und ein wirtschaftspolitischer Kompass 50
Mehr als nur ein Handelsabkommen Friedrich Merz mit einem Plädoyer für TTIP
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Christdemokratische Globalisierungskritik Younes Ouaqasse über Verantwortung in einer globalisierten Welt 58
Projekt Deutschland – digitales Wachstumsland Nr.1
Nadine Schön plädiert für eine Gründeroffensive
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Mehr Mut wagen
Tom Kirschbaum fordert eine neue unternehmerische Kultur 70
Für ein digitales Wirtschaftswunder
Philipp Justus über die Bedeutung der digitalen Wirtschaft 74
Industrie 4.0
Thomas Helm und der gesellschaftliche Wandel
Die Energiewende erfordert
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neue Denkansätze Hildegard Müller darüber, wie die Energiewende gelingen kann 84
Ethik – was ist denn das?
Hermann Schaufler über ethische Fragen in der Wirtschaft 88
Leidenschaft Violoncello Barbara Gerlach im Portrait 90
Homebase Iserlohn Paul Ziemiak im Portrait
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Den VfB im Herzen Steffen Bilger im Portrait
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Aus der politischen Kulisse
Auszüge der Erinnerungen von Peter Radunski
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Impressum
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Fotos: Maximilian König
Made in Germany Petra Bahr im Gespräch mit Rainer Dulger über die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland
Bahr: Ein Wunder, dass wir uns überhaupt treffen. Berlin im Verkehrskollaps. Mit einem Vertreter der Arbeitgeber über Sinn und Unsinn des Streiks der GDL zu reden, ist natürlich etwas anderes als der Smalltalk genervter Pendler.
auch in der Art der Inszenierung, schnell neue Regeln zu machen? Die Koalitionsfreiheit und das, was damit verbunden ist, ist ja ein hohes Gut, an ihr hängt das Modell der Sozialpartnerschaft. Gerade Ihre Branche hat ja in Deutschland besonderes Gewicht. Nicht nur Ihre Produkte, auch die Art, wie die Tarifverträge zustande kommen, sind in der Welt ein Exportschlager. Wenn ausländische Delegationen in die Konrad-Adenauer-Stiftung kommen, wollen sie wissen, warum die deutsche Wirtschaft durch die Banken- und Staatsschuldenkrise gekommen ist. Eine wettbewerbsfähige Industrie, starke Sozialpartner und eine kluge Zusammenarbeit zwischen Regierung, Gewerkschaften und Wirtschaft – das ist unsere Antwort.
Dulger: Neben Bahn und Lufthansa gibt es ja auch weniger bekannte Fälle. Wenn die Vorfeldlotsen bei Airbus in Hamburg streiken und der Toulouse-Shuttle nicht mehrfach täglich fliegt, dann müssen von den 10.000 Mitarbeitern dort 4.000 die Hände in den Schoß legen. Eine sehr kleine Minderheit kann so ein großes Unternehmen schwer in Mitleidenschaft ziehen. Der Gesetzesentwurf zur Tarifeinheit sieht vor, wieder ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen. Nach dem geplanten Repräsentationsprinzip würden pro Betrieb der Tarifvertrag und die Friedenspflicht der mitgliederstärksten Gewerkschaft gelten.
Dulger: Die politischen Beschlüsse, die dazu geführt haben, dass es uns in Deutschland heute so außerordentlich gut geht, stammen größtenteils aus der Agenda 2010. Auch in der Zeit der ersten großen Koalition unter Führung der Bundeskanzlerin wurden mit der Rente mit 67 oder der Schuldenbremse richtige Weichen gestellt.
Bahr: Wenn die Nerven blank liegen, macht die hochgezogene Augenbraue von Verfassungsrechtlern natürlich wenig Eindruck. Sind wir wirklich gut beraten, angesichts einer krassen Ausnahme,
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Legislaturperiode und nicht daran, was danach kommt. Angesichts der heute noch sehr guten Lage auf dem Arbeitsmarkt gibt es in der großen Koalition Kräfte, die ihre Prioritäten auf soziale Wohltaten setzen. Die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt von morgen oder die Standortbedingungen der Zukunft sind da sekundär. Unser Job als Arbeitgeber ist es deshalb, beständig auf die großen Risiken für die Wettbewerbsfähigkeit hinzuweisen und wichtige Weichenstellungen für die Zukunft anzumahnen. Wir sollten zum Beispiel die Chancen der Digitalisierung viel stärker in den Blick nehmen. Es gibt eine Studie, die sagt, dass wir in den nächsten zehn Jahren alleine in der digitalen Welt ein Wertschöpfungspotenzial von über 250 Milliarden Euro in Deutschland haben. Aber wir Deutsche umgeben uns ja leider immer lieber mit Ängsten. Gleiches gilt für die Debatte um das Freihandelsabkommen mit den USA.
Doch die politischen Beschlüsse, die in der jetzigen Legislaturperiode getroffen wurden, bewirken leider das Gegenteil und werden den Standort Deutschland schwächen. Die Unternehmen erwirtschaften einen Großteil der politischen Gestaltungsspielräume, sind aber hierfür auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standorts angewiesen. Derzeit steht eher die Sozialpolitik im Vordergrund. Die hat ihre Daseinsberechtigung, aber in Summe sind jetzt Entscheidungen getroffen worden, die uns in fünf bis zehn Jahren das Leben erschweren werden, gerade mit Blick auf die demographische Entwicklung. Bahr: Die Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung sind nicht mehr ganz so rosig. Erste Stimmen beschwören das Ende des „Jobwunders“. Ist Deutschland also ein schlafender Riese, der etwas behäbig in seinem Bett liegt und nur von vergangenen Erfolgen träumt? Und wenn ja, wie müsste man ihn wecken? Reicht ein kleiner Rippenstoß? Mir fällt auf, dass wir auch in der Debatte um Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit extrem gegenwartsfixiert sind. Alle zehn Jahre wird eine neue Generation ausgerufen. Nach der Generation X sind wir jetzt bei der Generation Y. Aber wer spricht noch von den „Kindeskindern“? Eltern und Großeltern wollen für ihre Kinder individuell das Beste, aber gesamtgesellschaftlich fehlt manchmal das Problembewusstsein dafür, dass kommende Generationen für das zahlen, was wir ihnen hinterlassen. Wie erklären sie sich diese Schizophrenie?
Bahr: Die „German Angst“ hat es ja sogar in den angelsächsischen Wortschatz geschafft – wir sind große Welteindunkler, das stimmt. Andererseits sind wir stolz auf unsere Ingenieure und findigen Kräfte. Nicht nur die Qualität von „Made in Germany“, auch die Originalität der Produkte wird auf der gesamten Welt bewundert. Wie passt das zusammen? Die Deutschen gelten als technologieaffin. Die neuesten Tablets finden hier reißenden Absatz, doch viele Leute hämmern auf ihren schicken neuen Geräten ihre Sorgen vor „Big Data“ in die Tastaturen. Und bei den Kampagnen gegen TTIP finden sich antiamerikanische Töne, die ich wirklich beunruhigend finde. Dieser Affekt geht ja tiefer als die normale Angst vor Veränderung. Müssten wir nicht auf diesen Widerspruch aufmerksam machen und mehr fragen, wie wir der technologischen Revolution auch eine Kultur des gescheiten Umgangs mit ihr an die Seite stellen? Dann käme von Anfang an auch eine Haltung ins Spiel, die über ökonomischen Veränderungsdruck hinausweist.
»Wir denken zu oft nur an die laufende Legislaturperiode und nicht daran, was danach kommt.«
Dulger: Als der erste Zug von Nürnberg nach Fürth fuhr, gab es viele Warnungen, dass die Geschwindigkeit für die Reisenden eine Gefahr für Leib und Leben sei. Es gibt viele Leute mit einem Pinsel in der Hand, die alles schwarz anstreichen möchten. Angst ist ja auch eine Triebfeder, aber meiner Meinung nach eigentlich immer ein schlechter Berater. Ich bin in diesem Jahr 50 Jahre alt geworden und als Babyboomer mit vielen bahnbrechenden Innovationen aufgewachsen.
Dulger: Ich würde nicht von einer Schizophrenie sprechen. Das Problembewusstsein ist schon vorhanden. Aber Politiker müssen auch an ihre Wiederwahl denken. Die aus meiner Sicht problematischen Beschlüsse der Bundesregierung belasten die deutsche Wirtschaft in der Regel erst in der Zukunft. Das ist vielen Politikern auch bewusst. Wir denken zu oft nur an die laufende
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Bestandteil der Produktion. In meinen Augen geht es nicht um eine neue digitale industrielle Revolution, sondern um eine Weiterentwicklung, eine Evolution.
Ich war von Captain Kirk völlig elektrisiert, als er in die Tasche griff und sagte: „Kirk an Enterprise“. Heute lachen wir darüber. Das Einzige, was uns noch fehlt, ist das Beamen.
»Inzwischen wollen alle Experten sein – und als solche ernst genommen werden.«
Bahr: Also ich bin froh, dass es neben Wikipedia auch noch gute Bibliotheken gibt. Der digitale Zugang zu ihnen ist natürlich großartig. Wie gut, dass Frauen sich in diesen Räumen genauso selbstbewusst bewegen. In den letzten 50 Jahren hat sich ihre Rolle ja auch in den Unternehmen drastisch verändert. Wie die Männer damit umgehen lernen, lasse ich mal außen vor, da ist noch Luft nach oben. Ich wünschte mir, dass auch im Berufsleben das Verhältnis der Geschlechter noch entspannter würde. Denn noch leben wir in zwei Zeitzonen gleichzeitig. Einerseits diskutieren wir Vorzüge und Nachteile gesetzlicher Quotenregelungen, andererseits sollen kleine Mädchen mit rosafarbenen Legosteinen Wellnesshotels nachbauen. Auf den Boxen der Legotechnik-Modelle sieht man Väter mit ihren Söhnen.
Wenn Sie heute irgendetwas nicht so genau wissen, dann ziehen Sie das Handy aus der Hosentasche und schauen im Internet nach. Früher musste man dafür in die Bibliothek gehen. Das sind enorme Errungenschaften und daraus haben sich auch tolle Geschäftsmodelle entwickelt. Dort liegen in Zukunft Wohlstand, Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft. Damit wir hier am Ball bleiben, muss die Politik jetzt die richtigen Maßnahmen einleiten, insbesondere bei Infrastruktur und Bildung. Wir brauchen zum einen den flächendeckenden Ausbau von Datenautobahnen und zum anderen noch mehr gut ausgebildete junge Menschen in den MINT-Fächern, vor allem auch Frauen. Gleichzeitig müssen wir den Mitarbeitern etwaige Vorbehalte und Ängste nehmen, die es gibt. Trotz Digitalisierung bleibt menschliche Arbeit und Erfahrung weiterhin ein unersetzlicher
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Dulger: Qualifizierte Arbeit wird es immer geben. Für die Betreuung der Automatisierungseinrichtungen braucht man Facharbeiter. Es wird weniger Arbeitsplätze in der mechanischen Metallverarbeitung geben, aber es wird mehr Menschen geben, die für die mechatronische Gerätebetreuung zuständig sind. Wir werden auch in Zukunft einen großen Bedarf an Facharbeitern haben. Es werden nur andere Qualifikationen gefordert sein. Dieser Wandel ist enorm schnell, aber wir sollten keine Ängste schüren, sondern vorausschauend neue Qualifikationsangebote schaffen. Unser Problem ist weniger der technologische, sondern der demographische Wandel.
Natürlich kann man auch in Rosa Spaß an Mathe haben, aber in Vorabendserien des deutschen Fernsehens sieht man selten erfolgreiche Ingenieurinnen mit zwei Kindern. Und Bilder prägen. Dulger: Wir haben in der Industrie exakt dieses Problem. Auf der Rangliste der beliebtesten Ausbildungsberufe von jungen Frauen findet sich das erste Berufsbild aus der Metall- und Elektroindustrie auf Platz 46. Und das liegt nicht daran, dass wir nicht um mehr Frauen in unseren Unternehmen werben. Rollenbilder haben beim Berufswahlverhalten leider einen größeren Einfluss als die konkreten Berufsbedingungen. Aber vielleicht ändert sich das. In unseren Niederlassungen in postkommunistischen Ländern arbeiten mindestens doppelt so viele Ingenieurinnen wie in Deutschland. Oder schauen sie nach Frankreich. Es wird ja viel darüber geschimpft, was die Franzosen alles falsch machen, aber unser Demographieproblem ist dort ein Fremdwort. Die Französinnen sind viel selbstverständlicher berufstätig und können für ihre Kinder eine hervorragende Betreuung in Anspruch nehmen. Das ist eine Frage der Kultur. Ein solches Bewusstsein und eine solche Infrastruktur müssen wir in Deutschland auch aufbauen. Hier gibt es Fortschritte, aber wir sind noch lange nicht am Ziel.
Bahr: Interessant, dass Sie die Facharbeiter nennen. Denn im Moment wird der bildungspolitische Imperativ ja vor allem als Akademisierung verstanden. Es könnte gerade angesichts der zu erwartenden Umwälzungen in der Arbeitswelt sein, dass wir viel mehr auf die duale Ausbildung setzen müssen, die ja auch ein Exportschlager sein könnte. Überspitzt gesagt können selbstlernende Maschinen in Zukunft vielleicht ganze Rechtsabteilungen ersetzen, nicht aber den Mechatroniker. Viele Menschen sind von solchen Umwälzungen allerdings überfordert. Sie fürchten Veränderungen – oder sie empfinden die Entwicklungen als Entwertung ihres Alltags- und Expertenwissens. Lange gab es in Deutschland eine gewisse Expertenhörigkeit, auch bei Infrastrukturprojekten.
Bahr: Viele Familien möchten sich allerdings auch nicht von politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fremdorganisieren lassen. Sie wollen selbst entscheiden, wie sie ihr Leben mit Kindern organisieren wollen. Deshalb sind auch viele gut ausgebildete Frauen skeptisch, wenn die Wirtschaft sich an die Spitze der feministischen Bewegung stellt. Nicht weil Betriebskindergärten und mehr Flexibilität am Arbeitsplatz nicht erwünscht wären, sondern weil sie eine Uniformierung der Lebensmodelle befürchten. Die Digitalisierung bietet natürlich viele Chancen, auch was die Neubestimmung guter Arbeit angeht. Aber die Rechner und Roboter ändern perspektivisch die Arbeit als solches, mehr als uns im Moment klar ist. Erste Studien rechnen hoch, welche Berufe – auch im Bereich der Hochqualifizierten – verschwinden. Was heißt das aber im Allgemeinen für das Land der Ingenieure? Stimmt der Imperativ „Mehr Bildung!“ noch? Wird die zweite industrielle Revolution damit nicht auch massive Folgen für das Sozialgefüge in unserer Gesellschaft haben?
Inzwischen wollen alle Experten sein – und als solche ernst genommen werden. Von dort ist es nicht weit zum Wutbürger oder Protestwähler – durchaus bis in die artikulierte bürgerliche Mitte hinein.
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ÂťAusruhen, Verschnaufen, nicht mehr nach vorne blicken und vorneweg gehen wollen, ist schon der Anfang vom Ende.ÂŤ
Haben Sie eine Vermutung, was Menschen so wütend oder so fatalistisch macht, dass sie sich auch mit gutem Einkommen unverstanden und schlecht vertreten fühlen?
Aspekte, aber auch Schattenseiten. Lautstarker Protest und organisierte Partikularinteressen können die schweigende Mehrheit dort relativ einfach übertönen und Masse suggerieren.
Dulger: Es gibt Menschen, die sich in der modernen Welt nicht mehr zurecht finden. Dass sie Angst vor Veränderungen haben, ist nachvollziehbar. Andere sind einfach nur satt oder frustriert. Doch diese Haltung bringt uns nicht weiter. Stillstand heißt Rückschritt. Ausruhen, Verschnaufen, nicht mehr nach vorne blicken und vorneweg gehen wollen, ist schon der Anfang vom Ende. Die Technologienation Deutschland bekommt in Stuttgart ja noch nicht mal einen neuen Bahnhof gebaut, ohne dass die Republik fast daran zerbricht. Dabei hat die Volksabstimmung in Baden-Württemberg gezeigt, dass die Mehrheit des Volkes sehr wohl für den Bahnhof ist. Früher haben BILD, BamS und Fernsehen Meinung gemacht, heute tragen Facebook, Twitter und Blogs ganz wesentlich zur Meinungsbildung bei. Wie alles im Leben hat das viele positive
Wir müssen erst lernen, mit dieser vielschichtigen Informationsvielfalt zurecht zu kommen und die lautstarken Trolle im Internet als Minderheit zu entlarven. Und wir sollten lernen, wieder kritisch miteinander zu debattieren, eine getroffene Entscheidung dann aber auch mitzutragen. Sonst ist nicht nur unser technologischer Fortschritt bedroht, sondern auch unser gesellschaftlicher Zusammenhang. Bahr: Dass Plattformen, Blogs und Diskussionsfelder im Netz nicht zwangsläufig zur Demokratisierung beitragen, sehe ich auch. Vor allem das sprachliche Niveau ist manchmal schockierend: die brutale, menschenverachtende Art, bei der ich manchmal den Eindruck habe, hier soll ein verbaler Bürgerkrieg angezettelt werden. Eine Kultur des Umgangs mit den neuen Medien müssen wir
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auch lernen. Und in der Tat wird es immer schwerer, zwischen Verschwörungstheorien, gefälschten Bildern und der Gleichrangigkeit aller Nachrichten ein begründetes Urteil zu fällen. Wir sollten deshalb besonders die dramatischen Veränderungen unserer Medienlandschaft auch als politische Herausforderung diskutieren. Ich würde aber gerne noch einen anderen Aspekt ansprechen: Die Industrie ist ja auch Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Wir verbringen mehr Zeit an unseren Arbeitsplätzen als mit unseren Familien. Arbeit ist daher auch ein Sozial-Labor, in dem sich viele Prozesse unseres Zusammenlebens abbilden. Was für Rückschlüsse ziehen Sie aus Ihren Beobachtungen für den Zusammenhalt der Gesellschaft?
Industrie, dass wir Zuwanderer brauchen, ist meines Erachtens auch hilfreich, weil die tiefste Sorge vieler Menschen nicht dem Befremden durch kulturelle Unterschiede gilt, sondern dem eigenen Arbeitsplatz. Hier setzen auch populistische Parteien an, denen Sie so deutlich widersprechen. Wirtschaftspolitik und die gesellschaftspolitische Herausforderung der Zuwanderung können sich so ja gut ergänzen. Sicher könnte man nüchterner über die Probleme reden, wenn auch deutlich wird: Zuwanderung ist kein Menetekel, sondern eine Gestaltungsaufgabe.
Dulger: Für viele ältere Menschen sind die Arbeit, der Betrieb und die Kollegen das Sozialsystem, in dem sie eingebunden sind. Viele Ehen sind geschieden, die Kinder sind aus dem Haus, die Menschen leben alleine. Arbeit ist da nicht Mühsal, sondern etwas, das stützt, das begeistert. Wir sollten den Mensch daher selbst entscheiden lassen, wie lange er in diesem Umfeld eingebunden sein will. Das gleiche gilt aber auch für junge Menschen, die neu in unser Land kommen. Da werden aus Immigranten Bürger, aus Bürgern werden Arbeitnehmer, aus Arbeitnehmern werden Kollegen und aus Kollegen werden Freunde. Die Erwerbstätigkeit – der Arbeitsplatz – ist der Integrationsmotor schlechthin. Jetzt haben wir wieder unsere Wutbürger, die sagen: „Es kommen zu viele Ausländer ins Land und die nehmen uns die Arbeitsplätze weg!“ Wir müssen aber ganz im Gegenteil für alle Menschen, die neu in unser Land kommen, möglichst schnell eine Erwerbstätigkeit finden, weil sie dann gut in unsere Gesellschaft integriert werden. Ich halte eine zielorientiertere Einwanderungspolitik in Deutschland für dringend notwendig. Wir brauchen diese Menschen in unserem Land. Wir wissen um unsere Demographie und die Probleme, die auf uns zukommen werden. Wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen, haben wir gar keine andere Wahl, als mehr Zuwanderung zuzulassen. Wer den demographischen Wandel in Deutschland und den Bedarf unserer starken Wirtschaft nach qualifizierten Arbeitskräften nicht sieht, der hat auch Globalisierung nicht verstanden.
Dulger: Entscheidend ist das Wertesystem. Wir Deutsche sind anderen Kulturen gegenüber immer schon sehr offen gewesen. Ich bin aber kein Freund von Multikulti. Das hat nicht funktioniert und es hat nicht funktionieren können, weil einige Wertesysteme einfach nicht kompatibel sind. Menschen, die in unser Land kommen und hier dauerhaft leben wollen, müssen unser Wertesystem kennen und akzeptieren. Im Rahmen unserer Gesetze kann jeder sein Leben nach den eigenen Wertvorstellungen gestalten, aber wer hier dauerhaft leben möchte, muss doch schon im eigenen Interesse verstehen wollen, wie wir Deutsche ticken. Deswegen ist ein guter Integrationsunterricht und die Vermittlung der deutschen Sprache so wichtig. Und deshalb sind Arbeitsplätze auch so wichtig, denn die Arbeit vermittelt auch Werte. Wir haben in Deutschland aber leider immer noch keine zielgerichtete Einwanderungspolitik. Wir brauchen einen Masterplan.
»Entscheidend ist das Wertesystem.«
Bahr: Hm, Werte finde ich gut. Wichtig ist mir aber, dass wir diese Werte auch benennen. Eine gemeinsame Sprache zu finden, muss selbstverständlich sein. Die Möglichkeit, diese Sprache schnell zu lernen, ist allerdings Teil einer Willkommenskultur. „Kultur“ ist aber nicht statisch. Und die Zuwanderer bringen ja auch Dinge mit, die uns bereichern können. Und ein „Wir“ können wir nur im Gespräch entwickeln. Da müssen Zuwanderer und die, die schon immer oder zumindest schon länger Deutsche sind, auch gemeinsam streiten. Zum Beispiel in den Parteien. Manches muss klar sein: Dass unsere Gesetze nicht verhandelbar sind. Keine parallelen Rechtsuniversen, keine parallele Justiz.
Bahr: Arbeitsplatz als Integrationsbeschleuniger, das gefällt mir gut. Und das Signal aus der
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Noch wichtiger finde ich es, daran zu erinnern, dass nicht Sippe oder Kollektiv, sondern der Einzelne in seiner Freiheit und Würde der Ausgangspunkt sein muss. Wenn dieses Fundament gilt, kann Deutschland zusammen mit den europäischen Partnern an neuen Regeln der Einwanderung stricken, die Humanität und die eigene ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung verbinden. Das hat Konsequenzen im Alltag: Religionsfreiheit, auch die negative Religionsfreiheit, ist selbstverständlich. Das selbstbestimmte Leben von Mädchen und Frauen auch. Lassen Sie mich noch auf ein Sprachproblem ganz anderer Art kommen. Wir wollten ja auch über das Verhältnis der Eliten reden. Wenn ich mit Unternehmern zusammen bin, wird bisweilen nach dem ersten Rotwein sehr verächtlich über die Politik geredet. Diese mühsamen Prozeduren, dieses Abwägen und Ausgleichen, das scheint manchem Wirtschaftsvertreter lästig zu sein. Vielleicht erleben Sie umgekehrt auch mal einen Politiker, der sagt: „Hallo, ich bin doch kein CEO. Ich bin ein Volksvertreter.“
einfacher, übereinander zu reden statt miteinander. Aber für die Vermittlung zwischen Politik und Wirtschaft – für diese Schnittstelle – gibt es uns als Wirtschaftsrepräsentanten hier in Berlin. Wir versuchen, die gebündelten Industrieinteressen an die Politik heranzutragen und Gesprächskanäle aufzubauen. Wenn das offen und aufrichtig passiert, löst sich auch dieser Knoten. Jeder muss den Willen mitbringen, sich mit den Hoffnungen, Nöten und Ängsten des Anderen zu befassen. In unserer Verbandsarbeit machen wir das jeden Tag, indem wir Politiker in die Unternehmen einladen. Sie finden auch Politiker aus allen Parteien, die das sehr bewusst wahrnehmen und keine Mühe scheuen, sich im mittelständischen Betrieb im heimischen Wahlkreis zu informieren. Einige Politiker kommen allerdings direkt vom Hörsaal in den Plenarsaal und haben nie einen Fuß in die freie Wirtschaft gesetzt oder einen Bezug zu wirtschaftlichen Zusammenhängen bekommen. Kein Wunder also, dass hier ein tieferes Verständnis für die Industrie fehlt. Einige von denen sind neugierig und schauen sich die Praxis an. Andere aber holen ihr Parteimanifest heraus und sagen: „Was hier drin steht, ist die Religion.“ Da trennt sich die Spreu vom Weizen. Auf der anderen Seite gibt es allerdings auch einige mittelständische Unternehmer, die mich belächeln und sagen: „Verbandsdepp!“
Dulger: Schauen sie in die kleinsten Dörfer und die örtlichen Fußballvereine. Da gibt es auch immer wieder eine Gartenzaunmentalität. Das hat zunächst nichts damit zu tun, ob sie aus der Wirtschaft oder aus der Politik kommen. Es ist immer
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Bahr: Dann braucht es offensichtlich mehr Räume, in denen sich Vertreter beider Welten ohne Zeitdruck treffen. Wir bieten in der KAS solche Räume der Begegnung an! Vielleicht haben die Eliten aber auch ein anderes Problem. In den USA gibt es ein neues Buch über die in die Spitze aufrückenden MBA-Absolventen: „Excellent Sheep“. Demnach kommt da jetzt eine sehr elitäre Generation Wirtschaftslenker, die vor lauter Skills und Kompetenzen keine Persönlichkeit haben. Fehlen uns in Zukunft die kantigen Unternehmertypen?
wachsen mit ihren Aufgaben. Es ist ja nicht so, dass die Persönlichkeit Stillstand erfährt, wenn man in eine neue Aufgabe oder in mehr Verantwortung kommt. Ich habe so viele Menschen beobachtet – auch mich selbst – die mit wachsenden Aufgaben auch nochmal eine Persönlichkeitsveränderung erfahren haben. Schauen Sie sich Joschka Fischer oder Berthold Huber an. Herr Huber war Vorsitzender einer der mächtigsten Industriegewerkschaften dieser Welt. Ich habe selten erlebt, dass an der Spitze einer so mächtigen Arbeitnehmervereinigung ein so reflektierter Mensch saß. Aber der ist halt auch nicht so geboren, sondern erst durch Erfahrung so geworden. Deswegen habe ich keine Sorge, dass uns die postulierten Einheitsschäfchen einschläfern.
