CIVIS mit Sonde 2016/1

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Meine Heimat. Deine Heimat. Unsere Heimat.

CIVIS & SONDE



CIVIS & SONDE



»Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.« Mt 25,35


CIVIS & SONDE 01 — 2016

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Liebe Leserin, lieber Leser,

kochen bei solch einem Thema schnell hoch, sind aber zuweilen schlechte Ratgeber. Hierzu schrieb der Jurist Reinhard Merkel: „Verbrechen minderer Dimension, selbst wenn sie als Taten gegen Leib und Leben Einzelner imaginiert, legitimieren keinen präventiven Rechtszwang“.

das vor Ihnen liegende Heft von CIVIS mit Sonde steht ganz im Zeichen der aktuellen Flüchtlingskrise: Zweifellos eines der bedeutendsten politischen Themen der vergangenen Jahrzehnte, das die meisten Kontroversen in der öffentlichen Diskus­ sion ausgelöst hat. Die Bundeskanzlerin hat es sich dabei nicht leicht gemacht. Sicher hätte sie einen direkten, einfacheren Weg nehmen können. Sie hat sich für den schwierigeren, den differenzierten Weg entschieden. Es ist der Weg, der Deutschland international ein offenes Gesicht gab.

Natürlich muss man mit Straftätern hart ins Gericht gehen, ob es Flüchtlinge sind oder nicht, ist dabei egal. Es ist auch ein richtiges Zeichen, dass Migranten durch Strafdelikte bestimmten Ausmaßes ihr Gastrecht verwirken und ausgewiesen werden können. Trotzdem sollten wir uns vor einer generellen Vorverurteilung derjenigen Menschen hüten, die zu uns kommen, weil sie Schutz vor Verfolgung oder Krieg suchen. Hier müssen wir für unsere Werte einstehen und uns nicht von Einzeltätern treiben lassen.

Viel wurde über den Kurs von Angela Merkel in dieser Frage geschrieben. Viele, auch aus den Reihen der eigenen Partei, haben ihr mangelnde Führung vorgeworfen, weil sie das Land für Andersgläubige sowie Menschen anderer Kulturen geöffnet und Zuversicht verbreitet hat. Doch ich finde, gerade ihr Handeln verbunden mit einem fundierten Optimismus zeichnet echte Führung aus. So etwas erwartet man von einer Regierungschefin. Dafür verdient sie Respekt, Anerkennung und unsere Unterstützung.

Wir wünschen Ihnen eine interessante und kontro­verse Lektüre! Herzlichst

Die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln und in anderen deutschen Städten haben uns alle schockiert. Natürlich wird es auf dem langen und schwierigen Weg der Integration von Menschen anderer Kulturen auch Rückschläge geben, dennoch sollten wir es uns nicht zu leicht machen. Wir dürfen uns von solchen Vorfällen nicht treiben lassen. Das politische Handeln darf nicht von Aktionismus bestimmt werden. Die Emotionen

Erik Bertram Chefredakteur

PS: Besuchen Sie CIVIS mit Sonde doch auch mal in den sozialen Netzwerken auf Facebook und Twitter oder unter www.civis-mit-sonde.de!

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Miteinander!

Peter Altmaier und Rudolf Seiters im Gespräch 30

„Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll wie ein Einheimischer gelten“ Thomas Sternberg über unsere christlichen Werte 34

Wem gehören die deutschen Farben?

Peter Tauber und eine persönliche Begegnung in der Flüchtlingsunterkunft 38

The Syrian Refugee Crisis

Aykan Erdemir und die Sicht der Türkei auf die Flüchtlingskrise 42

Der aufgeklärte Islam

Mouhanad Khorchide über seine Auslegung der islamischen Religion 48

Von Flüchtlingen zu Mitbürgern?

Ingbert Liebing über die Herausforderungen für die Kommunen 54

Die stummen Heldinnen

Merve Gül über Frauen als Schlüssel zur erfolgreichen Integration 58

Herr Tur Tur und die Herausforderungen

des politischen Alltags in der Flüchtlingskrise Regina Görner mit einer politischen Bestandsaufnahme

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Die Leistung zählt

Jenovan Krishnan über die Integration von Flüchtlingen ins Bildungswesen 68

Schaffen wir das?

Mike Mohring über den am meisten diskutierten politischen Satz 70

Zuwanderung von Flüchtlingen! Als Chance! Durch Regeln!

Serap Güler darüber, wie Integration gelingen kann 78

Patriotismus

Fatih Köylüoğlu über einen vergangenen Tag aus seinem Leben 84

Der Wahlkämpfer

Peter Radunski mit einem Nachruf auf Helmut Schmidt 92

Im (Einsatz-) Anzug Oliver Scheele im Portrait

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Abonnement

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Impressum

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Interview: Barbara Gerlach und Anja Pfeffermann Fotografie: Maximilian König

Miteinander! Bundesminister Peter Altmaier und DRK-Präsident Rudolf Seiters zu den Voraussetzungen deutscher und europäischer Flüchtlingspolitik am Beginn eines „Jahrzehnts der Integration“



CIVIS: Euro-Krise, Ukraine-Krise, Flüchtlingskrise – als EU-Bürger muss man heutzutage krisenfest sein. Rückt Europa in der Krise zusammen? Oder driftet es auseinander?

Ukraine-Krise oder beim Militäreinsatz gegen Libyen. Die Europäer kommen manchmal sehr schwer in Gang. Und im Augenblick ist Europa jedenfalls noch nicht dort angekommen, wo es eigentlich sein müsste, nämlich als zentraler Player bei der Lösung dieser Krisen.

Seiters: Wenn man vergleicht: Die Euphorie und die Aufbruchsstimmung des zusammenwachsenden Europas von 1989/90 unterscheidet sich natürlich sehr von der Situation, die wir im Augenblick in Europa sehen. Es gibt viele nationale Egoismen, auch Entwicklungen in Osteuropa, die uns in Deutschland nicht sehr glücklich stimmen. Das liegt auch an den Personen: Damals gab es Gorbatschow, Bush und Mitterand, die zur Bundesrepublik Deutschland ein großes Vertrauensverhältnis hatten. Nun haben wir nicht mehr Gorbatschow, sondern Putin. Wir haben auch nicht mehr Václav Havel1, József Antall2 oder Władysław Bartoszewski3. Wir sehen auch Egoismen in Westeuropa, die möglicherweise auf die finanziellen, innen- und wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten einiger Regionen zurückzuführen sind.

»Die Europäer kommen manchmal schwer in Gang.« Europa hat Fortschritte gemacht, etwa in den Gesprächen mit der Türkei. Aber es geht nur mühsam voran, es rumpelt und es holpert – trotzdem gibt es zur europäischen Integration nur Alternativen, die weniger attraktiv sind. Deshalb gilt: Wir wollen, dass dieses Europa beieinander bleibt, wir wollen, dass es funktioniert. Dazu müssen die europäischen Staaten endlich gesamteuropäisch denken, europäische Interessen definieren und nach ihnen gemeinsam handeln.

Altmaier: Es kommt noch etwas hinzu, nämlich dass die Europäische Union ursprünglich als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet war. Dort hat sie starke Verfahren, dort hat sie funktionierende

CIVIS: Bedeutet das, dass die Herausforderungen in der Außenpolitik jetzt vielleicht auch eine Chance für Europa sind, noch stärker zusammen zu wachsen? Altmaier: Ja, diese Chance besteht. Aber sie muss natürlich auch genutzt werden. Und es bedeutet: Europa muss im Stande sein, den Migrationsdialog mit der Türkei erfolgreich zu bestehen. Nur dann können wir die illegale Migration wirklich wirksam bekämpfen. Nur dann können wir dafür sorgen, dass sich die Situation der syrischen Flüchtlinge in den Staaten der Region – in Jordanien, im Libanon und in der Türkei – verbessert. Und wenn Europa dies schafft, dann wird es auch motiviert werden, mehr zum Schutz der Außengrenzen zu tun, ein gemeinsames europäisches Asylrecht zu entwickeln – all das, was in den letzten zehn Jahren als richtig erkannt worden, aber nicht richtig vorangekommen ist.

Institutionen – da kann man sich dann auch leichter über nationale Egoismen hinwegsetzen. In allen außenpolitischen Fragen muss die Europäische Union erst lernen kohärent zu handeln. Das hat man bei der Irak-Krise gesehen, bei der

1 Anm. d. Red.: vor 1989 tschechischer Regimekritiker, später Präsident 2 Anm. d. Red.: der erste frei gewählte Ministerpräsident in Ungarn nach 1989 3 Anm. d. Red.: vor 1989 in der polnischen Gewerkschaft Solidarność engagiert, später Außenminister Polens

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Seiters: Auch als Präsident des Deutschen Roten Kreuzes halte ich die deutschen Bemühungen mit Blick auf die Türkei und mit Blick auf die Aufnahmeeinrichtungen für richtig und ganz wichtig. Wir müssen auch Italien und Griechenland in ihrer besonders schwierigen Situation helfen, um die Situationen in den Flüchtlingslagern zu verbessern. Dass in der Vergangenheit für Flüchtlingslager in den Nachbarländern zu Syrien Mittel gekürzt worden sind, das haben wir nicht verstanden. Das Gegenteil muss nun passieren.

engstem Raum zusammen. Sie werden medizinisch und auch mit Nahrungsmitteln versorgt. Aber jeder Tag vergeht wie der andere. Was macht man? Man ist untätig. Und man ist schon froh, wenn es in der Nacht nicht geregnet hat, damit die Kinder anderntags trockenen Fußes spielen können. Die Frage, die ich mir dabei auch gestellt habe, ist: Wie lange halten die denn das hier eigentlich noch aus? Altmaier: Deshalb besteht ja auch unser Grund­ ansatz darin, den Migrationsdruck dadurch zu senken, dass wir den Flüchtlingen eine Bleibeperspek­ tive in der Region bieten. Nicht alle Flüchtlinge wollen ja nach Europa kommen. Viele Flüchtlinge wollen aufgrund von Sprachschwierigkeiten, aufgrund von kultureller Verbundenheit in der Nähe ihrer Heimat bleiben. Das geht aber nur, wenn sie ordentlich versorgt werden, wenn sie ordentlich untergebracht sind, wenn vor allen Dingen die Kinder Unterricht haben, damit sie einen vernünftigen Schulabschluss machen können.

»Wie lange halten die denn das hier eigentlich noch aus?« Ich bin selbst vor einiger Zeit in einem Flüchtlingslager im Libanon gewesen. Man muss sich das einmal vorstellen: Da leben Familien monateoder sogar jahrelang mit vielen Kindern auf

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»Wir wollen den Migrationsdruck senken, indem wir Flüchtlingen eine Perspektive in der Region bieten.« CIVIS: Wie kann das DRK – mit seinen Partnerorganisationen – über die reine Notversorgung hinaus zu einer besseren Entwicklung in den Flüchtlingslagern der Region beitragen?

Das war in der Vergangenheit in vielen Fällen nicht gewährleistet. Die Eltern durften nicht arbeiten. Deshalb haben wir mit der Türkei jetzt einen wichtigen Fortschritt erzielt: Syrische Flüchtlinge dürfen in der Türkei künftig arbeiten. Das muss aber noch umgesetzt werden. Das muss auch in Jordanien und im Libanon umgesetzt werden. Dann werden auch viele Menschen bereit sein, in der Türkei zu warten, bis es in Syrien wieder erträgliche Lebensbedingungen gibt.

Seiters: Wir werden als Deutsches Rotes Kreuz von der politischen Seite aus wahrgenommen als die große, auch international aktive Hilfsorganisation. Wir sind mit großer Unterstützung, gerade auch des Auswärtigen Amtes, seit fünf Jahren in Syrien und den Nachbarländern tätig. Wir sind in ganz engem Kontakt mit dem syrisch-arabischen Roten Halbmond und mit dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Wir haben Hilfslieferungen in einer Größenordnung von über 60 Millionen Euro allein nach Syrien gebracht. Wir sind aber auch im Libanon, im Nordirak und in Jordanien aufs Engste mit unseren Schwesterorgani­sationen verbunden. Die Informationen, die wir dort bekommen, geben wir natürlich umgekehrt an die politische Seite weiter und versuchen unseren Einfluss geltend zu machen. Ich muss an dieser Stelle sagen, dass wir gute Kontakte zur Bundesregierung haben, aber auch zu den Fraktionen im Deutschen Bundestag. In politischen und parteipolitischen Fragen müssen wir uns zurückhalten, weil uns unsere Satzung zur Neutralität verpflichtet. Dennoch haben wir uns auch kritisch geäußert. Wir haben leider in der Vergangenheit in Europa zu lange zugeschaut. Man hätte schon viel früher erkennen müssen, dass das Gros der Flüchtlinge nicht mehr über das lebensbedrohende Mittelmeer kommt, sondern die Balkanroute in den Fokus rücken würde. Aber das ist der Blick zurück. Die Bemühungen um eine europäische Antwort, werden von uns nachdrücklich unterstützt. Wir hatten 1992/93 auch eine schwierige Situation, als zusätzlich zu den vielen Bürgerkriegsflüchtlingen

CIVIS: Im Gespräch sind auch Sonderwirtschaftszonen in den Nachbarländern Syriens, wodurch Flüchtlingen die Möglichkeit der wirtschaftlichen Betätigung eröffnet werden könnte. Altmaier: Es kommt vor allen Dingen darauf an, ob die Europäische Union dazu bereit ist – zumindest zeitlich begrenzt – die Einfuhr von Waren aus Ländern wie dem Libanon und Jordanien zu erleichtern. Das bedeutet, dass man unter Umständen die Ursprungsregeln verändern oder bestimmte Zollvorschriften modifiziert anwenden muss. Das ist ein ganz dickes Brett, weil es auch Interessen innerhalb der anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gibt, deren Industrien mit Unternehmen in Jordanien und dem Libanon im Wettbewerb stehen. Wir haben aber erkannt, dass die Flüchtlinge nur dann Arbeit finden können, wenn es in Jordanien und im Libanon auch Arbeit gibt. Aber auch Arbeitsangebote europäischer Unternehmen, die vor Ort erledigt werden können, können hilfreich sein. Wir haben in der jordanischen Bevölkerung eine Arbeitslosigkeit von 40 Prozent; bei den Flüchtlingen, die in Jordanien leben, von über 90 Prozent. Deshalb wird eine Lösung nur dann möglich sein, wenn die jordanische Wirtschaft auf die Beine kommt und dort neue Arbeitsplätze entstehen.

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»Es wird gehandelt, so gut wir das überhaupt können.« aus Jugoslawien von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat mehr Asylsuchende kamen. 50.000 allein im Jahr 1989, dann 100.000, 200.000. Im Jahr 1992 waren es 440.000. Die Unruhen in den Kommunen waren sehr, sehr groß...

den Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaft in den neuen Bundesländern erheblich steigende Zahlen von Arbeitslosigkeit gab und die öffentlichen Finanzen durch den Aufbau Ost sehr stark beansprucht waren. Die Sozialversicherungsträger hatten große Finanzierungsprobleme. Das ist heute Gott sei Dank überwunden. Wir haben heute die höchste Zahl von Beschäftigten, die wir jemals in Deutschland hatten, und wir haben zum dritten Mal nacheinander einen Bundeshaushalt ohne neue Schulden. Das erleichtert uns Manches, auch wenn es darum geht, Fluchtursachen zu bekämpfen und dazu beizutragen, dass die Versorgung der Flüchtlinge im Libanon und in Jordanien verbessert wird.

Altmaier: … es war ja auch so, dass es da noch eine erhebliche Binnenmigration zwischen neuen und alten Bundesländern mit Zielrichtung in die alten Bundesrepublik gegeben hat. Aus den ehemaligen Gebieten der Sowjetunion kamen Spätaussiedler und viele aus den Staaten Osteuropas. Das alles hat in der Tat damals schon dazu geführt, dass wir ganz vergleichbare Debatten hatten wie heute. Seiters: Nur hatten wir es damals leichter: Denn wir konnten die Dinge durch nationalstaatliche Antworten mit dem Asylkompromiss regeln. Das war eine ganz wichtige Botschaft in unsere Bevölkerung hinein: Es wird gehandelt, so gut wir das überhaupt können. Die Lage ist heute natürlich schwieriger, weil nationalstaatliche Antworten nicht mehr ausreichen. Wir brauchen europäische Antworten, und zwar auch im Sinne eines solidarischen Miteinanders.

CIVIS: Sie haben gerade die innenpolitische Situation angesprochen. Wenn wir heute ins Land schauen, sehen wir applaudierende Bürger an Bahnhöfen und Tausende ehrenamtliche Helfer in der Flüchtlingsarbeit. Gleichzeitig wächst die Zahl der Unzufriedenen und Besorgten, die Pegida und der AfD anhängen. Spaltet sich da die Gesellschaft? Seiters: Ich werde aus unseren Landesverbänden immer über die Stimmung informiert, die in unseren Unterkünften vorherrscht. Das Deutsche Rote Kreuz betreut 470 teils große Unterkünfte in Deutschland mit insgesamt mehr als 140.000 Flüchtlingen. Das schaffen wir eben nur dadurch, dass wir mit 20.000 bis 25.000 Helfern – größtenteils ehrenamtlich – im Einsatz sind. Ich höre aus unseren Verbänden ganz überwiegend, dass die Hilfsbereitschaft nach wie vor groß ist, dass auch die Motivation unserer Helfer außerordentlich groß ist, die wirklich mit einem unglaublichen Einsatz und mit der entsprechenden Einstellung an diese Aufgabe herangehen. Ich höre allerdings auch, dass es schon Besorgnis gibt, wie sich die Situation in Deutschland entwickelt und wie die Diskussionen in der Bevölkerung geführt werden. Es gibt zum Beispiel Fragen wie: Kümmert Ihr Euch jetzt nur noch um Flüchtlinge? Oder habt Ihr auch noch Zeit für Ältere und Kranke?

Altmaier: Es war damals leichter und schwerer zugleich: Es gab mehr nationale Handlungsmöglichkeiten, das ist richtig. Andererseits war die neue Bundesrepublik auch in einer wirtschaftlich schwierigeren Situation als heute. Weil es durch

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Es kommt natürlich auch vor, dass die Ansprüche der Flüchtlinge, die in jüngster Zeit gekommen sind, sehr hoch sind. Das sind zwar die Ausnahmen. Aber am Anfang war da überall Dankbarkeit, sie ist auch jetzt noch da. Trotzdem gibt es wie gesagt diese Anspruchshaltung: Autos, Wohnungen und so weiter. Damit müssen sich unsere Leute – aber die sind erfahren auf diesem Gebiet – auseinandersetzen.

dass es auch in dieser Frage zu unterschiedlichen Auffassungen kommt. Das ist nun mal so in einer offenen und demokratischen Gesellschaft. Wir haben die glückliche Situation, dass die Trennlinien nicht entlang von politischen Parteien verlaufen, sondern dass es durchaus ganz unterschiedliche Auffassungen auch innerhalb von Parteien – SPD, CDU, CSU, sogar Bündnis 90/ Die Grünen – gibt, wie man damit umzugehen hat. Was wir tun müssen ist, dass wir einen parteiübergreifenden Konsens aufrechterhalten, dass wir extremen Auffassungen von links oder von rechts eine klare Absage erteilen. Wir erleben aber auch, dass derselbe Bürger sagt, ich möchte helfen, ich möchte Pate sein für einen Flüchtling, der hier ankommt. Und dass er sich trotzdem Sorgen macht, was denn geschieht, wenn es nicht möglich ist, in absehbarer Zeit die Zahlen zu reduzieren und illegale Migration in geordnete und legale Strukturen zu überführen. Das sind Phänomene, die eigentlich selbstverständlich sind. Die uns aber auch überraschen, weil wir in Deutschland zehn Jahre hinter uns haben, in denen wir solche großen polarisierenden Debatten gar nicht mehr gekannt haben.

Altmaier: Ich kann das nur aus eigenem Erleben bestätigen. Bei einer so großen Zahl von Flüchtlingen ist es selbstverständlich, dass es auch unterschiedliche Erfahrungen gibt. Wenn wir es mit Themen zu tun haben, die eine solche Bedeutung für ein Land haben, dann polarisiert das auch die die gesellschaftspolitische Diskussion. Das war so in den 50er Jahren, als wir über Marktwirtschaft und Westbindung diskutiert haben. Das war so in den 70er Jahren, als wir über neue Ostpolitik diskutiert haben. Das war so bei der Diskussion über den Ausstieg aus der Kernenergie, die unser Land 30 Jahre lang polarisiert hat; über die NATO-Nachrüstung und viele andere Themen. Und deshalb kann es eigentlich nicht überraschen,

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CIVIS: Die Debatte verschärft sich, wenn es um Kosten geht. Um die Flüchtlinge zu integrieren brauchen wir langfristig mehr Lehrer, Polizisten, Sozialarbeiter. Müssen wir die „Schwarze Null“ infrage stellen zugunsten der Integration?

die hier im Inland ausgegeben werden, die dann auch wieder Steuereinnahmen und Sozialabgaben in die öffentlichen Kassen bringen. Deshalb glaube ich, dass wir bei guter Konjunktur im Stande sein werden, die notwendigen Ausgaben zu stemmen, ohne dass wir andere Politikbereiche vernachlässigen oder unsere Haushaltsprinzipien über Bord werfen.

»Wenn wir sorgfältig und verantwortlich mit den öffentlichen Geldern umgehen, dann werden wir auch diese Krise bewältigen können.«

Seiters: Die Politik muss die Frage beantworten, welche Prioritäten man setzen soll. Für uns als humanitäre Organisation sage ich: 2015 ist das Jahr der Flüchtlinge, das Jahr der ehrenamtlichen Helfer. 2016 muss das Jahr der verstärkten Integration werden. Und ich glaube, dass das Geld, das dafür aufgewandt werden muss, eine sehr gute Investition ist. Wir müssen die bürokratischen Hemmnisse abbauen, was den Zugang zum Arbeitsmarkt betrifft, auch durch Anerkennung der vorhandenen Qualifikationen. Wir müssen uns auch die Frage stellen: Führt die Vorrangprüfung, die wir für deutsche Arbeitnehmer haben, nicht doch dazu, dass die bürokratischen Prozesse zu lange andauern? Wir müssen alles tun, damit die Sprachangebote ausgeweitet werden, von denen wir als Deutsches Rotes Kreuz allerdings sagen, sie sollten kostenlos sein. Die Politik muss die Frage beantworten, was man tut, wenn sich Menschen den Sprachkursen entziehen. Das Prinzip „Fördern und Fordern“ ist ja die Politik der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung. Die Hilfsbereitschaft ist da, aber es gibt auch die Erwartungshaltung in der Bevölkerung, dass sich die Menschen, die bei uns leben und eine Bleibeperspektive haben wollen, um ihre Integration auch selbst bemühen. Das sind zwei Seiten derselben Medaille.

Altmaier: Das glaube ich nicht. Immer dann, wenn man die haushaltspolitische Solidität hinten anstellen wollte, um die Aufgaben zu lösen, hatte man am Ende mehr Schulden, mehr Arbeitslosigkeit und weniger Wachstum als zuvor. Wir haben das Glück, dass wir uns in einer Situation befinden, in der der deutsche Export brummt, Arbeitsplätze in Deutschland neu entstehen, Steuern gezahlt werden. Wir hatten im letzten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt und außerdem noch einmal über 12 Milliarden Euro Haushaltsüberschuss.

CIVIS: Die Bundeskanzlerin hat vor einiger Zeit sinngemäß gesagt: „Wer nicht mehr weiß, was Pfingsten bedeutet, der wird sich schwer tun, auch das christliche Abendland gegen den Islam zu verteidigen.“

Das bedeutet, wenn wir sorgfältig und verantwortlich mit den öffentlichen Geldern umgehen, dann werden wir auch diese Krise bewältigen können – einschließlich aller Integrationsaufgaben, und das ohne gegen die Schuldenbremse des Grundgesetzes zu verstoßen. Vieles von dem, was wir jetzt ausgeben, um Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge zu schaffen, um Hauptamtliche zu bezahlen, um Nahrungsmittel zu kaufen, um Integrationsmaßnahmen zu finanzieren, sind Gelder,

Seiters: Sie hat auch mal auf die Frage „Was können wir denn eigentlich tun, wenn so viele Menschen in Deutschland muslimische Ansichten vertreten?“, gesagt: „Mehr in die Kirche gehen!“. CIVIS: Was ist Ihr Eindruck: Sind wir uns unserer Werte und unserer Kulturgeschichte zu wenig bewusst?

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Altmaier: Ich glaube, wir können im Erklären unserer Verfassungs- und Werteordnung durchaus noch besser werden. Weil es aus meiner Sicht nicht sinnvoll ist, einem Flüchtling, der hierherkommt, das deutsche Grundgesetz zu überreichen. Das haben die allerwenigsten Deutschen von vorne bis hinten gelesen. Das ist etwas, was man doch nicht ohne weiteres in seiner Bedeutung versteht. Aber man kann im Rahmen der politischen Bildung den Menschen durchaus erklären, was diese Gesellschaft ausmacht und was ihre tragenden Prinzipien und Grundwerte sind. Das kann in Videos geschehen, das kann am Computer oder in Handy-Apps geschehen, das kann in Integrationskursen geschehen – aber es muss geschehen und geschieht auch schon. Meine Erfahrung ist, dass ganz, ganz viele Flüchtlinge durchaus neugierig auf dieses Land sind und auch die Bereitschaft zeigen, viel von diesem Land zu übernehmen, weil sie eine große Enttäuschung

ihres Lebens hinter sich haben: nämlich das Versagen der staatlichen Strukturen in der Region, wo sie herkommen, wo der Islam die Leitkultur bildet. Das bedeutet nicht, dass sie zum Christentum übertreten oder dass sie automatisch von einer Kultur in die nächste wechseln. Aber es bedeutet eine Chance für uns, unsere Kultur zu vermitteln und zu erklären. Im Übrigen hatten wir das Problem der leeren Kirchen schon in der alten Bundesrepublik, und zwar zunehmend seit den 60er und 70er Jahren. Mit der Wiedervereinigung kennen wir auch die Situation, dass gerade in den neuen Bundesländern viele Menschen nicht konfessionsgebunden sind. Deshalb sagen wir ja auch immer, dass man die Werte, die man mit dem christlich-abendländischen Menschenbild verbindet, auch dann verstehen, akzeptieren und leben kann, wenn man sich nicht einer bestimmten Konfession zugehörig fühlt. So steht es schon im Statut der CDU und in den Programmen aus den 50er Jahren.

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»Sprache ist nicht alles, aber ohne Sprache ist alles nichts.« muslimischen Verbände in ihre Reihen hineinwirken, dort erklären und aufklären, dass dies nicht die Politik des Islam und des Koran ist.

Es sind die Ideen der Aufklärung, die Europa stark und attraktiv für Unterdrückte gemacht haben. Der revolutionäre Dreiklang Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Brüderlichkeit ist nicht nur der Überbau für staatliches Handeln, sondern moralische Forderung an alle Bürger des Gemeinwesens . Ich glaube, dass wir auf die Vermittlung dieser Werte unsere Anstrengungen richten müssen. Dafür ist Sprachunterricht entscheidend. Sprache ist nicht alles, aber ohne Sprache ist alles nichts. Die Wertevermittlung muss übrigens nicht nur gegenüber denen, die neu ins Land kommen, erfolgen, sondern auch gegenüber denen, die schon hier sind. Ich kenne Jugendliche ganz ohne jeglichen Migrationshintergrund, die genauso wenig mit Pfingsten und der Aufklärung anfangen können wie manch einer, der neu ins Land kommt, und von den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes noch nie etwas gehört haben.

Seiters: Wir sehen hier eine ganz große Heraus­ forderung für das Deutsche Rote Kreuz bei der Betreuung der jetzt in Deutschland lebenden Flüchtlinge. Wir sind ja überkonfessionell, das heißt, wir sind in einer anderen Situation als Caritas, Diakonie, Malteser oder Johanniter. Deswegen haben wir auch das Thema Integration schon seit Jahren als einen Schwerpunkt unserer Arbeit auf die Agenda gesetzt. Das heißt, alle unsere rund 500 Kreisverbände sind aufgerufen, sich sehr konkret um dieses Thema zu kümmern.

CIVIS: Welche Rolle schreiben Sie den islamischen Verbänden bei der Vermittlung unserer Werte und Ordnung zu? Altmaier: Wir haben vor etwa zehn Jahren die Deutsche Islamkonferenz initiiert, weil wir der Auffassung waren, dass wir so, wie der deutsche Staat mit den christlichen Kirchen Dialog führt, auch einen Dialog mit muslimischen Verbänden führen sollten. Das ist nicht ganz einfach, weil hier die Verbandslandschaft viel stärker zersplittert ist als etwa im Bereich der christlichen Kirchen. Trotzdem ist es richtig, diesen Dialog zu führen, weil wir auch damit eine Chance haben, unsere Werte zu vermitteln. Das fängt an, wenn es um die Wahrung der Freiheit durch die Bekämpfung des Terrorismus geht. Wir haben nun einmal das Phäno­men des islamistischen Terrorismus. Das ist zwar nur eine kleine Minderheit der Menschen mit muslimischem Glauben, die davon betroffen sind, aber es gibt Gefährder, es gibt Syrien-Rei­sende, es gibt Salafisten. Deshalb ist es wichtig, dass die

Was ich auch in meinem heimatlichen Umfeld erlebe oder in den vielen Unterkünften von Ingelheim bis Berlin-Karlshorst und Schwanewede, die ich besucht habe, ist, dass wir uns sehr um die Integration sowohl durch Sprachkurse als auch durch Vermittlung unserer gesellschaftlichen Ordnung kümmern. Wir bilden auch Flüchtlinge zu Helfern aus. Wir wollen sie unter anderem in unserem Bundesfreiwilligendienst einsetzen, wenn sie eine Bleibeperspektive haben. Wir sind vielleicht auf diesem Feld im Vorteil, weil wir eben nicht katholisch, nicht evangelisch, sondern weil wir überkonfessionell, unabhängig und politisch neutral sind.

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»Ich wünsche mir, dass diese Flüchtlingsherausforderung nicht zu einem großen Kapitel im Geschichtsbuch wird, aber mindestens zu einer Fußnote.«


CIVIS: Ein Blick in die Zukunft: Was wünschen Sie sich, was in 50 Jahren in den Geschichtsbüchern über die Flüchtlingskrise stehen soll? Welche Botschaft soll bleiben? Seiters: Ich habe vor Kurzem eine Stellungnahme von einem bekannten Ökonomen gelesen, der mit Blick auf die damaligen Integrationsbemühungen 1992/93 gesagt hat: Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt sei eine historisch einmalige Leistung gewesen, weil damit die Integration funktioniert habe. Und wenn diese Integration in Deutschland in den nächsten Monaten und Jahren funktioniert, dann ist das vielleicht das Jahrzehnt der Integration.

neuen Zuwanderer zu integrieren und trotzdem unsere nationale Identität zu stärken, desto weniger wird am Ende in den Geschichtsbüchern über diese Herausforderung vermeldet stehen. Weil die allermeisten Geschichtsbücher vor allen Dingen die schwierigen Momente der Geschichte eines Landes oder einer Nation beleuchten. Deshalb wünsche ich mir, dass diese Flüchtlingsherausforderung nicht zu einem großen Kapitel im Geschichtsbuch wird, aber mindestens zu einer Fußnote, aus der deutlich wird, dass wir damals unseren Beitrag erfolgreich geleistet haben. Dass eine ganze Region im Mittleren und Nahen Osten stabilisiert worden und dass Deutschland an dieser Herausforderung gewachsen und nicht zerbrochen ist.

Altmaier: Je erfolgreicher wir bei der Integration sein werden, je mehr es uns gelingen wird, die

CIVIS: Haben Sie vielen Dank, Herr Minister Altmaier, Herr Dr. Seiters, für dieses Gespräch!

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Peter Altmaier MdB war von 2012 bis 2013 Bundesumweltminister. Seit 2013 ist er Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes. In dieser Funktion koordiniert er aktuell die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung.

Dr. h.c. Rudolf Seiters war von 1989 bis 1991 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes. Von 1991 bis 1993 war er Bundesminister des Innern und von 1998 bis 2002 Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Seit 2003 ist Seiters Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.

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Thomas Sternberg

„Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll wie ein Einheimischer gelten“ (Lev 19, 34)

Würde und Respekt, von Mensch zu Mensch

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Flüchtlingslagern der Krisenregionen ausreichend zu versorgen. Die aktuelle Situation wird unser Land langfristig verändern.

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat „Flüchtlinge“, im Plural, zum Wort des Jahres 2015 gewählt und damit auf die Bedeutung der Debatten dieses Themas im vergangenen Jahr reagiert. Das Wort steht für täglich neue politische Heraus­ forderungen, aber auch zugleich für konkrete Lebensschicksale für den Flüchtling im Singular. Die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen wird uns lange, vielleicht Jahrzehnte beschäftigen. Wir stehen also mitten in einer laufenden Entwicklung, in der wir reflektieren und prognostizieren, entscheiden und handeln müssen.

Papst Franziskus schreibt in seiner zweiten Enzyklika „Laudato si'“: „Die politische Größe zeigt sich, wenn man in schwierigen Momenten nach bedeutenden Grundsätzen handelt und dabei an das langfristige Gemeinwohl denkt.“ (LS 178). Wir müssen uns also zunächst unserer Werte vergewissern und uns auf deren Grundlage aktiv einbringen, sie leben und vorleben. In unserem Reden und Handeln muss spürbar werden, dass jeder Mensch die gleiche Würde hat. Daraus entwickeln sich demokratische Grundsätze, die es zu gewährleisten gilt. Diese gehören zu unserem kulturellen und ethischen Selbstverständnis. Jedem einzelnen Menschen muss mit Respekt begegnet werden. Darauf bauen unsere Gegenwart wie die Zukunft auf.

»Deutschland hat nicht ausreichend zu gemeinsamen Lösungen beigetragen.«

Das heißt auch, dass gesetzliche Änderungen zur Anpassung an die aktuelle Situation nicht hinter dem zurückbleiben können, was unser Grundgesetz formuliert: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Politisch Verfolgte genießen Asyl. Ein solches Recht lässt sich nicht begrenzen, eine Klage gegen die Möglichkeit eines Asylantrags aufgrund einer zahlenmäßigen Begrenzung dürfte erhebliche Erfolgsaussichten haben. Asylverfahren dauern aber in der Regel zu lange. Abschiebungen nach mehreren Jahren der Integration in unser Land hinterlassen zu Recht ein ungutes Gefühl. Wenn keine Aussicht auf Asyl besteht, sollten Abschiebungen schnell erfolgen.

Von Immanuel Kant stammt der Satz: „Die Notwendigkeit zu entscheiden reicht weiter als die Möglichkeit zu erkennen.“ Er beschreibt unsere Situation, denn es ist zurzeit schwierig, Entscheidungen zu treffen, ohne die nationalen, europäischen, ja globalen Folgen wirklich überblicken zu können. Wir brauchen eine Politik, die Fluchtursachen mindert, die Fluchtbewegungen nicht im Chaos münden lässt und die langfristig eine erfolgreiche Integration ermöglicht. Die Flüchtlingsbewegungen zeigen auch uns in Europa, dass wir mehr denn je eine globale Schicksalsgemeinschaft sind. Die Eine Welt ist bei uns angekommen; wir können ihr nicht mehr nur in den Medien als exotisches Problem zusehen. Der Druck gemeinsamer Probleme macht gemeinsame Lösungen notwendig. Wir müssen uns eingestehen, dass Deutschland nicht immer in ausreichendem Umfang zu solchen gemeinsamen Lösungen beigetragen hat und wir für die aktuelle Situation eine Mitverantwortung tragen: Menschen, die in ihrer Heimat nicht mehr leben können, fliehen nicht, weil wir sie eingeladen haben, sondern weil die Konflikte in ihren Ländern ohne ein konstruktives Handeln der internationalen Staatengemeinschaft bisher nicht befriedet werden konnten. Dass dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen die Mittel für Lebensmittel in Flüchtlingslagern drastisch gekürzt wurden, erweist sich als verhängnisvoller Fehler. Bei weitem stehen nicht genügend Finanzmittel zur Verfügung, um die Menschen in den

»Es ist zu prüfen, ob legale Einwanderungsmöglichkeiten optimiert werden können.« Durch die Einstufung eines Staates als sicher soll ermöglicht werden, dass Asylanträge, die keine Aussicht auf Erfolg haben, schneller zu einem Ende gebracht werden. Damit soll auch ein Bearbeitungsstau verringert werden. Gleichwohl muss auch in Zukunft sichergestellt sein, dass in jedem Einzelfall ein individuelles, rasches, faires und unvoreingenommenes Asylverfahren durchgeführt wird. Zudem ist zu prüfen, ob die legalen Einwanderungsmöglichkeiten für Deutschland und die EU optimiert werden können.

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darf keine dauerhafte Restriktion bedeuten. Andernorts braucht es bereits jetzt funktionierende Rahmenbedingungen für eine zügige Integration. Dafür muss der Zugang zu Sprachkursen, Bildungsangeboten und Arbeitsmöglichkeiten zeitnah eröffnet werden. Politische Initiativen für die Möglichkeit von Arbeitsgelegenheiten verdienen unterstützt zu werden, um den Übergang bis zu regulären Arbeitsverhältnissen zu überbrücken. Auch für die zweite Phase der Integration sind jetzt wegweisende politische Entscheidungen erforderlich, die zu einer geordneten und gerechten Asylpolitik gehören. Die Integrationsaufgabe muss von der ganzen Gesellschaft übernommen werden und darf nicht zu Lasten der sozial schwächeren Gruppen gehen. Wir brauchen eine umfassende Gesellschaftspolitik, die alle Bürgerinnen und Bürger des Landes in den Blick nimmt und zu einem gelingenden Miteinander führt, zu einer Integration aller auf der Grundlage unserer freiheitlichen, demokratischen Werte.