Dulger: Man kann ein Unternehmen ab der zweiten Generation nicht mehr mit einem Startup-Unternehmer führen. Ein Unternehmen braucht ab einem gewissen Reifegrad eine andere Führung, weil es ganz andere Probleme hat. Es muss dann mehr und mehr nach Lehrbuch geführt werden. Da hilft kein Individualist, sondern nur ein Absolvent mit guter Ausbildung. Es gibt Unternehmen, die bestimmte Wege gefunden haben, Probleme zu bewältigen, und von diesen Vorbildern kann man profitieren. Die Persönlichkeitsbildung kommt dann relativ schnell ganz von alleine. Menschen
Bahr: Das ist doch ein schönes Credo: Mit dem Maß beruflicher Verantwortung wächst die Persönlichkeit. Ein Automatismus scheint das jedoch nicht zu sein. Und stimmt es wirklich, dass wir mehr Leute brauchen, die nach Lehrbuch leiten? Zeigt sich nicht die wahre Persönlichkeit dann, wenn die Lehrbuchlösungen nicht mehr passen?
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Wenn Haltung gefragt ist, eine mutige Entscheidung gegen alle Spindoktoren und Einflüsterer, für die die Verantwortung dann auch im Falle des Scheiterns übernommen wird? Vielleicht werden künftige Führungspersönlichkeiten gar nicht an den Businessschulen, sondern in der Familie, im Kindergarten, in der Kirchengemeinde, im Sportverein – und wenn es gut läuft, auch in den Jugendorganisationen von Parteien – geprägt?
mal konkret werden. Im Umgang mit dem eigenen Scheitern zeigt sich ja die wahre Größe. Hier haben wir allerdings auch in der Politik in den letzten Jahren erlebt, dass es gar nicht einfach ist, angeheizt durch Medien, die sich manchmal wie ein Gott im jüngsten Gericht aufspielen, mit Haltung Fehler einzuräumen. Aber gut. Enden wir mit dem Credo: Mehr Führungspersönlichkeiten braucht das Land.
Dulger: Die theoretische Grundausbildung ist ja Gold wert. Erfolgreiche Führungskräfte müssen aber auch Charisma mitbringen, sonst folgt ihnen die Masse nicht. Sie müssen Menschen mitnehmen können. Ich meine nicht „Leadership“ nach Lehrbuch, sondern die Begabung, das Selbstverständnis und die Führungserfahrung. Eine ganze Schar erfolgreicher Manager, die sich heute als Berater betätigen, lehren nicht ihr theoretisches Wissen, sondern ihre praktische Erfahrung. Menschen zu führen ist nach wie vor das Komplexeste, was es gibt. Das ist das, was sie immer wieder verzweifeln und scheitern lässt. Das lässt sie wiederum auch wieder wachsen, durch ihre Fehler, Enttäuschungen und Erfolge. Das gilt übrigens auch für die Politik.
Dulger: Das ist in anderen Kulturkreisen auch so. Wir sind seit 1994 mit einer eigenen Nieder lassung in einer chinesischen Sonderwirtschaftszone vertreten. Als wir dort investiert haben, waren Westeuropäer noch eine ziemliche Attraktion. Deshalb konnten wir gute Kontakte zu den Entscheidungsträgern und Professoren aufbauen. Einer dieser Kontakte ist heute Rektor einer Universität, die Führungskräfte weiterbildet, unter anderem von den besten westlichen Professoren. Ein wesentlicher Bestandteil davon ist „Leadership“ – oder übersetzt Menschenführung. Aber auch: Wie führe ich ein Verhandlungsgespräch, wie löse ich einen Konflikt, wie entschärfe ich Fronten? Jetzt zeigen Sie mir doch einmal eine deutsche Hochschule, wo das auf dem Lehrplan steht! Die Führungskräfte in Asien sind, was das betrifft, schlicht besser ausgebildet als die unseren – und bilden sich regelmäßig weiter.
Bahr: Darauf können wir uns einigen! Ich glaube, hier kann die Rede vom christlichen Menschenbild
Mit freundlicher Unterstützung des OSCAR & CO am Potsdamer Platz
Dr. Petra Bahr ist Pfarrerin und war von 2006 bis 2014 Kulturbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). In dieser Funktion war sie auch Leiterin des Kulturbüros der EKD in Berlin. Seit September 2014 ist sie Leiterin der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Dr. Rainer Dulger ist geschäftsführender Gesellschafter des Familienunternehmens Prominent Dosiertechnik GmbH in Heidelberg. Von 2009 bis 2012 war Dulger Vorsitzender von Südwestmetall. Seit 2012 ist er Präsident von Gesamtmetall, dem Dachverband von 21 Arbeitgeberverbänden der deutschen Metall- und Elektro-Industrie.
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Julia Klรถckner
Die Schรถpfung auch morgen bewahren Die CDU nimmt die Zukunft in den Blick
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Digitalisierung nach einem selbstbestimmten und nachhaltigen Leben. Dabei geht es nicht nur um die Vereinbarkeit von Wirtschaft und Umwelt, um Ökologie, Naturschutz und Energiewende im Sinne des Abschaltens von Kernkraftwerken, sondern auch um den persönlichen Lebensstil und um Lebensqualität in einem umfassenden Sinne.
2013 haben wir bei der Bundestagswahl einen großen Wahlsieg errungen. Die Menschen wissen, dass das Land bei Angela Merkel und der Union in guten Händen liegt. Uns trauen sie zu, die Auswirkungen der Finanzkrise zu bewältigen und Europa wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Beim Status quo können wir aber nicht stehen bleiben. Wir stehen permanent in der Verantwortung, uns nicht nur mit unseren Strukturen und unserer Arbeitsweise als moderne und lebendige Volkspartei zu beweisen, sondern wir müssen auch mit unseren Inhalten die Tagesordnung der Zukunft schreiben.
Es kommt nicht von ungefähr, dass die EU die kontinuierliche Verbesserung von Lebensqualität und Wohlstand als ein übergeordnetes Ziel ausgegeben hat. Und unsere Parteivorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel, hat es auf der Tagung der Nobelpreisträger in Lindau auf den Punkt gebracht: „Reine Wachstumsraten und das Bruttoinlandsprodukt sind noch keine qualitativ ausreichenden Indikatoren“. Folgerichtig spricht sie sich für die Entwicklung eines Indikatorensystems zur Lebensqualität aus, an dem sich die Politik orientieren kann.
Der Bundesvorstand hat die Einsetzung von drei Kommissionen beschlossen, die von Armin Laschet, Thomas Strobl und mir geleitet werden. Selbstverständlich beschäftigt sich eine der Kommissionen mit der Arbeit der Zukunft und dem Erhalt der Wirtschaftskraft im Digitalen Zeitalter. Wir sind die Partei mit der größten Kompetenz für Wirtschaft und für zukunftsfähige gute Arbeitsplätze und das bleibt auch unser Markenkern.
Ich behaupte: Es ist vor allem Sache der CDU mit ihrem christlich-demokratischen Grundverständnis, die Einheit von „Lebensqualität und nachhaltigem Leben“ durchzusetzen. Die Grünen reklamieren für sich das Monopol auf den Begriff Nachhaltigkeit.
»Vielen sind nicht mehr nur ein sicherer Job, solide Finanzen und eine gute Wirtschaftslage wichtig.«
Doch wer das Thema den Grünen überlässt, macht den Bock zum Gärtner, denn sie wollen das Primat der Umwelt auf Kosten der Lebensqualität durchsetzen. Wer die Schöpfung Mensch kennt, der weiß, diese Idee hat einen diktatorischen Ansatz, doch mit ihrer Reglementierungswut kommen die Grünen bei den Menschen glücklicherweise nicht durch. Der Versuch, einen Veggie-Day zu verordnen, war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Wir stehen aber in der Verantwortung, auch Themen anzupacken, die über die klassische Wirtschaftspolitik hinausgehen und die die Menschen immer stärker interessieren. Vielen sind nicht mehr nur ein sicherer Job, solide Finanzen und eine gute Wirtschaftslage wichtig. Fragen der Lebensqualität, des Zusammenhalts und des gesellschaftlichen Miteinanders gewinnen an Bedeutung. Nur wenn wir auch hier überzeugende Angebote erarbeiten, können wir „die Volkspartei der Mitte“ und die bestimmende politische Kraft in Deutschland bleiben.
Nur jene Weichenstellungen, die die Menschen mitnehmen, finden Akzeptanz und haben Bestand. Dafür steht die CDU. Wir stellen dem Ver- und Gebotswahn eine Politik entgegen, die den Menschen etwas zutraut. Wir schreiben niemandem vor, wie er zu leben und was er zu essen hat. Wir schaffen aber Rahmenbedingungen, die ein nachhaltiges Leben ermöglichen. Ich bin überzeugt, dass der Ansatz der CDU sich als der beste und tragfähigste erweisen wird.
Wir setzen Lebensqualität und nachhaltiges Leben auf die Tagesordnung Viele Menschen sehnen sich in der heutigen Zeit der Entgrenzung, Globalisierung und
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konnten dafür den Bestsellerautor und Soziologen Prof. Dr. Harald Welzer gewinnen, einen Vordenker nachhaltiger Lebens- und Wirtschaftsformen und Kritiker von Hyperkonsum und Wachstum -, haben die Teilnehmer die Agenda selbst bestimmt. Themen wurden ins Plenum gegeben und Arbeitsgruppen gebildet. Die dort erarbeiteten Thesen, Fragen und Forderungen haben wir gesammelt. Sie wurden am Schluss von den Teilnehmern bewertet. Damit sind wir deutlich von der bei Berliner-Politikveranstaltungen vorherrschenden Form der Podiumsdiskussion abgewichen und haben neue Maßstäbe gesetzt. Von dem Ergebnis sind wir begeistert! Die vielen Vorschläge der rund 170 Teilnehmer fließen nun in die Arbeit der Kommission ein.
Neue Formen der Beteiligung und Mitbestimmung bei der Kommissionsarbeit Zusammen mit meinen Stellvertretern, Katherina Reiche, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Verkehr und Digitale Infrastruktur, und Andreas Jung, der den Parlamentarischen Beirat Nachhaltigkeit leitet, bin ich mir einig: Mit der Kommission werden wir neue Wege in der Parteiarbeit gehen. In die Kommission wurden sehr unterschiedliche sachkundige Mitglieder berufen: Politiker, Bürgermeister von Städten und Landgemeinden mit interessanten Projekten, nachhaltig wirtschaftende Unternehmer, Umweltexperten und die Vertreterin eines Kreisbauernverbandes ebenso wie ein Manager, der sich um die Konzeption von City-Malls und Großstadtentwicklung kümmert, ein Anwalt, der sich mit neuen Medien auskennt, und eine Konsumforscherin von internationalem Ruf. Wir haben auch auf eine gute Mischung von Alt und Jung geachtet. Viele Mitglieder haben sich bei der Konstituierung am 1. September 2014 zum ersten Mal gesehen. Genau das ist unser Konzept, wir bringen Menschen zusammen mit unterschiedlichem Hintergrund, mit unterschiedlichen Erfahrungen und aus verschiedenen Berufen. Es soll kreative Unruhe entstehen, das Ausbrechen aus alten Denkschienen und neue Ideen sind unser Ziel.
Als nächste Stufe der Beteiligung bereiten wir Foren für unseren Parteitag Anfang Dezember in Köln vor. Dort werden die Delegierten in der Diskussion mit hochrangigen Experten gefragt sein. Grundsätze klären und Themen setzen, die nah am Menschen sind Auch wenn wir mit der Arbeit in der Kommission noch am Anfang stehen, so kann man jetzt schon sagen, dass es einen großen Gesprächsbedarf gibt, Grundsätzliches zu klären und für die CDU zu definieren, welches Wachstum wir wollen und was wir genau unter „Nachhaltigem Leben“ verstehen.
Die zweite Schiene unserer Arbeit ist die Einbeziehung von Parteimitgliedern und engagierten Bürgern. Wir haben uns in der Kommission bewusst dazu entschlossen, Themen nicht von vornherein festzulegen und – wie das häufig der Fall ist – die Lösung gleich mitzudenken. Im Gegenteil, wir halten die Dinge offen, hören in die Gesellschaft hinein und lassen die Menschen über die Tagesordnung der Kommission mitbestimmen. Wir laden ein zum Mitdenken: Jedes Parteimitglied und auch jeder interessierte Bürger kann sich beteiligen. Dafür wurden die E-Mail-Adresse nachhaltig-leben@cdu.de und die Internetseite www.cdu.de/nachhaltig-leben eingerichtet.
»Die Art, wie wir produzieren und konsumieren, muss ressourcenschonender, umweltfreundlicher, sozialverträglicher werden.« Aber die Mitglieder und Bürger erwarten natürlich auch konkrete Aussagen. Unser Anspruch ist es, zukunftsfähige Konzepte für nachhaltigen fairen Konsum und nachhaltiges Wirtschaften zu entwickeln. Die Art, wie wir produzieren und konsumieren muss ressourcenschonender, umweltfreundlicher, sozialverträglicher werden. Wir werden dabei prüfen, wie neue Technologien wirken und in welcher Weise die Digitalisierung helfen kann.
Ende September haben wir in Berlin im Konrad-Adenauer-Haus einen so genannten „Open Space“ durchgeführt. Das ist ein besonderes Veranstaltungsformat, dessen Charakteristikum eine große inhaltliche Offenheit ist. Nach einem zur Diskussion anregenden Impulsvortrag – wir
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Rahmenbedingungen wir „Zeitwohlstand“ und damit Lebensqualität schaffen können. Es mag banal klingen, aber das Einsparen von Behördengängen durch die Möglichkeit der digitalen Erledigung, komplett vernetzte und aufeinander abgestimmte Verkehrskonzepte oder die Organisation von Zeitbörsen auf kommunaler Ebene tragen grundlegend zur Schaffung von „Zeitwohlstand“ bei.
Und wir werden der Frage nachgehen, wie wir nicht nur in der Energieerzeugung, sondern in der Güterherstellung weg von fossilen und hin zu erneuerbaren Rohstoffen kommen. Ein weiteres Stichwort ist die „Share“-Ökonomie. Jeder kennt den Slogan „Teilen ist das neue Haben“. Aber wie muss das Teilen von Gütern und Dienstleistungen gestaltet sein, dass es für die Menschen zu einem Gewinn wird, statt wie bei manchen alternativen Fahrdiensten zum Problem? Und wie kann die moralische Seite des Konsums sichtbar gemacht werden - hilft uns ein Kleiderlabel weiter oder ist das nur Augenwischerei und Gewissensberuhigung?
Wichtig ist den Menschen auch immer das direkte Wohnumfeld. Wir werden uns deshalb in der Kommission mit der Entwicklung unserer Städte und Regionen beschäftigen. Urban, generationengerecht und umweltfreundlich leben in der Stadt der Zukunft sowie eine qualitativ hochwertige Versorgung mit Bildung, Gesundheitsdienstleistungen, Verkehrsanbindungen und Breitbandanschlüssen im ländlichen Raum müssen zwei Seiten der Medaille Lebensqualität auch künftig in Deutschland sein.
»Ein Topthema auf unserer Agenda ist der aktuelle Mangel an ‚Zeitwohlstand‘.«
All diese Fragen sind uns schon auf den Weg gegeben worden und wir werden uns damit befassen. Damit hat die Kommission „Nachhaltig leben – Lebensqualität bewahren“ einen sehr breiten Ansatz, aber die Menschen entscheiden auch in der Gesamtschau des Lebens. Das versuchen wir abzubilden. Ziel unserer Arbeit ist es, im nächsten Sommer dem Bundesvorstand der CDU unsere Ergebnisse zu präsentieren. Diese fließen in einen Leitantrag zum Bundesparteitag ein und werden damit fest in der CDU und im Regierungshandeln verankert.
Ein Topthema auf unserer Agenda ist der aktuelle Mangel an „Zeitwohlstand“. Ein erfülltes Berufsleben, Familie, Kinder und Pflege, Freunde, bürgerschaftliches Engagement und eine Welt mit einer schier unbegrenzten Fülle von Möglichkeiten machen Zeit zu einem knappen Gut und besonders wertvoll. Schon länger diskutieren wir darüber, wie sich Familie und Beruf künftig besser miteinander verbinden lassen. Aber wir müssen die Diskussion erweitern und fragen, mit welchen
Julia Klöckner MdL war von 2009 bis 2011 parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Seit 2010 ist sie Vorsitzende der CDU Rheinland-Pfalz und seit 2011 Fraktonsvorsitzende der CDU im Landtag von Rheinland-Pfalz. 2012 wurde sie zur stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden gewählt und ist derzeit zuständig für die CDU-Kommission „Nachhaltig Leben – Lebensqualität bewahren“.
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Armin Laschet
Was ist die groĂ&#x;e Idee? 28
Die CDU will dafür Ideen und Konzepte liefern. Die neuen Kommissionen sind ein anderer Weg, dazu zu kommen: In der 40-köpfigen Kommission „Zusammenhalt stärken – Zukunft der Bürgergesellschaft gestalten“ sind Repräsentanten aus allen gesellschaftlichen Bereichen wie Kirchen, Verbänden und Stiftungen, aber auch Wissenschaftler, Praktiker und profilierte Politiker vertreten.
In der CDU-Kommission „Zusammenhalt stärken – Zukunft der Bürgergesellschaft gestalten“ soll es um das „große Ganze“ gehen – ganz bewusst. Haben wir die Antworten auf die Fragen der Menschen heute? Mit dieser Leitfrage hat der Bundesvorstand der CDU Deutschlands im Februar 2014 beschlossen, drei Kommissionen unter der Leitung der stellvertretenden Bundesvorsitzenden einzurichten, die sich ressortübergreifend Themenkomplexen zuwenden sollen, die für die moderne Gesellschaft von heute von Bedeutung sind:
Ganz bewusst habe ich auf eine breite Beteiligung externer Persönlichkeiten gesetzt – und darüber hinaus auch solche Experten eingeladen, die sich anderen politischen Strömungen und Parteienfamilien näher fühlen.
• Die Kommission „Nachhaltigkeit Leben – Lebensqualität bewahren“ unter der Leitung von Julia Klöckner;
Die Kommission will offen die Fragen angehen, die unsere Gesellschaft bewegen: Wie passen Politikverdrossenheit und sinkende Wahlbeteiligung mit dem Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung zusammen? Wie sieht es mit dem Vertrauen in Familien, in gesellschaftlichen Netzwerken und gegenüber staatlichen Institutionen aus? Wie stark ist die Akzeptanz gegenüber unterschiedlichen Lebensmodellen und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ausgeprägt? Wie stark ist die Solidarität zwischen Alt und Jung, Arm und Reich, Ost und West? Welchen Einfluss haben Wirtschaft und Digitalisierung auf unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt? Wie begegnen wir neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen?
• die Kommission „Arbeit der Zukunft – Zukunft der Arbeit“ unter der Leitung von Thomas Strobl; • die Kommission „Zusammenhalt stärken – Zukunft der Bürgergesellschaft gestalten“ unter meiner Leitung. Demographischer Wandel, Digitalisierung, Globalisierung, veränderte Sozial- und Familienstrukturen, wirtschaftliche Herausforderungen, Zuwanderung und Integration – unsere Gesellschaft erlebt tiefgreifende Umbrüche.
Eine gute Regierungsführung und das politische Tagesgeschäft alleine reichen nicht aus, um diese Fragen zu beantworten und um für die großen Herausforderungen gerüstet zu sein. Wer die Gesellschaft der Zukunft gestalten will, muss eine Idee von der Zukunft der Gesellschaft haben.
»Wir wollen ein Deutschland, in dem Menschen auch morgen und übermorgen noch gerne leben und arbeiten.«
Darum ging es auch in der ersten Sitzung im Oktober in Berlin. Friedrich Merz, der als Mitglied in der Kommission mitarbeitet, analysierte in seinem Impulsvortrag zum Thema „Digitalisierte Wirtschaft und Gesellschaft – neue Herausforderungen für den Zusammenhalt in unserem Land“ einige Themenfelder, an denen sich die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft und die Zukunftsfestigkeit unserer Gesellschaft zeigen wird: Das Verhältnis gegenüber neuen Technologien, die digitale Transformation unserer Industrie, der Umgang mit Gentechnik, die Beteiligung von Arbeitnehmern am Unternehmenskapital.
Als Volkspartei der Mitte ist es unser Anspruch, Antworten auf die damit verbundenen Fragen zu finden und eine Vision für das Deutschland von morgen zu entwickeln. Wir wollen auf die Herausforderungen nicht nur reagieren, sondern den Wandel aktiv gestalten. Unser Ziel ist eine aktive Bürgergesellschaft und ein starker Zusammenhalt in unserem Land. Wir wollen ein Deutschland, in dem Menschen auch morgen und übermorgen noch gerne leben und arbeiten.
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»Wer die Gesellschaft der Zukunft gestalten will, muss eine Idee von der Zukunft der Gesellschaft haben.« Armin Laschet war von 2005 bis 2010 Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration in Nordrhein-Westfalen. 2012 wurde Laschet zum Vorsitzenden der CDU Nordrhein-Westfalen gewählt. Seit 2013 ist er zudem Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen und stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU Deutschlands. Er leitet die Kommission „Zusammenhalt stärken – Zukunft der Bürgergesellschaft gestalten“.
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Papier erarbeitet werden, das als ein Leitantrag zum CDU-Bundesparteitag 2015 eingebracht werden wird. Es ist gut und richtig, wenn sich unsere Partei nach zehn Jahren in der Regierungsverantwortung ihrer eigenen Grundsätze versichert – indem sie diese auch hinterfragt. Die CDU muss sagen, wie sie sich ein liebens- und lebenswertes Deutschland von morgen vorstellt. Auch soll es darum gehen, welchen Beitrag die CDU Deutschlands leisten kann und sollte, welches Angebot zur Gestaltung wir machen wollen.
Ich habe mit Friedrich Merz bewusst eine Persönlichkeit um seine Mitarbeit in der Kommission zur Bürgergesellschaft gebeten, die für Wirtschaftskompetenz und klare Sprache steht. Als CDU verlieren wir nicht aus dem Blick, dass eine starke und moderne Gesellschaft einer soliden wirtschaftlichen Grundlage bedarf. Wir können nur investieren, was wir auch verdient haben. Mit der Berufung weiterer Vertreter aus der Wirtschaft machen wir klar: Wir nehmen die Wirtschaft in die Verantwortung, wenn es um den Zusammenhalt in unserem Land geht. Es geht nicht um ein weiches Thema, sondern die Grundlage des Erfolgs unserer sozialen Marktwirtschaft. Die Frage einer geglückten Bürgerbeteiligung entscheidet mittlerweile auch über Wohl und Weh großer Infrastrukturprojekte in unserem Land – und prägt damit das Bild Deutschlands in der Welt.
Unser Anspruch ist, auch in Zukunft die Volkspartei der Mitte zu bleiben. Wir wollen eine lebendige und moderne Partei sein. Eine Partei, deren Vertreter mit beiden Füßen auf dem Boden stehen, aber mit dem Anspruch, die Dinge auch einmal auf den Kopf zu stellen. Eine Partei, die sich der Lebenswirklichkeiten annimmt, ohne sich mit ihnen zu begnügen.
Dabei geht es auch darum, wie wir unsere Demokratie leben wollen. Wie verhält sich der Erfolg kleiner, gut organisierter Bürgerinitiativen zum Grundsatz der repräsentativen Demokratie – nicht nur unproblematisch.
Die Arbeit der Kommission soll so offen und transparent wie möglich gestaltet werden. Der Themenbereich der Kommission ist groß und vielfältig, deshalb soll die Kommission von der Parteibasis unterstützt werden und Ideen, Standpunkte und Überzeugungen der Mitglieder aufgreifen. Aus diesem Grund wurde eine eigene Internetseite für die Kommission eingerichtet. Unter www.cdu. de/zusammenhalt-staerken werden Zwischenschritte der Kommissionsarbeit vorgestellt und es kann dort diskutiert werden. In Kürze wird dazu ein „Mitmach-Tool“ eingerichtet, so dass jedes CDU-Mitglied seine Ideen beitragen und mitteilen kann, was ihm zu den Themen besonders wichtig ist.
»Wir wollen eine lebendige und moderne Partei sein.« Ziel der Kommission ist es, eine attraktive Vision von bürgerlicher Politik zu entwickeln und einige konkrete politische Initiativen zu formulieren, die ihr konkreten Ausdruck verleihen. Zum diesjährigen CDU-Bundesparteitag in Köln findet zu allen drei Kommissionen ein Diskussionsforum statt, um auch Impulse von Seiten der Delegierten und Gäste aufzunehmen. Im Ergebnis soll ein
Denn wenn es darum geht, die Bürgergesellschaft der Zukunft zu gestalten, sind alle gefragt. Besonders aber die CDU als einzig verbliebene Volkspartei.
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Thomas Strobl
Zur Arbeit der Zukunft und zur Zukunft der Arbeit
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Wie haben Sie heute Ihren (Arbeits-)Tag begonnen? Meiner startete mit einem Blick auf mein Smartphone. Noch vor 40 Jahren, in einer Zeit, in der Computer als Jobkiller galten, wäre jeder für verrückt erklärt worden, der unseren heutigen Berufsalltag mit diesem „Mini-Computer“ hätte vorhersagen können. Dabei hat der technische Fortschritt unsere Art zu arbeiten schon immer radikal beeinflusst. Denken wir nur an die Erfindung der Dampfmaschine. Der entscheidende Schlüssel zu Wirtschaft und Produktion im 21. Jahrhundert wird allerdings keine Maschine, sondern die Digitalisierung sein.
konstituierenden Sitzung Anfang September in Konrad-Adenauer-Haus in Berlin. Unsere Kommission hat das Glück, von ganz unterschiedlichen Mitgliedern zu profitieren, die viele Ideen und einen reichen Erfahrungsschatz einbringen. Wir haben uns hierfür auf die Leitthemen Revolution, Wertschöpfung, Produktion, Arbeit, Lernen, Denken und Staat verständigt – alles in der Version 4.0. Ziel ist die Erarbeitung eines Papiers, das bereits zum Parteitag 2015 eingebracht werden soll.
Wir sind die Partei der Zukunft.
Einer so starken Gesellschaftsveränderung wie der Digitalisierung können wir nicht mit einer einzigen Maßnahme begegnen. Doch das erste Zusammentreffen unserer Kommission hat bereits gezeigt, dass zukünftig eine entscheidende Standortfrage Breitbandnetze sein werden.
Wir schaffen die Grundlagen.
Für unsere Partei ist es selbstverständlich, dass wir alle Voraussetzungen schaffen, damit Deutschland eine führende Rolle im digitalen Fortschritt einnimmt. Dabei lassen wir uns nicht vom Schreckensbild leiten, dass deutsche Unternehmen zukünftig in die Zulieferrolle für amerikanische Hersteller wie Google gedrängt werden könnten. Stattdessen ist es an der Zeit, sich auf die Stärken unseres Landes zu besinnen. Deutschland hat die besten Voraussetzungen, an der Spitze der Digitalisierung zu stehen. Wir müssen unsere Chance nur nutzen.
»In einem Land wie unserem mit dezentralen Wirtschaftsstrukturen dürfen wir den ländlichen Raum nicht vernachlässigen.«
Wie das am besten gelingen kann, diskutieren wir derzeit in der von mir als stellvertretendem Bundesvorsitzenden geleiteten Parteikommission „Arbeit der Zukunft – Zukunft der Arbeit“. Als eine der drei vom CDU-Bundesvorstand eingesetzten Kommissionen sollen wir ein Konzept für unsere Wirtschaftspolitik erarbeiten, das auch über 2017 hinaus blickt. Für mich sind die Auswirkungen des technischen Fortschritts auf unsere künftige Art des Wirtschaftens und Arbeitens nicht nur zentrales Thema unserer Kommission, sondern unseres ganzen Landes. Deshalb wird sich die CDU mit unserer Kommission noch stärker als Partei der Zukunft etablieren, die bereits heute die Arbeitswelt von morgen im Blick hat.
Hohe Bandbreiten sind die Grundvoraussetzung innovativer Anwendungen (denken wir nur an Streaming-Dienste und Telemedizin). Bei der Versorgung mit leistungsstarkem Internet liegen wir gerade einmal im hinteren Viertel der Industrienationen - deutlich hinter den USA, Japan und Südkorea. Schnelle Glasfaserleitungen in Berlin und Stuttgart sind ein Anfang, aber sie fehlen uns gerade in Hinterzarten und Graben-Neudorf. In einem Land wie unserem mit dezentralen Wirtschaftsstrukturen dürfen wir den ländlichen Raum nicht vernachlässigen. Denn gerade auch dort sitzt Wirtschaftskraft, dort sitzen leise Riesen unseres Mittelstands, die in ihrem speziellen Bereich oft Marktführer, ja sogar Weltmarktführer sind. Hier müssen wir massiv investieren.
Wir haben Visionen. Ohne den üblichen Termindruck haben wir in der Kommission die Gelegenheit, uns ausführlich mit zentralen wirtschaftspolitischen Fragen zu beschäftigen. Wie viel Potenzial diese Form des gemeinsamen Entwickelns von Visionen hat, zeigte sich bereits während unserer
Wir sichern die Finanzierung. Auch mit Start-Ups werden wir uns intensiv beschäftigen. Sie sind mit ihrer Innovationskraft wichtige Treiber der Digitalisierung.
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Doch häufig mangelt es ihnen an Geld: Sie können außer ihren Ideen kaum Sicherheiten bieten, weshalb Banken ihnen Kredite verweigern. Zwar existiert schon eine Vielzahl staatlicher Förderprogramme, doch eine nachhaltige Stimulierung des deutschen Venture-Capital-Marktes können wir nur über privates Engagement erreichen. Immerhin wurden in Deutschland in den vergangen drei Jahren rund zwei Milliarden Euro in junge Unternehmen investiert, aber in den USA floss zeitgleich das 32-fache an Risikokapital. Das Potenzial ist also bei weitem nicht ausgeschöpft.
Erstimmatrikulierten. Wie wir dem begegnen können, wird sicher eine spannende Frage der Arbeitsgruppe sein.
Deutsche Investoren präferieren offenbar Sicherheit und sehen Start-Ups als risikoreiche Spekulation. Wenn wir nicht wollen, dass vielversprechende Jungunternehmen an fehlendem Geld scheitern, müssen wir handeln. Zu denken ist beispielsweise an gesetzliche Regelungen, um Deutschland für Investoren von Wagniskapital attraktiver zu machen. Unternehmensübergreifende Fonds könnten außerdem das Risiko für den Einzelnen minimieren. Dann wären Start-Ups auch für kapitalstarke, aber sicherheitsorientierte Versicherungen und Pensionskassen attraktiv. Ich freue mich bereits sehr darauf, diese Ideen in der Kommission zu diskutieren.
»Misserfolge gehören ganz selbstverständlich zum Unternehmertum, wenn wir daraus lernen.«
Mit uns kommt das Umdenken. Für uns werden allerdings nicht nur handfeste Zahlen von Bedeutung sein, sondern wir wollen die gesamte Gesellschaft im Blick haben. Wenn wir eine „neue Gründerzeit“ wollen, dann sollten wir auch versuchen, in Deutschland eine „Kultur des Scheiterns“ zu etablieren.
Wir dürfen Geschäftsaufgaben und Insolvenzen nicht mehr als Untergang betrachten, wie es hier leider häufig gesehen wird. Stattdessen sollte gelten: Aufstehen, Krönchen richten, weitermachen. Misserfolge gehören ganz selbstverständlich zum Unternehmertum, wenn wir daraus lernen. Deshalb sollten wir keine Angst vor Fehlern haben. Eine zweite oder dritte Chance sollte stattdessen etwas ganz Selbstverständliches werden. Auch in unserer Kommission gibt es Menschen, die gescheitert sind – und dies als Chance begriffen haben. Auf den Austausch mit ihnen bin ich bereits jetzt sehr gespannt. Denn wenn es uns gelingt, in Deutschland Gründergeist zu vermitteln und die Angst vor der Erfolglosigkeit zu nehmen, dann haben wir schon sehr viel gewonnen.
Und dafür holen wir jeden Einzelnen ins Boot. Ein zentrales Thema unserer Kommission wird außerdem die Bildung im Zeitalter der Digitalisierung sein, das „Lernen 4.0“. Noch immer habe ich den Impulsvortrag des BDI-Innovationsexperten Dr. Reinhold Achatz im Kopf, der während unserer ersten Sitzung feststellte: „Man wird zukünftig im Leben ein bis zweimal etwas fundamental Neues lernen müssen“. Wir wollen in der Kommission darüber nachdenken, wie es uns gelingen kann, dass sich niemand davor ängstigt, abgehängt zu werden, sondern stattdessen alle das lebenslange Lernen als Chance begreifen.
Es wird ein „digitaler Ruck“ durch Deutschland gehen! Wir wollen in der Kommission nicht weniger, als dass ein „digitaler Ruck“ durch Deutschland geht. Denn wenn wir nicht von der Welle der Digitalisierung erschlagen werden wollen, dann müssen wir auf ihr reiten. Die Digitalisierung ist nicht gefährlich an sich – sie ist nur gefährlich, wenn wir die Chancen nicht richtig nutzen. Deshalb müssen wir jetzt alles dafür tun, damit unser Land auf den digitalen Wandel vorbereitet ist. Dann haben wir es auch in der Hand, das Beste für unser Land herauszuholen. Die Arbeit unserer Kommission „Arbeit der Zukunft – Zukunft der Arbeit“ soll ein entscheidender Schritt sein.
Die Zukunft unseres Landes sind Menschen mit kreativen Ideen. Das müssen wir bei der Entwicklung von Lehrplänen für Schulen und Universitäten aber auch bei der Erwachsenenbildung im Blick haben. Noch immer entscheiden sich zu wenige für einen MINT-Beruf. In den MINT-Studiengängen sind zudem die Abbruchquoten besonders hoch: Je nach Studiengang liegen sie bei zwei Drittel der
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»Wenn wir nicht von der Welle der Digitalisierung erschlagen werden wollen, dann müssen wir auf ihr reiten.« Thomas Strobl ist seit 2011 Landesvorsitzender der CDU BadenWürttemberg und seit Dezember 2012 stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU Deutschlands. Seit 2014 ist Strobl stellvertretender Vorsitzender der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion und dort zuständig für die Rechtsund Innenpolitik. Er leitet seit kurzem die neue CDUKommission „Arbeit der Zukunft – Zukunft der Arbeit“.
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Carsten Linnemann
Volles Geld f端r volle Leistung: Schluss mit der kalten Progression! 36
der politische Wille vorhanden ist, kann jeder Haushalt dies stemmen.
Die Debatte um die Abschaffung der „kalten Progression“ gewinnt an Fahrt. An der CDU-Basis wird der Antrag der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) für einen Steuertarif „auf Rädern“ munter debattiert. Die MIT will durchsetzen, dass sich der Steuertarif künftig automatisch jedes Jahr an die Inflationsrate anpasst. Dutzende CDU-Kreisverbände haben den Antrag zur „Steuerbremse“ übernommen und reichen ihn als eigenen Antrag zum Bundesparteitag im Dezember ein. Auch Junge Union und CDA unterstützen den Antrag. Für CIVIS antwortet der Initiator der Steuerbremse, MITChef Carsten Linnemann, auf die zehn häufigsten Argumente der Kritiker.
Und sogar die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute haben in ihrem Herbstgutachten, das sich mit der Konjunktureintrübung beschäftigt hat, die Abschaffung der kalten Progression gefordert. Schließlich würde durch den Verbleib des Geldes beim Steuerzahler die Konsumlaune angekurbelt. 2. Vorwurf: Die Abschaffung der kalten Progression kostet doch mehr, nämlich mehr als sechs Milliarden Euro. Die in der Debatte häufig verwendeten gut 6 Milliarden haben mit dem MIT-Vorschlag der Steuerbremse nichts zu tun. Sie beziehen sich auf den alten Gesetzentwurf von Wolfgang Schäuble, der in der vorigen Legislaturperiode an der SPD-Mehrheit im Bundesrat gescheitert ist. Er fasst den Effekt der kalten Progression von mehreren Jahren zusammen und passt den Tarifverlauf an, aber nur einmalig. Dadurch kommen im Jahr des Inkrafttretens rund 6 Milliarden Euro an geringeren Steuermehreinnahmen zustande. Der MIT-Vorschlag mindert nur den Progressionseffekt eines Jahres (dafür aber jedes Jahr) und vermindert daher im ersten Jahr die Steuermehreinnahmen nur um rund 1 bis 2 Milliarden. Da sich dies aufsummiert, wird der Effekt mit jedem Jahr etwas größer, während es bei dem Schäuble-Entwurf nur ein Einmaleffekt ist.
1. Vorwurf: Die Abschaffung der kalten Progression ist nicht finanzierbar und gefährdet den Haushalt ohne Neuverschuldung. Erst recht, da sich jetzt die Konjunktur eintrübt. Das stimmt genauso wenig wie das Argument: Unser Staat sei ohne Steuererhöhungen nicht finanzierbar. Das Geld aus der kalten Progression ist eine heimliche Steuererhöhung und steht dem Staat nicht zu. Lohnerhöhungen, die nur die Inflation ausgleichen, erhöhen nicht die Leistungsfähigkeit der Bürger. Deshalb dürfen sie nicht wegbesteuert werden. Der Staat muss sich ehrlich machen!
»Das Geld aus der kalten Progression ist eine heimliche Steuererhöhung und steht dem Staat nicht zu.«
3. Vorwurf: Die regelmäßige Anpassung des Einkommensteuertarifs wird die Inflation beschleunigen. Dies ist ein Argument, das seit den 70er Jahren von keinem Ökonom mehr vorgebracht wird. In 18 von 34 OECD-Ländern, die den Steuertarif an die Inflationsrate anpassen, z. B. die Schweiz, die Niederlanden, Großbritannien und die USA, gibt es auch keine inflationären Wirkungen.
Aber auch das fiskalische Argument stimmt nicht: Die MIT-Steuerbremse soll zwar noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten, aber erst 2016 oder 2017. Damit hat der Vorschlag auf den ausgeglichenen Haushalt 2015 überhaupt keine Auswirkungen. Im ersten Jahr des Inkrafttretens würde der Staat ohne die Wirkung der kalten Progression je nach Inflationsrate 1 bis 2 Milliarden Euro weniger einnehmen – verteilt auf Bund, Länder und Gemeinden. Bei Gesamteinnahmen für Bund, Länder und Gemeinden von rund 870 Milliarden Euro (2013) sind das weniger als 2 Prozent. Wenn
4. Vorwurf: Die Debatte lohnt sich nicht, da man Erwartungen auf Steuersenkungen beim Bürger weckt und diese angesichts geringer Inflationsraten kaum spürbar wären: bei 80 Prozent der Steuerzahler weniger als 8 Euro im Monat. Beim Abbau der kalten Progression geht es nicht um Steuersenkungen. Es geht darum,
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Steuersätze generell nach oben oder unten zu verändern. Dann würde die Steuerbremse mit ihrem Anpassungsmechanismus eben die neuen Steuersätze an die Inflation anpassen. Steuererhöhungen sind nach MIT-Auffassung grundsätzlich abzulehnen, aber erst recht, wenn sie heimlich und ohne öffentliche Debatte geschehen.
einen Systemfehler und eine Ungerechtigkeit zu beseitigen. Richtig: Im ersten Jahr und bei niedriger Inflation ist die Wirkung zunächst gering. Aber der Effekt wird Jahr für Jahr größer. Selbst bei Inflationsraten, die unter dem EZB-Ziel von rund 2 Prozent bleiben, belastet die kalte Progression Gering- und Durchschnittsverdiener spürbar: Eine alleinerziehende Mutter mit 30.000 Euro Jahresgehalt kostet die kalte Progression im vierten Jahr (bei 1,8 % Inflationsrate) schon mehr als 300 Euro im Jahr. Es geht hier nicht um zwei Tassen Kaffee pro Monat, sondern im Jahr schnell mal um 30 Windelpackungen oder eine Waschmaschine.
»Wenn Parteien von einer Indexierung profitieren dürfen, warum dann nicht auch der Steuerzahler?«
5. Vorwurf: Durch den Abbau der kalten Progression werden vor allem die ohnehin Besserverdienenden überdurchschnittlich entlastet.
Im Übrigen gibt es schon jetzt zahlreiche Anpassungen, die sich an den Preissteigerungen orientieren: Hartz-IV-Sätze werden regelmäßig angepasst, zu Lasten der Arbeitnehmer und Arbeitgeber auch die Beitragsbemessungsgrenzen zu den Sozialversicherungen. Und bei der Parteienfinanzierung gibt es sogar eine automatische Anpassung an die Inflationsrate – ohne jeden Parlamentsvorbehalt. Wenn Parteien von einer Indexierung profitieren dürfen, warum dann nicht auch der Steuerzahler?
Das Gegenteil ist der Fall: Von der Entlastung durch die Abschaffung der kalten Progression profitieren Einkommensbezieher am unteren Ende des Steuertarifs verhältnismäßig am stärksten. Zwar ist die Entlastung der Besserverdienenden in absoluten Zahlen am höchsten, sie erfolgt aber nur in dem Maße, wie momentan die ungerechtfertigte Belastung vollzogen wird. 6. Vorwurf: Der Automatismus und eine Koppelung des Einkommensteuertarifs an einen Index sind undemokratisch, weil damit das Parlament entmachtet wird.
7. Vorwurf: Das Anliegen hat keine Chance, da die SPD alle bisherigen Versuche der Union, die kalte Progression abzuschaffen, abgelehnt hat.
Näher an der Wahrheit liegt, dass die aktuelle Praxis mehr Demokratie vertragen könnte: Der Bundestag hat einmal entschieden, wie hoch die Bürger besteuert werden sollen. Maßstab ist die Leistungsfähigkeit. Doch die kalte Progression führt dazu, dass diese Bundestagsentscheidung Jahr für Jahr – heimlich und ohne Debatte oder gar Beschluss – verändert wird: der Besteuerungsanteil steigt, ohne dass die Leistungsfähigkeit zunimmt. Die MIT-Steuerbremse würde dagegen dazu führen, dass der einmal vom Bundestag getroffene Beschluss zum Verhältnis Leistungsfähigkeit/Steueranteil dauerhaft bestehen bleibt und damit respektiert wird.
Dieses Argument ist überholt. Auf Druck der Gewerkschaften gibt es ein Umdenken bei den Sozialdemokraten. Denn auch sie haben gemerkt, dass die mühsam erkämpften Lohnerhöhungen vom Staat überproportional wegbesteuert werden. So hat sich der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel in mehreren öffentlichen Äußerungen für die Abschaffung der kalten Progression ausgesprochen. Andere SPD-Politiker sind ihm beigesprungen. Auch ein Veto der SPD-regierten Bundesländer wie in der vergangenen Legislaturperiode hält der SPD-Chef heute für unwahrscheinlicher: „Für die SPD-Länder wäre es heute viel schwieriger, das zu verweigern“, so Gabriel (Quelle: WiWo 9.5.2014). Es wäre verwunderlich, wenn die SPD oder die SPD-regierten Länder das Konzept der Steuerbremse plötzlich ablehnen würden – das wäre wie ein Misstrauensvotum gegen Gabriel.
Hinzu kommt, dass das Modell der MIT-Steuerbremse dem Bundestag das Recht einräumt, mit Zustimmung des Bundesrates bei besonderen Haushaltsnotlagen die automatische Tarifanpassung für ein Jahr auszusetzen. Daneben bleibt es dem Bundestag weiterhin unbenommen, die
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Union. Und genau dafür gibt es Parteitage – nicht nur zum Jubeln.
8. Vorwurf: Die vermeintliche Zustimmung der SPD zur Abschaffung der kalten Progression ist eine Falle, um damit am Ende Steuererhöhungen für Besserverdienende durchzusetzen.
»Partei heißt: Ideenschmiede für Politik sein, nicht der verlängerte Arm des Bundespresseamts.«
In der Tat gibt es bei den Gewerkschaften und auch bei der SPD-Linken Akteure, die zwar die Abschaffung der kalten Progression fordern, dies aber durch eine Erhöhung der Abgeltungssteuer oder des Spitzensteuersatzes gegenfinanzieren wollen. Dies wird die Union nicht mitmachen. Damit würde sie das zentrale Wahlkampfversprechen „keine Steuererhöhungen“ brechen und einen zentralen Pfeiler des Koalitionsvertrages umstürzen. MIT und Arbeitnehmerflügel CDA sind sich hier völlig einig. Im Übrigen haben sich wichtige Vertreter der SPD, allen voran Parteichef Gabriel, öffentlich festgelegt, dass sie die kalte Progression abschaffen wollen, ohne sie durch Steuererhöhungen an anderer Stelle gegenzu finanzieren. An diesen Aussagen muss sich die SPD messen lassen.
Wir müssen als CDU eigenständig wahrnehmbar sein: als eine Partei mit eigenen guten Ideen fürs Land, die Argumente austauscht und an Konzepten feilt. Partei heißt: Ideenschmiede für Politik sein, nicht der verlängerte Arm des Bundespresseamts. Wenn wir vor der möglichen Anti-Haltung der SPDLänder im Bundesrat schon kapitulieren, bevor wir mit unseren Debatten überhaupt anfangen, dann brauchen wir gar keine Parteitage mehr. 10. Vorwurf: Eine Umsetzung in 2017 verpufft. Taktisch klüger wäre es aus Unionssicht, die Abschaffung im Wahlprogramm zu fordern und dann 2018/2019 umzusetzen.
9. Vorwurf: Führende Unionspolitiker haben sich gegen die Steuerbremse ausgesprochen, weil sie im Bundesrat nicht durchsetzbar ist.
Es geht hier nicht um einmalige Wahlgeschenke, sondern wir wollen das Thema dauerhaft lösen, die Ungerechtigkeit der kalten Progression dauerhaft beseitigen. Die Union hat die Abschaffung schon mehrfach in Wahlprogrammen und Parteitagsbeschlüssen versprochen. Jetzt ist die Chance da, diese Forderung auch durchzusetzen. Es ist nicht absehbar, welche politische Konstellation ab 2018 regiert. Natürlich könnte ein neu gewählter Bundestag auch eine schon 2016 oder 2017 in Kraft getretene Steuerbremse später wieder abschaffen. Aber es wäre politisch ungleich schwerer ein schon wirksames Gesetz dann zu Lasten der Bürger wieder aufzuheben. Für uns heißt es deshalb: Steuerbremse jetzt! Oder wir bekommen sie wahrscheinlich nie.
In der Union gibt es grundsätzliche Einigkeit darüber, dass die kalte Progression ungerecht ist und abgeschafft gehört. Unterschiedlich sind die Ansichten, ab wann das möglich ist. Die drei großen Unionsvereinigungen MIT, CDA und JU stimmen überein, dass die Steuerbremse schon in dieser Legislatur in Kraft treten muss, ohne dass dabei das Ziel des Haushalts ohne neue Schulden aufgegeben wird. Dafür haben wir weitere mächtige Unterstützer in der Partei und viele CDU-Kreis-, Bezirks- sowie einige Landesverbände gewonnen. Jetzt geht es erstmal darum, eine Debatte zu führen. Dafür sind wir in die Politik gegangen und ich in die
Dr. Carsten Linnemann MdB ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 2013 ist er Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung von CDU/CSU und in dieser Funktion ebenso Mitglied im Bundesvorstand der CDU Deutschlands.
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Michael Fuchs
Kalte Progression im Einkommensteuertarif abbauen Wenn wir über den angestrebten Abbau der kalten Progression und mögliche Reformen im Steuersystem reden, sollten wir uns grundsätzlich fragen, was ein gutes Steuersystem ausmacht.
dass sie in unterschiedlichem Maße auch Anreize setzen, etwa Anreize für Investitionen, steuerlich absetzbare Tickets für Bus und Bahn, Kilometerpauschale oder die Altbausanierung.
Zum einen muss gelten, dass starke Schultern mehr zu tragen haben als schwache. Das Leistungsfähigkeitsprinzip muss also eingehalten werden, sodass jeder nach Maßgabe seiner individuellen ökonomischen Leistungsfähigkeit besteuert wird. Zum anderen wird von vielen Steuersystemen verlangt,
Über die Sinnhaftigkeit mancher steuerlicher Anreize, die die letzten Jahrzehnte hervorgebracht haben, lässt sich trefflich streiten. Für mögliche Stichworte muss man etwa nur in das Schwarzbuch des Bundes der Deutschen Steuerzahler schauen.
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Besonders belastet sind vor allem unsere Mittelständler und Leistungsträger, zum Beispiel Facharbeiter. Da wäre also Herr Huber, Schreinergeselle, mit einem zu versteuernden Einkommen von 30.000 Euro. Zunächst zahlt er 5.625 Euro Einkommensteuer, einen Durchschnittssteuersatz von 18,75 Prozent.
Ein weiteres Prinzip der Steuerfestsetzung und -erhebung, das sicherlich nicht vernachlässigt werden sollte, ist Transparenz. Warum hat zum Beispiel das Phänomen der kalten Progression bis heute bei uns überlebt? Weil das Prinzip im Einkommensteuerrecht alles andere als leicht zu durchschauen ist, und weil es Mehreinnahmen bringt, die Bund, Länder und Kommunen nur zu gerne verwenden möchten. Ideen wie die Steuererklärung auf dem Bierdeckel sind zwar in der Bevölkerung gut angekommen, aber an der technischen Umsetzung gescheitert. Doch sollten wir hier weiter offen für neue Vorschläge auch in dieser Richtung bleiben!
Dann vier Jahre später bekommt er eine Lohnerhöhung. Sein Lohn wird aber nur angehoben, weil die Inflation die Preise steigen ließ. Er steigt zum Beispiel inflationsausgleichend auf 32.123 Euro (Verbraucherpreiswachstum 2010-2014). Obwohl seine Kaufkraft unverändert bleibt, erhöht sich sein Durchschnittssteuersatz nun auf 19,42 Prozent. Er zahlt jetzt 6.238 Euro, anstelle von 6.023 Euro, die er bei gleichbleibendem Durchschnittssteuersatz von 18,75 Prozent gezahlt hätte. Herr Huber hat jetzt faktisch 215 Euro weniger in der Tasche. Das ist weder transparent oder evident noch gerecht.
Ein Grundpfeiler unseres Steuersystems bzw. der Haushaltspolitik allgemein ist zudem, künftig keine neuen Schulden mehr zu machen. Das steht inzwischen sogar im Grundgesetz und ist ein wichtiger Beitrag, den die heutige Generation der nächsten erbringen kann. Deswegen hat der Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 2015 und zur Finanzplanung 2018 auch historische Bedeutung. Zum ersten Mal seit 1969 wollen wir komplett ohne neue Schulden auskommen und uns damit endlich und auch auf Dauer von der Politik des Schuldenmachens abwenden.
Auf der anderen Seite haben wir es jetzt geschafft, endlich ein anderes großes Ziel zu erreichen. Die schwarze Null steht! Jahrelang hat sich die CDU als maßgebliche politische Kraft zur Aufgabe gemacht, den Trend zur Staatsverschuldung in Deutschland umzukehren. Frau Kraft von der SPD kämpft sich in Nordrhein-Westfalen von einem verfassungswidrigen Haushalt zum nächsten. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hingegen hat es geschafft, für den nächsten Haushalt und anschließend in der Finanzplanung auch dauerhaft ohne neue Schulden auszukommen. Das ist gute CDU-Politik pur und darauf können wir auch stolz sein.
In der Diskussion um einen möglichen Abbau der kalten Progression müssen wir uns auch fragen: Wie wichtig ist es, dass Leistung durch das Steuersystem honoriert wird? Ich finde diesen Punkt sehr wichtig. Seit Jahren preisen wir bei der Arbeitslosenversicherung das Konzept „Fordern und Fördern“ an. Das muss doch auch gleichermaßen beim Steuerzahler gelten. Ein Staat, der die Leistungen seiner Bürger nicht honoriert, sondern nur still zur Kenntnis nimmt und die Hand aufhält, widerspricht meinen Vorstellungen. Hier würde ich es eher mit John F. Kennedy halten: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst.“
»Unser Ziel sollte es sein, das Steuersystem jeden Tag ein bisschen besser zu machen.«
Es sollte nicht zu einem ungleich höheren Anstieg der Steuerbelastung durch die Erhöhung der Löhne kommen! Die kalte Progression bezeichnet das paradoxe Phänomen, bei dem eine Lohnerhöhung zu weniger Nettoeinkommen führt. Das passiert folgendermaßen: Moderate Lohnerhöhungen gleichen oft lediglich die Inflation aus, erhöhen aber gleichzeitig die Steuerlast, da dieser mit steigendem Einkommen überdurchschnittlich steigt.
Wir sollten also festhalten: Das Einnahmen- und Ausgabensystems des Bundes ist nicht optimal. Wir schaffen es zwar, die nächsten Generationen nicht weiter zu belasten. Wir schaffen es aber nicht, Einzelfallgerechtigkeit bei Inflationsausgleichen zu verwirklichen.
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Als ehrgeizige Partei dürfen wir uns mit diesem Befund nicht zufrieden geben. Unser Ziel sollte es sein, das Steuersystem jeden Tag ein bisschen besser zu machen.