Das gilt auch für Asylverfahren bereits in der Nähe der Fluchtorte, wie sie in einem Modellversuch der katholischen Vereinigung Sant‘Egidio mit der Gemeinschaft der evangelischen Kirchen Italiens durchgeführt werden. Durch eine Visum­ erteilung wird die mit tödlichen Gefahren verbundene Flucht umgangen. Das Projekt, am 16. Dezember 2015 vorgestellt, verdient genaue Beobachtung, denn wir können nicht dabei zusehen, wie Männer, Frauen und Kinder ihr Leben riskieren – und viel zu oft verlieren – um an einen sicheren Ort zu gelangen, an dem Leben möglich ist. Als Christen haben wir keine alleinige, aber eine besondere Verpflichtung: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,39). Diesen Nächsten suchen wir uns nicht aus. Es ist der, dem wir uns als Nächsten erweisen können. Christus selbst identifiziert sich mit den Notleidenden (Mt 25,40). Das definiert unseren Auftrag. In zahlreichen Kirchengemeinden, Verbänden, Organisationen und Ordensgemeinschaften erleben wir ein großartiges Engagement in der Flüchtlingsarbeit. Dieses Engagement wird auch durch finanzielle Leistungen gestützt. Aus den Mitgliedsbeiträgen der Katholiken, der Kirchensteuer, sind in den Bistümern erhebliche Summen bereitgestellt worden, um die Flüchtlingshilfe zu ermöglichen. Wo Menschen Fremde unterstützen, ihnen offen und hilfreich begegnen und sie, wenn auch nur für einige Tage oder Wochen, begleiten, werden sie ihnen zu Nächsten. Das gibt es natürlich auch in unseren Kommunen und in anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen.

Leider erleben wir seit etwa einem Jahr zunehmend fremdenfeindliche und rechtsextreme Positionierungen in Deutschland, die wir nicht akzeptieren dürfen. Es bereitet Sorge, wenn rechtspopulistische Bewegungen bei unseren europäischen Nachbarn in Ost und West bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Die Regionalwahlen in Frankreich sind noch nicht mit einer großen Stärkung des rechtsextremen Flügels geendet und wir erleben in Polen, dass Menschen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf die Straße gehen. Doch müssen wir gegen den wachsenden Rechtspopulismus eine gemeinsame solidarische Haltung zeigen, die deutlich macht, dass Menschenfeindlichkeit in einer offenen, demokratischen Gesellschaft nicht geduldet werden kann. Das gilt besonders für Politiker, die sich dem christlichen Menschenbild verpflichtet wissen.

»Die Integrationsaufgabe muss von der ganzen Gesellschaft übernommen werden.«

Ernst zu nehmen sind aber auch die Verunsicherungen, die Mitbürgerinnen und Mitbürger aufgrund des aktuellen Flüchtlingszuzugs erleben. Es gibt diffuse Ängste über fremde Lebensformen und nicht zuletzt über den Charakter des Islam als fremde Religion. Hier ist Aufklärung erforderlich. Es gibt viele Möglichkeiten, sich einzubringen, Unsicherheiten und Ängste anzusprechen, Infor­ mationen ehrlich zu kommunizieren und zusammen Wege für ein gemeinsames, friedliches Zusammenleben zu entwickeln.

An vielen Orten sind wir noch in der ersten Phase des Ankommens der Flüchtlinge. Die Menschen warten auf ihre Registrierung und den Beginn des Asylverfahrens. Auch wenn die Zahl der einreisenden Personen aktuell rückläufig ist, werden wir noch über Monate eine ungewöhnlich hohe Zahl neuer Asylbewerberinnen und -bewerber haben. Die Begrenzung des Familiennachzugs

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»Wenn wir persönliche Begegnungen schaffen, wird die Toleranz zunehmen.« und interreligiöse Dialog muss Teil einer gelingenden Integration sein und im Fokus stehen auf dem Weg zu einem friedlicheren globalen Miteinander.

Studien belegen, dass verunsicherte Menschen häufig wenig direkten Kontakt zu Ausländern und Flüchtlingen haben. Wenn wir persönliche Begegnungen schaffen, von Mensch zu Mensch, dann werden wir vielleicht nicht immer erleben, dass Fremde zu Freunden werden. Aber wir werden erleben, dass Toleranz zunimmt und die Bereitschaft wächst, dem jeweils Anderen in seiner Würde mit Respekt zu begegnen. Wenn man die Geschichten der Anderen kennt, ist Verstehen möglich.

Schon 1997 hat die Arbeitsgemeinschaft der Christlichen Kirchen in Deutschland (ACK) mit Katholiken und Evangelischen gemeinsam eine nach wie vor lesenswerte Schrift herausgegeben, die unter dem Titel „… und der Fremdling, der in deinen Toren ist“ ein gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht ist. Darin werden biblische, ethische und politische Grundsätze formuliert, die in diesen Tagen wieder eine besonders große Ak­tualität haben. Der 100. Katholikentag vom 25. bis 29. Mai in Leipzig steht unter einem Motto, das die Flüchtlingsthematik einschließt: es lautet „Seht, da ist der Mensch“. Das „Ecce Homo“, mit dem Pilatus auf den geschundenen Jesus weist, lenkt unseren Blick auf den je einzelnen Flüchtling, auf die fremde Frau, das fremde Kind, den fremden Mann, die bei uns Hilfe suchen und nach biblischem Gebot (3. Mose/Levitikus 19,33 f.) wie ein Einheimischer behandelt werden sollen: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“

Katholische Frauen und Männer, die Mitglieds­ organisationen und Räte im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) sind auf den verschiedensten gesellschaftlichen und politischen Ebenen aktiv. Dazu gehört auch die Förderung des interkulturellen und interreligiösen Dialogs. Diesen zu fördern ist dem ZdK ein besonderes Anliegen. Zwar haben auch viele Christen Schwierigkeiten mit dem aktuellen Zuzug vieler Menschen aus fremden Kulturen und Religionen, aber Dialoge, nicht zuletzt unter verschiedenen Religionen, gelingen am besten unter denen, die selbst eine sichere Verwurzelung im Eigenen haben. So sind auch wir selbst besonders herausgefordert, uns auf unsere kulturellen und reli­ giösen Grundlagen zu besinnen, uns von diesen leiten zu lassen, Menschen zusammen zu bringen und Begegnungen über Kulturen und Reli­gionen hinweg zu ermöglichen. Der interkulturelle

Prof. Dr. Dr. Thomas Sternberg MdL ist kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen. Er leitet die Katholische Akademie Franz-Hitze-Haus in Münster und ist seit November 2015 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK).

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Peter Tauber

Wem gehรถren die deutschen Farben? ร ber die schwarz-rot-goldene Fahne

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die Kinder vor allem eins: schwarz-rot-goldene Fahnen. Wie kommt das? Was verbinden sie mit diesen Farben? Ihre Geschichte und Bedeutung werden sie wohl kaum kennen. Aber kennen wir die Geschichte unserer Farben eigentlich?

Gut eine Million Flüchtlinge haben in diesem Jahr Zuflucht in Deutschland gefunden. Das stellt unser Land vor unerwartete Herausforderungen. Wir sind gerade dabei, alle Menschen zu versorgen, die Verfahren zu beschleunigen und international und auf europäischer Ebene Fluchtursachen zu bekämpfen sowie die Zahl derjenigen, die täglich zu uns kommen, zu reduzieren.

Auf dem Ärmel meines Feldanzugs war ebenfalls die Deutschlandfahne aufgenäht – so wie auf allen Uniformen deutscher Soldaten. Ich trage diese Farben mit Stolz.

Dabei müssen wir aufpassen, dass wir zwei Aspekte nicht aus dem Blick verlieren: Wir müssen uns erstens bewusst machen, dass wir da nicht über eine anonyme Masse von Menschen reden, sondern wir müssen versuchen, jedem Einzelnen gerecht zu werden. Das gebietet nicht nur die in Artikel 1 des Grundgesetzes verankerte Würde des Menschen, sondern auch das unserer Politik als Christdemokraten zugrunde liegende christliche Menschenbild. Zweitens müssen wir eine Antwort darauf geben, wie wir mittel- und langfristig mit dieser Herausforderung umgehen wollen. Welche Risiken für Deutschlands Zukunft und ein friedliches Miteinander gibt es, aber auch welche Chancen haben wir, wenn wir jetzt alles richtig machen? Diese Fragen müssen wir als Christdemokraten beantworten.

Der Legende nach waren es die Lützowschen Jäger, die ihre Jacken schwarz färbten, goldene Knöpfe und rote Aufschläge trugen, um so in den Freiheitskriegen gegen Napoleon einheitlich aufzutreten. Als Freiwillige in einer nicht regulären militärischen Einheit erreichten sie – nicht nur weil bekannte Männer wie Friedrich Ludwig Jahn und Joseph Eichendorff in ihren Reihen dienten – eine legendäre Berühmtheit. Die Jäger wurden zum Sinnbild des Strebens nach Freiheit und mehr noch der Bereitschaft für diese Freiheit alles einzusetzen – auch das eigene Leben. Später griffen die Studenten die Farben auf. Es ging nicht mehr gegen Napoleon, sondern gegen die deutsche Kleinstaaterei und die Fürstenherrschaft für nationale Einheit, Freiheit und politische Mitbestimmung. Auf dem Hambacher Fest, das nicht nur ein deutsches, sondern ein europäisches Freiheitsfest war, wehten die Farben über dem Schloss. Im Vormärz und in der Revolution von 1848 wurde die schwarz-rot-goldene Fahne endgültig zur deutschen Trikolore der Freiheit und der Hoffnung. Längst ging es auch um soziale Fragen, denn Millionen Deutsche mussten ihre Heimat aus wirtschaftlicher Not verlassen. Allein in die USA wanderten über fünf Millionen aus. Meist schickten die Familien die Söhne, wenn sie es sich nicht leisten konnten, alle gemeinsam auszuwandern.

»Die Kinder malten schwarz-rot-goldene Fahnen.« Ich sage ganz offen: Ich glaube an die Chancen für diese Republik. Und meine Meinung hat eine Bestätigung erfahren, als ich Ende Oktober für zwei Tage als Reservist der Bundeswehr in einer Flüchtlingsunterkunft in Offenbach am Main geholfen habe. Was habe ich dort erlebt? In diesen zwei Tagen habe ich eine Fülle von Eindrücken und Erfahrungen gesammelt, aber ein Aspekt hat mich besonders berührt. Und davon möchte ich berichten:

Es herrschte tiefe Verzweiflung in deutschen Landen. Hoffmann von Fallersleben dichtete: „Alles lässt sich schwarz nur sehen, Rot und Gold, wo bleibt ihr?“ Jacob Grimm formulierte als Abgeordneter der Paulskirche 1848: „Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“ Doch diese Verheißung, auf deren Erfüllung die Deutschen als Nation bis 1990 warten mussten, wurde erst noch hart erkämpft.

Die Unterkunft in Offenbach war eine große Gewerbeimmobilie. Niemand von uns würde dort gerne mehrere Nächte, geschweige denn einige Wochen zubringen wollen. In der Halle schliefen junge Männer neben Familien mit kleinen Kindern. Auch alte Leute waren dabei. Privatsphäre war ein Fremdwort. An den Wänden der Halle hingen Bilder, die Flüchtlingskinder gemalt hatten. Neben vielen schrecklichen Dingen malten

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»Für die Flüchtlingskinder sind Schwarz-RotGold Farben der Freiheit.« Dr. Peter Tauber MdB ist Generalsekretär der CDU Deutschlands. Der Hesse ist seit 2009 als direkt gewählter Abgeordneter Mitglied des Deutschen Bundestags. Bekannt ist er auch als „digital native“ und Star-Wars-Fan.

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worden sind. Dass sie Deutschlandfahnen malen, ist indes seltener zu beobachten. Vielleicht wäre es auch an der Zeit, in deutschen Schulen und Kindergärten wenigstens rund um den 3. Oktober wieder zu erzählen, welche Hoffnungen unser Volk in der Vergangenheit mit diesen Farben verbunden hat und was sie bedeuten.

Bismarck und die Preußen konnten den Farben bei der Reichsgründung, die ein Werk der Fürsten und nicht des Volkes war, nichts abgewinnen. Und auch in der ersten deutschen Republik 1919 hatten die deutschen Farben einen schweren Stand. Die Nationalsozialisten verspotteten sie als „Schwarz-Rot-Senf“.

Bei PEGIDA schwenken unter dem Rufen dummer Parolen viele Menschen die deutschen Fahnen. Sie wissen nichts über deren Bedeutung. Schwarz, Rot, Gold sind nicht nur die Farben der Freiheit für das deutsche Volk. Sie stehen für die Freiheit aller Völker und Menschen, und die Deutschen, die sich diesen Farben verschworen hatten, unterstützten den Freiheitskampf der Polen genauso wie die nationale Einigung anderer europäischer Länder. Angesichts der vielen dumpfen Ressentiments, die bei den Demonstrationen in Dresden und anderenorts geschürt werden, würden sich diejenigen, die für und unter dieser Fahne gekämpft und ihr Leben hingegeben haben, wahrscheinlich schämen.

»Treten wir im Ernstfall für unsere Werte ein?« Nach Gründung der Bundesrepublik taten sich die Deutschen lange schwer mit ihren Farben. Dabei gab es keinerlei Grund zur Zurückhaltung. Die Farben sind historisch nie missbraucht worden. Die Nazis spürten, dass sie mit den Werten, für die diese drei Farben in der deutschen Geschichte standen, nichts anfangen konnten. Doch Hitler hatte den Deutschen die Freude an und den Stolz auf die eigene Nation gründlich verleidet. Da half auch vorerst die Rückbesinnung auf die Farben von Einigkeit und Recht und Freiheit nichts. Inzwischen ist das anders, und zum Glück nicht mehr nur bei Fußballspielen. Wenn die Nationalhymne gesungen wird, stehen die Menschen auf, man muss keine Textblätter mehr auslegen. Jeder kennt den Glanz des Glückes, in dem unser Vaterland blüht, weil wir sehr wohl wissen, dass die Deutschen nie freier und glücklicher lebten als heute. Wir sind uns dessen im Alltag vielleicht nicht bewusst. Und wir sollten uns fragen: Treten wir, wenn es ernst wird, für die Werte ein, für die unsere Farben stehen?

Wenn derzeit in Deutschland Flüchtlingskinder malen, dann greifen sie oft zu den Stiften, die ihnen erlauben, eine Deutschlandfahne zu malen. Oft sind auch ihre Autos oder Häuser SchwarzRot-Gold. Sie kennen unsere Fahne, aber sie wissen nichts über die Bedeutung unserer deutschen Farben. Aber sie geben ihnen unbewusst ihre historische Bedeutung zurück. Für die Flüchtlingskinder sind die Farben Schwarz-RotGold die Farben der Freiheit, des Friedens und der Hoffnung. Das sollte uns stolz machen. Und wir sollten ihnen diese Farben schenken. Sie haben viel mehr einen Anspruch darauf und das Versprechen der Farben auf eine gute Zukunft, auf die Hoffnung, mit Fleiß etwas zu erreichen und sicher und behütet aufzuwachsen, als diejenigen, die unter unserer Fahne derzeit Hass und Angst im Land verbreiten. Nehmen wir denen unsere deutsche Fahne weg. Sie ist zu schön dafür.

Deutsche Schulkinder malen bunte Blumen oder Tiere, vielleicht auch Kinder in allen Hautfarben. So erleben sie selbst den Alltag in ihren Schulen vielerorts. Trotz dieser Vielfalt verbindet die Kinder, dass sie meist alle in Deutschland geboren

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Aykan Erdemir

The Syrian Refugee Crisis Can Turkey be an effective partner?

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From a temporary destination to a permanent waiting room

Numbers alone are sufficient to convey the grim reality of Syrian refugees in Turkey: Of the 4.3 million displaced Syrians who have been registered as persons of concern by the UNHCR, 2.2 million currently reside in Turkey, comprising a community more populous than six of the EU member states. This figure is expected to reach 3 million by the end of 2016, corresponding to more than 15 percent of Syria’s population.

Since 2011, when Turkey started receiving substantial numbers of Syrians fleeing the civil war, Ankara has maintained an open door policy and committed generous funds and resources – to the amount of 9 billion Dollars – to accommodate displaced Syrians. Turkey does not grant refugee status to Syrians since Ankara still retains a geographical reservation to the 1951 Geneva Convention Relating to the Status of Refugees, granting refugee status only to asylum seekers arriving from Europe. For Syrians and other asylum seekers from outside Europe, Turkey is seen as a temporary destination in their search for a third country where their refugee status can be recognized.

»The crisis hasn't received sufficient public attention in Turkey.« Despite the magnitude of this humanitarian crisis, its social, economic and security challenges haven’t received sufficient public attention in Turkey. The issue is not central to policy deliberations or informed public debate, and there is no interest on the part of the Turkish government to bring the issue to further public scrutiny. Turkey’s democratic governance deficit and lack of consensus building efforts domestically present substantial risks for the long term sustainability of Ankara’s current refugee policy and potential cooperation with the EU. A Turkey that continues to drift away from European values and Copenhagen criteria cannot be an effective partner for the EU’s efforts to deal with the Syrian refugee crisis.

Turkey’s initial response to the influx of Syrians was to initiate a de facto temporary protection regime administered mainly through 22 refugee camps established in ten provinces of Turkey. Currently 260,000 of the 2.2 million Syrians live in these camps while the remaining ones are dispersed elsewhere around Turkey. The passing of the Law on Foreigners and International Protection in April 2014 introduced a legislative framework and implementation guideline for all aliens, bringing Syrians on Turkish soil under the jurisdiction of the newly established Directorate General of Migration Management. The Turkish government’s perception and portrayal of Syrian immigrants have changed over the last four years. In the early months of the conflict, displaced Syrians were seen simply as guests, with the expectation that this was a short term arrangement. As the political and humanitarian crisis deepened, they were reclassified as persons in need of temporary protection. When the govern­ ment finally gave up hope of Syrians’ return to their homeland, Syrians came to be seen as akin to the waves of asylum seekers from around the world who pass through Turkey looking for re­­ settlement in third countries subsequent to recog­ nition of their refugee status. The experience of other displaced persons in Turkey shows that ultimately for most asylum seekers – and this could be the case with Syrians – Turkey turns into a permanent waiting room, where individuals who fail to resettle in a third country often struggle to make ends meet without the opportunity to be fully incorporated into the Turkish society.

Refugee crisis as consequence of foreign policy failures For Turkey’s Islamist-based Justice and Development Party (AKP), which has been in power since 2002, the Syrian refugee crisis is an unanti­cipated and unfortunate outcome of their botched efforts to redesign Syrian politics. AKP leaders, including the current Turkish president Recep Tayyip Erdoğan and prime minister Ahmet Davutoğlu, initially assumed that there could be a swift regime change in Syria from Bashar al-Assad’s rule to a Muslim Brotherhood-led government without chaos and major social upheavals. Even when the Syrian crisis turned into a civil war-cum-proxy war waged in part by violent extremists, Turkey was unable to foresee the potential fallout from its proxy involvement in Syria through its support for armed Islamist groups.

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The government’s use of Islamic symbolism

by sectarianism, proxy war involvement, support for violent extremists, and breach of international law. Faced with such criticism, the AKP is inclined to become even more defensive and uni­ lateral in its refugee policy – the AKP, for ex­­­am­­­­ ple, has barred opposition deputies from visiting and monitoring the camps.

The Turkish government has used Islamic symbolism to convey what it believes are its duties related to the Syrian refugee crisis. The AKP lea­ ders have consistently compared Turkey’s role in assisting the Syrian refugees to that of the ansar (Arabic for helpers), referring to the Medinans who helped Muhammad and his entourage (muhajirun or migrants) following their escape from Mecca to Medina. This elevates public and private efforts to accommodate Syrian refugees from a humanitarian responsibility to a religious duty, and further legitimates the AKP’s policies by framing dissidents and skeptics as failing to adhere to proper Muslim conduct.

Caught in the crossfire of government propaganda and opposition polemic, Syrian refugees live under precarious conditions. Unable to regularize their migration status through permanent residence or work permits, they have to depend on the discre­ tion of the Turkish government as well as the hospitality and tolerance of society. In practice, such a marginal existence often ends up transla­ ting into panhandling, homelessness, exploitation, child labor, forced marriage, and even the sale of individuals into indentured servitude or slavery.

»AKP is aware that the electorate might view the crisis as a result of a misguided Syria policy.«

Syrians also have to cope with a public opinion that is gradually but surely turning against them as their numbers swell. Although none of the poli­ tical parties represented in the Turkish Parliament advocates an anti-immigrant platform, polls show Turkish citizens increasingly concerned about economic competition and crime resulting from Syrian refugees. Eighty-five percent of the public is against granting citizenship to displaced Syrians, so there is little hope for Syrians to settle for good in Turkey. This precarious existence is one of the key factors leading to the Syrian exodus from Turkey to the EU and beyond.

The AKP’s framing of the Syrian refugee crisis through the lens of Islam has the added benefit of promoting the party’s religious worldview at home and abroad. The conceptualization of all Turkish citizens as ansar and all Syrian refugees as muhajirun reinforces the AKP’s majoritarian and sectarian ideology at home. Furthermore, the juxtaposition of the benevolence and generosity of Muslim Turks versus the indifference and the callousness of the Judeo-Christian West adds fuel to the AKP’s clash-of-civilizations ethos. Ironically, the more the AKP leadership complains over the lack of Western cooperation with Turkey on Syrian refugees, the further it manages to estrange the Turkish public from what they portray as an insensitive Europe and America.

Using the refugee crisis as leverage against the EU Amid brewing tension in Turkey, AKP leaders are aware that their European counterparts are in a much more pressing situation compared to themselves. For the Turkish government, the rise of populist parties running on anti-immigrant and anti-Islam platforms across Europe presents Turkey a unique opportunity in its dealings with the EU. The AKP, which won a four-year single-party mandate through its landslide victory in November 2015, knows that none of its Euro­ pean counterparts enjoy the same wide mandate. Ankara believes European politicians need a game-changer in migration policy to survive the next round of elections against anti-immigrant parties. Turkey has long-standing grievances against the EU over its stalled accession process,

Public opinion towards refugees and government The AKP leadership is acutely aware that the Turkish electorate might view the ongoing influx and plight of Syrian refugees as a result of its ill-conceived and misguided Syria policy. To the Turkish opposition, the displacement and suffering of Syrian refugees have become a symbol of the political and human costs of the AKP’s failed regional policies – policies characterized

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to expect it to succeed single-handedly where the 28 EU member states have failed. Syrian refugees, who have so far outsmarted the EU’s measures to restrict and regulate migratory flows, will likely also find ways of outsmarting Turkey’s attempts to stop them. As the European Council President Donald Tusk stated during the November summit, “the EU cannot outsource the obligation to protect the Union’s external borders to a third country,” especially in return for ignoring Turkey’s crackdown on minorities (particularly the Kurds), opposition businesses and independent media in violation of the Copenhagen criteria.

and skillfully used the Syrian refugee crisis as leverage against the EU to re-energize its membership talks. At the EU-Turkey Summit of November 29, 2015, Turkey demanded and received promises for the opening of a few new chapters, boosting of financial assistance, and a timetable for visa-free travel. In return, Turkey committed to tightening border controls to slow down refugee flows heading through Turkey to EU countries. The EU’s failure to engage Turkey constructively over the last decade and its inability to use the prospect of accession as leverage to strengthen rule of law in Turkey have undermined Brussels’s moral high ground in the latest round of negotiations.

Ultimately, the most effective and sustainable strategy to prevent mass displacement is preventing authoritarian regimes from carrying out atrocities toward their own citizens. A Turkey that descends further into authoritarianism under the AKP’s majoritarian rule is a candidate not for reducing the magnitude of the refugee crisis but for magnifying it further, and returning to scenes from the 1980s and 90s of masses of Turkish political refugees streaming into Europe.

Despite Turkey’s self-righteous rhetoric on the Syrian refugee crisis, its ongoing negotiation with the EU has less to do with migrants than with political gains on the domestic and international front. Erdoğan is acutely aware of the desperation of the European leaders and their willingness to pursue transactional relations at the expense of values-based policies. EU compromising over its own core values

The policy of appeasing Turkey with the hope of transforming it into an effective border guard will not turn Europe into an impregnable fortress – as some in the EU hope – but will rather turn Turkey into a mass prison. The protection of European values and the security of the Union necessitate an unyielding commitment to democracy, rule of law and human rights in Europe and beyond. Millions of Turkish citizens who struggle against illiberalism and authoritarianism have time and again shown their unyielding allegiance to these values and expect genuine commitment and cooperation from their European brethren. An authoritarian Turkey drifting away from European values and democratic governance cannot be an effective partner for the EU’s efforts to deal with the Syrian refugee crisis.

Despite all the constraints at the national and supranational level, the EU should continue to express to Turkey that the Union is first and foremost joined together by values. Unfortunately, the November 2015 summit – in which the EU sought to appease Turkey by fulfilling its list of demands while turning a blind eye to its democratic deficit – has sent the opposite message by showing Turkey the extent to which refugees can be used as leverage against the EU. Although Ankara has demonstrated its ability to slow down refugee flows through its extraordinary crackdown on traffickers and refugees in the run up to the November summit, it is unrealistic

Aykan Erdemir is a former member of the Turkish parliament and a nonresident senior fellow at Foundation for Defense of Democracies in Washington. He currently teaches at Bilkent University in Ankara.

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Mouhanad Khorchide

Der aufgekl채rte Islam Der Islam im Einklang mit dem Grundgesetz

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Ein aufgeklärter Islam als Beitrag für die freiheitlich-demokratische Grundordnung

Säkularität als Trennung von Kirche und Staat

Ein aufgeklärtes Islamverständnis, das sowohl Gott als auch dem Menschen gerecht werden will, muss Gott und auch den Menschen ernst nehmen. Gott ernst zu nehmen heißt, sich vertrauensvoll in die Hände Gottes fallen zu lassen und sich auf die Suche nach seiner Nähe zu begeben. Damit diese Suche aufrichtig ist, muss sie frei sein: frei von allen dogmatischen Hindernissen und frei von ideologischer Verblendung. Der Mensch ist Gott wichtig, und deshalb muss dieser Mensch im Zentrum einer aufgeklärten islamischen Theologie stehen. Diese Theologie muss das Ziel haben, dem Menschen einen Zugang zu Gott zu verschaffen. Sie kann dies nicht, wenn sie dem Menschen lediglich einen Katalog an Geboten und Verboten präsentiert und ihm das Bild eines repressiven Gottes vermittelt.

Gerade in der arabischen Welt wird Säkularität nicht lediglich als Trennung von Kirche und Staat verstanden, sondern im Sinne des französischen Modells der laïcité als radikal betriebene Säkularität und daher von der Überzeugung geleitet, dass nur eine nachreligiöse Denkweise zukunftsweisend sei, dass religiöse Praktiken und Denkweisen vormodern seien.2

»In einem säkularen Staat wird niemand zu einem Glauben gezwungen.« Die Konsequenz daraus ist eine Abwehrhaltung bei vielen, vor allem arabischen Muslimen gegenüber dem Begriff „Säkularität“. Die Säkularität, wie sie in Westeuropa verstanden und praktiziert wird, bedeutet, dass es keine Staatsreligion geben darf. Diese Form der Säkularität will sowohl den Staat vor religiösen Machtansprüchen als auch Religionen vor politischer Instrumentalisierung schützen und ist daher als Basis für die religiöse Neutralität des Staates zu verstehen.

»Problem heute ist, dass viele Muslime von der Vorstellung eines repressiven Gottes ausgehen.« Das grundsätzliche Problem heute ist meines Erachtens, dass viele Muslime von der Vorstellung eines repressiven Gottes ausgehen, der lediglich will, dass man ihm gehorcht, um dadurch verherrlicht zu werden. Diese Vorstellung wurde und wird von diktatorischen Regimen in vielen islamischen Ländern gefördert, weil sie ein Klima der Unterwerfung erzeugt und fördert. Eine Theologie, die Menschen zu unmündigen Wesen erklärt, ist im Sinne diktatorischer Regime.

In einem säkularen Staat wird niemand zu einem Glauben gezwungen. Gleichzeitig wird die religiöse Gemeinde vor staatlichen Eingriffen geschützt und der Staat verzichtet auf die Favorisierung einer spezifischen religiösen oder säkularen Weltsicht.3 Freiheit, Gleichheit und Solidarität Drei zentrale Werte der Französischen Revolution sind für ein friedliches und konstruktives Zusammenleben unentbehrlich: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Josef Freise interpretiert sie für uns heute als Verbundenheit, Solidarität und „compassion“.4

Nicht verhandelbare Werte der freiheitlichdemokratischen Grundordnung Gerade moderne plurale Gesellschaften benötigen ein hohes Maß an Partizipation und Teilhabe ihrer Bürgerinnen und Bürger, wenn sie funktionieren sollen. Gerade demokratische Staaten sind stärker auf eine eigene politische Identität angewiesen als despotisch oder autoritär regierte Gesellschaften.1 Was hält aber unsere deutsche Gesellschaft zusammen? Gibt es eine Wertebasis Deutschlands, die auch für Zugewanderte gilt?

Auch wenn diese Werte zumeist als säkulare und „religionsfreie“ Werte verstanden werden, muss jeder diese mit der eigenen religiösen oder nichtreligiösen Tradition verbinden. Werte müssen zur gelebten Lebenswirklichkeit werden, damit sie keine leeren Parolen bleiben.

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Wie steht der Islam zu demokratischen Grundwerten?

sie lieben ihn“ (Koran 5:54) und Barmherzigkeit (Koran 7:156) durch sein Handeln und durch seinen Charakter bezeugt und so zu einer erfahrbaren Wirklichkeit hier und jetzt auf der Erde macht. Darin liegt Religiosität und darin verwirklicht sich Gottes Dienst als Dienst an seiner Schöpfung.

Gerade durch die Zuwanderung vieler Muslime in den letzten 60 Jahren – im Zuge der Arbeitermigration nach Deutschland und aktuell durch das Ankommen vieler Flüchtlinge muslimischen Glaubens – wurde und wird Deutschland auch religiös und weltanschaulich immer pluraler. Inzwischen sind Muslime zu einer bedeutenden religiösen Minderheit in Deutschland geworden. Deshalb ist es notwendig, sich die Frage nach der Vereinbarkeit demokratischer Grundwerte mit dem Islam zu stellen.

Nur ein inklusivistisches Islamverständnis, das Nichtmuslime als gleichberechtigte und gleichwürdige Menschen ansieht, bietet eine Grundlage für eine Begegnung in Respekt und Achtung vor dem anderen. Im Exklusivismus liegt sogar eine Grundlage für Gewalt und ist daher abzulehnen. Nach islamischem Verständnis ist Gott die Wahrheit, dadurch ist die Wahrheit absolut und für niemanden verfügbar.

»Der Koran kann nur im Diskurs verstanden werden.«

Gläubige können daher nicht über die Wahrheit verfügen, niemand kann über Gott verfügen, sie sind vielmehr nach der Wahrheit Suchende. Man kann sich der Wahrheit annähern, sie aber nie besitzen. Dass Gott die Wahrheit ist, soll gerade die Wahrheit vor Vereinnahmung durch den Menschen schützen und den Menschen zur Bescheidenheit aufrufen, ein Suchender zu bleiben, der die Wahrheit mit dem Wissen anstrebt, sich ihr annähern, sie aber nie besitzen zu können. Wahrheiten von oben aufzuzwingen, widerspricht dem Geist eines humanistischen Islams, der den Menschen zum freien Menschen macht.

Der Islam kennt keine Kirche oder eine ähnliche Institution, die eine für alle Muslime verbindliche Auslegung darlegt. Das heißt, es gibt unterschiedliche Lesarten und Interpretationen des Islams. Es kommt also darauf an, für welche Lesart des Islams sich Muslime hier in Europa bzw. in Deutschland stark einbringen, welches Verständnis sich im Diskurs durchsetzt. Der Islam, wie ich ihn verstehe und lehre, sieht sich keineswegs als Gesetzesreligion, die ein juristisches Schema darstellen soll, das möglichst alle Lebensbereiche erfassen soll, sondern als eine ethische und spirituelle Religion. Dazu bedarf es allerdings, den Koran in seinem historischen Kontext des siebten Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel zu verorten und entsprechend zu lesen. Der Koran wurde diskursiv verkündet und kann daher auch nur im Diskurs verstanden werden. Das heißt, ohne den historischen Kontext der Verkündung des Korans kann der Koran nur missverstanden werden.

Um in einen fruchtbaren Dialog mit unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen zu kommen, muss von allen Seiten auf Totalitätsansprüche verzichtet werden. Das bedeutet keineswegs, dass man seine eigene Wahrheit, von der man ausgeht, relativiert. Sie ist für den einen die eigene Wahrheit und zeichnet den eigenen Weg. Insgesamt betrachtet ist sie aber ein Weg unter vielen anderen. Die Geschichte zeigt, wie totalitäre Wahrheitsansprüche zum Missbrauch von Religionen für Machtansprüche, die nicht selten mit Gewalt legitimiert wurden, geführt haben. Mehr Spiritualität für Europa?

Der Islam, verstanden als Angebot, sich seinem Inneren zuzuwenden, sich selbst zu läutern und sich einer spirituellen Erfahrung zu öffnen, vermittelt den Menschen keine Gesetze und hat daher keine Machtansprüche, sondern liefert eine Grundlage für die Ableitung ethischer Prinzipien. Der Mensch wird als Statthalter bezeichnet, der Gottes Intention nach Liebe „… er liebt sie und

Wenn eingewanderte Muslime nach Europa einen Islam mitnehmen, der sich primär als Quelle von Spiritualität versteht, dann können sie einen Beitrag leisten, sich für Spiritualität als Wert, der Europa heute bereichern kann, stark einzubringen.

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»Inzwischen sind Muslime zu einer bedeutenden religiösen Minderheit in Deutschland geworden.«

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einer einzigen Gemeinschaft gemacht […] Wetteifert nun nach den guten Dingen!“ (Koran 5:48).

Spiritualität im Islam, verstanden als Hervorhebung des Göttlichen im Menschen, ist keineswegs vom gelebten Leben zu trennen, denn sie kann sich nur in der Konfrontation im Alltagsleben entfalten. Gute Eigenschaften im Menschen zu fördern und schlechte zu lenken, ist keine rein kognitive Aufgabe, sondern vielmehr eine Auseinandersetzung mit sich selbst in verschiedenen Lebenssituationen. Der Gelehrte und Mystiker Al-Ġazālī (gest. 1111) spricht vom „Schmücken des Herzens mit guten Charaktereigenschaften“ (al-Ġazālī 1979, S. 29) wie Geduld, Dankbarkeit, Liebe, Hoffnung, Gottvertrauen usw.

Der Islam, wie ich ihn verstehe, fragt nach dem Menschen, nach seiner Freiheit, nach seiner Selbstbestimmung, nach seinem Wohl, nach seiner Glückseligkeit und nach seiner Verantwortlichkeit für sich und für das Kollektiv. Aus einer islamischen Perspektive ist Gott der absolute Humanist, der einen absoluten Glauben an den Menschen und seine Souveränität hat. Für den Gläubigen selbst bedeutet dies, dass der Glaube an Gott den Glauben an den Menschen als solchen, unabhängig von seiner Weltanschauung, beinhaltet.5

»Um in einen fruchtbaren Dialog zu kommen, muss von allen Seiten auf Totalitätsansprüche verzichtet werden.«

Wir benötigen heute eine Theologie, die das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als dialogisches Freiheitsverhältnis bestimmt, in dem Gott allein mit den Mitteln der Liebe und Barmherzigkeit versucht, die Liebe des Menschen und somit Mitliebende zu gewinnen. Dies ist Ziel der Schöpfung und Fokus von Gottes Handeln. Eine aufgeklärte Theologie, die den Menschen über seine unantastbare Würde, seine Freiheit, seine Sonderstellung in der Schöpfung aufklärt, erzeugt freie Menschen, die von diktatorischen Regimen nicht erwünscht sind.

Spiritualität in diesem Sinne ist keineswegs ein speziell islamischer Wert, denn auch das Christentum sowie das Judentum streben die Erfüllung von Spiritualität und damit die Gottesgemeinschaft auch hier im Diesseits an. Empirische Daten deuten allerdings darauf hin, dass das Interesse an Spiritualität unter den nichtmuslimischen Jugendlichen in Deutschland niedriger ist als bei muslimischen Jugendlichen.

Wir möchten eine islamische Theologie etablieren und verbreiten, die Muslime nicht nur geistig und politisch befreit, sondern ihnen auch einen Zugang zu einer dialogischen Beziehung mit Gott verschafft. Der mündige Muslim – und damit sind natürlich Frauen wie Männer gemeint –, dem seine Stellung in der Schöpfung und seine Erwählung durch Gott bewusst ist, weiß, dass seine Beziehung zu Gott sicher nicht auf Angst basieren kann. Der mündige Muslim, dem bewusst ist, dass Gott seine Nähe sucht und ihn zu seiner Gemeinschaft einlädt, ist bestrebt, sich in seinem Menschsein zu vervollkommnen. Ihm geht es nicht um eine opportunistische Haltung, die lediglich darauf zielt, die eigene Haut vor dem Höllenfeuer zu retten bzw. sich im Paradies auf materielle Weise zu vergnügen.

Die Betonung des Stellenwerts von Spiritualität im Islam kann einen Beitrag dafür leisten, dass Europa spiritueller wird. Während die Arbeitermigration der 60er und 70er Jahre hauptsächlich aus bildungsfernen Schichten kam, gehören die aktuellen Flüchtlinge aus Syrien eher zur Mittelschicht mit einem entsprechenden reflektierten Zugang zu ihrem Glauben. Man geht davon aus, dass sie durch den Terror des IS auf Distanz zu ideologischen und extremistischen Deutungen des Islams gehen und daher viel empfänglicher für einen spirituellen aufgeklärten Islam sind, mit dem sie auch Europa bereichern können. Das soll keineswegs so missverstanden werden, dass Europa spirituell homogen werden soll, denn jede Konfession hat ihren eigenen Weg zu Spiritualität. Diese Vielfalt der Angebote zur Erfüllung spiritueller Bedürfnisse soll geschützt werden, denn Vielfalt ist nach dem Koran gottgewollt: „Und wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu

Der Koran gibt ein klares Bild von Gott und der Beziehung, die er sich zum Menschen wünscht. Die koranische Vorstellung vom allbarmherzigen Gott ist Ausgangspunkt einer aufgeklärten Theologie, die sowohl Gott als auch dem Menschen gerecht werden will.