Priorität. Mit einer Steuersenkung auf Pump ist niemanden geholfen. Über ein Gesetz zum Abbau der kalten Progression, das im Falle entsprechender haushaltspolitischer Spielräume in den kommenden Jahren geredet werden muss, würde indessen nicht nur der Bundestag entscheiden, sondern auch der Bundesrat.
Noch lässt sich nicht abschätzen, ob die wirtschaftliche Entwicklung in den kommenden Jahren uns nicht einen Strich durch die Rechnung machen wird. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Bundesregierung und die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute gerade erst ihre Konjunkturprognosen für die kommenden Jahre gesenkt haben.
Deswegen möchte ich frühzeitig auch an dieser Stelle an die Länder appellieren, ihren Bürgern zum erstmöglichen Zeitpunkt hierfür etwas zurückzugeben. Auch wenn das unter Umständen zu einer Verringerung des Anstiegs der Einnahmen führen würde. Jede Ministerpräsidentin und jeder Ministerpräsident, der zu gegebener Zeit im Bundesrat gegen einen Abbau stimmen möchte, sollte sich doch vorher kurz mit dem Mittelstand und den Menschen in ihrem bzw. seinem Land auseinandersetzen und die positiven Wirkungen einer möglichen maßvollen Entlastung nicht aus den Augen verlieren.
Hier sollten wir uns wieder an mögliche Anreize erinnern, die wir mit unserem Steuersystem vermitteln sollten. Besonders wichtig ist es nach meiner Überzeugung, Leistungsbereitschaft, Wachstum und Investitionen zu fördern. Eine Absenkung der kalten Progression würde die gesamte Binnennachfrage stärken. Hätte Herr Huber zum Beispiel die 215 Euro mehr in der Tasche, so würde er diese zum Beispiel für Geschenke für seine Familie ausgeben oder diese das eine oder andere Mal öfters in ein Restaurant ausführen.
Was die konkrete Umsetzung des Gesetzgebungsverfahrens angeht, könnte ein sogenannter „Tarif auf Rädern“ eine mögliche Lösung sein. Dabei würde die Tarifformel der Einkommensteuer an die Verbraucherpreisentwicklung angepasst, sodass der Steuersatz für ein real unverändertes Einkommen gleich bliebe. Dies könnte die Eliminierung der kalten Progression bedeuten.
Mir geht es dabei vor allem auch um ein Signal an den Bürger. „Schaut her. Es gibt nicht immer nur Steuererhöhungen“. Die CDU hat die letzte Wahl gerade auch deshalb gewonnen, weil wir Steuererhöhungen kategorisch ausgeschlossen haben. Denn wir haben – wie die Bürger unseres Landes - richtig erkannt, dass der Bund kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem hat.
Meine Position insgesamt in diesem Zusammenhang ist klar: Sollten sich in Zukunft im konsolidierten Bundeshaushalt Spielräume ergeben, halte ich es für sinnvoll, Wachstum und Investitionen in unserem Land durch einen Abbau der kalten Progression zu fördern. Durch die Stärkung des Leistungsfähigkeitsprinzips können wir nicht nur die Binnennachfrage stärken, sondern auch langfristig die Einkommensbasis der deutschen Volkswirtschaft sichern und unser Wachstumspotenzial ausbauen. So können wir leistungsfreundliche und wirtschaftsfördernde Rahmenbedingungen stärken.
Betrachtet man die Tatsache, dass der Abbau der kalten Progression die Einnahmen aus der Einkommensteuer nicht senken, sondern nur weniger schnell ansteigen lassen würde, wäre die Signalwirkung nicht teuer erkauft. Auch der Zeitpunkt ist in den kommenden Jahren grundsätzlich günstig. Historisch niedrige Infla tionsraten würden den Progressionsabbau für den Fiskus erschwinglich machen.
Es würde sich hierbei um Investitionen in den Mittelstand, in unsere Bürger und unseren Zusammenhalt handeln. Mit einer kleinen Gesetzesänderung unseres Steuersystems können wir ein wichtiges, positives Signal an unsere Bürger senden.
So sehr sich der Abbau der kalten Progression auch anbietet, dürfen wir aber nicht in die Versuchung geraten, die Erfolge von morgen vorschnell auf Kosten der aktuellen Erfolge zu erreichen. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen hat
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»Historisch niedrige Inflationsraten würden den Progressionsabbau für den Fiskus erschwinglich machen.« Dr. Michael Fuchs MdB ist seit 2009 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSUBundestagsfraktion, dort derzeit zuständig für die Themen Wirtschaft und Energie, Mittelstand und Tourismus. Fuchs ist Unternehmer und Mitglied im Bundesvorstand der CDU Deutschlands.
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Wolfgang Steiger
Deutschlands Wirtschaft st채rken Kompass f체r das wirtschaftspolitische Profil der Union
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Seit zehn Jahren fährt Deutschland auf Verschleiß. Die Abschreibungen in unserer Volkswirtschaft liegen deutlich über den Investitionen. Umverteilungsmaßnahmen und die sozialpolitische Agenda prägten bisher das Erscheinungsbild vor allem auch der Union in der Großen Koalition, und das obwohl die internationalen Herausforderungen massiv zugenommen haben.
müssen den Energiebinnenmarkt vollenden: Um Kostensenkungspotenziale voll zu nutzen, müssen die Strategien im Bereich Energie- und Umweltpolitik stärker verzahnt werden. Langfristiges Ziel muss ein gemeinsamer Aktionsplan zur Senkung der Energieabhängigkeit durch die Diversifizierung der Energie-Quellen und Transportwege, die Stärkung der Energieeffizienz sowie die Nutzung heimischer Energieträger sein.
»Die Abschreibungen in unserer Volkswirtschaft liegen deutlich über den Investitionen.«
2. Es bedarf einer grundlegenden Modernisierung der Infrastrukturfinanzierung. Unsere Verkehrsinfrastruktur ist unsere volkswirtschaftliche Lebensversicherung. Daher dürfen wir nicht länger zulassen, dass sie durch permanente Unterfinanzierung und ineffiziente Finanzierungsstrukturen auf Verschleiß gefahren wird. Schlaglöcher, Brücken- oder Schleusen sperrungen schränken nicht nur die Nutzung ein, sie schaden der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland. Eine Ausweitung der Maut finanzierung allein wird das Problem nicht lösen. Vielmehr gilt es, die Verkehrswegefinanzierung einem grundlegenden Umbau zu unterziehen.
Umso wichtiger ist es, dass die Wirtschaftspolitiker das Heft des Handelns wieder in die Hand nehmen und die strukturellen Rahmenbe dingungen für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland dauerhaft stärken. Um dies zu erreichen, hat der Wirtschaftsrat einen wirtschaftspolitischen Kompass vorgelegt. Darin werden sieben Handlungsfelder ausgemacht:
Andernfalls besteht Gefahr, „frisches“ Geld in nach wie vor ineffiziente Strukturen zu leiten. Zugleich setzt der Wirtschaftsrat auf die Einbindung privaten Kapitals in die Verkehrswegefinanzierung – über ÖPP-Modelle hinaus. Angesichts zunehmend fehlender Alternativen an den Kapitalmärkten suchen viele Anleger – Versicherungsgesellschaften, aber auch viele langfristig orientierte Sparer – nach Investitionsmöglichkeiten mit fester oder stabiler Rendite. Infrastruktur investments bieten nicht nur Wertstabilität und prognostizierbare Erträge, sie bieten Anlegern infolge der langfristigen Laufzeit der Projekte von in der Regel zwölf und mehr Jahren über einen großen Zeitraum Planungssicherheit.
1. Die Energiewende muss endlich auf ein marktwirtschaftliches Fundament gestellt werden. Ohne weitere strukturelle Änderungen in der Energiepolitik wird das Projekt Energiewende scheitern. „Der 10-Punkte-Plan des Wirtschaftsrates für eine erfolgreiche Energiewende legt seine Finger in die richtigen Wunden“, betonte Bundesminister Gabriel noch bei der diesjährigen Klausurtagung Energie- und Umweltpolitik des Wirtschaftsrates. Auch nach der EEG-Reform besteht dringender Handlungsbedarf. Gerade die Union kann hier mit zum Treiber für mehr Markt und weniger Staat in der Energiepolitik werden.
3. Die Bundesregierung sollte ihre steuerpolitischen Handlungsspielräume nutzen.
Wir brauchen eine verpflichtende Direktvermarktung für alle Neuanlagen. Ziel muss ein Auslaufen der Förderung für erneuerbare Energien sein. Spätestens bei einem Anteil der erneuerbaren Energien am deutschen Stromverbrauch von 35 Prozent muss Schluss sein mit Dauersubventionen für Neuanlagen. Daneben brauchen wir Märkte für Energieeffizienz statt staatlicher Zwangsmaßnahmen. Ein Baustein liegt in einer technologieoffenen Umsetzung der Gebäudesanierung. Und wir
Vor der Bundestagswahl 2013 haben Sozial demokraten und Bündnis 90 / Die Grünen massive Steuererhöhungen mit Mehrbelastungen von jährlich bis zu 40 Milliarden Euro geplant. Der Wirtschaftsrat hat an vorderster Front gegen die Einführung bzw. Erhöhung sieben verschiedener Steuern gekämpft, um Bürger und Unternehmen nicht weiter zu belasten.
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weitaus größere Bandbreiten notwendig, 2018 voraussichtlich über 200 Mbit/s. In dem jüngst von Bundesminister Dobrindt vorgelegten Kursbuch der „Netzallianz Digitales Deutschland“ haben Politik und Wirtschaft konkrete Maßnahmen und Schritte für die dringend nötigen Investitionen formuliert. Diese müssen jetzt schnellstmöglich umgesetzt werden.
Dies hätte vor allem die Leistungsträger unserer Gesellschaft geschröpft – mittelständische Unternehmer aber auch Fachkräfte und Angestellte. Der Wirtschaftsrat steht dazu, dass der Ausgleich des Bundeshaushaltes Priorität hat. Das Wahlversprechen der Union „Keine Steuer erhöhungen“ muss über die gesamte Legislatur- periode hinweg eingehalten werden. Das schließt ein, keine höheren Belastungen durch die Hintertür (Steuern und Abgaben) zu beschließen. Gerade der Mittelstand und die Familienunternehmen müssen vor weiteren Belastungen bewahrt werden. So darf es beispielsweise zu keiner Mehrbelastung bei der Erbschaftsteuer kommen. Stellt das Bundesverfassungsgericht schwerwiegende Gesetzesmängel fest, müssen neue wirtschafts- und investitionsfreundliche Regelungen geschaffen werden, die vor allem Familienunternehmen schützen. Daneben gilt es, Steuervereinfachungen durch IT-gestützte Verfahrensverbesserungen sowie den aufgelaufenen Reformbedarf bei verbindlichen Auskünften der Finanzverwaltung – Stichworte seien Antwortfrist, Bindungswirkung, rechtliche Überprüfung – konsequent umsetzen. Und nicht zuletzt müssen wir den Einstieg in den Abbau der kalten Progression bei der Einkommensteuer finden – und zwar ohne Erhöhung des Spitzensteuersatzes.
5. Konsequenter Start-ups fördern. Internationale Erfahrungen zeigen, wie wichtig Unternehmensgründungen zur Steigerung von Produktivität und Wirtschaftswachstum sind. Insbesondere junge und innovative Unternehmen brauchen dabei international konkurrenzfähige Rahmenbedingungen, gerade im Hinblick auf ihre Finanzierung. Es ist bedauerlich, dass das Gründungsaufkommen insgesamt auf den Stand der 1990er Jahre zurückgefallen ist. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass die Rahmenbedingungen für IT-Gründer verbessert werden. Hier muss vor allem die Finanzierung der Wachstumsphase bei jungen Unternehmen verbessert werden. Die Startfinanzierung funktioniert meist, während die Risikokapitalfinanzierung zum weiteren Wachstum (sog. Wachstumsfinanzierung) dann unzureichend bleibt. Es müssen Anreize geschaffen werden, um auch Einlagen institutio neller Investoren in Wagniskapitalfonds zu fördern. Besonders für Anleger im Private-EquityBereich bieten Investitionen in Startups neue Möglichkeiten. Dafür muss ein verbindlicher Rechtsrahmen geschaffen werden, der Wagnis kapitalgesellschaften als vermögensverwaltend und nicht als gewerbetreibend definiert, um das Risiko einer Doppelbesteuerung auszuschließen.
4. Die Digitale Agenda sollte in einen konkreten Maßnahmenkatalog umgesetzt werden. Die Digitale Agenda der Bundesregierung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg, Deutschland eine Spitzenposition im Internet und in der digitalen Welt zu sichern. Ziel der Digitalen Agenda ist es, eine wettbewerbsfähige digitale Infrastruktur aufzubauen, Datensicherheit zu gewährleisten und die Innovationspotenziale neuer digitaler Technologien zu nutzen. Deutschland als Industrienation hat in diesem neuen Zeitalter einen Platz. Es muss ihn aber auch einnehmen und ausfüllen, um von den riesigen Potenzialen der IT- und Internetbranche zukünftig stärker zu profitieren.
6. Der Fachkräftebedarf der Wirtschaft muss gedeckt werden. Der Fachkräftemangel entwickelt sich zum brennendsten Problem und droht, sich zur Wachstumsbremse Nummer eins auszuweiten. SPD-Ministerin Nahles verkennt einmal mehr die Zeichen der Zeit, wenn sie mit einer staatlichen „Anti-Stress-Verordnung“ die Freiheiten von Unternehmen weiter beschränken und Arbeitnehmer an die staatliche Leine legen will. Die Deckung des Fachkräftebedarfs ist eine gesamtgesellschaftliche Herkulesaufgabe, für die alle Hebel in Bewegung gesetzt werden müssen.
So muss etwa der Breitbandausbau ganz oben auf der Tagesordnung stehen, denn ohne flächendeckende schnelle Netze ist Deutschland nicht zukunftsfähig. Schon jetzt ist klar, dass die bis 2018 angestrebte flächendeckende Breitbandversorgung mit 50 Mbit/s nicht ausreichen wird. Um international wettbewerbsfähig zu sein, werden
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»Seit zehn Jahren fährt Deutschland auf Verschleiß.«
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Nur drei Beispiele: Erstens darf das duale Ausbildungssystem nicht durch überzogene Studienquoten gefährdet werden. Zweitens ist die qualifizierte Zuwanderung gezielt zu steuern. Deutschland braucht dringend ein System gewichteter Kriterien für eine aktive, bedarfsgerechte Einwanderungspolitik. Drittens muss der Renteneintritt flexibilisiert werden. Um die Zukunftsfähigkeit des deutschen Rentensystems sicherzustellen, müssen das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt werden, befristete Beschäftigungsverhältnisse für Senioren erleichtert, und ein säulenübergreifendes Informationssystem eingeführt werden, das gesetzliche, private und betriebliche Altersvorsorgeansprüche zusammenfasst.
Demokratie-Killer – moderner Investitionsschutz bietet die Chance, einen globalen Standard zu schaffen. Die TTIP-Debatte muss dringend wieder versachlicht werden. Hier sind Wirtschaft und Politik gemeinsam gefragt. Denn gerade auch für den Mittelstand bietet das Abkommen völlig neue Perspektiven. So würde der europäische Mittelstand von einem Abbau der nicht-tarifären Handelshemmnisse im transatlantischen Handel in besonderer Weise profitieren. Für kleine und mittlere Unternehmen stellen der bürokratische Aufwand und die administrativen Kosten oftmals nicht überwindbare Markteintrittsbarrieren dar. Die regulierungsbedingten Kosten würden massiv reduziert. Der deutsche Maschinenbau rechnet mit 15 bis 20 Prozent weniger Aufwand.
7. Das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP sollte stärker als Chancendebatte geführt werden.
Deutschland hat seine Stärke immer dann bewiesen, wenn große Umbrüche zu bewältigen waren. Vor einer solchen Situation stehen wir mit Blick auf den sich vollziehenden technologischen, demographischen, aber durch die Globalisierung hervorgerufenen Wandel erneut.
Der Wirtschaftsrat setzt sich dafür ein, das transatlantische Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP zum Erfolg zu führen. Die Chancen für Wachstum und Beschäftigung auf beiden Seiten des Atlantiks sind zu groß, als dass diese Gelegenheit leichtfertig verspielt werden darf. TTIP ist aber kein politischer Selbstläufer! Zu lange hat man der hysterischen Panikmache und der teilweise irrationalen Kritik nichts entgegengesetzt. Investitionsschutz ist kein
Es kommt jetzt entscheidend darauf an, die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen. Mit der parlamentarischen Mehrheit der Großen Koalition hat die Union alle Chancen in der Hand. Sie sollte sie nutzen – zum Wohle des Landes, seiner Bürger und Unternehmen und vor allem der heran wachsenden Generation.
Wolfgang Steiger war von 2004 bis 2009 Landesvorsitzender des Landesverbandes Hessen im Wirtschaftsrat der CDU e.V. Im Juli 2009 wurde er zum Bundesgeschäftsführer berufen und übernahm kurz darauf die Position als Generalsekretär des Wirtschaftsrates.
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Versichern und Bausparen
Die Debeka hat die zufriedensten Kunden … und das bereits seit Jahren in Folge
Die Debeka-Gruppe gehört mit ihrem vielfältigen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsangebot zu den Top Ten der Versicherungs- und Bausparbranche. Fachkundige Beratung, niedrige Kosten (zum Beispiel für die Verwaltung) und eine erfolgreiche Geldanlagepolitik ermöglichen es, den Mitgliedern ein Höchstmaß an Leistungen zu bieten. Das hervorragende Preis-Leistungs-Verhältnis aller Debeka-Produkte wird von unabhängigen Wirtschaftsmagazinen, Verbraucherinstitutionen und Analysten immer wieder bestätigt: Zum Beispiel bewertet die Assekuranz Rating-Agentur GmbH ASSEKURATA die Debeka Kranken- und Lebensversicherung mit der Bestnote „A++“ („exzellent“). Nach Ansicht der Analysten erfüllt das Unternehmen aus Debeka Lebensversicherungsverein a. G. (02/2014)
Debeka Krankenversicherungsverein a. G. (02/2014)
Debeka Allgemeine Versicherung AG (02/2014)
Debeka Krankenversicherungsverein a. G. Lebensversicherungsverein a. G. Allgemeine Versicherung AG Pensionskasse AG Bausparkasse AG
Koblenz die Qualitätsanforderungen für die Versicherten auf höchstem Niveau. Das bestätigen auch die Versicherten: So hat die Debeka Krankenversicherung die zufriedensten Kunden der gesamten Branche. Dies ist das Ergebnis der Befragung „Kundenmonitor Deutschland“, die jährlich von der Servicebarometer AG durchgeführt wird. Zu einem umfassenden Service gehört auch eine kundennahe Betreuung: Die Debeka ist daher an mehr als 4.500 Orten im gesamten Bundesgebiet vertreten. Rund 17.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im angestellten Innen- und Außendienst stellen eine kompetente Beratung und Betreuung sicher.
56058 Koblenz Telefon (02 61) 4 98 - 0 www.debeka.de
anders als andere
Friedrich Merz
Mehr als nur ein Handelsabkommen
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Drittel des globalen Warenhandels und fast die Hälfte des globalen Dienstleistungshandels aus. Doch mit einem gemeinsamen Abkommen könnten wir noch mehr schaffen. Studien belegen, dass TTIP auf beiden Seiten des Atlantiks zusätzliches Wachstum für das BIP ermöglichen würde. In Europa und in den USA könnten neue Arbeitsplätze geschaffen und die Preise für den Verbraucher gesenkt werden. Es sind nicht allein die Zölle, die einem noch höheren Warenund Dienstleistungsaustausch im Wege stehen; das größte Handels hemmnis, das es zu beseitigen gilt, sind die unterschiedlichen technischen Normen und Standards. Wenn sich Europa und Amerika Schritt für Schritt auf eine Vereinheitlichung verständigen könnten, zumindest auf die gegenseitige Anerkennung der noch unterschiedlichen Normen, dann könnte in der Tat der größte Binnenmarkt auf der Welt entstehen.
Ein transatlantisches Freihandelsabkommen, das zusätzliches Wachstum und neue Arbeitsplätze auf beiden Seiten des Atlantiks schafft, und das zugleich den Wert der Partnerschaft zwischen Europa und den USA unterstreicht: Das war der Ausgangspunkt der Verhandlungen um die trans atlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP). Doch die Kritik an dem Abkommen im Allgemeinen und an einzelnen vorgesehenen Kapiteln des Abkommens im Besonderen wird lauter. Umso wichtiger ist es, die Gründe, die für ein umfassendes Handels- und Investitionsabkommen zwischen Europa und Amerika sprechen, noch einmal in Erinnerung zu rufen.
»Ganz Europa und auch Deutschland brauchen Ideen, wie neues Wachstum entstehen kann.«
Und es sage bitte niemand, dass technische Standards ein vernachlässigbares Problem seien. Wer heute die Standards setzt, bestimmt morgen die Märkte. Gerade der Mittelstand würde von einer gegenseitigen Anerkennung von Standards und Normen und von einer schrittweise erfolgenden Harmonisierung der technischen Standards überdurchschnittlich profitieren.
Zunächst: Die Prognosen für das Wirtschaftswachstum in Deutschland und in Europa sind nicht besonders gut. Die OECD sieht für die Eurozone das Risiko einer langanhaltenden Stagnation, und die Aussichten für die Konjunktur in Deutschland sind nach dem neuesten Geschäftsklimaindex des ifo-Instituts ebenfalls nicht besser geworden. Ganz Europa und auch Deutschland brauchen Ideen, wie neues Wachstum entstehen kann. Wir müssen heute die Frage beantworten, mit welchen Produkten und mit welchen Industrien unsere Gesellschaften morgen ihren Wohlstand erarbeiten können. Die Konkurrenz schläft nicht, der globale Wettbewerb wird härter, und gerade deshalb brauchen wir Europäer beides, eine langfristige Strategie und starke Partner.
Das Abkommen würde schließlich Europäern und Amerikanern die Möglichkeit eröffnen, gemeinsame Standards für einen fairen und freien Wettbewerb auch international durchzusetzen. In Anbetracht der wirtschaftlichen Konkurrenz aus Asien, die sich nicht immer an unsere Spielregeln hält, ist dies ein besonders wichtiger Aspekt unserer Zusammenarbeit mit den USA. Aber nicht nur die wirtschaftliche Interessenlage macht eine langfristige Strategie und starke Partnerschaft mit Amerika notwendig. Regionale und überregionale Konflikte und Bedrohungen, sei es die Konfrontation mit Russland um die Ukraine, sei es die Bedrohung durch den islamischen Terroris mus, machen deutlich, dass die westliche Wertegemeinschaft zusammenhalten muss.
Das transatlantische Handelsabkommen wäre eine hervorragende Grundlage für eine solche langfristige Strategie. Mit dem Abkommen könnte die weltweit größte Freihandelszone geschaffen werden. Für beide Seiten würden große wirtschaftliche Vorteile entstehen, es wäre das beste Konjunkturprogramm ohne jede zusätzliche Belastung der öffentlichen Haushalte.
Das Bekenntnis zu TTIP ist auch eine klare Willensbekundung, unsere enge und vertrauens volle Partnerschaft mit den USA unter veränderten Bedingungen und angesichts neuer globaler Herausforderungen fortzuführen und weiterzuentwickeln.
Richtig ist: schon jetzt ist der Handel zwischen Europa und den USA stark. Er macht rund ein
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»Wer heute die Standards setzt, bestimmt morgen die Märkte.« Friedrich Merz war 1994 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und von 2000 bis 2002 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Seit 2009 ist er Vorsitzender der Atlantik-Brücke und arbeitet derzeit als Rechtsanwalt bei der international tätigen Rechtsanwaltskanzlei Mayer Brown LLP.
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Und trotzdem ist das Abkommen umstritten. TTIP ist für viele Kritiker mittlerweile zu einem Synonym für angeblich gesundheitsschädliche Lebensmittel und Verbraucherstandards aus Amerika geworden – „Chlorhühnchen“ und „Hormonrinder“ bestimmen die emotionale Debatte nicht nur in Deutschland. Die Verbraucher wollen zu Recht über ein so umfassendes Handelsabkommen und seine Auswirkungen informiert werden. Doch die Angst vor TTIP wird von zahlreichen Interessen gruppen mit unsachlichen Beiträgen geschürt. So wird ganz bewusst verschwiegen, dass die Verbraucherschutzstandards in den USA teilweise höher sind als in Europa. Angst und Vorurteile aber verstellen den Blick auf die handfesten Vorteile, die das Abkommen allen Bürgern auf beiden Seiten des Atlantiks bringen kann – und bei weitem nicht nur großen Unternehmen.
berechtigten Wunsch nach Transparenz der Verfahren und ungehinderter Freiheit der Gesetzgeber in allen Bereichen des Verbraucherschutzes und der sozialen Standards Rechnung tragen können. Doch die größte Hürde, die TTIP nehmen muss, ist nicht die Kritik am Inhalt des Vertrages selbst. Das größte Hindernis ist das beschädigte Vertrauen zwischen Europa und den USA durch die Geheimdienstaktivitäten der NSA. Bei allem Verständnis für die Existenz und die Arbeit von Geheimdiensten gingen und gehen die bekannt gewordenen Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger auf dieser Seite des Atlantiks eindeutig zu weit. Aber an diesem Befund und unserer Kritik daran das ganze Abkommen scheitern zu lassen, schadet uns mehr als den Amerikanern. Wir brau chen die USA auch in Zukunft als starken Partner – und Amerika braucht uns Europäer auf gleicher Augenhöhe mit ihnen.
Ein weiterer großer Streitpunkt ist die Frage, ob der Investitionsschutz durch Schiedsgerichte Teil von TTIP werden soll. Kritiker befürchten, dass multinationale Konzerne mit Hilfe einer Investitions schutzklausel im Vertrag Staaten vor internationalen Schiedsgerichten verklagen können, wenn deren Gesetzgebung nicht in ihrem Sinne ist. Wäre dies tatsächlich der Zweck des Investitionsschutzes, könnte kein euro päischer Staat seine Zustimmung dazu geben. Es sind dagegen gerade kleine und mittelständische Unternehmen, die von einer solchen Klausel profitieren können – vor allem wenn sie ihre Rechte in den USA wahrnehmen wollen und dort mit sehr aufwändigen Verfahren vor den ordentlichen Gerichten rechnen müssten. Für diese Unternehmen sind internationale Schiedsgerichte eine gute Alternative, um schnell und einigermaßen kostengünstig Rechtssicherheit zu erhalten.
»TTIP ist bei weitem nicht nur ein Wirtschaftsabkommen.« Darum müssen wir den Dialog suchen, statt ihn aufzukündigen. Wir müssen unsere europäischen Interessen wahrnehmen und zugleich neues Vertrauen herstellen. Gerade jetzt und in diesen unsicheren Zeiten müssen Europa und die USA ihren politischen Willen artikulieren, auch in den nächsten Jahrzehnten eng und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. TTIP ist daher bei weitem nicht nur ein Wirtschaftsabkommen. Es ist der Test für die strategische Partnerfähigkeit auf beiden Seiten des Atlantiks.
Das ausverhandelte Abkommen mit Kanada zeigt im Übrigen, wie Schiedsgerichte und Investitions schutzklauseln in Handelsabkommen dem
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Younes Ouaqasse
Christdemokratische Globalisierungskritik
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Seit 1980 haben sich diese Zahlen jedes Jahr um etwa 5% erhöht. Deutschlands Exportüberschüsse beliefen sich im letzten Jahr auf nahezu 200 Milliarden Euro, was nicht jeden unserer Handels partner und europäischen Nachbarn erfreut hat. Insgesamt betrachtet steht die Bundesrepublik aber dank des Globalisierungstrends volkswirtschaftlich gut da. Allerdings erleben wir in der Mitte der Gesellschaft ein neues Bewusstsein. Beispielhaft sind die aktuellen Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten, kurz TTIP. Obwohl die positiven Auswirkungen auf unser Wachstum von momentan prognostizierten 1,2% begrüßenswert wären, steht die Kritik zu Verbraucherschutz, Genmanipulation und Datensicherheit im Vordergrund. Hinter der Skepsis gegenüber weitergehenden Freihandel steckt auch die Arbeitsplatzproblematik. So wurden beispielsweise zwischen 2001 und 2006 188.600 Arbeitsplätze ins Ausland verlagert, im Gegenzug wurden hierfür jedoch nur 105.500 Stellen neu geschaffen. Ein Verlust von fast 50%, der die negativen Auswirkungen der Globalisierung für viele Menschen ganz konkret erfahrbar macht und so zu Ablehnungsprozessen führt.
Es gibt verschiedene Theorien darüber, wann der Globalisierungsprozess begonnen hat. Unbestritten ist, dass die Dynamik in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat und Gesellschaften auf der ganzen Welt einer tiefgreifenden Transformation unterwirft. Als Reaktion auf diese Umwälzungen verstärken sich auch in der deutschen Öffentlichkeit Fragen zu komplexen Handelswegen, unübersichtlichen Herstellerbedingungen in Entwicklungsländern, Qualität von Lebensmitteln, den Grenzen von Wachstum, Konsum und Technologisierung. Die Sensibilisierung der deutschen Verbraucher im Zuge der „Öko-Welle“ sowie deren bewusste Entscheidung zu mehr lokalen Produkten, ist eine Auswirkung davon. Globalisierungskritik wird von verschiedenen Seiten schon seit langem hervorgebracht. Abgesehen von der traditionellen Kapitalismuskritik ist insbesondere die Phase des sogenannten „Neoliberalismus“ seit den 1980er Jahren zum Startschuss für Freihandelsgegner geworden und hat Wirtschaftskritik ebenfalls regelrecht globalisiert. Bisher gehört Deutschland zu den Globalisierungsgewinnern und die Mehrheit der Menschen sieht eher Vorteile als Nachteile in den weltweiten ökonomischen Entwicklungen der letzten Jahre. Das lässt sich aus einer im Juni 2014 erhobenen Umfrage der Europäischen Kommission schließen.
Eine ganz andere Dimension stellen moralische Dilemmata für die Öffentlichkeit dar. Preis günstige Textilien etwa, die in ärmeren Ländern unter höchst fragwürdigen Arbeitsbedingungen produziert wurden. Aus Bangladesch zum Beispiel wurde für den deutschen Markt allein im Jahr 2013 Bekleidung im Wert von etwa 3,3 Milliarden Euro importiert.
»Deutschland ist wie kaum ein anderes Land in die Weltwirtschaft integriert. «
Oder nehmen wir das Phänomen von Migrationsbewegungen und Flüchtlingswellen. Im Jahr 2008 waren weltweit 42 Millionen Menschen als sogenannte „gewaltsam vertriebene Personen“ auf der Suche nach Schutz. Jedoch lediglich 10 Millionen wurden vom UNHCR geschützt und unterstützt.
Die Gründe hierfür sind wenig überraschend: Deutschland ist wie kaum ein anderes Land in die Weltwirtschaft integriert und global hochgradig vernetzt. Die Bundesrepublik ist nicht nur eine exportorientierte Handelsnation, sondern unser Land ist auch einerseits rohstoffarm und anderseits höchst exportabhängig. Fast jeder vierte deutsche Arbeitsplatz ist vom Welthandel abhängig, in den letzten Jahren schwankte die Außenhandelsquote um die 75%, was global betrachtet einen Spitzenwert darstellt.
Rund um dem Globus sind somit Millionen von Menschen als Migranten unterwegs, mit dem Ziel eine bessere Zukunft für sich zu finden. Die reichen Industriestaaten wie Deutschland nehmen im Vergleich dazu geringe Zahlen dieser Flüchtlinge auf. In der Zeit von Januar bis Juli 2014 haben insgesamt 97.093 Menschen in Deutschland Asyl beantragt. Das sind zwar 62 % mehr als in den ersten sieben Monaten 2013, aber die Zahl der noch nicht erledigten Anträge lag Mitte dieses Jahres bei 123.000.
In konkreteren Zahlen bemessen heißt das, dass wir allein im Jahre 2012 Waren im Wert von 1.097,3 Milliarden Euro exportiert sowie Güter in Höhe von 909 Milliarden Euro eingeführt haben.
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»Das reflektierte, kritische Nachdenken über Globalisierung und Wachstum ist durchaus keine linke Domäne, sondern berührt unsere christdemokratischen Wurzeln.« Younes Ouaqasse war von 2008 bis 2010 Bundesvorsitzender der Schüler Union. Seit 2010 studiert er Betriebswirtschaftslehre an der Ernst-AbbeFachhochschule Jena. Er ist Landesvorsitzender des RCDS Thüringen und seit 2012 Mitglied des Bundesvorstands der CDU.
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Diese Schwierigkeiten gewinnen im Zuge von Staatszerfall und Bürgerkriegen in unseren unmittelbaren Nachbarregionen an Brisanz. Flüchtlinge aus Nordafrika versuchen über das Mittelmeer nach Europa zu emigrieren. Allein im Jahr 2013 wurden hier 31.000 illegale Grenzüberschreitungen registriert. Der seit nun drei Jahren andauernde Bürgerkrieg in Syrien hat Millionen gewaltbedingter Flüchtlinge verursacht, von denen bis jetzt 50.000 Aufnahme in Deutschland gefunden haben. Die Auswirkungen einer zusammen rückenden, globalisierten Welt sind auch für unser Land direkt greifbar, aber doch hoch komplex und nur multidimensional wirklich zu begreifen.
die richtige Richtung von Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Frieden weiterzuentwickeln. In der Innenpolitik sind Maßnahmen gegen soziale Ungleichheit seit jeher nicht aus dem Programm der CDU wegzudenken, und auch in Zukunft sollten alle Chancen genutzt werden, um bspw. mit möglichst vielen zivilgesellschaftlichen Partnern Lösungen zu finden. Pragmatische Antworten sind notwendig und unsere Gesellschaft kann eine sachkundige und lösungsorientierte Globalisierungskritik gut gebrauchen. Dies gilt gerade für die deutsche Außenpolitik. Bundespräsident Joachim Gauck hat es treffend auf dem Punkt gebracht: „Unser Land ist keine Insel“ und „Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten verschont bleiben von den politischen und ökonomischen, den ökologischen und mili tärischen Konflikten, wenn wir uns an deren Lösung nicht beteiligen.“ Die öffentliche Reaktion auf die Rede des Bundespräsidenten konzentrierte sich leider hauptsächlich auf die rein militärischen Aspekte, anstatt sich mit zivilen und präventiven Handlungsmöglichkeiten aus einanderzusetzen. Konkret heißt das z.B., dass wir mit ärmeren und krisenanfälligeren Ländern der Welt eine Zusammenarbeit finden müssen, die über oberflächlichen Wirtschaftsaustausch und den ineffektiven Einsatz von Entwicklungshilfegeldern hinausgeht. Als positiver Ansatz lässt sich der entwicklungspolitische Fokus auf die soziale Sicherheit in Afrika oder Lateinamerika nennen. Denn bilaterale Sozialversicherungsabkommen helfen einen funktionierenden Staat aufzubauen, der Arbeitnehmer in Notsituationen unterstützt und nicht deren Abwanderung erzwingt.
Das reflektierte, kritische Nachdenken über Globalisierung und Wachstum ist durchaus keine linke Domäne, sondern berührt unsere christ demokratischen Wurzeln. Die Globalisierung revolutioniert unsere Arbeit durch die Digitalisierung und Vernetzung unseres Lebensalltags, etwa durch Mobilfunk oder Internet, sie beeinflusst unser Verhältnis zur Familie, indem sie dem Einzelnen immer größere Flexibilität abverlangt. Wir erleben ebenso klimatischen Wandel, Umweltverschmutzung oder das Aussterben ganzer Tierarten. Auch der gesellschaftliche Zusammenhalt bleibt nicht unberührt: Die Schere zwischen Arm und Reich, Gewinner und Verlierer des ständigen ökonomischen Wandels. Es bedarf also eines klaren christdemokratischen Konzepts, das die berechtigte Kritik aufnimmt und den Prozess der Globalisierung positiv mitgestaltet. Nicht zuletzt kann die Union dabei auf eine lange Tradition des verantwortungsvollen Handelns für unser Land blicken, denn sie steht für Soziale Marktwirtschaft, den europäischen Zusammenhalt und für eine vernunftbetonte Außenpolitik, die sich vor allem auf wirtschaftliche Zusammenarbeit mit ärmeren Ländern und die zivile Krisenprävention konzentriert. Christlich-demokratische und christlich-soziale Wurzeln müssen hierbei weiterhin eine bedeutende Rolle spielen, etwa um weltweit für ethische Werte einzustehen und so die Globalisierung in
Es muss weiterhin selbstverständlich sein, dass deutsche Wirtschaftsinteressen in der globalisierten Welt gefördert, geschützt und weiterentwickelt werden. Aber von einem anhaltenden Einsatz für eine Globalisierung, die gerecht und verantwortungsvoll gestaltetet wird, profitieren nicht nur die Entwicklungs- und Schwellenländer, sondern auch Deutschland – und zwar auf ganz unmittelbare Weise.
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Nadine Schön
Projekt Deutschland – digitales Wachstumsland Nr.1 Wir brauchen eine breite Gründeroffensive!
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„Hidden Champions“ sind Weltmarktführer in ihrem Bereich. All diese Unternehmen wurden vor Jahren oder Jahrzehnten von mutigen Frauen und Männern gegründet. Sie schaffen es seitdem, unternehmerische Verantwortung mit hoher Innovationskraft zu verbinden. Sie sind das wirtschaftliche Gesicht Deutschlands in der Welt. Sie sind der „German Mittelstand“, der uns stark macht und uns zu sicheren und guten Arbeitsplätzen und Wohlstand führt.
Selbst entscheiden. Eigene Ideen umsetzen. Etwas bewegen. Verantwortung übernehmen für sich und andere. Chancen erkennen und nutzen, lokal, national, international. Ein Risiko eingehen. Etwas wagen. Und vor allem: einfach mal machen – das ist es, was Gründerinnen und Gründer ausmacht.
»Um den Gründermut in unserem Land ist es schlecht bestellt.«
Wenn wir diesen Wohlstand halten wollen, dann ist die Digitalisierung der Schlüssel dazu. Zum einen weil der IT-Sektor die am schnellsten wachsende Branche weltweit ist. Der Unternehmer der Zukunft ist digital. Schon jetzt stellen wir fest, dass Startups, also junge Unternehmen im Digitalbereich, im Vergleich zu allen Gründungen in Deutschland überdurchschnittlich viele Arbeitsplätze schaffen und am schnellsten wachsen. Digitale Startups sind der Mittelstand von morgen.
Gründer wie Ijad Madisch, der im vergangenen Jahr für sein Startup ResearchGate in den USA 35 Millionen Dollar unter anderem von Bill Gates erhalten hat. Oder David Zimmer, der für sein Breitband-Unternehmen Inexio im Jahr davor von Ernst & Young als „Entrepreneur des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Oder Andrea Pfundmeier und Robert Freudenreich, denen erst kürzlich der „Deutsche Gründerpreis“ für ihr Startup Secomba verliehen wurde. Das sind beeindruckende Beispiele. Doch leider sind es seltene Exemplare, diese Gründerinnen und Gründer. Denn um den Gründermut in unserem Land ist es schlecht bestellt. Erschreckend wenige wagen den Schritt in die Selbständigkeit. Laut einer Studie der Europäischen Kommission hält es gerade einmal jeder sechste Deutsche für erstrebenswert, sich in den nächsten fünf Jahren selbständig zu machen. Damit belegen wir den letzten Platz in Europa! Meine eigenen Erfahrungen im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern unterstreichen diese Analyse. Ein eigenes Unternehmen oder auch die Nachfolge im heimischen Betrieb sind mir in Schulklassen bei der Frage, wie sich die Schülerinnen und Schüler denn die eigene Zukunft vorstellen, noch nie begegnet – Hartz IV als Zukunftsmodell hingegen schon.
Der zweite relevante Punkt in diesem Zusammenhang ist die Digitalisierung der Wirtschaft selbst - Stichwort Industrie 4.0. Fast alle Branchen, auch und gerade die, die Deutschland stark gemacht haben wie etwa der Maschinenbau und die Automobilindustrie, erleben derzeit durch die Digitalisierung einen enormen Wandel. Die vernetzte Produktion nimmt eine Schlüsselrolle bei der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung als Wachstums- und Innovationsmotor Deutschlands ein. Die vertikale und horizontale Vernetzung von Industrieanlagen und die damit einhergehende Veränderung der Wertschöpfungsketten können zu enormen Produktivitätssteigerungen führen. Laut Branchenverband Bitkom sind durchschnittlich 1,7 Prozent pro Jahr und Branche als zusätzliche Bruttowertschöpfung möglich; bis zum Jahr 2025 werden Produktivitätssteigerungen in sechs volkswirtschaftlich wichtigen Branchen auf insgesamt ca. 78 Milliarden Euro geschätzt. Dies sind aber keine garantierten Zahlen – dafür muss in Deutschland einiges getan werden.
Dabei ist es genau dieser Mut, der Deutschland stark und erfolgreich gemacht hat. Es kommt schließlich nicht von ungefähr, dass wir Deutschen zwar nur 1,5 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, aber im Exportieren von Technologieprodukten weltweit alle großen Nationen in den Schatten stellen – hier liegen wir stets auf Platz eins oder zwei aller Länder weltweit. Zahlreiche
Unsere „Hidden Champions“ werden nur Champions bleiben, wenn sie sich zu „Digital Champions“ weiterentwickeln. Dabei erachten noch etwa 70 Prozent der deutschen Betriebe mit einem Umsatz von unter fünf Millionen Euro pro Jahr die Digitalisierung im Herstellungs- und Wertschöpfungsprozess für kaum oder gar nicht relevant. Das ist erschreckend viel.
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Hier müssen Wirtschaft und Politik gemeinsam ran. Die Initiative der Bundesregierung wie die High-Tech Strategie oder die vielen Innovationsund Förderprogramme (z.B. ZIM) sind ein wichtiger Schritt, um das IT-Knowhow der Mitarbeiter in den KMU selbst zu verbessern. Helfen kann dabei, neue Geschäftsmodelle innovativer Startups mit der klassischen Industrie sowie dem Mittelstand zu verbinden. Diese Kooperationen sind der Schlüssel zu einer erfolgreichen Digitalisierung der Wirtschaft; sie sind der Schlüssel zu Wirtschaft 4.0. Daher brauchen wir eine breite Gründeroffensive - gerade im Digitalbereich! An diese Gründeroffensive sind fünf entscheidende Anforderungen zu stellen:
erweitern. Wieso gründen so wenige Frauen ein Startup? Und müsste es nicht mehr Gründungen aus der Beschäftigung heraus geben? Ideen wie eine Gründerzeit nach dem Vorbild der Familien pflegezeit müssen geprüft und angegangen werden! Zudem können Länder und Kommunen beispielsweise mit günstigen Büroräumen und eigenen Initiativen helfen, um Gründer, Kooperationspartner und Kapital besser zu vernetzen. Schließlich muss die Gründung selbst unbürokratischer werden. Statt Behörden-Hopping, Antragsdschungel und nicht aufeinander abgestimmte Prozesse brauchen wir eine unbürokratische Gründung, bei der die meisten Formulare an einer Stelle ausgefüllt werden und der Gründer einen Anspruch auf schnellstmögliche Bearbeitung hat. Die Idee einer One-Stop-Agency wurde von CDU-Seite in den Koalitionsvertrag eingebracht. Dem Bekenntnis des Wirtschaftsministers, sich darum zu kümmern, müssen Taten folgen.
1. Flächendeckend und vernetzt Die meisten Gründungen finden in Berlin, München, der Metropolregion Rhein-Ruhr und Hamburg statt. Ein breiter Ansatz einer Gründeroffensive hat zum Ziel, in mehr Regionen der Bundesrepublik eine wettbewerbsfähige IT-Start up-Szene zu schaffen und zu fördern. Denn Startups, die nach möglichen KMU als Partner suchen, finden diese eben nicht unbedingt in Berlin oder Hamburg. Im Gegenteil: viele Weltmarktführer im industriellen Bereich haben Ihre historisch gewachsenen Standorte in Dörfern und kleineren Städten nie verlegt.
3. Mit Wachstumspotenzial Wer eine Idee umsetzen will, braucht Geld. Die Kapitalisierung von Geschäftsmodellen ist dank mehrerer staatlicher und halbstaatlicher Programme in Deutschland in der Gründungsphase sehr gut. Schwierig wird es in der späteren Wachstumsphase. Mehrstellige Millionenbeträge sind in unserem Land kaum zu bekommen. Erfolgreiche junge Unternehmer müssen sich von auslän dischen Investoren finanzieren lassen – nicht selten mit der Konsequenz, dass auch der Firmensitz ins Ausland verlegt wird.
Dabei dürfen wir nicht in altes Kirchturmdenken zurückfallen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Vernetzung. Der Vernetzung zwischen Hochschulen, Wissenschaft, Startups, KMU und Industrie jeweils untereinander und miteinander. Hier müssen wir alle Potenziale nutzen und nicht vor der eigenen Haustür Halt machen: Internationale Vernetzung ist das A und O. Deshalb muss etwa der German Accelerator, der jungen deutschen Unternehmen einen Einblick in die Dynamik des amerikanischen Marktes gibt, weiter gefördert und auf weitere Wachstumsregionen ausgedehnt werden.
Noch in den Koalitionsverhandlungen war der Koalitionspartner von einem eigenen VC-Gesetz nur schwer zu überzeugen. Mittlerweile hat aber auch die SPD erkannt, dass wir wirtschaftliches Potenzial und digitale Souveränität verlieren, wenn wir diesen Flaschenhals nicht beheben. Die Zahlen bestätigen die Problematik: Bisher liegt Deutschland beim Einsatz von Wagniskapital mit ca. 674 Millionen Euro (0,02 Prozent des BIP) im Jahr 2013 eher auf den hinteren Plätzen (Israel -0,39 Prozent, USA 0,17 Prozent).
2. Unbürokratisch, gezielt und effizient Es sind nicht fehlende Fördermöglichkeiten, die Gründungen in Deutschland verhindern. Wir haben gute Unterstützungsprogramme wie das Bundesprogramm EXIST oder tolle Länderprogramme. Diese müssen aber flexibler und schneller werden. Und auch die Zielgruppe muss sich
Zahlreiche Vorschläge liegen auf dem Tisch: Die Steuerfreiheit beim Investzuschuss für Wagniskapital, die Einführung eines neuen Börsensegments „Markt 2.0“, darüber hinaus der Erhalt von Verlustvorträgen nach Finanzierungsrunden
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»Unsere ‚Hidden Champions‘ werden nur Champions bleiben, wenn sie sich zu ‚Digital Champions‘ weiterentwickeln.«
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sowie die Freistellung von Management-Fees bei Investoren von der Umsatzsteuer, um nur wenige zu nennen. Auch hier müssen wir konkret werden, um notwendige Wachstumsimpulse im Sinne der jungen innovativen Unternehmen in unserem Land freizusetzen.
Gründerinnen und Gründer über das derzeitige deutsche Schulsystem: Im „Deutschen Startup Monitor“ des Verbands Deutsche Startups bewertete fast jeder zweite deutsche Gründer dieses im Hinblick auf die Förderung und Vermittlung von unternehmerischem Denken und Handeln mit der Note „ungenügend“. Ein klarer Auftrag an die Politik in den Ländern, mehr Unternehmertum in die Schulen zu bringen. Und ein klarer Auftrag an die derzeitigen Gründerinnen und Gründer: Seid Vorbild, seid Leitbild! Geht in die Schulen und Hochschulen und erzählt eure Geschichte! Denn nichts ist überzeugender als ein inspirierender Mensch, der den Funken überspringen lässt.
»Deshalb gibt es nur ein Ziel: Gründungskultur und Gründungsmut in Deutschland stärken!«
In diesem Zusammenhang steht auch die Forderung nach mehr digitaler Bildung. Digitale Bildung und die entsprechende Ausstattung gehört in jede Bildungseinrichtung von der Kita bis zur Hochschule, in jeden Ausbildungs- und in jeden Studiengang; und vor allem in die Lehrer(innen)und Erzieher(innen)-Ausbildung! Damit einhergehen eine gute digitale Grundausstattung an Schulen sowie entsprechende Programme für computergestütztes Lernen und Lehren. „Vernetze Schulen“ bilden eine wichtige Basis für die IT-Fachkräfte und Gründer von morgen, die wir dringend benötigen! WLAN und moderne IT sollten bald zur Grundausstattung aller Bildungseinrichtungen gehören.
4. Gründermut stärken Programme, Finanzierung und Vernetzung sind wichtig – doch der Weg in die Selbständigkeit beginnt mit einem ersten Schritt. „Es passte und wir haben losgelegt“, so drückte es die Gewinnerin des diesjährigen Gründerpreises Andrea Pfundmeier, Gründerin von Secomba, aus. Oder „Einfach machen“ ist das Fazit der Gründergeschichten, die im Buch „Palmen in Castrop-Rauxel“ erzählt werden – übrigens von zwei jungen Männern, die für dieses Buchprojekt selbst aus guten Jobs ausgestiegen sind, sich selbständig gemacht und ihren Traum eines Werkes über Gründermut durch Crowdinvesting finanziert haben. Diese Gründertypen, das Gründergen ist in unserem Land leider zu selten.
Allzu oft scheitert es hier an Geld, manchmal an Mut und immer wieder auch am rechtlichen Rahmen. Den zu schaffen, das ist die Aufgabe von Politik im Bund und in den Ländern. Deshalb war die digitale Bildung auch Thema Nummer eins beim Treffen der Sprecherinnen und Sprecher der Union-Landtagfraktionen mit der Bundestagsfraktion. Gemeinsam wollen wir hier Akzente setzen.
Deshalb gibt es nur ein Ziel: Gründungskultur und Gründungsmut in Deutschland stärken! Das notwendige „Mindset“ schaffen. Wichtig dabei: Auch Hinfallen gehört dazu. Eine gescheiterte Gründung ist in Deutschland leider allzu oft das Ende der Gründerkarriere – in den USA hingegen beginnt sie damit erst gemäß dem Motto: Aus Fehlern wird man klug! Das ist sicher eine gesellschaftliche Debatte. Aber auch eine rechtliche. Und deshalb müssen wir auch das Insolvenzrecht kritisch überprüfen, um Unternehmensschließungen schneller und unbürokratischer zu gestalten und den Gründern danach noch eine zweite Chance zu geben. Damit auch in unserem Land eine gescheiterte Gründung nicht das Ende einer Gründer karriere ist.
5. Schließlich: der passende rechtliche Rahmen Wenn wir bei rechtlichen Rahmenbedingungen sind, dann darf auch der Datenschutz nicht unerwähnt bleiben. Deutschland hat den strengsten Datenschutz der Welt. Verbraucherrechte müssen im Blick behalten werden, aber es dürfen auch keine Barrieren für die digitale Wirtschaft entstehen. Vor allem muss der Datenschutz europaweit einheitlich gestaltet sein. Die EU-Datenschutzverordnung gilt es daher zügig, aber mit den notwendigen Anpassungen an die Erfordernisse der digitalen Wirtschaft zu verabschieden.
Und auch im Bildungswesen müssen wir ran. Denn das richtige „Mindset“ zu schaffen, das beginnt schon sehr früh. Vernichtend ist das Urteil der
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Und wenn es um einheitliche Rechtsetzung und Standards geht, dann haben EU und Mitglieds staaten noch einige Hausaufgaben zu machen. Denn eines ist klar: Der Gründer in den USA hat gleich einen riesigen Markt mit einheitlichem Recht. In Europa sieht er sich einem Flickenteppich von Regelungen gegenüber. Die Chancen eines europäischen Binnenmarktes können nur dann von Startups voll ausgeschöpft werden, wenn eine Vereinheitlichung der nationalen Regelungen stattfindet. Hier muss das Kabinett Juncker ran.
Mein Fazit: Mehr Gründungen in unserem Land sind leider nicht auf Knopfdruck machbar. Doch mit den richtigen Rahmenbedingungen und der richtigen Einstellung kann man vieles bewirken. Deutschland - Digitales Wachstumsland Nr. 1 ist ein spannendes Projekt, bei dem gilt, was für jede Unternehmensgründung ebenfalls gilt: Der erste Schritt ist der Entscheidende. Einfach anfangen. Mit Gründermut für ein gutes Projekt!
Nadine Schön MdB war von 2004 bis 2009 Mitglied des saarländischen Landtags. Im Jahre 2009 wurde sie in den Deutschen Bundestag gewählt und gehört seit Januar 2014 dem geschäftsführenden Fraktionsvorstand als stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion an. Sie ist zuständig für Familienpolitik und die „Digitale Agenda“.
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Tom Kirschbaum
Mehr Mut wagen! Warum die Politik eine unternehmerische Kultur prägen kann – und muss.
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Bundestag, aus der CDU-Fraktion etwa Nadine Schön, Thomas Jarzombek und Peter Tauber, hat die „Internet-Enquete“ den Boden für den heutigen Ausschuss „Digitale Agenda“ bereitet, der nun die unterschiedlichen Themenfelder digitaler Veränderungen, Herausforderungen und Chancen bündelt.