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»Die koranische Vorstellung vom allbarmherzigen Gott ist Ausgangspunkt einer aufgeklärten Theologie.« Mouhanad Khorchide, geboren 1971 in Beirut ist ein österreichischer Soziologe, Islamwissenschaftler und Religionspädagoge. Seit 2010 ist er als Professor für islamische Religionspädagogik am Centrum für Religiöse Studien (CRS) an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster tätig.

1 Vgl. Taylor, Charles: Für einen neuen Säkularismus, in: Transit 39, Sommer 2010. Europäische Revue: S. 16. 2 Vgl. Freise, Josef in: ders./Khorchide, Mouhanad (Hrsg.): Werte­dialog der Religionen, Freiburg i. B. 2014: S. 115ff. 3 Vgl. Koenig, Matthias: Recht auf Religionsfreiheit – ein neuzeitliches Differenzierungsmuster und seine Entstehung, in: Gabriel, Karl/Gärtner, Christel/Pollak, Detlev (Hrsg.) 2012: Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012: S. 296. 4 Vgl. Freise, Josef in: ders./Khorchide, Mouhanad (Hrsg.): Werte­dialog der Religionen, Freiburg i. B. 2014: S. 115ff. 5 Vgl. Khorchide, Mouhanad: Gott glaubt an den Menschen. Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus, Freiburg i. B. 2015.

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Ingbert Liebing

Von Fl端chtlingen zu Mitb端rgern? Gewaltige Herausforderung: Fl端chtlinge und Asylbewerber aufnehmen und integrieren

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Erstaufnahmeeinrichtungen und Drehkreuze wurden errichtet, Versorgung und Betreuung der Menschen wurden organisiert. Das war und ist keine leichte Aufgabe.

Menschen haben in Deutschland hervorragende Möglichkeiten, ein Leben in Freiheit und Wohlstand zu führen. Unser Modell der Leistungsgesellschaft, verbunden mit sozialem Ausgleich und öffentlicher Fürsorge, einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft, ist erfolgreich und zieht Menschen aus Europa und aller Welt an. Ja, in einer kommunikativ kleiner gewordenen Welt spricht es sich herum, wie gut es in unserem Land ist.

Viele der Menschen, die derzeit aus den Kriegsgebieten nach Deutschland kommen, werden dauer­haft bei uns bleiben. Wir müssen alles daran setzen, ihre Verfahren wirklich zu beschleunigen, um nicht nur für die Betroffenen sondern auch für die Kommunen Klarheit zu haben, wer wo bleibt.

»Viele der Menschen werden dauerhaft bei uns bleiben.«

Klar ist, wer bei uns lebt, muss unsere Regeln, Werte und Normen respektieren, beachten und selber mit Leben erfüllen. Es kann uns nicht gleichgültig sein, aus welchem Kulturkreis und mit welcher politischen oder ethisch-moralischen Sozialisation jemand zu uns kommt. Wer in Deutschland leben will, muss sich in unser freiheitliches, weltoffenes und tolerantes Land einfügen. Blinden Machismo, Irrationalität und Intoleranz dürfen wir eben nicht tolerieren. Wenn wir nicht deutlicher beschreiben, wohin integriert werden soll, ist es doch kein Wunder, dass unsere Gesellschaft auseinanderdriftet. Trauen wir uns noch, Leistung anzumahnen? Trauen wir uns noch, unsere Werte und Normen klar zu formulieren? Bereits bestehende Parallelgesellschaften müssen wir besser identifizieren und ihnen aktiver begegnen. Aus falsch verstandener Toleranz, aus Ignoranz, dürfen wir die Menschen, die jetzt zu uns kommen, auch nicht im Stich lassen.

Sozialstaat, Soziale Marktwirtschaft, stabile funktionierende kommunale Strukturen, Wohlstand sind für uns eine Selbstverständlichkeit. Für viele Millionen Menschen in der Welt ist dies noch lange nicht erreichbar. Über 60 Millionen Menschen sind wohl weltweit auf der Flucht, in Syrien nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) allein 7,6 Millionen Menschen und aus Syrien über vier Millionen Männer, Frauen und Kinder, die sich auf den Weg gemacht haben. Seit Jahren harren beispielsweise in Flüchtlingslagern in der Türkei mehr als 1,8 Millionen Menschen aus (630.000 in Jordanien, 1,2 Millionen im Libanon). Was passiert dort? Es heißt, die persönlichen Reserven der Flüchtlinge sind aufgebraucht, die internationale Gemeinschaft kommt mit den Hilfen nicht hinterher.

Es ist wichtig, zwischen den Menschen zu unterscheiden, die sich auf Artikel 16a Grundgesetz, im weitesten Sinne unser Asylrecht, berufen, und denjenigen, die wir zusätzlich aufgrund humanitärer Überlegungen aus Bürgerkriegsgebieten aufnehmen. Für den Großteil der Flüchtlinge käme eigentlich gar kein Asylrecht in Betracht und deshalb müssen wir deutlich unterscheiden und gegebenenfalls die Anwendung geltenden Rechts anpassen.

Deutschland hat im vergangenen Jahr mehr als eine Million Menschen als Asylbewerber oder Flüchtlinge aufgenommen. Diese weiter wachsende Zahl ist eine riesige Herausforderung für die Kommunen und alle Hilfskräfte und ehrenamtlichen Helfer. Jeder Flüchtling oder Asylbewerber, der nach Deutschland kommt, muss würdig, sicher und anständig aufgenommen und untergebracht werden. Den Menschen, die einen Anspruch auf Aufnahme bei uns haben, müssen und wollen wir helfen. Hier leisten die Menschen vor Ort bei der Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge hervorragende Arbeit.

Die allermeisten Flüchtlinge nehmen wir aus humanitären Gründen auf, nicht weil es einen individuellen Rechtsanspruch gäbe. Sie waren in Sicherheit oder haben sich zwischenzeitlich in einem sicheren Drittstaat befunden. Wir gewähren eigentlich einen subsidiären Schutz. Da wäre das richtige Signal und die richtige Handlung: Aufnahme aus humanitären Gründen, zeitlich befristet, mit grundsätzlicher Residenzpflicht und ohne generellem Familiennachzug.

In den Gemeinden, Städten und Landkreisen wurden zigtausend Notunterkünfte bereitgestellt,

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und Jobcenter anzupassen und die Sozialdienste vorzuhalten, darf das eine zukunftsfähige Investition werden.

Wir wissen derzeit eigentlich nicht, ob diejenigen, die heute zu uns kommen, auch morgen bei uns bleiben wollen. Wir müssen auch unsere eigenen Interessen klären. Dürfen wir uns die Frage nach Nutzen und Bereicherung durch Zuwanderung gestatten?

Das gilt auch für den Wohnungsbau: Unterstützung des Bundes beim Neubau von Wohnungen und bei der Ausweitung des Bestandes an Sozialwohnungen durch die schnelle, unbürokratische und verbilligte Bereitstellung weiterer Immobilen und Liegenschaften des Bundes sowie die Aufstockung der Bundesmittel zur Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus sind richtig. Die Bundesländer sind aufgefordert, alle Mittel vollständig zweckbestimmt einzusetzen, die der Bund für sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt hat.

»Die erworbenen Qualifikationen dienen nach Rückkehr dem Wiederaufbau.«

Ich bin fest davon überzeugt, dass in kleineren überschaubaren Einheiten, Gemeinden und Städten im ländlichen Raum, echte Chancen für gelingende Integration bestehen. Allerdings ohne eine grundsätzliche Residenzpflicht kommt erst noch der Zustrom in die Ballungszentren. Wir müssen zusätzliche Wanderungsbewegungen in die Großstädte und Ballungsräume verhindern und eine gleichmäßige Verteilung in Deutschland gewährleisten. Angespannte Wohnungsmärkte, bestehende Integrationsdefizite, soziale Schief­ lagen in vielen Großstädten würden verschärft und der Zusammenhalt vor Ort gefährdet.

Wenn aber davon auszugehen ist, dass viele Menschen gar nicht bei uns bleiben und wieder in ihre Heimat zurückkehren wollen, dann bedeutet das andere Antworten auf ein Integrationserfordernis. Wir müssen sie für den Wiederaufbau ihrer Heimat qualifizieren. Integrationsleistungen mit Ausbildung, Qualifizierung und Vermittlung unserer Werte ist auch dann sinnvoll, wenn die Flüchtlinge sich nur für einige Jahre bei uns aufhalten. Die bei uns erworbenen Qualifikationen dienen nach Rückkehr in die Heimat dem dortigen Wiederaufbau. Kinder müssen dann auch ihre Heimatsprache richtig erlernen, Jugendliche und junge Erwachsene schnell einen Beruf erlernen, andere qualifiziert und weitergebildet werden.

Die zahlreichen ehrenamtlichen Initiativen, die sich jetzt spontan gebildet haben, um den Flüchtlingen zu helfen, gilt es, als langfristige Partner für die Integration vor Ort, im Stadtteil oder in der Nachbarschaft zu gewinnen. Und: Wir müssen immer wieder deutliche Zeichen setzen, dass jede Form der Fremdenfeindlichkeit und Hetze konsequent und mit aller Härte bestraft wird.

Ich habe vorgeschlagen, in Kooperation mit der Wirtschaft Programme zur Bildung und Weiterbildung speziell für Flüchtlinge zu erarbeiten, um sie für den Wiederaufbau in den Heimatländern oder die langfristige Integration in den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Dazu könnten auch spezielle Berufsschulen und Jugendaufbauwerke errichtet werden, um schnell mit beruflicher Bildung in der Heimatsprache beginnen zu können und parallel den Deutsch-Spracherwerb zu forcieren. Gut qualifizierten und integrierten Flüchtlingen müssen wir aber auch zusätzliche Perspektiven in Deutschland eröffnen.

Also, vor Ort werden große Anstrengungen unternommen, die Menschen in Not, die zu uns kommen und bleiben dürfen, mit ausreichendem Wohnraum, Bildungs- und Integrationsangeboten zu versorgen. Deshalb begrüße ich, dass mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz für den Bund, die Länder und die Kommunen die Möglichkeit geschaffen worden ist, von Regelungen etwa im Vergabe-, Bau- und Energieeinsparrecht abzuweichen. Hier eröffnen sich weitere große Chancen, zumindest befristet, zu einer neuen Bewertung von Standards in Deutschland zu kommen. Und was sich in der Krise bewährt hat, kann später dann auch Bestand haben.

Wenn Kommunen angesichts der derzeitigen Zuteilung von Flüchtlingen sich darum kümmern, zusätzlich Kinder in Kitas und Schulen unterzubringen, mit Hilfe der Volkshochschulen und freien und privaten Träger Sprachförderung und Integrationskurse anzubieten, die Ausländerämter

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ÂťWenn wir nicht deutlicher beschreiben, wohin integriert werden soll, ist es doch kein Wunder, dass unsere Gesellschaft auseinanderdriftet.ÂŤ

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»Der Familiennachzug muss ausgesetzt werden – und später im Einzelfall entschieden werden.« Ingbert Liebing ist seit 1979 Mitglied der CDU, Bundestagsabgeordneter und Landesvorsitzender der CDU Schleswig-Holstein. Als Bundesvorsitzender steht er der Kommunalpolitischen Vereinigung (KPV) von CDU und CSU vor.

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gestiegen und eine rasche Entscheidung schon aus praktischen Gründen in vielen Fällen nicht möglich. Deshalb ist es richtig, bei denjenigen, die keine Flüchtlingsanerkennung erhalten und nur subsidiär geschützt sind, die Spielräume des internationalen Rechts nutzen und den Familiennachzug für eine Dauer von zwei Jahren aussetzen.

Wir müssen uns darum kümmern, dass die Menschen, die zu uns gekommen sind, nicht monatelang und gar jahrelang ohne sinnvolle Betätigung in irgendwelchen Einrichtungen oder in ihren Wohnungen sitzen. Schon aus präventiven Gründen müssen wir dafür sorgen, dass gerade junge Männer einer geregelten Arbeit nachgehen. Langsam wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die Integration in den ersten Arbeitsmarkt nicht so einfach gelingen wird.

Der Bund wird sich dauerhaft, strukturell und dynamisch an den Kosten der Flüchtlingsaufnahme beteiligen. In jedem Falle müssen alle Länder im Rahmen strengster Konnexität die entstehenden Kosten den Kommunen vollständig erstatten. Dies muss auch für die Aufwendungen der Kommunen gelten, die im Rahmen der Integration notwendig sind.

»Junge Männer müssen einer geregelten Arbeit nachgehen.«

Fazit: Ob die gewaltige Herausforderung gelingt, die große Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen und diejenigen, die längerfristig bei uns bleiben werden, zu integrieren, entscheidet sich vor Ort in den Gemeinden, Städten und Landkreisen. Darin zeigt sich einmal mehr der Wert kommunaler Selbstverwaltung: Die verantwortlichen Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker leisten zurzeit eine großartige Arbeit, um die Aufgabe zu stemmen. Sie verdienen dafür die Unterstützung des Bundes und insbesondere der jeweiligen Landesregierung. Sie dürfen nicht im Stich gelassen werden.

Deshalb ist es richtig, die Hilfsbereitschaft vor Ort und das vorhandene Engagement durch die Einrichtung von zusätzlichen 10.000 Stellen im Freiwilligendienst des Bundes zu unterstützen und zu verstetigen. Hier können auch Asylberechtigte und aufgenommene Flüchtlinge sinnvolle Aufgaben übernehmen. Wenn die Aufnahme einer regulären Beschäftigung nicht gelingt, müssen kurzfristig Möglichkeiten einer sinnvollen gemeinnützigen Beschäftigung eröffnet werden. Dies kann beispielsweise bei gemeinnützigen Organisationen, kommunalen Einrichtungen oder Unternehmen sowie Wohnungsbaugesellschaften erfolgen. Tätigkeiten im Rahmen von öffentlicher Beschäftigung müssen gemeinwohlorientiert, wettbewerbsneutral, möglichst wohnungsnah sein und im öffentlichen Interesse liegen.

Wir müssen aber auch feststellen, dass Leistungs­ fähigkeit und Akzeptanz vor Ort bei weiter un­ gebremstem und ungesteuertem Zuzug an ihre Grenzen stoßen. Deshalb ist es notwendig, die Zuwanderung zu ordnen, zu steuern und die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Nur so können wir uns besser um die­jenigen kümmern, die einen Anspruch haben, bei uns bleiben. Nur mit einer deutlichen Reduzierung des Flüchtlings­­­­stroms erhalten wir die Perspektive für die Arbeit und Hilfe vor Ort und das Gelingen der anstehenden Integration.

Der Familiennachzug muss ausgesetzt – und später im Einzelfall entschieden werden. Die hohe Zahl von Flüchtlingen stellt alle Beteiligten vor große Probleme beim Familiennachzug. Schon jetzt ist die Bearbeitungszeit für Anträge enorm

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Merve G端l

Die stummen Heldinnen Gastarbeiterfrauen als Integrationsfaktor

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Komm mit, ich nehme Dich mit auf eine Reise in meine Kindheit! Eine Kindheit, die repräsentativ für Millionen andere Kinder von Einwanderern in diesem Land ist. Eine Reise, die zwar in der Vergangenheit liegt, in der Gegenwart lebt und die Zukunft prägt. Eine Reise in die Vergangenheit, die aktuell notwendiger denn je für Gegenwart und Zukunft ist. Eine Reise, liebes Deutschland, die Dir zeigt, dass die hilfreichen Wegweiser auf diesem Weg Mütter waren. Mütter, die Deine Bevölkerung empören, wenn sie Schleier tragen. Mütter, die nach 60 Jahren Einwanderung trotzdem nur gebrochen deutsch sprechen. Mütter, die Deine Bevölkerung und meine Mitmenschen auf die Opferbank von patriarchalischen Systemen setzen und nicht sehen, dass sie die Heldinnen der Freiheit sind, indem sie die Freiheit ihren Kindern als Proviant auf diese Reise mitgeben.

Und die Frage auf jeder Veranstaltung, mit der wir „Bildungsaufsteiger“, „Vorzeigemigranten“ oder „gelungene Integrationsbeispiele“ konfrontiert werden, lautet: „Wie haben Sie es geschafft?“

Aber bevor es doch poetischer wird, möchte ich es gerne faktisch machen: mein Name ist Merve Gül, 23 Jahre jung, geboren und aufgewachsen in Stuttgart, Unternehmensjuristin, Studentin der Rechtswissenschaften an der Elite-Uni Mannheim. Das Bundespräsidialamt meint auch, ich sei eine Bürgerin, die sich um das Gemeinwohl verdient gemacht hätte. Mein Name ist ersetzbar. Ersetzbar durch sämtliche Namen, die aus dem Orient, Russland, Asien oder aus Süd- oder Osteuropa kommen könnten. Denn auch, wenn man mir jahrelang nicht geglaubt hat: ich bin kein Einzelfall. Ich bin keine Ausnahme. Ich bin die Regel. Wir sind die Regel.

Die Gastarbeiterfrauen der mindestens ersten beiden Generationen haben die klassische Geschlechterrolle und sind mit Haushalt und Kindern beschäftigt. Aber auch unter ihnen gibt es einige, die Vollzeit arbeiten und den wirtschaftlichen Zweck der Einwanderung nach Deutschland erfüllen wollen. Dann werden Kinder bei der ersten Generation – den Großeltern – groß.

Die Antwort ist ganz simpel, bedarf aber scheinbar leider einer Erklärung: Durch Erziehung und das damit verbundene Interesse der Eltern an der Entwicklung ihres Kindes. Durch die Liebe zum Kind, die die Ursache für dieses Interesse ist. Erziehung, Interesse und Liebe, die sowohl eine „Vanessa“ als auch ich genießen dürfen.

»Frauen sind der Schlüssel einer erfolgreichen Integration.«

Die Grundthese lautet deshalb: Frauen sind der Schlüssel einer erfolgreichen Integration, weil sie viel Zeit mit ihren Kindern verbringen können. Ein weiterer Faktor sind die Angebote seitens des Staates und der Gesellschaft. Ich denke hier primär an die Schulpflicht und Freizeitmöglichkeiten in unserem Land. Denn Mutter und Kind gehen in diesem Rahmen den Integrationsprozess Hand in Hand durch, sofern sie die Angebote annehmen müssen und wollen.

Während wir von Gesellschaft und Politik in den Himmel gelobt werden und während die Wissenschaft nach Ursachen für unsere Erfolge sucht, werden die eigentlichen Helden vergessen und applaudieren in den hinteren Reihen mit bescheidener Haltung am lautesten für uns: unsere Mütter.

Ich bin keine große Befürworterin des Betreuungsgeldes, denn es hätte mir womöglich die schönste Zeit meines Lebens – nämlich die im katholischen Kindergarten – geraubt. Durch meinen Kindergartenbesuch hat meine Mutter mit mir gemeinsam gelernt, was Ostern, Weihnachten, Nikolaus und St. Martin sind. Durch die Nachmittagskaffees und das gemeinsame Mutter-Kind-Basteln, das ich furchtbar geliebt habe, kam meine Mutter mitten in die deutsche Gesellschaft, saß mit anderen deutschen Müttern zusammen und bastelte zum ersten Mal in ihrem Leben. Nicht nur ich half meiner Mutter, sondern auch die anderen Mütter am Tisch.