Deutschlands Wirtschaft lebt von den Erfindern des 19. Jahrhunderts: Auto. Maschinenbau. Elektronik. Nun, im Jahrhundert der digitalen Revolution, gilt es neues Unternehmertum zu leben. Unternehmertum, das durch innovative Technologieunternehmen geleistet werden kann – durch Startups. Um dafür ein gedeihliches Ökosystem zu schaffen, braucht es einen doppelten Ruck: Die Umsetzung einer Reihe politischer Maßnahmen, und, viel wichtiger, das Eintreten für eine unternehmerische Kultur.
Die Bundesregierung hat im August 2014 die Digitale Agenda 2014-2017 beschlossen, die ressort übergreifend das „Innovationspotenzial unseres Landes für weiteres Wachstum und Beschäftigung“ stärker erschließen soll. Ein hehres Ziel, in dessen Umsetzung Vieles noch vage ist. Die Verteilung der Verantwortlichkeit auf drei Ministerien – Wirtschaft, Inneres und Verkehr – trägt sicher nicht zur Entscheidungsdynamik bei. Es bleiben nun noch knapp drei Jahre, Taten folgen zu lassen. Welche könnten dies sein, aus Sicht der Startup-Industrie? Nachfolgend einige der Themen, die politischer Aufmerksamkeit bedürfen.
Politische Maßnahmen sind wichtig Startups sind technologiegetriebene, sehr schnell wachsende Unternehmen, die in wenigen Jahren ihre Innovationskraft beweisen und sehr erfolgreich werden – oder ebenso schnell wieder vom Markt verschwinden.
»Startups sind Keimzelle des Mittelstands, sie schaffen Arbeitsplätze und gestalten Zukunft.«
Kapital Junge, digitale Unternehmen brauchen viel Kapital, um Innovationen entwickeln zu können. Der Zyklus eines Startups besteht fast immer in einigen Jahren hoher Investition und geringer Erlöse, so dass in dieser Phase Venture Capital notwendig ist. In Deutschland wird im internationalen Vergleich ein verschwindend kleiner, man könnte sagen: peinlicher, Betrag Risikokapital investiert – nicht nur absolut, sondern auch im Verhältnis zum BIP. Gleichzeitig stecken Pensionsfonds und Lebensversicherungen in der Bredouille, Mil liarden von Liquidität anlegen zu müssen. In den USA ist es gängige Praxis, einen kleinen Teil dieser Vermögen in Venture Capital-Fonds zu investieren. Warum nicht in Deutschland?
Erfolgreiche Startups sind disruptiv, d.h. sie bewegen sich bewusst gegen den Strom etablierter Produkte, Prozesse und Lösungen. Es liegt in ihrer DNA, anders auf die Welt zu schauen als dies traditionelle Akteure tun (können). Startups sind keine Ansammlung von Bastlern, die in der Garage ihrem Hobby nachgehen, sondern Keimzelle des Mittelstands, sie schaffen Arbeitsplätze und gestalten Zukunft. Startups bilden den Ausgangspunkt für Innovation, was in der digitalen Industrie Unternehmen wie Google, nicht mehr wegzudenken aus unserer Lebenswirklichkeit und dabei immer noch im Teenageralter, eindrucksvoll zeigen. Die Dynamik eines Startups ist immens, lange Entscheidungswege bei Gründung, Finanzierung und Wachstum sind Gift.
Daneben ist ein lebendiger Börsenmarkt für Startups wichtig, um in einer fortgeschrittenen Phase Wachstumskapital aufnehmen zu können, ohne den Weg über einen Exit gehen zu müssen. Ein spezifisches Börsensegment für eher technologie- und auch risikofreudige Anleger ist der richtige Ansatz. Wer dabei stereotyp auf die New Economy-Blase im Jahr 2000 verweist oder voller Häme kurzfristige Kursentwicklungen von Zalando und Rocket Internet kommentiert, hat nicht verstanden, dass in den USA ein funktio nierender Markt existiert, zu dem Volatilität prinzipiell gehört.
Die Diskussion um die Rahmenbedingungen von Startups hat seit der letzten Legislaturperiode erfreulich an Fahrt aufgenommen. Die Erkenntnis, dass digitale Weltmarktführer so gut wie nie aus Deutschland stammen, setzt sich durch. Getrieben von jüngeren Abgeordneten im Deutschen
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Wandel, ein Zuwanderungsland werden wollen, muss mehr Dienstleistungsmentalität in deutsche Amtsstuben.
Der Aktienkurs von Facebook ist nach Emission um 25% in den Keller gerauscht, heute sind die Erstanleger fein raus. Übrigens: An der NASDAQ sind mehr Unternehmen allein aus Israel gelistet als aus ganz Europa zusammen. Auch die deutschen Konzerne müssen viel aggressiver investieren. Akquisitionen von erfolgreichen Startups finden vor allem durch US-amerikanische Unternehmen statt; leider passiert es selten, dass DAX-Konzerne Milliarden in digitale Übernahmen stecken, um Innovationen einzukaufen und zu nutzen. Ist es so absurd, dass ein deutsches Unternehmen WhatsApp für 19 Mrd. US$ kauft?
Datenschutz Deutschland ist international für seinen strengen Datenschutz bekannt bis berüchtigt. Datenschutz ist kein Wettbewerbsvorteil, sondern behindert das Entstehen von digitaler Innovation. Günther Oettinger hat kurz nach seinem Amtsantritt als Kommissar für die Digitale Wirtschaft ein Umdenken gefordert: Grundsätzlich solle alles erlaubt sein, was nicht verboten ist – nicht umgekehrt. Er will sich dafür einsetzen mehr Möglichkeiten zu schaffen, wie datengetriebene Produkte und Geschäftsmodelle entstehen können. Das klingt ganz anders als die Vorschläge zur Datenschutz-Grundverordnung und lässt hoffen – weiter so.
Unternehmertum in Bildung verankern Unternehmertum kommt in unserem Bildungssystem kaum vor. In der Schule lernen Kinder die berühmten Namen deutscher Ur-Unternehmer im Geschichtsunterricht des 19. Jahrhunderts. Hochschulabsolventen sehen sich nach jüngsten Studien vor die Wahl gestellt zwischen dem öffentlichen Dienst und einem Großkonzern. Offenbar ist unser (Aus-)Bildungssystem auf eine Karriere als Angestellter ausgerichtet, Mut zur Verwirklichung eigener Ideen ist nicht angelegt. Dieser Mut kommt auch nicht von ungefähr, sondern muss in Lehrplänen und im Curriculum verankert sein.
Startup-Interessen nicht als Kollateralschäden Schädlich sind politische Initiativen, bei denen Rahmenbedingungen für Startups als Kollateralschaden unter die Räder kommen. Beispiel: Die jüngste Initiative Hessens mit dem (legitimen) Ziel, Steuerschlupflöcher zu schließen, bringt unverhältnismäßige steuerliche Nachteile mit sich für Business Angels, also solche Investoren, die sich in einer frühen Phase an einem Startup beteiligen. Diesen Investoren, oft Privatpersonen und kleine Beteiligungsgesellschaften, die ein hohes Risiko auf sich nehmen und einen wichtigen Beitrag in der ersten Phase eines Startups leisten, steuerliche Nachteile aufzuerlegen statt Anreize zu setzen, zeigt, dass Startup-freundliche Rahmenbedingungen zu oft nur „unter ferner liefen“ wahrgenommen werden und am Ende leicht gegen sie abgewogen wird. Gleiches gilt für den Mindestlohn, der vielen Berufsanfängern den Einstieg in Startups verwehren wird.
Willkommenskultur Talente, die den digitalen Wandel treiben, sind auf der ganzen Welt verteilt. Designer, Softwareentwickler, Marketeers, Entrepreneure sammeln sich jedoch in „Startup Hubs“, in denen Kreativität auf unternehmerische Schaffenskraft trifft. Beispiele sehr erfolgreicher Startup-Hubs sind das Silicon Valley in Kalifornien und Tel Aviv. In Europa hat sich vor allem Berlin als ein solcher Hub etabliert; nicht durch politisches Zutun, sondern weil die Stadt durch ihre ohnehin kreative und internationale Szene einen guten Humus bot und bietet. Viele Gründer sind nicht aus Deutschland, Mitarbeiter von Startups sehr oft sehr international gemischt. Nun ist es wichtig, diesen Talenten mit offenen Armen zu begegnen – die BlueCard für qualifizierte Ingenieure ist ein erster Schritt, aber im Detail steckt immer noch viel Teufel. Die Prozesse der bei Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen beteiligten Behörden sind ein Dschungel, auch für verwaltungserfahrene Unternehmen. Wenn wir, nicht zuletzt mit Blick auf den demographischen
Spitzenpositionen schaffen und richtig besetzen Im Weißen Haus in Washington existiert die Position des „Chief Technology Officers of the United States of America“, der die Administration von Barack Obama zu Fragen der Digitalisierung der Gesellschaft berät. Megan Smith, Amtsinhaberin seit wenigen Monaten, blickt auf eine Karriere als Unternehmerin und im Senior Management von Google und Apple zurück.
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»Es braucht Mut in der Politik, um Mut in der Gesellschaft zu erzeugen.«
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Eine Unternehmerin als Chefingenieurin eines ganzen Landes, als direkte Beraterin des Regierungschefs – ein kraftvolles Bild zur Öffnung der Politik für wirkungsvolle Impulse aus der Wirtschaft.
aber auch über die Risiken sprechen.“ Um dann mindestens drei Viertel der Zeit über eben diese Risiken zu sprechen, während die Chancen phrasenhaft als selbstverständlich abgehakt werden. Auf diese Weise versäumen wir die Chancen, jeden Tag, in atemberaubender Geschwindigkeit. Während Deutsche Innovationen wie Google Street View herzlich gerne nutzen, diskutieren wir gleichzeitig ebenso leidenschaftlich, wie furchtbar die digitale Erfassung unserer Straßenbilder doch ist; ein Phänomen kürzlich von Carsten Knop in der FAZ zurecht als „digitale Schizophrenie“ bezeichnet.
Es braucht ein Ökosystem Am Ende braucht es ein ganzes Ökosystem, in dem Startups entstehen und gedeihen können. Ein Ökosystem, in dem erfolgreiche Unternehmer weitere Gründungen nach sich ziehen. Ein Ökosystem, zu dem die beschriebenen Maßnahmen einen Beitrag leisten würden.
Als Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel vor kurzem in Berlin auf Eric Schmidt traf, den Chairman von Google, waren Vertreter der digitalen Industrie in Deutschland eingeladen. Die Veranstaltung war eine gute Initiative und bot ein kontroverses Gespräch. Nicht überraschend: Die meisten Fragen aus dem Publikum waren kritisch. Googles Rolle gegenüber Verlagen, Googles Datenschutzpolitik, Googles marktbeherrschende Stellung. Alles richtig. Aber: Es fehlten die Fragen, wie Google es geschafft hat, innerhalb von nur 15 Jahren so unglaublich erfolgreich zu sein. Wie entwickelt ein Unternehmen mit 50.000 Mitarbeitern täglich neue Innovationen? Welchen Rat gibt Eric Schmidt deutschen Unternehmern und Unternehmen mit auf den Weg?
Essentiell ist die unternehmerische Kultur Alle oben genannten Themen sind wichtig. Und es sind notwendige Antworten auf die Frage, was Politik tun kann, um ein Ökosystem für Startups zu schaffen. Um ehrlich zu sein: All diese Themen interessieren mich nicht sonderlich. Genauer gesagt, sie interessieren mich nicht sonderlich, solange wir nicht über ein übergeordnetes Thema sprechen: Das unserer Kultur. Denn was es eigentlich braucht in Deutschland ist eine Gesellschaft, die unternehmerischer wird und ihr Zweifeln, Zaudern und Bedenkentragen aufgibt. Keine Gesellschaft, die sich dem Bewahren verschreibt, die mit Vorliebe auf Risiken verweist und die sich auf das Versichern dieser Risiken kon zentriert. Keine Gesellschaft, die auf nur kurzfristigen Erfolg schielt und mit allen Mitteln Misserfolg zu vermeiden sucht. Keine Gesellschaft, die im unternehmerischen Scheitern Häme und im unternehmerischen Triumph Neid parat hält.
Nun ist eine beliebte Replik der Politik auf ein Einfordern einer unternehmerischen Kultur: „Politik kann die gesellschaftliche Kultur nicht ändern.“ Ich könnte nicht entschiedener anderer Meinung sein. Politische Mandatsträger sind Vorbilder. Sie stehen in der Verantwortung, Entwicklungen vorauszusehen, Chancen zu ergreifen und Schaden abzuwehren – sehr nah an dem, was Unternehmer tun. Sie stehen in der Pflicht, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen. Eben nicht aus dem Verständnis heraus, Wahlen zu gewinnen, sondern aus ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung heraus, um das Richtige ringen zu wollen. Manchmal sind unbequeme Positionen zu vertreten, um das Richtige zu tun. Politik muss auch prägen wollen. Politik hat viel mit „Leadership“ zu tun, also damit, Menschen hinter einer Meinung – ehrlicherweise: einer Vision – zu versammeln. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies zu leisten ist: Menschen nicht nur dort zu treffen, wo sie ohnehin stehen, sondern sie dorthin mitzunehmen, wo eine politische Vision endet.
Ich wünsche mir stattdessen eine Gesellschaft, die getrieben wird von Mut, von einem gesunden Ehrgeiz, von dem Wunsch nach Veränderungen zum Besseren, von einem klaren Blick auf Chancen. Eine Gesellschaft, die Erfolg bewundert und Misserfolg verzeiht. Eine Gesellschaft, die sich ihrer unternehmerischen Wurzeln erinnert und erkennt, dass digitale Innovationen zu einem großen Teil nicht mehr „Made in Europe“ sind, aber dies wieder werden können. Eine Gesellschaft, die Unternehmertum anerkennt und zulässt, dass Unternehmer Vorbilder für nachfolgende Generationen werden. Es ist kein Zufall, dass politische Diskussionen in Deutschland zur Digitalisierung gerne um die Formulierung kreisen: „Natürlich bietet die Digitalisierung Chancen. Wir müssen
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Auch Parteien müssen prägen. Es ist ihr Auftrag nach dem Grundgesetz, bei der politischen Willens bildung des Volkes mitzuwirken. Heute wirkt diese Mitwirkung zu oft wie ein Aufnehmen der vorhandenen Strömungen, wie ein Abtasten mehrheitsfähiger Kompromisse, um niemanden zu verschrecken. Parteien dürfen aber nicht nur Sammelbecken dessen sein, was ohnehin besteht und ohnehin gewollt ist. Sie stehen in der allerersten Verantwortung, weiter als bis zur nächsten Wahl zu schauen und prägend auf die Gesellschaft einzuwirken. Sie brauchen eine Vision von der Gesellschaft, die weit über den Status Quo hinausgeht.
mit einer fantastischen Gelegenheit konfrontiert: Die Regierungschefin hat das Thema als ihres angenommen und in der Großen Koalition auch die Möglichkeiten zur Umsetzung eines großen Wurfs. Ich wünsche mir deshalb, dass die Bundes kanzlerin die digitale Agenda wirklich zu ihrer Sache, zur Chefsache, macht. Dies scheint mir wichtiger als manche Einzelmaßnahme, zumal alles andere der Dimension der Digitalisierung sowieso nicht gerecht würde. Es braucht bei all dem mehr Freude am Risiko. Die Politik ist dabei wichtiger Akteur; sie ist wichtiger, als sie möglicherweise selbst wahrhaben will. Sie genießt Aufmerksamkeit und Gestaltungsmacht. Sie findet Gehör bei Entscheidungsträgern aller gesellschaftlichen Gruppen. Es braucht Mut in der Politik, um Mut in der Gesellschaft zu erzeugen. Als Mitglied der CDU sehe ich mit Respekt auf die Verdienste der christlich-demokratischen Bundeskanzler. Und auf die Arbeit, die viele Menschen aus der Partei auf kommunaler, regionaler und föderaler Ebene leisten. Oft lag großen Entscheidungen viel Mut zugrunde, und auch heute müssen wir mutig sein. Mut haben in dem Bild, das wir von Deutschland zeichnen und für das wir, jeder an seiner Stelle, eintreten wollen. Mut bei der Pointierung politischer Positionen. Und Mut bei der Gestaltung einer unternehmerisch denkenden Gesellschaft.
Jetzt ist die Zeit Es ist erfreulich, dass die Bundeskanzlerin immer wieder und immer deutlicher Stellung dahingehend bezieht, dass Startups wesentlicher Teil einer innovationsfreundlichen Wirtschaft sind. Und ihr ist auch darin zuzustimmen, dass staatliche Anreize allein nicht reichen werden, um die nötigen Investitionen auszulösen: Der Staat war schon nicht der bessere Banker, er ist mit Sicherheit nicht der bessere Venture Capital-Investor. Die Wirtschaft muss es am Ende leisten (wollen), und für die Startup-Industrie sei gesagt: Wir sind bereit. Angela Merkel hat insgesamt eine sehr klare Position in diesem Kontext, anschaulich wurde dies auf der „cnight“ im November 2014 im Konrad-Adenauer-Haus, während der sie sich offen für eine entsprechende Politik zeigte und außerordentlich sachkundig konkrete Vorschläge aus der Wirtschaft einforderte. Wir sehen uns also
Peter Tauber beschreibt die CDU: „Für uns werden auch weiter das christliche Menschenbild, die soziale Marktwirtschaft und die Liebe zu unserem Vaterland Grundlage unserer Arbeit bleiben.“ Ich möchte ergänzen: „...um voller Mut in einer unternehmerischen Gesellschaft zu leben.“
Dr. Tom Kirschbaum ist Gründer der Door2Door GmbH, die mit „allryder“ eine mobile App für öffentliche Verkehrsmittel innerhalb der Stadt betreibt. Tom Kirschbaum engagiert sich im Gesamtvorstand des Bundesverbands Deutsche Startups e.V. und ist Mitglied der CDU sowie des cnetz e.V.
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Philipp Justus
Für ein digitales Wirtschaftswunder Deutschland ist der Stabilitätsanker in Europa. Doch der Glanz von „Made in Germany“ droht zu verblassen, wenn die Chancen des Digitalzeitalters nicht konsequent genutzt werden. Ein Plädoyer für mehr Entschlossenheit, mehr digitalen Gründergeist und ein neues deutsches Wirtschaftswunder.
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„Wohlstand zu bewahren ist noch schwerer, als ihn zu erwerben“, sagte Ludwig Erhard, der Vater des deutschen Wirtschaftswunders. Auch knapp vier Jahrzehnte nach seinem Tod ist der Mann mit der Zigarre damit ziemlich exakt auf der Höhe der Zeit. Trotz großer Herausforderungen hat sich Deutschland in der weltweiten Wirtschaftskrise wie kaum ein anderes Land behauptet. Wir sind Spitze, wenn es um den Export unserer Autos, Maschinen oder auch Kuckucksuhren geht. Produkte „Made in Germany“ sind auf den weltweiten Märkten gefragt und genießen einen ausgezeichneten Ruf.
Millionen Haushalte – insbesondere in ländlichen Regionen – haben nur vereinzelt oder gar keinen Zugriff auf einen ausreichend schnellen Zugang, um datenintensive Netzanwendungen zu nutzen. Im internationalen Vergleich wird Deutschland bei der Internetgeschwindigkeit von der Weltspitze deutlich abgehängt und belegt mit durchschnittlich 8,9 Mbit/s lediglich Platz 29. Südkorea und Japan surfen längst im zweistelligen Mbit/s Bereich. Und auch unsere europäischen Nachbarn - allen voran die Schweiz - sind deutlich schneller auf der Datenautobahn unterwegs. Das heißt im Klartext: Wenn Deutschland Export-Weltmeister bleiben will, muss es die Breitbandversorgung endlich als eine der zentralen Herausforderungen des digitalen Zeitalters adressieren. Denn dass es deutschen Unternehmern nicht an guten Ideen mangelt, zeigt das Beispiel von Gerhard Schmieder. Der junge Holzbildhauer aus dem Schwarzwald stellt Kuckucksuhren her.
»Das Internet gilt als die Dampfund Jobmaschine des 21. Jahrhunderts.« Doch die Ansätze Erhards sollten uns auch heute zu denken geben: Wachstum, Wohlstand und Wirtschaftswunder fallen nicht vom Himmel. Wenn wir unsere Spitzenposition behalten wollen, müssen wir mehr tun, als uns über die Erfolge der Vergangenheit und Gegenwart zu freuen. Wie wichtig eine nüchterne Betrachtung der Fakten ist, zeigen die folgenden Punkte:
Doch von den Verkäufen in seiner Region konnte er nicht leben. Dank des Internets und einer geschickten Netz-Kampagne gelang es ihm, Kuckucksuhren-Fans aus der ganzen Welt auf sich aufmerksam zu machen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Schmieder gehört heute zu den erfolgreichsten Kuckucks uhren-Exporteuren der Welt. Es wird deutlich, dass heute jedermann weltweit erfolgreich sein kann, auch wenn er nicht über einen großen Apparat verfügt. Gefragt sind Originalität, Biss und digitale Kompetenz. Auch Studien des Instituts der Deutschen Wirtschaft zeigen, was Internet-Gründer auszeichnet: Sie sind innovativ und kreativ, überdurchschnittlich ausgebildet und schaffen hochqualifizierte Jobs.
• Trotz Start-up-Begeisterung in Berlin und anderswo sank die Zahl der Gründungen in Deutschland auf einen historischen Tiefstand (2012). • Magere fünf Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind als Gründer oder Manager junger Firmen aktiv. • Nur 37 Prozent der Deutschen können sich überhaupt vorstellen, ein Unternehmen zu gründen. In den USA sind es fast 60 Prozent.
Doch warum haben wir in Deutschland eine vergleichsweise schwache Gründer-Dynamik? Scheut der Nachwuchs das Risiko? Liegt es daran, dass in Schule und Universität unternehmerische Tätigkeiten kaum eine Rolle spielen? Oder blockieren die bürokratischen Hürden den aufkeimenden Unternehmer- und Gründergeist in Deutschland schon im Ansatz? Wer sich schon einmal mit den Tücken des Arbeits- und Steuerrechts, den Regeln zur Beschäftigung von Nicht-EU-Bürgern, dem komplexen Fernabsatzrecht sowie dem Urheberrecht auseinandergesetzt hat, wird diese Frage mit einem klaren Ja beantworten.
Das Internet gilt als die Dampf- und Jobmaschine des 21. Jahrhunderts. Das Netz trägt zu Innovation, Wachstum und Beschäftigung bei und bietet vor allem jungen Unternehmerinnen und Unternehmern neue Möglichkeiten, mit guten Ideen und wenig Geld erfolgreich zu sein. Wichtigste Voraussetzung hierfür ist jedoch eine ausreichende Breitbandversorgung. Und in diesem Bereich ist Deutschland ausnahmsweise kein Vorzeigeland.
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Eine gelungene digitale Entwicklung misst sich auch daran, ob wir es schaffen, die Gefahr der sozialen Ausgrenzung zu besiegen. Wenn es uns gelingt, allen gesellschaftlichen Gruppen Zugang zu Informationen und Kommunikation zu ermöglichen, schaffen wir damit die Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe und eine freie, demokratische Gesellschaft.
Es gibt natürlich auch viele positive Ansätze: Mit der Digitalen Agenda hat die Bundesregierung ein richtiges Signal gesetzt. Doch ist es jetzt an der Zeit, die richtigen Weichen zu stellen und die Digitalisierung mit Nachdruck zu gestalten. Was wir brauchen sind verlässliche Rahmenbe dingungen, die Deutschlands digitale Wettbewerbsfähigkeit im Blick haben, Innovation fördern und der digitalen Entwicklung in unserem Land insgesamt einen Schub verleihen.
Übrigens, bei unserem Förderwettbewerb Gründer-Garage 2014, den wir mit Volkswagen, 3M, der Allianz und anderen Partnern durchgeführt haben, hat in diesem Jahr das Team von „Helden im Ruhestand“ gewonnen. Die jungen Social Entrepreneurs helfen älteren Menschen bei der Gestaltung eines aktiven und erfüllten Lebens nach dem Beruf und sorgen damit für gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen den Generationen. Das ist genau der Geist, der gute Gründergeister ausmacht und den wir weiter fördern sollten.
Es ist erfreulich, dass die Zukunftsthemen unseres Landes auch im Zentrum des 27. Bundesparteitages der CDU stehen. Wie kann Deutschland wettbewerbsfähig bleiben? Wie sichern wir den Wohlstand dauerhaft? Auch hier lohnt es sich auf den guten alten Ludwig Erhard zu hören, wenn er sagt: „Wohlstand ist eine Grundlage, aber kein Leitbild für die Lebensgestaltung.“
Fassen wir zusammen: Ein neues deutsches Wirtschaftswunder ist nötig und auch möglich. Dabei dürfen wir uns nicht auf unserer Stärke und unseren vergangenen Erfolgen ausruhen, sondern müssen den Ausbau der digitalen Infrastruktur konsequent vorantreiben und für verbindliche, wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen sorgen. Die Gestaltung der digitalen Welt ist nicht die Sache Weniger, sondern muss auf einer breiten gesellschaftlichen Basis ruhen. Dabei kommt es darauf an, das Netz nicht nur auf einen neuen Vertriebskanal zu reduzieren, sondern seine Möglichkeiten zu nutzen, für gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sorgen. Es sind nicht nur die Digital-Natives, Technik-Fans und digitale Fachpolitiker gefordert, sondern wir alle. Ein digitales Wirtschaftswunder ist möglich.
»Der Erfolg der Digitalisierung lässt sich nicht nur in Wachstumsraten und steigenden Beschäftigungsverhältnissen ablesen.« Die Entwicklung unserer digitalen Zukunft hat nicht nur eine wirtschaftliche, sondern vor allem auch eine gesellschaftliche und soziale Dimension. Der Erfolg der Digitalisierung lässt sich nicht nur in Wachstumsraten und steigenden Beschäftigungsverhältnissen ablesen.
Philipp Justus war zehn Jahre lang in verschiedenen Funktionen für eBay tätig, wo er unter anderem das Europageschäft verantwortete und später das Global Markets Team von Paypal leitete. Seit 2013 ist Justus Chef von Google Deutschland.
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Unser Maßstab: PFLEGEBERATUNG ZU HAUSE Um Pflegebedürftige bestmöglich beraten zu können, müssen wir ihr Umfeld kennen. Deswegen besuchen wir sie in ihren eigenen vier Wänden. Sie müssen nirgendwohin, unsere Berater kommen zu ihnen. Damit setzen wir Maßstäbe. Und machen Pflege für alle besser. www.pkv.de
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Thomas Helm
Industrie 4.0 Der industrielle Wandel als gesellschaftspolitische Herausforderung
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vieler Staaten und Gesellschaften begründet. Das führte in vielen Staaten zu größerem Wohlstand – allerdings entstanden auch neue Abhängigkeitsverhältnisse; ein bis dahin unbekanntes Industrieproletariat entstand, was zu neuen sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen und in der Folge auch zu Unruhen führte. Als eine der ersten Unruhen dieser Art gilt der Aufstand der schlesischen Weber von 1844.