Meine Mutter – Putzfrau, seit knapp 25 Jahren in Deutschland und mein größtes Vorbild. Ich enttäusche meine Mitmenschen ungern, aber meine Eltern kommen weder aus einer elitären Schicht aus der Türkei, noch sprechen sie perfekt Deutsch, zu Hause wird immer türkisch gesprochen und sie sind konservativ. Im Volksmund aufgrund ihrer Sprachunfähigkeiten auch „Integrationsverweigerer“ genannt. Für mich persönlich die größten und besten Eltern des Universums!

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sie mir, dass sich Kinder auf der ganzen Welt immer irgendwie verständigen können. Kinder könnten schnell lernen und ich würde sehr schnell die Sprache lernen können. Und außerdem würde ich doch die kleinen Basics bereits beherrschen. Und so ging ich voller Freude an einem heißen Sommernachmittag in meinem knallpinken Badeanzug mit einem riesigen Eis darauf abgebildet zu meiner Schnupperstunde. In den ersten Minuten versammelten sich ganz viele Kinder um mich herum und meine erste Kindergartenfreundin hieß Jeanette.

Gleichzeitig war meine Mutter aufgrund unseres muslimischen Glaubens dazu verpflichtet, Erzieherinnen und anderen Müttern zu erklären, was ich essen darf und was nicht. Beim gemeinsamen Kochen und auf Kindergeburtstagen wurde immer auf eine liebevolle Art und Weise Rücksicht auf mich genommen. Danke an alle Mamis der anderen Kinder und an meine Kindergarten­ erzieherinnen – ihr wart echt der Wahnsinn! Zu Hause in unseren vier Wänden stattete mich meine Mutter mit dem nötigen Selbstbewusstsein, Ehrlichkeit und Mut für den Alltag in Deutschland aus. Ich habe sehr früh gelernt, dass ich in der Pflicht stehe, die Menschen um mich herum bezüglich der Kultur meiner Eltern und meiner Religion aufzuklären. Während es manche gibt, die diese Fragen als nervig, verletzend oder gar als Angriff empfinden, lernte ich in meinen jungen Jahren, dass kein Mensch alles wissen kann. So schämte ich mich auch niemals davor, Sprachfehler zu machen und im Schulunterricht nachzufragen, wenn ich etwas nicht wusste.

Mama und ich lernten und lernen immer noch Hand in Hand. Die Stadtbibliothek, die „Drei ???“, die „Fünf Freunde“ und alle möglichen Lexika lernen wir gemeinsam kennen. Meine Mutter kann mir in der Schule nie wirklich helfen, aber sie gibt mir immer das Gefühl, dass sie sich dafür interessiert. Ich bin so verliebt und vernarrt in die Schule, dass ich nicht Mittagessen möchte, bevor ich meine Hausaufgaben erledigt habe. Sie diktiert mir meine Diktate vor, alles mit türkischem Akzent. Ich kichere jedes Mal, wenn sich etwas komisch anhört und verbessere sie. Manchmal fragt sie nach, was ein Wort bedeutet. Das macht sie auch, wenn wir gemeinsam lesen bzw. ich ihr laut vorlese und sie mitliest.

»Kinder auf der ganzen Welt können sich immer irgendwie verständigen.«

Wir lernen gemeinsam und wenn wir etwas nicht wissen, dann fragen wir die Lehrerin, die Verständnis dafür hat und jedes Mal sieht, dass wir uns zumindest Mühe gegeben haben. Es gibt keine Klassenreise und kein Austausch, an dem ich nicht teilnehme, keine AG, die mich interessiert und an der ich nicht teilnehmen darf. So klatscht sich meine Mutter durch von Chorkonzerten, zu Theateraufführungen bis hin zu Zeugnisverleihungen und heute in der Zeit der Digitalisierung liked sie sich durch Blog- und Facebookposts, durch jedes Video und Statement.

Der Umgang mit anderen Kindern eröffnete uns die Welt der Freizeitaktivitäten, die man in diesem Land genießen kann, und wir lernten weitere Dinge dazu. Mit meiner besten Kindergartenfreundin ging ich bis zum Ende der Grundschule ins Kinderturnen. Die finale Entscheidung, ob ich das nun darf oder nicht, fällte meine Mutter. Mit Absprache der anderen Eltern wurden wir mal abwechselnd von meinen, mal von deren Eltern ins Turnen gefahren. Auf den Weihnachtsfeiern und Wettkämpfen klatschten meine Eltern in den ersten Reihen und waren stolz auf jedes Rad, das ich schlug und auf jeden Handstand, den ich schaffte, ohne hinzufallen. Wenn ich mal vom Balken fiel, war es meine Mutter, die mich tröstete.

Die Frau, die mein Leben schon vor meiner Geburtsstunde geprägt hat, ist allgegenwärtig. Gott sei Dank! Für mich ist sie die erste Vertrauens­ person in der Gesellschaft, in der ich lebe, ohne dass sie selbst eine hat. Während keiner aus der Gesellschaft meiner Mutter die Angst nehmen kann zu sprechen, bleibt ihr die verstärkte Praxis der deutschen Sprache aus. Heute, wo sie privat in deutschen Elitehaushalten putzt, diskutiert sie mit der Elite über die Euro-Krise, Griechenland, den Islam und die Flüchtlinge.

In Bezug auf die Sprache nahm mir meine Mutter bereits an meinem ersten Kindergartentag die Angst. Voller Freude, aber doch sehr eingeschüchtert, fragte ich sie, wie ich mich mit den anderen Kindern verständigen soll. Mit viel Liebe erklärte

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Frauen, die sich in völlig fremde Schul- und Behördensystem einarbeiten müssen. Frauen, die dafür sorgen müssen, dass ihre Kinder sich zurecht finden. Frauen, die ihren Kindern die Angst nehmen müssen. Frauen, die wir nicht zu einem Einzelfall deklarieren dürfen, sondern ihnen Mut machen, indem wir aufzeigen, dass sie der Regelfall sind. Frauen, deren Interesse wir erwecken müssen. Frauen, die vielleicht nicht immer die nötige Zeit für ein Interesse aufbringen können, wie es meine Mutter getan hat.

Vor Aufregung wechselt sie vom „Du“ ins „Sie“, vom Präsens ins Präteritum, manchmal verwechselt sie den Akkusativ und den Dativ, zwischendurch stimmen einige Artikel nicht, aber das ist völlig okay! Sie spricht und das scheinbar verständlich. Sie debattiert. Zu Hause fragt sie nach Fachbegriffen und ich platze vor Stolz!

»Es kommt zu Freundschaft durch Mut.«

Die Kanzlerin sagte einst: „Es ist nicht schlimm, wenn Sie etwas nicht wissen. Fragen Sie nach! Auch ich frage ständig nach und lerne dazu! Schlimm ist es nur, wenn sie sich nicht interessieren.“

Aber es bleibt nicht nur bei der Begegnung im Rahmen des Putzens. Plötzlich kommt es zu Vorweihnachtlichen Essen, zu türkischen Caynachmittagen und Abenden. Es kommt zu Plätzchen, Himbeertorten, Baklava und Börek. Es kommt zu Freundschaft durch Mut. In meiner Generation begegnen sich die Menschen weiterhin an Universitäten. Putzräume, Lagerhallen oder Fließbänder werden fast schon durch Bibliotheken, Konferenzräume, Labore, Vorlesungssäle, Büroräume und Chefsessel ersetzt. Sie lernen. Sie sind offener. Aber auch die Beschränkten gibt es. Wir sind allerdings in der Überzahl, ich weiß das, ich sehe das. Heute, in einer Zeit, in der tausende Menschen erneut zu uns kommen, sehe ich Veränderung. Veränderung in der Gesellschaft. Aber ich erlebe auch Déjà-vus.

Diese Frauen und Mütter haben das nötige Interesse. Wir dürfen es ihnen im Voraus nicht absprechen. Deshalb liegt es nun an uns ebenfalls ein Mindestmaß an Interesse und Offenheit aufzuzeigen, so wie sie es tun. Ich für meinen Teil habe meine Aufgabe in der Gesellschaft dann erfüllt, wenn in 20 Jahren eine junge syrische Frau für die Ausgabe in der „CIVIS mit Sonde“ ihre Lebensgeschichte stellvertretend für alle Kinder von Einwanderern schreiben kann. Ich prophezeie Dir, liebes Deutschland: das wird passieren. Denn diese Mütter sind die Regel.

Merve Gül wurde 1992 in Stuttgart geboren. Ihre Eltern stammen aus der Türkei. Sie studiert Rechtswissenschaften in Mannheim und ist Bloggerin.

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Regina GĂśrner

Herr Tur Tur und die Herausforderungen des politischen Alltags in der FlĂźchtlingskrise

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beschließt, ihr entgegenzugehen und nicht vor ihr zu fliehen. Dass die Sache gut ausgeht, weiß zwar sein Autor, nicht aber der Lokomotivführer. Lukas macht das, was er als guter Handwerker gelernt hat: Er geht den Dingen auf den Grund, vertraut auf seine Lebenserfahrung und seine Kompetenzen und nimmt seine Verantwortung an.

Als Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer sich auf dem Weg nach China in einer Wüste verirren, sehen sie mit einem Mal einen furchterregenden Riesen, der sich ihnen in den Weg stellt. Jim möchte um jeden Preis fliehen, aber der Lokomotivführer sucht das Kind zu beruhigen und geht dem Riesen entgegen. Und siehe da: Sobald sie ihm näher kommen, verliert er ein wenig an Größe. Jeder weitere Schritt lässt ihn weiter schrumpfen, bis er, als sie bei ihm ankommen, ein normales menschliches Maß erreicht hat. Herr Tur Tur, wie der Scheinreise in Michael Endes 1960 erschienenem Kinderbuch „Jim Knopf und die Wilde 13“ heißt, leidet darunter, dass Menschen sich vor ihm fürchten und ihn fliehen, obwohl er ein sehr zuvorkommender, freundlicher älterer Herr ist, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte.

Unsere Welt ist voll von Riesenherausforderungen, vor denen wir am liebsten weglaufen würden. Ob sie sich als Scheinriesen herausstellen werden, dürfen wir uns leider nicht erhoffen, aber solange wir vor ihnen davon laufen und nicht näher herangehen, um uns mit den Einzelheiten auseinanderzusetzen, werden wir keinen Modus finden, mit ihnen umzugehen. Wir haben die Augen lange genug fest zugedrückt. Dass die Flüchtlingsströme dieser Welt auf Dauer an uns vorbeirinnen könnten, war schon früher nicht wahrscheinlich, aber ein politisches Thema wurde es erst, als uns die Fernsehbilder von ertrinkenden Kindern wirklich auf den Leib rückten.

Was Ende mit dieser Fabel beschreibt, widerspricht zwar der physikalischen, nicht aber der psychologischen Erfahrung: Wir fürchten uns vor dem Fremden, vor Dingen, die wir nicht verstehen und durchschauen. Unsere erste Reaktion ist typischerweise Wegsehen und Hoffen, das Problem könne sich in Luft auflösen.

Dass sie die Vorboten einer Völkerwanderung sein könnten, die uns nicht erlaubt, auf einer „Insel der Seligen“ zu verharren, wird der deutschen Gesellschaft erst ganz allmählich klar. Immer noch hoffen viele, man könne der Lage mit „Patentlösungen“ Herr werden. Nur das erklärt die bizarre Leidenschaft, mit der viele in der Union die Obergrenze-Frage ausdiskutieren wollen – als ob damit irgendein Problem gelöst werden könnte!

»Angst ist ein schlechter Ratgeber.« Vor politischen Problemen, mit denen wir nicht rechnen und die wir nicht durchschauen, verhalten wir uns genauso. Wir wollen ein Problem nicht wahrhaben, hoffen, dass wir es irgendwie wieder loswerden, versuchen es mit angestrengtem Wegsehen und geben uns gern der Illusion hin, dass es doch irgendein einfaches Mittel geben müsse, das uns in den gewohnten Zustand der Sorglosigkeit zurückversetzt. Erst allmählich schwant uns, dass das alles nicht hilft. Die Angst, die uns dann ergreift, ist – das weiß ja auch der Volksmund – ein schlechter Ratgeber, denn sie treibt uns in die Flucht, in die Panik, in der wir die Kontrolle über die Situation ebenso verlieren wie die über uns selbst. Jeder Blick in die Timelines der sozialen Medien zeigt, dass wir uns mitten in diesem Prozess befinden. Und viele Wortführer fürchten sich zusätzlich noch ganz besonders davor, dass die Furcht steigt („Ich fürchte, die Stimmung wird demnächst umkippen…“).

Nur mühsam wird realisiert, dass auch die beliebten „St. Florians-Lösungen“ am Ende sind, die in der Vergangenheit gern praktiziert wurden, z.B. indem man die Anrainerstaaten der Krisengebiete und die Länder an den Außengrenzen der EU mit dem Thema allein gelassen hat. Die haben nämlich längst ihre eigene Milchmädchenrechnung aufgemacht: „Wenn wir auf den Problemen sitzen bleiben sollen, verhalten wir uns genauso und schieben weiter, was wir weiterschieben können.“ Es ist dieser inhärente Geburtsfehler des Dublin-Verfahrens, der jetzt allen auf die Füße fällt. Dass jetzt viele lieber klären wollen, ob die Bundesregierung rechtlich überhaupt befugt gewesen sei, dazu eine Entscheidung zu treffen, macht nur deutlich, wie schwer es fällt, von der Bearbeitung der Scheinfragen auf die der tatsächlichen Probleme überzugehen.

Lukas der Lokomotivführer macht es anders: Er sieht die Gefahr, auch er fürchtet sich, aber er

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in gleichem Maße belastet werden, kann Solidarität Wirklichkeit werden.

Aber unter dem Druck der Ereignisse wird auch möglich, was man lange Zeit nicht für möglich gehalten hat. Hier ist mancher Scheinriese in Riesengeschwindigkeit geschrumpft. Jetzt kommen Vereinbarungen zustande, die auf die Abwendung der Fluchtursachen zielen, die den Anrainerstaaten und dem UN-Flüchtlingskommissar die Mittel zur Verfügung stellen, die sie seit langem vergeblich gefordert hatten. Keine Regierung hatte sich getraut, die eigene Bevölkerung mit den Unterstützungssummen zu konfrontieren, die nötig gewesen wären, um die Eskalation der Situation zu vermeiden. Jetzt fließen die Mittel, auch wenn diejenigen europäischen Länder, die sich den Flüchtlingsströmen noch fern wähnen, bremsen und sich der solidarischen Mitverantwortung zu entziehen suchen.

Es reicht nicht, Solidarität einzufordern. Solidarität ist kein wohliges Gefühl, sondern muss jeden Tag erstritten werden. Gewerkschaften wissen, dass es lange dauern kann, bis diejenigen, die glauben, dass sie allein besser gestellt sind, auch den Preis erkennen, den der Alleingang nach sich zieht. Zur Entschlossenheit, den Prozess voranzutreiben, gehört deshalb auch die Erkenntnis, dass Solidarität nicht vom Himmel fällt, dass Abstimmungsprozeduren ihre Zeit brauchen, dass es keine Verlierer geben darf und alle ihr Gesicht wahren müssen. Es ist ein Geschenk des Himmels, dass in Deutschland mit der Großen Koalition auf Bundesebene Rahmenbedingungen gegeben sind, die Sichtweisen auch außerhalb des üblichen Wahlkampfgetümmels erlauben. Dass diejenigen, denen gleichzeitig bei Wahlauseinandersetzungen das Wasser bis zum Halse steht, weniger gelassen sind, muss man hinnehmen. Wieder einmal bestätigt sich in diesen Tagen hingegen die alte Erfahrung, dass das Vertrauen, das man in der Demokratie braucht, nicht dadurch wächst, dass man den Wählern nach dem Mund redet, sondern dass man das tut, was notwendig ist und zwar rechtzeitig. Dafür muss man Mehrheiten zusammenbringen, aber auch bereit sein, Kritik und schlechte Meinungsumfragen auszuhalten, wenn Erfolge noch nicht sichtbar werden können.

»Mancher Scheinriese ist in Riesengeschwindigkeit geschrumpft.« Niemand weiß heute, wie viele Menschen weltweit inzwischen verzweifelt genug sind, um sich auf den Weg zu machen in die Gegenden der Welt, in denen Freiheit und Reichtum blühen, auch wenn letzterer auch da nicht gerecht verteilt ist. Langfristig werden wir uns dieser Thematik stellen müssen, auch wenn das heute noch kaum jemand sehen will.

Mit irrationalen Ängsten in der Bevölkerung angemessen umzugehen, ist keine einfache Aufgabe. Man kann ihnen jedenfalls nicht dadurch entgegentreten, dass man sie einfach vom Tisch wischt. Es gilt vielmehr sehr genau zuzuhören, denn nur dann finden sich die richtigen Gegenargumente. Sträflich aber ist es, nur die Sorgen nachzuplappern. Es gilt Aufklärung zu betreiben, Verfahren zu verbessern, Menschen Sicherheit zu geben, wo das möglich ist, ihnen aber keine falschen Sicherheiten vorzuspiegeln. Das erfordert mehr politische Kompetenz, als in der Vergangenheit üblich war, und es zeigt sich auch, dass nicht alle diese Kompetenz mitbringen.

Im Augenblick tut man jedenfalls gut daran, die Flüchtlingsströme zu kanalisieren und die Probleme möglichst zu entzerren. Viele der jetzt vorgesehenen Maßnahmen dienen diesem Ziel. Dass die Bürger nachvollziehen können, was geschieht, ist dabei unabdingbar, denn jede Unklarheit lässt den „Riesen wachsen“. Für die politische Kommunikation ist das eine gewaltige Herausforderung, denn es muss an den verschiedensten Baustellen zugleich gearbeitet werden, und viele Erfolge können sich erst mittelfristig einstellen. Außenpolitisch sind Allianzen gefordert, die vielleicht eine bessere Chance haben, die Fluchtursachen einzugrenzen, auch wenn das bedeutet, mit Regierungen zu kooperieren, deren Verhalten sehr problematisch erscheint. Innerhalb Europas gilt es, das St. Florians-Prinzip endlich zu entsorgen: Nur wenn alle

Vieles Notwendige hat die Bundesregierung in den letzten Monaten in Angriff genommen. Erste Erfolge zeigen sich: Inzwischen lichtet sich das Anfangschaos, das manchen in der politischen

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»Solidarität ist kein wohliges Gefühl, sondern muss erstritten werden.«

Debatte ja offenbar auch nicht ungelegen kam. Schließlich konnten viele der Versuchung nicht widerstehen, die schwierige Situation für ganz andere politische Auseinandersetzungen zu instrumentalisieren, etwa für die Verbesserung des Finanzausgleichs zwischen den unterschiedlichen Gebietskörperschaften oder zur Wiederaufnahme schon verlorener Schlachten wie der um den Mindestlohn.

der Gesellschaft nämlich nicht einfach weg, wenn die extremistischen Flügel sich aufblähen. Die Welle der Hilfsbereitschaft, die in den letzten Wochen entstanden ist, hätte niemand so voraussagen können. Hier leisten Menschen Stück für Stück, was getan werden muss: Sie gehen auf die Flüchtlinge zu und machen mit ihnen Erfahrungen. Sie finden Wege der Unterbringung und des Rechtsbeistandes, der Gesundheitsversorgung und der Bildungsförderung, an die vorher niemand gedacht hatte. Sie entwickeln neue Wohnkonzepte und Sprachvermittlungsformen, suchen Jobs und Praktikumsplätze, gründen Chöre und Fußballmannschaften, in denen Einheimische und Fremde zusammenkommen, nehmen unbegleitete Jugendliche auf und praktizieren genau das, was andere als nicht zu bewältigende Herausforderung betrachten: Integration.