Verfolgt man die öffentliche Debatte um den Begriff Industrie 4.0 über die letzten Monate, so reduziert sich diese im Wesentlichen auf die Fragen von Breitbandausbau und Datensicherheit. Das wird dem komplexen Thema aber bei weitem nicht gerecht. Denn die „intelligente Fabrik“ der Zukunft wird alle Phasen des Wertschöpfungsprozesses – innerhalb und außerhalb der eigentlichen Produktionsstätte, eingeschlossen der Logistik sowie der Kunden und Geschäftspartner – miteinander verbinden. Egal ob Stahlverarbeitung oder Konsumgüterproduktion: Künftig werden Kunden die Produktionsanlagen aus hunderten Kilometer Entfernung digital ansteuern können, die dann Produktion, Versand und Rechnungserstellung selbstständig ausführen.
»Mit Industrie 4.0 werden neue Jobs entstehen und alte in großem Umfang wegfallen.«
Knapp einhundert Jahre später bahnte die zweite industrielle Revolution mithilfe von elektrischer Energie der arbeitsteiligen Massenproduktion den Weg. Das Fließband zog in die Fabriken ein, die Blütezeit der nun entstandenen „Economies of Scale“ fällt mit der Automobilproduktion von Henry Ford zusammen. Auch sie brachte einen erheblichen Wohlstandsschub. Viele Produkte wurden für breite Bevölkerungsschichten erst erschwinglich. Zugleich strebten die unbewältigten sozialen Konflikte einem Höhepunkt entgegen, ebneten in einigen Staaten sogar totalitären politischen Gesellschaftsmodellen den Weg, die soziale Gerechtigkeit versprachen.
Alle Beteiligten und Objekte sind über das Internet und RFID-Chip miteinander verbunden. Sowohl Maschinen als auch die Materialien werden zu „Embedded Systems“. Passive Objekte werden nun ausgestattet mit Mikrocontrollern, Kommunikationssystemen und Identifikatoren, die Produktionsschritte kennen und Störungen selbst beheben können. Unternehmen werden sich grundlegend verändern und Prozesse an Komplexität zunehmen. Dabei wird sich auch die Steuerungskompetenz der Prozesse verlagern: weg von der mittleren Entscheiderebene – der Ebene der Werkmeister, Produktionsleiter und der Vertriebsingenieure.
Die dritte industrielle Revolution erbrachte mittels Elektronik- und IT, vor rund 40 Jahren beginnend, eine weitgehende Automatisierung der Produktion. Vielen Unternehmen wurde der Einstieg in das große internationale Geschäft dadurch erst ermöglich. Vor allem die Exportnationen erhielten einen zusätzlichen Schub: Wachstum und Wohlstand florierten dort. Mit der dritten industriellen Revolution verbindet sich aber auch die zunehmende Verdrängung des Menschen aus dem Produktionsprozess und seinen Ersatz durch Maschinen und Produktionsroboter. Vor allem die einfachen, repetitiven Tätigkeiten waren betroffen und führten zu einer stark erhöhten Sockelarbeitslosigkeit, auch in Deutschland. Aller wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Erfolge der drei bisherigen großen Wegmarken der Industrialisierung zum Trotz, führten sie immer zugleich auch zu großen gesellschaftlichen Herausforderungen – die uns auch bei Industrie 4.0 erwarten. Die Umbrüche schufen Verlierer innerhalb von Gesellschaften und sogar in Form ganzer Staaten, sofern diese nicht auf die damit einhergehenden Veränderungen vorbereitet waren. Wesentliche Elemente, um auf der Seite der Gewinner zu stehen, waren stets Bildung und Forschung.
Mit Industrie 4.0 werden neue Jobs entstehen und alte in großem Umfang wegfallen. Nicht nur dadurch wird die vierte industrielle Revolution ebenso umfangreiche Veränderungsprozesse nach sich ziehen wie die drei vorhergehenden. Nach der Erfindung der Dampfmaschine Ende des 18. Jahrhunderts hat die erste industrielle Revolution die dringend benötigte Produktion von Gütern in größerem Umfang, durch die Einführung mechanischer Produktionsanlagen, ermöglicht und dadurch die wirtschaftliche Entwicklung
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Der stetig wachsende generationenübergreifende Bildungsaufstieg bot die Chance gegen den Verdrängungsprozess des Menschen durch die Maschine immun zu werden. Voraussetzung dafür war und ist eine auf guter Grundlagenforschung basierende Schul- und Hochschullandschaft.
wir den kommenden Wandel mit und profitieren davon oder bleiben wir außen vor und fallen in der Konsequenz zurück? Doch das „Land der Denker“ tut sich schwer mit Innovationen. Seit Jahren fällt Deutschland in Schlüsselbereichen der technologischen Entwicklung zurück. Besonders im Bereich der Spitzentechnologien – wie Biotechnologie, Pharmazie, Mess- und Steuertechnik – nimmt die Gründung von Unternehmen kontinuierlich ab. Exzellente Wissenschaftler wandern aus und suchen ihre berufliche Zukunft zunehmend außerhalb Deutschlands. Anstatt Chancen und Risiken gleichwertig gegenüberzustellen, um Chancen ergreifen und damit verbundene Risiken bewältigen zu können, werden Risiken überbetont und Neuerungen vorschnell ad acta gelegt. Die aktuelle Debatte um das Freihandelsabkommen mit den USA – zeitweise auf den Begriff „Chlorhühnchen“ reduziert – ist neben der öffentlichen Empörung über Grüne Gentechnik, Fracking, CCS-Verpressung und Biotech nur eines von vielen Beispielen.
Industrie 4.0 wird allerdings unter dem Aspekt Aufstieg durch Bildung zu einer besonderen Heraus forderung, denn sie greift deutlich über die einfachen, repetitiven Tätigkeiten von Produktion hinaus und weit in die Planungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsebenen von Produktionsprozessen ein. Zu Entscheidern werden künftig die „Masterminds“, welche die komplexen Prozesse mit Hilfe von Algorithmen bestimmen. Bildungsaufstieg allein reicht bald nicht mehr. Wer zu den Gewinnern gehören und den Wandel entscheidend mitgestalten will, muss sich Fertigkeiten aneignen, komplexe Prozesse zu analysieren und zu begreifen. Digitale Entwicklungen werden unseren Alltag noch umfassender durchdringen als heute. Es ist die Aufgabe von Kommunikationsexperten, Brücken zwischen den „Masterminds“, Eliten aus Politik und Wirtschaft und gesellschaftlichen Gruppen zu bauen.
»Das ‚Land der Denker‘ tut sich schwer mit Innovationen.«
Angst- und Katastrophenszenarien dominieren den Diskurs und blockieren sachliche Debatten darüber, wie vermeintliche Risiken der Innovationen möglichst effizient zu minimieren sind. Doch was sind die Ursachen für das verbreitete fortschrittsfeindliche gesellschaftliche Klima in diesem Land? Möglicherweise machen Erwartungen im Hinblick auf künftige Prosperität und Herausforderungen des demographischen Wandels die Menschen glauben, dass die deutsche Volkswirtschaft perspektivisch ihren Zenit überschritten hat. Die Erwartung, sich eher auf dem Weg in den „Sinkflug“ zu befinden, nimmt den Menschen die Offenheit für Veränderungen, denn diese werden stets als Entwicklung zum Schlechteren gesehen. Als „ageing and risk averse“ wurde die deutsche Gesellschaft erst kürzlich bezeichnet. Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) identifiziert in ihren Umfragen die Deutschen seit Jahren als die Sorgenmeister Europas. Und das in einer Zeit, in der es Deutschland besser geht als fast jedem anderen Land in Europa.
Es geht an dieser Stelle nicht um eine Entscheidung darüber, ob Industrie 4.0 Realität wird oder nicht. Ähnlich wie beim Thema Globalisierung geht es um die entscheidende Frage: Gestalten
Eine Folge davon liegt auf der Hand: Wir trauen uns in Deutschland zu wenig zu, obwohl wir immer noch über weltweit anerkannte Spitzenkräfte in den unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen verfügen.
Sehr verwegen wäre an dieser Stelle die Behauptung, wir wären in Deutschland gut genug auf die Entwicklung vorbereitet oder die notwendigen Kompetenzen würden schon zu gegebener Zeit von selbst erworben. Dem ist nicht so. Fast 30 Jahre nachdem die erste E-Mail Deutschland erreichte und rund 20 Jahre nachdem das Internet für alle Menschen nutzbar wurde, haben wir quasi regierungsamtlich erfahren, dass das Internet für uns alle „Neuland“ sei. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass das zumindest auch für die Hälfte derjenigen gilt, die auf diese Bemerkung mit Hohn und Spott reagiert haben. Wir sind in Deutschland also nicht gut genug vorbereitet.
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»Wesentliche Elemente, um auf der Seite der Gewinner zu stehen, waren stets Bildung und Forschung.« Wenn wir auf dem Weg zu Industrie 4.0 nicht abgehängt werden wollen, sondern diesen mitgestalten und von den positiven Effekten profitieren wollen, müssen wir in Deutschland ein gesellschaftliches Klima schaffen, das es erlaubt, sich Innovationen viel stärker von der Chancenseite zu nähern. Das erfordert einen Mentalitätswandel. In einem breit angelegten Dialog, der endlich initiiert werden muss, sollten wesentliche gesellschaftliche Gruppen für diesen Wandel gewonnen werden. Dafür müssen Verantwortliche in Politik und Wirtschaft die Menschen auf die mit Industrie 4.0 verbundenen Neuerungen vorbereiten. Das Thema muss raus aus den Expertenzirkeln und rein in das öffentliche Bewusstsein.
als dürftig. In wenigen Bundesländern gibt es einzelne Versuche, darunter in Baden-Württemberg. Dieser Versuch steckt aber nach Kritik von Grünen und Gewerkschaften noch im Anfangsstadium. Auch der Informatikunterricht ist in Bezug auf kommende Herausforderungen keine große Hilfe. Dabei sollten in diesem Unterricht die „Digital Natives“ – wie unser Nachwuchs nicht ohne Grund genannt wird – für den gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel gerüstet werden. Das Lehrpersonal an den Schulen ist vielerorts zu alt und unterrichtet zu selten auf dem aktuellsten Entwicklungsstand. Hier muss dringend etwas geschehen – und falls sich das mit der Bezahlstruktur des öffentlichen Dienstes nicht bewältigen lässt, dann müssen Lösungen außerhalb dieser Struktur gefunden werden. So können wir die Herausforderungen im Hinblick auf Industrie 4.0 annehmen.
Und dieses Bewusstsein muss schon in der Schule entwickelt werden. Unser Bildungssystem ist auf die Herausforderungen von Industrie 4.0 alles andere als gut vorbereitet. Sinnvoll wäre ein Schulfach Wirtschaft an allgemeinbildenden Schulen, in dem Schülern Grundlagen für eine Kompetenz vermittelt werden, komplexe Prozesse analysieren zu können. Hier sind Fortschritte dringend geboten. Doch die Diskussion um ein Schulfach Wirtschaft wird schon seit mehr als einem Jahrzehnt geführt. Die Ergebnisse sind bisher mehr
Wir werden den gesellschaftlichen Wandel nur dann erfolgreich meistern, wenn wir die Debatte über Industrie 4.0 nicht weiterhin auf die Themen Breitbandausbau und Datenschutz beschränken, sondern die gesamte Themenbreite in den Blick nehmen. Fangen wir jetzt damit an.
Thomas Helm arbeitete als Referent und Büroleiter in der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag und war seit 2008 in der Parlamentarischen Geschäftsführung der Fraktion unter anderem für die Organisation der parlamentarischen Abläufe zuständig. Heute leitet Helm die Abteilung Governmental Affairs bei Ketchum Pleon, einer PR-Agentur und Kommunikationsberatung.
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Hildegard M체ller
Die Energiewende erfordert neue DenkAns채tze
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Sicht keine politische Reformaufgabe ist, die mit einzelnen Gesetzen bewältigt werden kann. Im Gegenteil: Reform zieht Reform nach sich, und in vielen Bereichen liegen noch keine Erfahrungen, zum Beispiel auch aus anderen Ländern, vor.
Die Energiewende zwingt uns zu einem Perspektivenwechsel. Immer stärker rücken die ökonomischen, gesamtgesellschaftlichen und systemischen Effekte und Herausforderungen des Umbaus der Energieversorgung in unser Blickfeld. Es geht längst nicht mehr nur um einen Ausbau der Erneuerbaren Energien. Immer stärker wird deutlich, wie komplex und verästelt dieses Projekt ist. Und man versteht, welche Dinge schon erreicht worden sind und welche Aufgaben noch vor uns liegen.
Das derzeit populärste Beispiel ist die Reform des Erneuerbare Energien-Gesetzes, das EEG 2.0. Der Ausbau der regenerativen Energien wird über die EEG-Umlage finanziert, die grundsätzlich von jedem Verbraucher bezahlt werden muss. Entsprechend hoch ist der Grad der Betroffenheit aller Bürgerinnen und Bürger. Die EEG-Umlage ist in den vergangenen Jahren massiv gestiegen. 2014 zahlten die Stromverbraucher über ihre Stromrechnung bereits fast 24 Milliarden Euro pro Jahr. Und auch im kommenden Jahr wird dieser Anteil wieder sehr hoch sein.
Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht durch den Umbau der Energieversorgung berührt wird oder der umgekehrt wichtige Parameter für die Energiewende setzt und verändert. Am augenscheinlichsten wird das beim Ausbau der Erneuerbaren Energien, die das Landschaftsbild bis 2050 gravierend verändern werden. Wo heute die Frage der Finanzierung im Vordergrund steht, wird künftig auch gesellschaftliche Akzeptanz zum Schlüsselfaktor. Zukunftstrends bei Mobilität, Wohnen, Architektur und Städtebau wiederum werden in den kommenden Jahrzehnten neue Maßstäbe für Politikfelder wie Energieeffizienz, Netzausbau und alternative Antriebe vorgeben.
Dieses System lässt sich bei 20 oder 25 Prozent Erneuerbarer Energien vielleicht noch tragen. Ein Erzeugungssystem mit einem angestrebten Anteil von 80 Prozent bis zum Jahr 2050 aber kann nicht ohne Markt und Wettbewerb funktionieren. Wir sprechen von einem „Rollentausch“: Die Erneuerbaren Energien dürfen nicht nur die Rolle der Konventionellen in der Erzeugung übernehmen, sondern sie müssen künftig auch die Verantwortung für die Stabilität der Netze und eine sichere Energieversorgung mit tragen.
»Versorgungssicherheit bekommt einen Preis.«
Es war deshalb ohne jeden Zweifel richtig, dass sich die Bundesregierung zu Beginn der Legislaturperiode das Ziel gesetzt hat, das EEG zu reformieren. Ein einfaches „Weiter so“ durfte es nicht geben. Am Beispiel der gerade verabschiedeten EEG-Novelle zeigt sich aber auch, dass die Energiewende einem ständigen Reformdruck unterworfen ist.
Die Verbraucher werden sich außerdem mit Themen, die sie bisher allenfalls indirekt berührt haben, aktiv auseinander setzen müssen. So wird die bis dato unsichtbar „mitgelieferte“, nahezu hundertprozentige Versorgungssicherheit mit dem Ausbau der stark schwankenden Erneuerbaren Energien ein Produkt werden müssen, das gehandelt und bezahlt werden will - Sicherheit bekommt einen Preis.
Ein Beispiel ist der Umgang mit dem Thema Eigenerzeugung und Selbstverbrauch. Bürger und Industriebetriebe denken sich: Warum sollten wir nicht unseren eigenen Strom produzieren, zumal wenn dieser unter anderem von der EEG-Umlage befreit ist? Das entspricht eben dem neuen Selbstbewusstsein des viel zitierten „Prosumers“; einer neuen Mischung aus Energieproduzent und -konsument.
Wie das energiepolitische Zieldreieck von Klimaschutz, Bezahlbarkeit und sicherer Energieversorgung weiterhin gewährleistet werden kann, ist aus diesen Gründen keine Frage einer rein fachlichen, in sich geschlossenen Energiepolitik. Es ist eine Frage eines breiten und offenen Diskurses über unsere gesellschaftlichen Prioritäten. Das ist auch deshalb wichtig, weil die Energiewende auf lange
Welche Folgen diese Eigenerzeugung für das Gesamtsystem hat, wie sehr durch das eigene Handeln andere Verbraucher belastet werden und
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wer die Kosten der Infrastruktur aufbringt – diese Rückschlüsse werden bislang nicht ausreichend gezogen.
In diesen Vorschlägen empfiehlt der BDEW auch, die 2010 eingeführten Flächenbeschränkungen für Photovoltaik-Freiflächenkraftwerke aufzuheben – damit möglichst viele Wettbewerber teilnehmen und die effizientesten Standorte gewählt werden können. Dass es dabei zu einer flächendeckenden Umnutzung der Landschaft über den Bedarf hinaus kommt, verhindert der von der Bundesregierung beschlossene Ausbaukorridor für die Erneuerbaren Energien. Dennoch ist absehbar, dass dies eine neue Akzeptanzdebatte auslösen wird.
»Es drohen erhebliche volkswirtschaftliche Ineffizienzen.« In der Konsequenz drohen erhebliche volkswirtschaftliche Ineffizienzen. Viele Anlagen zur Eigenstromerzeugung lohnen sich nur, weil Steuern, Abgaben und Umlagen von der Allgemeinheit getragen werden. Daher sagt die Energiewirtschaft: Alle Stromverbraucher, die die Infra struktur des Energieversorgungssystems nutzen, sollen auch angemessen an den Kosten für den Ausbau und Unterhalt der Infrastruktur beteiligt werden, also auch die Eigenstromerzeuger. Die in der neuen EEG-Novelle beschlossene Einbeziehung der Eigenerzeugung und des Selbstverbrauchs von Strom in die EEG-Umlage geht zwar in die richtige Richtung, ist aber noch nicht weitreichend genug. Alle Anlagen, die unter die sogenannte Bagatellgrenze fallen, sollten unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit und Steuerbarkeit des Gesamtsystems mit einbezogen werden. Das erfordert natürlich politischen Mut und Stehvermögen an den Stammtischen.
Eine andere, gravierende Folge des Ausbaus der Erneuerbaren Energien zeigt sich mit voller Wucht. In den vergangenen Jahren sind die Börsenpreise für Strom vor allem durch den Ausbau der Erneuerbaren Energien immer weiter gesunken. Viele Gas- und Kohlekraftwerke oder KWK-Anlagen können deswegen nicht mehr rentabel betrieben werden. Damit steht aber in der Folge das wichtige Gut ‚gesicherte Leistung‘ – und damit die Versorgungssicherheit selbst – nicht mehr wie bisher selbstverständlich zur Verfügung. Für den Kraftwerksbestand sind bei der zuständigen Behörde, der Bundesnetzagentur, bereits fast 50 Still legungsanträge für bestehende Kraftwerke eingegangen. Auch die Investitionen stocken. Inzwischen sind nach unserer Analyse 43 Prozent aller geplanten Kraftwerksneubauten in Frage gestellt. Dies betrifft konkret 32 der insgesamt 74 bis ins Jahr 2020 geplanten Anlagen. Das Dilemma: Wir brauchen noch für viele Jahre konventionelle Kraftwerke – in Ergänzung zu den Erneuerbaren Energien, da diese nicht rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Es muss also eine Lösung für die Kraftwerke geben, die immer dann bereitstehen müssen, wenn die Erneuerbaren keinen Strom produzieren.
Es gibt ein weiteres wichtiges Handlungsfeld im Umfeld der EEG-Novelle, das alle Akteure auch in den kommenden Jahren weiter beschäftigen wird. In der im August in Kraft getretenen EEG-Novelle ist auch ein Pilotprojekt ab 2015 vorgesehen, das die Förderhöhe für Strom aus PhotovoltaikFreiflächenkraftwerken wettbewerblich in Form einer Versteigerung ermitteln soll. Damit sollen die Weichen für die weitere Marktintegration der Erneuerbaren Energien und für mehr Kosteneffizienz bei ihrer Förderung gestellt werden.
»Die einst verlässliche Einnahmequelle Stadtwerk trocknet aus.«
Der BDEW hat als erster Akteur Vorschläge für ein Auktionsdesign vorgelegt und sich dabei für ein einfaches, verständliches und transparentes Verfahren ausgesprochen. Vor allem sollen sich daran möglichst viele Akteure wie Stadtwerke, Bürgergenossenschaften etc. beteiligen können. Nicht allein die Kapitalkraft darf darüber entscheiden, wer seine Anlagen in diesem neuen Markt unterbringt!
Eine andere Folge dieser Entwicklung: Viele Stadtwerke sind an konventionellen Kraftwerken beteiligt – und stehen damit vor erheblichen finanziellen Risiken: Risiken, die sich auch
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ÂťDie Energiewende wird nur gelingen, wenn die notwendigen Netze zum Transport des Stroms gebaut werden.ÂŤ
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Es ist im Übrigen auch mutwillig falsch, in dem Leistungsmarkt ein „HartzIV für alte Kraftwerke“ zu sehen. Nicht die Betreiber selbst brauchen auf lange Sicht die konventionellen Reservekraftwerke am meisten. Sondern es sind umgekehrt die Erneuerbaren Energien, die langfristig ohne die Garantie, auch nachts und bei Windstille Strom liefern zu können, beim Bürger jede Legitimation verlieren würden. Deshalb brauchen wir diese Art der Versicherung.
auf die kommunalen Haushalte übertragen und damit auf das gesamte Spektrum der kommunalen Daseinsvorsorge. Viele Stadtwerke stehen vor Problemen, weil gerade sie die hocheffizienten KWK-Anlagen betreiben. Infolge der niedrigen Börsenpreise sinken auch die Einsatzzeiten von KWK-Anlagen, so dass zur Deckung der Wärmenachfrage Frischwärme aus der ungekoppelten Erzeugung eingesetzt werden muss. Notwendige Ersatzinvestitionen in KWK-Anlagen werden aufgeschoben oder bereits in die Installation von Heizkesseln umgelenkt. Zunehmend gehen dadurch Wärmesenken für die KWK-Technologie verloren, es steigen die CO2-Emissionen und der Ressourcenverbrauch. Die Folge: Die einst verlässliche Einnahmequelle Stadtwerk trocknet aus. Die Städte und Gemeinden müssen verstehen lernen, dass Sie bei der Energiewende direkt betroffen sind und ihren Einfluss auf Bund und Länder aktiv nutzen müssen.
Es gibt weitere Aufgabenfelder, die genauso wichtig sind wie die Reform der Förderung der Erneuerbaren Energien, aber eher ein Schatten dasein in der öffentlichen Wahrnehmung fristen. Dazu gehört zweifelsohne der Ausbau der Netze. Seit geraumer Zeit gibt es in diesem Bereich einen Investitionsstau, der zunehmend den Ausbau der Erneuerbaren Energien gefährdet. Dies betrifft insbesondere die ländlichen Regionen, in denen es einen enormen Zubau von Erneuerbaren Energien gegeben hat. Die jetzige Regulierungspolitik, die allein auf Kostensenkung setzt, ist für die notwendigen Investitionen in die Zukunft schlicht nicht geeignet.
Insgesamt stehen wir vor einem massiven und zeitkritischen Problem. Ohne rasche Klarheit über die zukünftigen Marktstrukturen wird die Situation im Kraftwerkspark zu einem ernsten Problem für die Versorgungssicherheit und damit für den Industriestandort Deutschland. Aus Sicht der Energiewirtschaft sollte der Gesetzgeber deshalb schnellstmöglich die Grundlagen für die Einführung eines dezentralen Leistungsmarkts schaffen, wie ihn der BDEW vorschlägt.
Der BDEW hat deshalb einen Branchenvorschlag entwickelt, damit die Verzögerungen beim Netz ausbau schnell und unkompliziert beseitigt werden können. Jeder Euro, die hier nicht investiert wird, sorgt entweder für eine unnötige Verzögerung beim Ausbau der Erneuerbaren Energien vor Ort oder gefährdet die System sicherheit. Fest steht: Die Energiewende und der Ausbau der Erneuerbaren Energien werden nur gelingen, wenn die notwendigen Netze zum Transport des Stroms gebaut werden. Die jetzige Regulierungspolitik ist darauf ausgelegt, dass die Kosten möglichst gering gehalten werden. Hier muss ein Umdenken stattfinden. Die Regulierung muss so ausgestaltet werden, dass Investitionen wieder möglich werden. Die Politik sollte dies nicht länger unterschätzen.
Dahinter steht die Idee, dass alle Anbieter von gesicherter Leistung - konventionelle Kraftwerke, Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, Speicher, aber beispielsweise auch steuerbare Erneuerbare-Energien-Anlagen – in Form handelbarer und marktgängiger Produkte dem Verbraucher eben jene Versorgungssicherheit anbieten, die nicht mehr selbstverständlich mitgeliefert wird. Die Vertriebe werden verpflichtet, entsprechende Zertifikate nachzufragen, um damit den zunehmenden Anteil volatiler Erneuerbarer im System abzusichern.
Das Stichwort „Unterschätzung“ kommt einem auch in den Sinn, wenn es um die Energiewende im Wärmemarkt geht. Dort sind gewaltige CO2-Minderungspotenziale vorhanden. Mit 40 Prozent hat der Wärmemarkt den größten Anteil am Energieverbrauch in Deutschland. Leider liegen diese enormen CO2-Minderungspotenziale in der zentralen und dezentralen Wärmeerzeugung weit gehend brach.
Auch der Energiewirtschaft ist dabei durchaus bewusst, dass dieses Projekt komplex ist. Nichts Geringeres als die Schaffung eines neuen Marktes – in diesem Fall eines Markts für Versorgungssicherheit – wird eingefordert. Trotzdem wird es nicht reichen, auf die Kräfte des derzeit bestehenden Energy-only-Marktes zu bauen, selbst wenn man hier alle Reformspielräume nutzt.
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Die Politik behandelt diesen Bereich, der so wichtig ist, um unsere klimapolitischen Ziele zu erreichen, immer noch stiefmütterlich. Dies hat beispielsweise die Vorlage des neuen Haushaltsentwurfes im September gezeigt. Danach sollten die Mittel für das Marktanreizprogramm für Erneuerbare Energien im Wärmemarkt (MAP) sowohl im Haushalt für 2015 als auch im Energie- und Klimafonds (EKF) gekürzt werden. Eine Kürzung wäre aber vollkommen kontraproduktiv, wenn wir mehr CO2 in diesem Bereich einsparen wollen. Nötig ist darüber hinaus auch, dass das KfW-Programm zur energetischen Gebäudesanierung reformiert wird. Noch im Koalitionsvertrag hatten Union und SPD versprochen, dieses Programm aufzustocken und zu vereinfachen. Bislang ist aber nichts geschehen.