»Die schwierigste Aufgabe: die Angst vor dem Fremden bewältigen.« Die schwierigste Aufgabe aber kann keine Regierung der Welt lösen: Die natürliche Angst vor dem Fremden bewältigen – und das sind ja nicht nur die Flüchtlinge, die zu uns kommen, sondern auch die Veränderungen, die uns der Umgang mit der neuen Herausforderung aufbürdet. Ob wir vor dem „Riesen“ fliehen, oder ihm konzentriert entgegengehen, das muss sich in der Bürgergesellschaft selbst entscheiden.

Überall, wo das geschieht, reduzieren sich die Ängste und Sorgen. Die Gesellschaft zeigt, dass sie sich auf ihre Kompetenzen und Talente verlassen kann, dass unsere Ressourcen noch längst nicht im Eigennutz und Profitstreben erschöpft sind. Als Christdemokratin sehe ich das mit Stolz, denn wir haben immer auf diese Fähigkeit der Menschen gesetzt, ihre Probleme in die Hand zu nehmen und Lösungen zu finden.

Doch es gibt viele ermutigende Zeichen: Ganz anders als in der Weimarer Politik guckt die Mitte

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Nutzung von Netzwerken erlauben. Noch vor wenigen Jahren wäre das nicht möglich gewesen. Das erlaubt die Einbeziehung großer Teile der Bevölkerung – und schon deshalb wird die Integration der heutigen Flüchtlinge ganz anders laufen als das, was wir aus früheren Migrationswellen in Erinnerung haben. Es gehen einfach viel mehr Menschen auf die Fremden zu und machen Erfahrungen mit ihnen. Und entsprechend können auch viel mehr Flüchtlinge Erfahrungen mit der deutschen Bevölkerung machen – auch die kommen ja wahrscheinlich mit Ängsten und Vorurteilen.

Jetzt erweist es sich übrigens als großer Vorteil, dass Deutschland ein Land mit einer dicht gestaffelten Struktur freier Verbände ist, die ihre Erfahrung und ihr Organisationsvermögen einbringen und auch denen, die sich individuell engagieren wollen, den Rahmen für ihre Einsatzbereitschaft liefern. Sie waren meist schneller bei der Hand als bürokratische Apparate.

»Subsidiarität erweist sich als optimale Form der Aufgabenverteilung.«

Subsidiarität erweist sich hier wieder einmal als eine optimale Form der Aufgabenverteilung in Staat und Gesellschaft. Jetzt kommt es darauf an, dass der Staat sein Zusammenwirken mit den privaten Initiativen so organisiert, dass sie unterstützt und nicht entmutigt werden.

Wo sie schwach vertreten sind, tun sich derzeit auch die Kommunen schwerer. Das zeigt sich besonders deutlich in den neuen Bundesländern, wo es z.B. keine lange Tradition der freien Wohlfahrtspflege gibt. In den Regionen, die zu wenig Erfahrungen mit Fremdem/Fremden haben, muss man Kontaktmöglichkeiten vermutlich gezielt organisieren und gute Erfahrungen aus anderen Regionen können jetzt übrigens auch schon helfen, den „Scheinriesen“ auf Normalmaß zu bringen.

Ob wir Lösungen entwickeln statt unsere Sorgen zu kultivieren, ob wir unsere Kräfte bündeln statt kollektiv unserer Wut Ausdruck zu verleihen, das ist letztlich noch nicht entschieden. Aber es sind die vielen ehrenamtlichen Helfer, die zeigen, dass die Strategie von Lukas dem Lokomotivführer auch noch nach über 50 Jahren letztlich das tragfähige Konzept darstellt. Die Politik kann davon noch viel lernen.

Inzwischen sind für ehrenamtliches Engagement Kommunikations- und Organisationsformen entstanden, die schnelle Reaktionen und die

Dr. Regina Görner ist Mitglied im CDU-Bundesvorstand und war von 1999 bis 2004 Ministerin für Frauen, Arbeit, Gesundheit und Soziales im Saarland. Von September 2005 bis Oktober 2011 war sie geschäftsführendes Mitglied im Vorstand der IG Metall.

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Gemeinsam machen wir das deutsche Gesundheitssystem zu einem der besten der Welt. Erfahren Sie mehr unter www.pkv.de/luna


Jenovan Krishnan

Die Leistung z채hlt Hochschulzugang f체r Fl체chtlinge

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dafür auch etwas machen. Das war ein wesent­ licher Punkt, warum ich dem Ring Christlich-­ Demokratischer Studenten (RCDS) beigetreten bin. Im Gegensatz zu den Linken quengelt der RCDS nicht und bemängelt nur Probleme, er packt sie an und behebt sie. Er arbeitet für seine Ziele. Das imponierte mir schon zu Studienbeginn 2012.

Seit Monaten beschäftigt sich die deutsche Bevölkerung mit dem Flüchtlinsgthema. Auch mich beschäftigt das Wohl der Flüchtlinge sehr. Meine Eltern flohen Mitte der 80er Jahre vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka. Sie verließen ihr Land, ihre Familie, ihre Freunde und ihre Heimat. Sie ließen alles zurück, was ihnen bekannt war, und machten sich auf den Weg in ein neues Leben. Sie kamen nach Deutschland. Die Sprache, die Kultur und die Regeln waren ihnen fremd. Neulich fragte ich meinen Vater, ob er Angst hatte. Angst vor einer ungewissen Zukunft. Er antwortete: „Wer ständig Angst und Sorge hat, kommt nicht voran im Leben.“

»Flüchtlingen darf der Hochschulzugang nicht erleichtert werden.«

Zunächst war er in Berlin untergebracht. Dort erlebte er ein Stück deutscher Geschichte – den Berliner Mauerfall. Bis heute zeigt er mir stolz ein Stück, das er in jener Nacht aus der Mauer gepickt hat. Meine Mutter war in einem Flüchtlingsheim in Nürnberg. Dort brachte sie mich 1991 zur Welt. Kurz darauf zogen meine Eltern mit mir nach Regensburg. Dort wohnten wir im Haus eines älteren Ehepaars, Familie Weiß. Bis heute nenne ich die beiden Oma und Opa Weiß. Sie sind zwar nicht meine leiblichen Großeltern, dennoch empfinde ich sie als meine Großeltern. Oma Weiß las mir regelmäßig aus Büchern vor und sprach mit mir Deutsch. Beide unterstützten meine Eltern, wo es nur ging. Ich bin froh, dass sich auch heute viele Menschen wie meine Großeltern um Flüchtlinge kümmern. Nur mit ihrem ehrenamtlichen Engagement schaffen wir es, Flüchtlinge zu integrieren.

Inzwischen sind mehr als drei Jahre vergangen. Seit Oktober vergangenen Jahres bin ich Bundesvorsitzender des RCDS. Das Thema Flüchtlinge beschäftigt den Verband, weil es viele der Flüchtlinge an die Hochschulen ziehen wird. Vorläufige Berechnungen gehen von 50.000 allein in diesem Jahr aus. Ich freue mich darüber, dass so viele junge Menschen aus anderen Ländern an unsere Hochschulen möchten. Die Hochschulen sind ein wichtiger Ort der Integration, denn Bildung integriert Menschen in die Gesellschaft. An Hochschulen kommen verschiedenste Leute zusammen, um zu lernen und sich auszutauschen. Dabei spielt die Hautfarbe, die Religion oder die Herkunft keine Rolle. Es zählt nur die Leistung. Auf der Flucht haben viele nicht nur ihre Familien und Freunde zurückgelassen, sondern auch ihre Papiere und Zeugnisse. Zeugnisse, die ihren Bildungsstand nachweisen. Wer in Deutschland an einer Hochschule studieren will, der muss seine Qualifikation belegen. Das gilt für deutsche sowie internationale Studenten. Das muss auch für Flüchtlinge gelten.

Ein Musterschüler war ich nicht. Nach der Grundschule kam ich auf die Hauptschule. Erst später raffte ich mich auf, wechselte zum Gymnasium und machte das Abitur. Ich begann, Politikwissenschaft in Frankfurt am Main zu studieren. Während dieser Stationen hatte ich häufig Schwierigkeiten. Zum Beispiel mit der Sprache oder dem Verständnis von Texten. Meine Eltern konnten mir nicht helfen. Weder bei der Sachtextanalyse noch der Kurvendiskussion. Meine Mutter ging nach der neunten Klasse ohne Abschluss ab. Mein Vater hat nie eine Schule besucht.

Beim Thema Flüchtlinge geben sich viele Menschen betroffen und wollen helfen. Nun fordern einige, Flüchtlinge sollten erleichtert an Hochschulen studieren können. Dabei schießen sie über das Ziel hinaus. Den Flüchtlingen ist damit nicht geholfen, im Gegenteil. Eltern, Abiturienten und Studenten werden sich fragen, warum für sie der Zugang nicht erleichtert wird. So etwas schafft Unverständnis und Neid. Deshalb warne ich vor einem erleichterten Zugang von Flüchtlingen zum Studium.

Politisch Linksgerichtete würden jetzt sagen, ich sei strukturell benachteiligt gewesen. So habe ich mich zu keinem Zeitpunkt gefühlt. Auf so etwas kann man sich auch nicht ausruhen. Ich habe mich hingesetzt und für meine Ziele noch inten­­ siver gelernt. Wer etwas erreichen will, der muss

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wir Flüchtlinge und Asylbewerber, sich in unserer Gesellschaft zu orientieren und zurechtzufinden.

Wir sind stolz auf den Hochschulstandort Deutschland. Wir haben den Anspruch an uns selbst, die Forschung und Lehre an die Spitze zu bringen. Deswegen wäre es falsch, von unseren eigenen Ansprüchen abzuweichen. Wer in Syrien keinen Abschluss erworben hat, kann nicht erwarten, hier studieren zu können.

Meine Eltern bezeichnen Deutschland heute als ihre Heimat und sind stolz, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Sie arbeiten in der Metallindustrie, haben deutsche Freunde, schauen sonntags den Tatort und konnten sich den Traum vom Eigenheim erfüllen. Sie sind auch ohne Integrationskurse zu Deutschen geworden.

»Flüchtlinge sollten an Eignungstests teilnehmen.«

Doch nicht jedem fällt es leicht, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Die Integrationsangebote sollen den Menschen eine Hilfestellung sein. Als Gesellschaft müssen wir die Integration durch Angebote fördern. Wir müssen sie aber auch von den Flüchtlingen und Asylbewerbern einfordern. Ein harmonisches Miteinander in einer Gesellschaft setzt voraus, dass sich alle an die gleichen Regeln halten. Menschen, die lediglich emotional argumentieren, vernachlässigen das häufig.

Der RCDS unterstützt ausdrücklich Flüchtlinge, die hier studieren wollen und dazu fähig sind. Im Sinne des Leistungsprinzips sollen für sie aber die gleichen Regeln wie für deutsche und internationale Studienplatz-Bewerber gelten.

Bei dieser emotional aufgeladenen Diskussion beeindruckt mich eine Person besonders: unsere Bundeskanzlerin. Sie hätte sich durch die Bilder, die Emotionen oder die immer wiederkehrenden Forderungen hinreißen lassen können. Stattdessen agiert sie ruhig und besonnen wie ein Kapitän und navigiert das Schiff durch den Sturm. Die Flüchtlingszahlen spürbar zu reduzieren, ist eine rational getroffene und notwendige Entscheidung.

Deshalb setzt sich der RCDS für einen Eignungstest ein. Dieser soll den Bildungsstand feststellen. Wie der Test umgesetzt wird, bleibt den einzelnen Bundesländern und den Hochschulen vorbehalten. Darüber hinaus brauchen die Studienkollegs weiteres Personal, um mehr Flüchtlinge qualifizieren können. Damit das Niveau der Seminare und Vorlesungen gehalten wird, brauchen wir auch mehr Lehrpersonal an den Hochschulen. Die deutsche Sprache ist so vielfältig und ausdrucksstark. Sie reicht von einfachen Satzkonstruktionen bis hin zu komplexem Beamtendeutsch über die vielen Dialekte. Wenn ich aus Berlin ins Allgäu fahre, merke ich, dass ich meinen Heimat-Dialekt sehr vermisst habe. Die Ausdrücke „Wie hasches“, „schwetz it“ oder „gang ma futt“, kehren in meinen Sprachgebrauch zurück.

Jeder, der sich in unsere Gesellschaft integrieren will, ist willkommen. In Deutschland und vor allem an den Hochschulen. Sofern er bereit ist, die nötige Leistung dafür zu erbringen. In unserer Geschichte gab es immer wieder große Zuströme nach Deutschland. Sei es die Gastarbeiterbewegung oder die Einwanderung aus dem ehemaligen Jugoslawien. Es hat uns nie geschadet. Heute geht es uns so gut wie nie zuvor. Auch dank der vielen Einwanderer, die heute in Deutschland leben und arbeiten. Die hohe Zahl von einer Million Flüchtlinge verunsichert viele Menschen. Aber wir werden es schaffen, sie zu integrieren. So wie wir es immer geschafft haben.

Um Menschen in unsere Gesellschaft zu integrieren, brauchen wir deshalb entsprechende Angebote. Diese helfen ihnen, kulturelle, sprachliche und rechtliche Kenntnisse zu erlernen. Ihnen müssen die zentralen Inhalte unserer Leitkultur vermittelt werden. Dadurch unterstützen

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»Ein harmonisches Miteinander in einer Gesellschaft setzt voraus, dass sich alle an die gleichen Regeln halten.« Jenovan Krishnan studiert Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt. Seit Oktober 2015 ist er der erste Bundesvorsitzende des RCDS mit Migrationshintergrund. Seine Eltern sind Tamilen katholischen Glaubens aus Sri Lanka.

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Mike Mohring

Schaffen wir das? Eine politische Exegese

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Teil als Herausforderung unserer Kultur interpretiert wird. Man muss nicht allein an einen etwas entrückten Schriftsteller wie Botho Strauß denken, sondern auch an Bestseller wie Michel Houellebecqs „Unterwerfung“.

Schaffen wir das? Keine politische Frage ist in den letzten Monaten wohl häufiger gestellt worden. Dabei ist viel über die Kontrolle, über die Regulierung und Verringerung der Flüchtlingsströme geredet worden. Im Bund war Gegenstand der Debatte, wie dieser die Identität Hunderttausender feststellen, ihr Aufenthaltsrecht prüfen kann und überhaupt erst einmal einen Überblick darüber erhält, wer eigentlich kommt. Es ging um den Versuch, die enorme Anreizwirkung des deutschen Asyl- und Flüchtlingssystems zu begrenzen, ohne dabei den Schutz der Schutzbedürftigen aufzugeben. In den Ländern stellten sich die Fragen nach der Erstaufnahme, dem Einsatz der Ehrenamtlichen, der Belastung der Kommunen, die Möglichkeiten der Integration.

»Die einen wollen das Land bewahren, so wie es ist. Die anderen wollen die Werte bewahren, so wie sie sind.« Was ist „das“? Wer sind „wir“? Und was folgt daraus? Antworten darauf muss nicht zuletzt die CDU als große Volkspartei der Mitte geben, damit die Bürger sie nicht bei Parteien wie der AfD suchen, aber auch nicht im linken politischen Milieu, das sich noch immer nicht vom Multikulturalismus verabschiedet hat – und in seinen extremsten Exponenten einen nationalen Selbsthass kultiviert, der genauso abstoßend ist, wie der völkische Nationalismus der äußersten Rechten. Zu beschreiben, was man nicht will, ersetzt nicht das Nachdenken darüber, was man will. Anne Hähnig hat in der „Zeit“ (27.11.2015) die Spannung gut auf den Punkt gebracht, unter der viele Bürgerliche dabei stehen: „Die einen wollen das Land bewahren, so wie es ist. Die anderen wollen die Werte bewahren, so wie sie sind.“

»Wer ist eigentlich ›wir‹? Und was ist eigentlich ›das‹?« Dies alles waren und sind Debatten, die mit unserem Politikverständnis, mit dem deutschen Politikbetrieb zu tun haben. Herausforderungen in lösbare Teilprobleme zu zerlegen und sie dann zu lösen. „Wir sind das Volk“ war dagegen außerhalb dieses Politikbetriebs wieder zu hören. Sofern damit fremdenfeindliches Ressentiment moralisch überhöht werden sollte, so spricht das allem Hohn, was die Friedliche Revolution von 1989/90 in der DDR gewollt hat. Doch das Thema ist damit nicht abgetan. Denn dass sich Außergewöhnliches zuträgt und dies unser Land verändern wird, steht doch außer Frage. Seltener kam dabei zur Sprache, wer ist das eigentlich: „wir“?, und was ist das eigentlich: „das“? Genau dies sind allerdings die Fragen, die in diesem Jahr häufiger in den Sozialen Netzwerken, in den Kommentarspalten der Zeitungen und, im Osten stärker als im Westen, auf der Straße gestellt wurden.

Doch es ist falsch, diese beiden Zugänge als sich ausschließende Optionen zu betrachten. Im Grunde bedingen sie einander. Und man kann den Schwerpunkt auf der einen oder anderen Seite setzen. Der Theologe und Bürgerrechtler Richard Schröder sagte einmal, Deutschland sei nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes. Die Werte, die unsere Kultur bestimmen, sind nicht voraussetzungslos. Sie wurzeln in einem historischen Boden, der der Ausbildung und Ausprägung von Personalität, von Freiheit und Recht, der Gewaltenkontrolle und demokratischen Aushandlungsprozessen zuträglich war. Denken wir zum Beispiel an die Trias von griechischer Philosophie, römischem Recht und christlichem Glauben, an den Dualismus von Kaiser und Papst im Mittelalter, die ausbalancierten Verhältnisse zwischen Kaiser, Landesherren und Ständen, an Reformation und Aufklärung, an unseren Föderalismus, an unsere Lern- und Läuterungsprozesse nach dem totalitären letzten Jahrhundert.

Die demokratischen Parteien der Mitte können darauf nicht allein mit politischer Routine reagieren. Gerade dann, wenn sie „das“ mit Begriffen beschreiben und mit Vergleichen einordnen, die an Jahrhundertdramen gemahnen. „Völkerwanderung“ etwa oder ein Fluchtgeschehen, das an die Mitte der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnert. Gerade wenn „das“ mit einem Gefühl der Unsicherheit, der Unkontrollierbarkeit und Fremdheit verbunden ist und „das“ selbst in den intellektuellen Milieus zum

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Gerade in den Wechselfällen einer bis dato oft bedrohten Existenz. Wir haben es doch selbst bei nicht wenigen Landsleuten nach 1989/90 erlebt: Freiheit kann auch überfordern.