Dabei stehen gerade neue, vielversprechende Felder für solche Investitionen offen: Der Ausbau der Breitbandinfrastruktur etwa, den sich die Bundesregierung auf die Fahnen geschrieben hat, hätte in den Energieversorgern und vor allem den Stadtwerken natürliche Partner und sichere Investoren. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
»2015 muss ein Jahr der Entscheidungen werden.« Diese Beispiele zeigen deutlich, dass es bei der Energiewende um mehr geht als um den Ausbau der Erneuerbaren Energien. Dabei wird es im Übrigen auch nicht reichen, die Teilaufgaben Stück für Stück abzuarbeiten und den Aktendeckel darüber zu schließen. Alle Akteure müssen in das gesamtgesellschaftliche Projekt Energiewende mit einbezogen werden. Dies erfordert auch neue Denk-Ansätze von den zuständigen Ministerien und untergeordneten Behörden. Hier muss Politik anders gestaltet werden als zuvor. Zusätzlich müssen die Themen im konstruktiven Dialog mit den Bürgern verantwortlich angegangen werden. Die Energiewirtschaft wird sich weiter kon struktiv mit Vorschlägen zu Wort melden und die Politik auf wichtige Handlungsfelder aufmerksam machen. Denn eines steht fest: 2015 muss ein Jahr der Entscheidungen werden.
Auch wenn es um nachhaltige Mobilität geht, müssen den ambitionierten politischen Zielvorgaben bald Taten folgen. So brauchen wir dringend im Bereich Elektromobilität ein schlüssiges Finanzierungskonzept, um den Aufbau der öffentlichen Ladeinfrastruktur effizient und bedarfsgerecht zu gestalten. Allein kann dies die Energiebranche nicht mehr schultern. Und bei der Erdgasmobilität, in deren Tankstellen-Infrastruktur gerade Stadtwerke viel Geld investiert haben, will die Bundesregierung bislang ihr Versprechen aus dem Koali tionsvertrag nicht einlösen, die Steuerbefreiung für Erdgas als Kraftstoff über das Jahr 2018 hinaus zu verlängern. Auch hier verringern sich Spielräume, droht ein Rückzug aus Zukunftsinvestitionen.
Hildegard Müller war von 2005 bis 2008 Staatsministerin im Bundeskanzleramt und von 1998 bis 2002 Bundesvorsitzende der Jungen Union. Seit Oktober 2008 ist sie Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft.
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Hermann Schaufler
Ethik – was ist denn das?
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die wesentlichen Voraussetzungen für Demokratie und Wohlstand; und sie gehören zusammen. … Auch für die Wirtschaft ist ein verlässlicher Rechtsrahmen Voraussetzung für Unternehmertum und Handel. … Wir wollen die Kraft dieses Binnenmarktes nutzen, um durch offenen und fairen Handel mit anderen Regionen der Welt unseren Wohlstand zu bewahren. Auch um dieses Versprechen Europas in Zukunft weiter einlösen zu können, müssen wir die politische Gestalt Europas immer wieder zeitgemäß erneuern.“ Diese Rede beinhaltet alle wesentlichen Begriffe, mit denen Ethik und moralisches Handeln zu erklären sind. Sie erkennt den Bedarf und macht auf die Dimension aufmerksam. Nicht die Ethik wandelt sich, sondern die Anforderungen um zeitgemäßes moralisches Handeln.
„Denn die Freiheit wurde als wichtiges Thema in die Gesellschaft eingebracht, indem man über die Freiheit der Wirtschaft redete. Freiheit in der Gesellschaft und Freiheit in der Wirtschaft, sie gehören zusammen. Wer eine freiheitliche Gesellschaft möchte, möge sich einsetzen für Markt und für Wettbewerb und gegen zu viel Macht in den Händen weniger. Er muss aber auch wissen: Eine freiheitliche Gesellschaft beruht auf Voraussetzungen, die Markt und Wettbewerb allein nicht herstellen können.“ Diese Erinnerung unseres Bundespräsidenten an Walter Eucken im Januar d. J. in Freiburg könnte uns bei dieser doppelten Aufgabe helfen. Prof. Eucken suchte nach einer Wirtschafts- und Sozialordnung, die „wirtschaftliche Leistung und menschenwürdige Daseinsbedingungen gleichermaßen gewährleistet“, nach einer Ordnung, die auf die Freiheit des Menschen ausgerichtet ist. Und er fand vieles, was diese Freiheit – heute wie damals – bedroht.
In einer Grundsatzrede zur Wirtschaftspolitik hat US-Präsident Obama versprochen, die Mittel schicht zu stärken. Arbeit müsse sich wieder lohnen, forderte er kürzlich beim Besuch einer Universität. „Die wachsende Ungleichheit ist nicht nur moralisch falsch, das ist schlechtes Wirtschaften“, sagte Obama in einer Rede vor Studenten im Bundesstaat Illinois. Wenn die Menschen der Mittelschicht weniger Geld haben, bedeute dies auch weniger Konsum und weniger Umsatz für Unternehmer. Eine gesunde Mittelklasse sei unerlässlich für eine moderne Volkswirtschaft: „Darüber müssen wir reden.“
»Was – außer dem Wohlstand Vieler – ist eigentlich von Ludwig Erhard übrig geblieben?« Er schreibt uns ins Stammbuch, dass „die Gewährung von Freiheit eine Gefahr für die Freiheit werden kann, wenn sie die Bildung privater Macht ermöglicht; dass zwar außerordentliche Energien durch sie geweckt werden, aber dass diese Energien auch freiheitszerstörend wirken können“. Das wirft Fragen gerade in Jahren auf, nachdem Banken (und politische Versäumnisse) die Wirtschaft vieler Staaten und damit auch Millionen Menschen in eine tiefe Krise stürzten, und dann, weil „too big to fail“, mit Milliarden der Steuerzahler gestützt und gerettet werden mussten. Was - außer dem Wohlstand Vieler - ist eigentlich von Ludwig Erhard übrig geblieben, sieht man von Festreden einmal ab?
Veränderungen – wo man hinsieht! Die alte „Hauswirtschaft” wurde zu einer modernen „Volkswirtschaft” und ist auf dem Weg zu einer Weltwirtschaft. Sie ist gekennzeichnet durch tiefe Arbeitsteilung, anonyme Tauschprozesse und damit lange Produktions(um)wege unter vielen Akteuren, wachsende Abhängigkeiten und hohe technologische Komplexität. Das Resultat einer modernen Wirtschaft hat daher kein Einzelner, kein Unternehmen, kein Staat, keine Gewerkschaft im Griff. Folglich ist dafür auch kein Einzelner (allein) verantwortlich zu machen. Die traditionelle abendländische Ethik im Kleinen muss auf eine Ethik großer, anonymer gesellschaftlicher Gruppen umgestellt werden (innerhalb derer es natürlich weiterhin kleine Gruppen gibt – dort passt dann auch die „Ethik des Genug“ der Pastorin Margot Käßmann). Als zentrales Problem erweist sich dabei die soziale Kontrolle von Handlungen.
Angela Merkel sagt vor dem britischen Unterhaus: „Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Pressefreiheit wie auch die vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes – freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit und freier Kapital- und Zahlungsverkehr – sind
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»Die traditionelle abendländische Ethik im Kleinen muss auf eine Ethik großer, anonymer gesellschaftlicher Gruppen umgestellt werden.«
Dr. h.c. Hermann Schaufler war von 1989 bis 1992 Wirtschaftsminister von BadenWürttemberg, von 1992 bis 1998 Verkehrsminister und ab 1996 zusätzlich Umweltminister. Derzeit arbeitet Schaufler als Inhaber für seine Firma „International Business Consulting“, die u.a. in den USA, China und Osteuropa tätig ist.
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In kleinen, überschaubaren Gruppen ist die informelle Kontrolle im täglichen Umgang möglich und ausreichend, um moralischen Normen und Idealen Geltung zu verschaffen. In großen anonymen Gruppen ist der Beitrag des Verhaltens einzelner kaum bzw. nur unter hohen Kosten kontrollierbar. Das System der - grundsätzlich unverzichtbaren - Kontrolle muss umgestellt werden: Die Kontrolle erfolgt modern nach Prof. Dr. Nick Lin-Hi, Inhaber der Juniorprofessur für Corporate Social Responsibility an der Universität Mannheim:
sogar Kriege verlangen ordnende Hände. Ohne Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, sozial verpflichtete Marktwirtschaft und ohne Beteiligung der Betroffenen an der politischen, sozialen und kulturellen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, gibt es keine dauerhaften Lösungen. Dies beweist ein Teil der islamischen Welt täglich und immer gravierender. Dabei spielt die Solidarität wieder eine praktische Rolle: Wer sich selbst aus eigener Kraft nicht helfen kann, hat Anspruch auf die Hilfe der Gemeinschaft - zuhause und international!
(1) lückenlose Selbstkontrolle unter Beachtung des eigenen Interesse (u. a. Compliance) in Verbindung mit
Es bedarf keiner neuen Ethik; das klingt ja auch so hochtrabend. Eigentlich wissen wir, worum es geht. Wir müssen die Veränderungen zuhause und in der Welt einfach richtig einordnen und das möglichst vor dem Handeln.
(2) einem geeigneten sanktionsbewehrten Rechts- und Regelsystem, das ein Handeln der Akteure vorgibt und in die allgemein erwünschten Bahnen lenkt.
Wo sind die Diskussionen in der eigenen Partei, die die Gründerjahre der Union weit in die 60er und 70er Jahre geprägt haben? Wo die führenden Köpfe einer Partei, die sich mit Müller-Armack, Nell-Bräuning, mit „gaudium et spes“ beschäftigt haben? Ja - Hans Küng, der viel zu sagen hatte, ist in der „Society“ zum Festredner geworden und Josef Ratzinger verabschiedete sich ins „römische Claustrum“.
Die moralische Qualität der Marktwirtschaft besteht darin, dass sie das beste bisher bekannte Instrument zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen darstellt, indem sie dem Wohl der Konsumenten dient. Diese Aussage bleibt grundsätzlich richtig, auch wenn die teils beträchtlichen Leistungs- und Kaufkraftunterschiede im Blick zu behalten sind und - in der Sozialen Marktwirtschaft - Anlass zur Umverteilung geben, um die Marktwirtschaft zu verbessern
Mir scheint, dass mit zunehmendem Wachstum und Wohlstand die intellektuelle Pflicht des „Nachdenkens“ über den Sinn der Werte nachgelassen hat und deshalb die weltweiten Verände rungen über uns hereinbrechen. Schon mit der plötzlichen Wiedervereinigung taten wir uns schwer; was erst, wenn ganz Europa wackelt und die Stürme noch im Fernsehen zu besichtigen sind, die ersten Opfer jedoch schon an die Türen klopfen?
Die teils rasanten Veränderungen erfordern eine neue ethische Reflexion über die Gesetze und Werte einer globalisierten Weltwirtschaft und die Bedingungen eines verantwortlichen Wirtschaftens. Finanzkrisen, Klimawandel, globale Armutsbekämpfung, Korruption, Konflikte und
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Portrait
Leidenschaft Violoncello: Barbara Gerlach und die Schicksale vieler Mandantinnen erlebt Barbara Gerlach hautnah, dass es dabei nicht nur um „softe“ Themen geht.
Ein wahrhaftiger Espresso ist für Barbara Gerlach weit mehr als nur ein starker Kaffee: Wenn die gebürtige Niedersächsin genüsslich an der kleinen Tasse im Italo-Stil nippt und beginnt, von Südtirol zu erzählen, gerät sie ins Schwärmen: die Landschaft, die Menschen, das Wandern und Naturrodeln, das Essen, der Wein – es scheint ein wunderbares Fleckchen Erde zu sein.
Gerlachs Kampagnenarbeit zahlt sich aus; ihre Chefin erringt das Mandat mit fulminantem Ergebnis. Prompt klopft die Landesleitung der Südtiroler Volkspartei bei ihr an. Wieder sagt Gerlach zu: Sie arbeitet als Bezirksgeschäfts führerin und später als Organisationsreferentin. Mit ihrem autodidaktisch angeeigneten Südtiroler Dialekt managt sie mehrere Wahlkämpfe – und gewinnt. Doch so heimisch sich Gerlach in Südtirol fühlt: Die Heimat lockt und ruft. Nach einer weiteren Station als Landesbeauftragte für Familienpolitik kehrt sie 2010 nach Deutschland zurück und verantwortet als Agentur-Teamleiterin den Etat der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Im Sommer 2012 wechselt sie als Referentin ins Konrad-Adenauer-Haus und kümmert sich dort fortan um die Kernthemen Familie, Frauen und Integration.
Wenn sie an ihre Zeit in Norditalien denkt, denkt sie auch an ihre Leidenschaft, das Cello – und beginnt zu lachen. Warum sie ausgerechnet hier erstmals zum Bogen griff? Sie weiß es nicht. Lange hatte sie das Musizieren nach ihrem Abschluss am hannoverschen Ursulinengymnasium vernachlässigt. Nach der Schulzeit führte sie ihr Weg zunächst als Au-Pair nach London und anschließend als Studentin nach Münster – Politik, Geschichte und Niederlande-Studien standen auf dem Stundenplan. Bei einem Praxissemester zur EXPO 2000 kommt sie mit den Werbern für die Region Tirol in Kontakt. Erst ist es ein Job, dann schließt sie die Region ins Herz und verlegt ihren Studienort kurzerhand nach Innsbruck. Die Studentin aus dem Norden hat klare Vorstellungen und bringt frische Ideen mit auf den Campus – das bleibt nicht unbemerkt. Eine Rechtsanwältin spricht sie an: Ob sie nicht ihre Wahlkampfmanagerin werden wolle. Gerlach sagt zu. Die beiden verstehen sich; gemeinsam bestreiten sie einen sportlichen Wahlkampf. Frauen- und Familienpolitik stehen im Mittelpunkt – nicht abstrakt, sondern ganz konkret: Durch die Mitarbeit in der Kanzlei
Die Bundestagswahl ist gewonnen, die Union jubiliert. Doch für Gerlach geht die Arbeit weiter: Während der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD arbeitet sie hinter den Kulissen und überzeugt offensichtlich wieder einmal: Die Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz möchte sie als Persönliche Referentin gewinnen. Barbara Gerlach sagt zu. Heute arbeitet sie im Bundesministerium für Gesundheit. Ihr Cello hat sie mitgenommen. Und wer sie besucht, bekommt einen echten italienischen Espresso.
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Portrait
Homebase Iserlohn: Paul Ziemiak Paul Ziemiak versammelt schon in jungen Jahren regelmäßig Freunde, um eine Schülerzeitung zu entwerfen. Später wird er als jüngster Abgeordneter im neuen Jugendparlament gleich zum Vorsitzenden gewählt und setzt sich dort für die konkreten Anliegen der Jugend in seiner Heimatstadt Iserlohn ein. So motiviert ihn im Wahljahr 1998 auch nicht etwa Helmut Kohl, sondern die Forderung nach einem Anrufsammeltaxi zum Eintritt in die Junge Union.
Auf den anstrengenden „Wahlkampf“ um den JU-Bundesvorsitz quer durch die Republik schaut Ziemiak dankbar zurück. Die monatelange Dis kussion und der Austausch mit der Basis der Jungen Union habe viel Spaß gemacht, aber auch viel Kraft gekostet, sei aber nach der Ära Mißfelder eine gute Zäsur gewesen. Nun möchte er das Profil der Jungen Union als selbstbewusste Organisation im konstruktiv-kritischen Dialog mit der Mutterpartei schärfen. Im Schulterschluss mit MIT und CDA fordert er zum Bundesparteitag die zeitnahe Abschaffung der kalten Progression und streitet engagiert für Jens Spahn als Vertreter der jungen Generation im CDU-Präsidium.
Nach dem Abitur studiert Ziemiak in Osnabrück und Münster zunächst Jura, sattelt später jedoch auf den sehr praxisorientierten Studiengang „Journalism and Business Communication“ an der Business and Information Technology School (BiTS) um. Zeitgleich organisiert er als JU-Bezirksvorsitzender gemeinsam mit mittelstän dischen Unternehmern Wirtschaftssymposien und wird schließlich 2012 Landesvorsitzender der JU NRW. Besonders treibt ihn damals wie heute die Ansprache von jungen Menschen an, die nicht die „typischen“ Mitglieder der Jungen Union sind. So besucht er Gewerkschaftstage und nimmt die Anliegen von Auszubildenden in den Fokus.
Ziemiak wohnt auch als JU-Bundesvorsitzender weiterhin in seiner „Homebase“ Iserlohn. Dort haben seine Eltern als polnische Spätaussiedler nach der Flucht 1988 Fuß gefasst. Trotz anfangs schwieriger Verhältnisse in der neuen Heimat ermöglichten die beiden Mediziner Paul und seinem älteren Bruder eine behütete Kindheit und Jugend. Die Dankbarkeit für seine Eltern und für die Unterstützung durch Kirche und Gesellschaft im Sauerland prägt Ziemiak bis heute. Er ist mit seiner Heimatstadt als CDU-Vorsitzender weiter eng verbunden und schwärmt von Herzen gern für die erstklassige Eishockey-Mannschaft „Iserlohn Roosters“, bei deren Bambinis er sich sogar auch einmal selbst versucht hat.
Auch das Image der Jungen Union möchte der neue Bundesvorsitzende in seiner Generation verändern. „Klare Antworten auf die konkreten Fragen junger Menschen zu geben“- das ist sein Anspruch.
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Portrait
Den VfB im Herzen: Steffen Bilger Der gebürtige Schongauer Steffen Bilger ist seit Kindheitstagen Fan des VfB Stuttgart. Nichts hielt ihn früher lange am Schreibtisch, wenn sein Verein spielte. Den größten Triumph in der jüngeren Vereinsgeschichte, die Meisterschaft im Jahr 2007 nach dem 2:1 im letzten Saisonspiel, erlebte Bilger aber ausgerechnet im Fan-Block der Gegner aus Cottbus, denn die anderen Karten waren bereits alle ausverkauft. Eine unvergessliche Erfahrung, wie er heute sagt. Spiele des VfB Stuttgart versucht er in seiner Freizeit immer noch so oft wie möglich zu besuchen.
der MVV Energiedienstleistungen GmbH und wurde im Jahre 2007 als Rechtsanwalt zugelassen. Zur Politik ist er über das Engagement in der Jugendarbeit und im Stadtjugendring gekommen. Der politischen Arbeit in der Union hat er sich dann schon in frühen Jahren verschrieben, zuerst als Landesvorsitzender und Bundesgeschäftsführer der Schüler Union, später als Landesvorsitzender der Jungen Union in Baden-Württemberg. Seit 2009 ist Bilger schließlich direkt gewählter Abgeordneter des Deutschen Bundestages und Mitglied im Verkehrsausschuss. Als neuer Vorsitzender der Jungen Gruppe, dem Zusammenschluss aller CDU- und CSU-Abgeordneten unter 35 Jahren, liegen ihm vor allem auch solche Themen am Herzen, die für junge Menschen sehr wichtig sind. So begleitete er beispielsweise zusammen mit der Jungen Gruppe unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit kritisch das von der Koalition beschlossene Rentenpaket und das neue Gesetz zum Mindestlohn.
Steffen Bilger studierte von 1999 bis 2004 Rechtswissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen mit Abschluss der ersten juristischen Staatsprüfung. Es folgte von 2004 bis 2006 sein Rechtsreferen dariat am Stuttgarter Landgericht mit Abschluss der zweiten juristischen Staatsprüfung. Anschließend arbeitete er bis 2009 in der Strategieabteilung
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Aus der politischen Kulisse Peter Radunski erzählt in seinem neuen Buch aus 50 spannenden Jahren Politik. CIVIS veröffentlicht exklusiv vier Auszüge.
SONDE Gründung
RCDS Engagement
Die Diskussionen über CDU-Reformen spielten in meiner RCDS-Generation in eine wichtige Rolle. […] 1971 wurde eine theoretische Schrift aus der Taufe geholt – Sonde „Neue christlich-demokratische Politik“. Die Sonde war das Sammelbecken für alle, die eine Plattform für ihre Ideen und Forderungen suchten. Als ich mit dem Grafiker die Gestaltung der Sonde besprach, legte ich Wert auf ein ungewöhnliches Format, das die Sonde bis heute hervorhob. Im Online-Zeitalter dieser Tage wird sie ihr Äußeres wohl einbüßen müsse, aber der Grundgedanke der Sonde bleibt. Die Reformdiskussion bleibt in der CDU in diesen Tagen ein Bedürfnis oder wird es wieder. Modern bleibt eine Volkspartei nur, wenn sie sich ständig erneuert. Im Übrigen hatte ich bei der Gestaltung der Sonde immer das Bild vor Augen, dass eine schicke, elegante Studentin diese Zeitung wie ein modisches Accessoire unter ihrem Arm trug. Ein bisschen Ästhetik kann der Politik nicht schaden.
Für einen Politiker gibt es kein Berufsbild und keine Ausbildung. Dennoch kommt mein Weg in die Politik einer Berufsausbildung sehr nahe. Wie in einer dualen Ausbildung ergänzten sich in meinem Fall Studium und RCDS-Mitarbeit; Theorie und Praxis – an der Universität studiert, im RCDS probiert. Alles, was praktische Politik ausmacht, konnte ich im RCDS erproben, vielleicht auch schon lernen. Es ging von den Grundsätzen der Politik bis zur politischen Organisation: Konzepte entwerfen, Reden halten, politische Diskussionen leiten oder mitmachen, Arbeitskreise durchführen, Veranstaltungen organisieren, Presserklärungen verfassen, Budgets aufstellen, Zuschüsse beantragen. Gäbe es eine Berufsausbildung für Politiker – mit meiner praktischen Ausbildung im RCDS wäre das Prüfungsamt wohl zufrieden gewesen. Auch Feinheiten der Politik wie Taktik, Werbung, Strippen ziehen, Koalitionen bilden, Streit anzetteln, Beschlüsse vorbereiten gehörten dazu. Wer Politik kennenlernen und erlernen will, ist in politischen Studentenverbänden gut aufgehoben. Das Know-how der frühen politischen Schritte ist eine Mitgift für das ganze politische Leben. Jedenfalls für diejenigen, die lernen wollen und können.
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„Aus der politischen Kulisse: Mein Beruf zur Politik“ Peter Radunski / 368 Seiten / 24,80 Euro / ab Dezember 2014 im B&S Siebenhaar Verlag
RCDS Selbstverständnis
CDU Jugendparteitag
1968 habe ich auf einer Bundesdelegiertenversammlung in Königswinter meine Version vom Selbstverständnis des RCDS vorgetragen. Ich nannte den RCDS einen „parteinahen Verband“ mit der Funktion einer „vordenkenden Gruppe“, die „aus geistigem Engagement zur Analyse und zur Lösung der politischen Probleme unserer Gesellschaft beitragen will“. Bis heute hat der RCDS an diesem Selbstverständnis weitestgehend festgehalten. RCDS-Mitglieder gehören nicht automatisch der Union an. Sie haben Einsicht in die CDU/CSU und ihre Politik. Die Situation der Studenten beschrieb ich so: „Sie wollen die CDU/ CSU gewissermaßen als eine Partei definieren, in der sie zukünftig arbeiten können (…) Daher bedeutet RCDS-Arbeit nicht zuletzt auch Reflexion über Gestalt, Politik und geistige Grundlagen der CDU/CSU.“
In den 70er und 80er Jahren war Helmut Kohl der Schutzpatron der Reformer in der Partei. Nur einmal 1981 wurde er gegenüber einem Vorschlag von mir skeptisch. Ich habe vorgeschlagen, 500 Jugendliche zu einem regulären Parteitag einzuladen. Ziel des Parteitags in Hamburg sollte ein offener Dialog der Jugendlichen mit den Parteitagsdelegierten sein. […] Vom 2. bis 5. November fand dieser Jugendparteitag statt. Wir alle waren außerordentlich gespannt. Meine Mitarbeiter und ich hatten jegliche erdenkbare Vorkehrung getroffen, um einen lebhaften Dialog zwischen Politikern und Jugend zu ermöglichen. Das schlimmste wären l‘art pour l‘art- Diskussionen gewesen. Mit der Jugend wurde anhand eines Leitantrages des Bundesvorstandes diskutiert unter der Devise „Mit der Jugend – unser Land braucht einen neuen Anfang.“[…] Der Jugendparteitag war laut Presse ein großer Erfolg. Allgemein wurde er als Annäherung der CDU an die Jugend gesehen. Bernhard Vogel fasste zusammen: „Dieses Experiment hier war ein Wagnis und es ist geglückt.“ […] Für die Partei war der Parteitag eine Initialzündung. […] Eine Jugendkampagne der CDU war aus dem Hamburger Parteitag hervorgegangen. Wie immer reagierten die Umfragen. Bei der Jugend hatte die CDU an Zustimmung gewonnen. Ein Defizit wurde beseitigt. Das Gespräch mit der Jugend hielt. […]
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02 — 2014
Impressum CIVIS mit Sonde Paul-Lincke-Ufer 8b, 10999 Berlin Tel: +49 (0)30 616518-11 Fax: +49 (0)30 616518-40 E-Mail: info@civis-mit-sonde.de ISSN: 1432-6027 Preis: 5,00 Euro (ermäßigt 2,50 Euro) Abo- und Einzelheftbestellung: www.civis-mit-sonde.de Druck: Westermann Druck Zwickau GmbH, www.westermann-zwickau.de
Chefredakteur: Erik Bertram Geschäftsführer: Michael Lönne Konzeption & Art Direction: Jonas Meyer, jmvc.de Redaktionelle Mitarbeit: Sebastian Hass Fotografie: Maximilian König, maximilian-koenig.com Foto Ziemiak: Maximilian Motel, maxmotel.de Illustrationen: Roland Brückner, bitteschoen.tv Lektorat: Heidi Dobberstein, Matthias Metzen Herausgeber: Dorothee Bär, Ursula Männle, Arnold Vaatz, Mario Voigt, Matthias Wissmann und Martin Röckert als Bundesvorsitzender des RCDS Beirat: Christoph Brand, Stephan Eisel, Matthias Graf von Kielmansegg, Johannes Laitenberger, Gottfried Ludewig, Fabian Magerl, Heinz Neubauer, Hans Reckers, Christian Schneller, Wulf Schönbohm, Johannes Zabel
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