Dies alles sind „wir“, natürlich. Einen erheblichen Teil dieser, aber eben nicht alle diese Erfahrungen teilen wir mit unseren europäischen Nachbarn. Aber sie begegnen uns immer in einer bestimmten nationalen oder regionalen Ausprägung. Wir teilen sie mit anderen Ländern, die durch europäische Auswanderung zu dem geworden sind, was sie sind. Und bei denen sich die jeweiligen Spezifika im Übrigen aus der Begegnung mit den dort bereits ansässigen oder hinzugekommenen Kulturen ergeben haben. Die mannigfaltigen kulturellen Abhängigkeiten zeigen sich im Übrigen in dem meist fehlschlagenden Versuch, in anderen Ländern Ordnungen zu etablieren, die wir als das menschengemäße, als gute Ordnung verstehen. Andere sehen das durchaus anders.

Erforderlich ist nicht kulturelle Selbstaufgabe, aber eine Einpassung in die Leitkultur unseres Landes. Deutschland soll kein Vielvölkerstaat werden, und es dürfen sich keine Parallelgesellschaften bilden. Die Integrationsrichtung muss klar sein, und das ist auch eine Frage der Integrationsfähigkeit. Daran sollte niemand vorbei reden. Die Integrationsfähigkeit bestimmt sich nach den Möglichkeiten der Integration in Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt, schlicht orientiert sie sich an der Leistungsfähigkeit von Staat und Gesellschaft.

Dieses Deutschland in der Mitte Europas war dabei kein abgeschlossener Raum, und er wollte es auch gar nicht sein. So verheerend und mörderisch der Versuch in der erste Hälfte des letzten Jahrhunderts war, das deutsche Volk als eine abgeschottete, homogene, gar auf einer Rasse gründende Einheit zu verstehen, so wenig entspricht dies den langen historischen Entwicklungslinien unseres Landes.

Sie bestimmt sich nach den Möglichkeiten, auf die Entwicklung des Islam in Deutschland Einfluss zu nehmen; etwa durch die Einrichtung von Lehrstühlen und eines staatlich kontrollierten Religionsunterrichts. Sie bestimmt sich nach den Möglichkeiten, Recht, Gesetz und Ordnung durchzusetzen, aber ebenso nach dem Willen der zu Integrierenden, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu akzeptieren.

Die Sorgen der Menschen beziehen sich heute vielmehr darauf, dass es ein „Zuviel“ geben kann. Dass die Bewahrung der Werte nicht gelingen kann, wenn sich die Kultur Deutschlands nicht evolutionär, sondern revolutionär über Brüche und schlagartige Veränderungen wandelt.

Sie bestimmt sich auch nach unserem Willen und unserem Vermögen, bei wachsender kultureller und sozialer Vielfalt einen Zusammenhalt zu stiften, für den Nation nicht der schlechteste Begriff ist. Nation als eine anschlussoffene Solidar-, Erinnerungs- und Verantwortungsgemeinschaft. Das gelingt uns besser, wenn wir uns unserer selbst bewusst sind oder wieder werden.

»Freiheit kann auch überfordern.«

Sagen wir es doch endlich einmal wieder: Deutschland ist kein Versicherungsverein und kein Sozialamt, ja: es ist Schicksalsgemeinschaft, es ist ein Land, auf das wir stolz sind. Je selbstbewusster wir uns als Nation verstehen, desto leichter wird es uns fallen, neue Menschen und ihre Geschichten für dieses Land zu gewinnen und sie im Laufe weniger Generationen in die große nationale Erzählung einzuweben.

Die Stärke einer Kultur, die auf Vielfalt, Toleranz, friedlichem Interessenausgleich fußt, die religiös und weltanschaulich neutral ist, in der konkurrierende Wahrheitsansprüche nicht das Recht aushebeln und der Zweifel die Gewissheiten ausbalanciert, erschließt sich erst im Laufe der Zeit. Sie kann in Integrationskursen erklärt werden. Damit das Gehörte auch verinnerlicht wird, bedarf es jedoch längerer Inkulturationsprozesse. Sie verlangen von vielen, die zu uns kommen, ein langsames und oft mühevolles Sich-heraus-winden aus anderen kulturellen Prägungen. Das ist umso schwieriger, je intensiver in diesen Prägungen Halt und Orientierung gesucht wird.

Und das „das“? Nur wenige Menschen dürften sich wirklich sorgen, weil in diesem Jahr eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Das schaffen wir nun wirklich. Die Sorgen richten sich vor allem darauf, dass damit ein Modellfall geschaffen werden könnte. Ein Modellfall, der

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»Nur wenige Menschen dürften sich sorgen, weil in diesem Jahr eine Million Flüchtlinge gekommen sind. Das schaffen wir nun wirklich.« viele Millionen anderer Menschen aus den Krisenherden dieser Erde dazu veranlassen könnte, sich den großen Flüchtlingszügen dieses Jahres anzuschließen. „Das“ würden wir tatsächlich nicht verkraften, ohne dass unser „Wir“ darüber im Dunkel der Geschichte versinken würde. Gegen diese apokalyptischen Visionen hilft dann wieder nur Politik. Nüchtern und pragmatisch.

Vielleicht zählt dies bei allen Sorgen beim Blick auf 2015 zum großen Gewinn dieses Jahres: Bei der Debatte über das Flüchtlingsthema ist vielen Verantwortlichen in Politik, Medien und Wissenschaft bewusst geworden, wie sehr Tabus und informelle politische Sprechgebote und –Verbote die Kommunikation über diese Herausforderung gestört haben.

Zugegeben: Es hat etwas gedauert, bis die CDU zu praktikablen Lösungsansätzen angesichts dieser Herausforderung gefunden hat. Wir sind damit noch nicht am Ziel, aber wir sind auf einem guten Weg. Vieles, was in den ersten Monaten des Jahres 2016 politisch umgesetzt und geplant wird, wäre noch im Sommer 2015 undenkbar gewesen. Dabei hat sich übrigens die Stärke unseres Systems erneut gezeigt: Über Meinungsbildungs- und Aushandlungsmechanismen zu verfügen, in der auch Überzeugungen überwunden werden, die lange als unumstößlich galten. Die Leitkulturdebatte ist nur ein Beispiel dafür. War der Begriff vor zehn Jahren noch geeignet, politische Karrieren zu beenden, so gehört er inzwischen schon fast zum festen Bestand grünen Selbstverständnisses.

Und zwar so sehr, dass nicht wenige Bürger das Gefühl hatten, die Repräsentanten des sogenannten öffentlichen Lebens seien die eigentliche Parallelgesellschaft im Land. Vermutlich braucht es gelegentlich Druck von außen, um die eigenen Gepflogenheiten zu überprüfen. Der Zwang, mit diesem emotional so fordernden „Das“ umzugehen, trägt auch zur Selbstaufklärung des „Wir“ bei. Und ja, wenn wir vor dieser Selbstaufklärung nicht davonlaufen in die fernere völkische Vergangenheit und in die jüngere multikulturelle Vergangenheit, sondern selbstbewusst europäische Nation im 21. Jahrhundert sein wollen, dann schaffen wir das. Ganz sicher.

Mike Mohring ist Vorsitzender der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag und Landesvorsitzender der CDU Thüringen. Er ist zudem Mitglied im Bundesvorstand der CDU.

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Serap G端ler

Zuwanderung von Fl端chtlingen! Als Chance! Durch Regeln!

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notwendige Bedingung für eine praktische Asylpolitik, bietet aber keine hinreichende Auflösung der genannten Einwände.

In den letzten Monaten haben Tausende Flüchtlinge Deutschland erreicht und viele warten noch an den Grenzen darauf, zu uns kommen zu dürfen. Sie fliehen vor genau dem Terror, den wir in Paris gerade so schmerzlich erleben mussten. In den Heimatländern der Flüchtlinge herrschen jeden Tag Krieg, Verfolgung und Gewalt.

Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel ist für ihre Flüchtlingspolitik harsch kritisiert worden. Dabei hat sie nie – wie so oft behauptet – gefordert, dass Deutschland alle Flüchtlinge aufnehmen solle, sondern angesichts der Tausenden von Toten im Mittelmeer und der humanitären Katastrophen an den Außengrenzen der EU vielmehr von Europa eine Lösung verlangt, die sich an den europäischen Werten orientiert.

Deutschland ist auf Grund seiner Verfassung und internationaler Verträge dazu verpflichtet, notleidenden Menschen zu helfen und Schutz zu bieten. Viel diskutiert wird das Maß an Anstrengung, das Deutschland dabei auf sich nehmen sollte: Haben wir unsere Kapazitäten bereits voll ausgeschöpft? Sind wir an der Grenze unserer Belastbarkeit angekommen oder darf es ruhig noch etwas anstrengender für uns werden?

Nachdem weltweit, parteiübergreifend und sogar vom Papst eindringlich eine Lösung der Flüchtlingsnot eingefordert wurde, hat sie den Mut gehabt, dort zu handeln, wo andere sich weckgeduckt und auf Zeit gespielt haben.

»Aus gutem Grund kennt unser Asylrecht keine Obergrenze.«

Der an die Kanzlerin gerichtete Vorwurf, sie habe durch sogenannte Selfies mit Flüchtlingen die Zuwanderung befeuert, ist albern und soll vielmehr über die eigenen Versäumnisse der Kritiker hinwegtäuschen. Dass genau jene Angela Merkel kurz zuvor als „eiskalt“ und „herzlos“ kritisiert worden war, weil sie einem Flüchtlingsmädchen die ehrliche Antwort gegeben hatte, dass nicht alle Flüchtlinge dauerhaft in Deutschland werden bleiben können, zeigt in seiner Absurdität unsere Zerrissenheit in der Suche nach richtigen Lösungen.

Die in diesem Zusammenhang häufig geforderte Benennung einer Aufnahme-Obergrenze halte ich für wenig hilfreich und sehe den Wunsch nach ihr auch mehr darin, der deutschen Aufnahmegesellschaft ein Licht am Ende des Tunnels in Aussicht zu stellen. Aus gutem Grund kennt unser Asylrecht keine Obergrenze, weil es sich aus der Menschenwürde ableitet, die absolut und nicht verhandelbar ist. Auch sie lässt keine Einschränkung nach der Devise zu, dass eine Personengruppe menschenwürdiger sei als eine andere.

Dass diese Suche nach Lösungen in der Flüchtlingsfrage so schleppend verläuft, ist ein europäisches Problem, das früher nur Griechenland und Italien getroffen hat. Heute erleben auch wir, dass ein jahrelanger Handlungsbedarf verschlafen wurde. Dass sich Deutschland nun seiner humanitären Verantwortung stellt und Menschen in Not hilft, ist kein Ausdruck von Naivität oder Schicksalsergebenheit, sondern von einem Verantwortungsgefühl, das bestimmten Ländern der Europäischen Union momentan fehlt.

Wie die Einführung von Obergrenzen mit der Genfer Flüchtlingskonvention zu vereinbaren ist, bleibt ebenso offen. Die Kontingentlösung kann hingegen hilfreich sein, wenn sie die illegale Flucht über Schlepperbanden durch eine legale Einwanderung ersetzt. Kontingente müssen allerdings auf europäischer Ebene eingeführt werden. Das Beispiel Türkei, die sich mit Beginn des Syrienkriegs eine Obergrenze von 100.000 Flüchtlingen gesetzt hatte und nun rund zwei Millionen Menschen Schutz bietet, zeigt zudem, dass sich Menschen, die Angst um ihr Leben haben, nicht von bürokratischen Hürden abschrecken lassen.

Es ihnen gleich zu tun und sich im Hinblick auf die Not der Flüchtling auf beiden Augen blind zu stellen, wird dem Anspruch nicht gerecht, den wir an uns selbst haben. Als Motor und starke Kraft Europas ist es unsere Pflicht, hier auch anderen eine Orientierung zu geben und die Forderung nach Solidarität mit den Schwächsten ernst zu nehmen.

Die Warnung, wer allen helfen wolle, könne am Ende niemandem mehr helfen, erkennt zwar die

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Chancen oder Risiken?

allen Menschen in unserem Land zugänglich gemacht werden. Der Zugang zur freien Bildung und eine offene Gesellschaft gehören für mich zu den besten Integrationsmaßnahmen, die man haben kann. Leider stellen wir regelmäßig fest, dass die Bildungs- und Aufstiegschancen von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte immer noch schlechter sind als von Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte. Das muss sich dringend ändern.

Eine Nutzen abwägende Betrachtung der Flüchtlingsaufnahme verbietet sich zwar, weil das Gewähren von Asyl von einer Zweckmäßigkeit für die Aufnahmegesellschaft unabhängig ist. Dennoch möchte ich denjenigen sagen, die so reflexhaft die finanziellen Belastungen beklagen, dass in der Flüchtlingsfrage für Deutschland auch die Chance liegt, die negativen Folgen seines demographischen Wandels abzumildern. Wenn es tatsächlich eine Lawine gibt, die auf Deutschland zurollt, dann ist das vielmehr die des demo­ graphischen Wandels, der zudem von uns selbst ausgelöst wurde.

»Der Zugang zur freien Bildung und eine offene Gesellschaft gehören zu den besten Integrationsmaßnahmen.«

Wer Flüchtlinge als Bedrohung wahrnimmt, beraubt sich darum, den großen Gewinn in ihnen zu erkennen – so wie diejenigen, die nach dem Zusammenbruch der DDR vor allem den Verlust eines sichergeglaubten Arbeitsplatzes in den Mittelpunkt ihrer Beurteilung stellten und sich vom Freiheitsgewinn nur schwerlich in Euphorie versetzen ließen.

Ebenso muss uns die Integration in den Arbeitsmarkt gelingen. Die Situation der Flüchtlinge in den Erstaufnahmelagern ist vielerorts prekär. Es würde zu einer deutlichen Entspannung beitragen, wenn die Flüchtlinge zügig eine Arbeit aufnehmen könnten. Viele sind gewillt, für den eigenen Lebensunterhalt und den Unterhalt ihrer Angehörigen zu sorgen. Das ist zweifellos eine Selbstverständlichkeit, gleichwohl ist es aber unsere Pflicht, sie auf dem Weg in den Arbeitsmarkt zu begleiten: Flüchtlinge müssen nach ihren beruflichen und sprachlichen Kenntnissen befragt und vermittelt werden. Die Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse muss zeitnah erfolgen, und wer nachqualifiziert werden muss, sollte umgehend eine Ausbildung aufnehmen können. Dadurch erhalten die Flüchtlinge im Übrigen auch ein Knowhow, das ihnen dabei hilft, ihr Heimatland nach dem Ende des Bürgerkriegs wieder aufzubauen.

Nun kann es mir nicht um Euphorie gehen, aber sehr wohl um die gute Nachricht für die Skeptiker wie für die Optimisten: Ob die Flüchtlingsaufnahme zu einem Erfolg wird oder zu Schwierigkeiten führt, liegt in erster Linie an uns selbst! Wir sind es, die darüber entscheiden, was wir aus der gegenwärtigen Situation machen: Wenn uns die Integration der Flüchtlinge in unsere Gesellschaft gelingt, sind sie eine Chance für unser Zusammenleben. Wenn wir im Umgang mit ihnen die Fehler wiederholen, die wir mit den Gastarbeitern in den 1960er und 1970er Jahren gemacht haben, wird unsere Gemeinschaft vielmehr auf eine Probe gestellt.

Darüber hinaus kann es durchaus sinnvoll sein, über ein bundesweites Integrationsgesetz zu sprechen, das für mehr Teilhabe und Gerechtigkeit unter den Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sorgt. Es sollte sich dabei auf die drei Säulen Sprache, Bildung und Arbeit stützen. Bayern agiert hier vorbildlich und hat für Sprachförderung, Arbeitsmarkintegration, Wohnungsbau und Demokratievermittlung rund 500 Millionen Euro bereitgestellt. Weshalb sich die bayerischen Debattenbeiträge vornehmlich auf rechtlich nicht umsetzbare Forderungen konzentrieren, statt die Erfolge in der eigenen Integrationspolitik zu unterstreichen, bleibt für mich ein Rätsel.

Gelingende Integration Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sind ein Teil unserer Gesellschaft und eine Realität in Deutschland, auf die wir angewiesen sind. Wir dürfen die Flüchtlinge nicht ignorieren und müssen klare Forderungen formulieren. Unsere Werte und unsere Verfassung sind nicht verhandelbar! Das den Flüchtlingen nicht zu sagen, ist falsch verstandene Toleranz. Der Faktor Bildung war für uns in Deutschland noch nie so bedeutsam wie gegenwärtig und sollte

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»Den Begriff Leitkultur schätze ich, weil jede Gesellschaft gemeinsame Überzeugungen hat, die respektiert werden müssen.«

Von Leitkultur und Mulitikulti zu einem Grundgesetz plus?

beantwortet worden als heute und muss auch in Zukunft immer wieder neu dargelegt werden.

In der Debatte um die Integration der Flüchtlinge tauchen regelmäßig die Begriffe Leitkultur und Multikulti auf. So nachvollziehbar die Argumente und Inhalte auch sein mögen, für die sie stehen, so verbrannt sind diese Begriffe. Hier bedarf es nicht nur einer politisch korrekten Neujustierung, sondern auch einer sauberen Argumentation, welche Bestandteile dieser Begriffe anzunehmen oder welche eher abzulehnen sind.

Der Multikulturalismus (oder auch Multikulti) will kulturellen Besonderheiten Respekt und Toleranz entgegen bringen, was ich begrüße. Er ist jedoch dann abzulehnen, wenn er mit einem ignoranten „Mach, was Du willst“ einhergeht und sich die einzelnen ethnischen und kulturellen Gruppen isoliert in einer segregierten Gesellschaft wiederfinden. Dieser Multikulturalismus ist bislang überall gescheitert.

Den Begriff Leitkultur schätze ich, weil jede Gesellschaft gemeinsame Überzeugungen hat, die respektiert werden müssen. Je internationaler Deutschland wird, desto notwendiger ist eine gemeinsame Basis. Hier geht es um Identitäten, die zu schützen sind. Schwierig wird eine Leitkultur jedoch dann, wenn sie die kulturelle Lebensform der Mehrheitsgesellschaft über die kulturellen Lebensformen von Minderheiten stellen will. Jede kulturelle Lebensform hat ihre Berechtigung, solange sie sich im Rahmen des Grundgesetzes bewegt.

Ich plädiere dafür, den emotional aufgeladenen Begriff der Leitkultur zu ersetzen durch den des Grundgesetzes. Es bietet uns die beste Orientierung. Wer und was sich im Rahmen unseres Grundgesetzes bewegt, hat in Deutschland eine Berechtigung. Das Grundgesetz speist sich auch aus den kulturellen Überzeugungen, die auf ihre verfassungsverträglich hin überprüft wurden. In der Debatte um unsere Identität kann unser Grundgesetz dann um Dinge wie Rücksichtnahme, Höflichkeit und Toleranz ergänzt werden. Sie sind rechtlich schwer einzufordern, können aber an unsere Neubürger über Integrationskurse vermittelt werden. Ob man dies nun alternativ Leitbild oder Grundgesetz plus nennt, ist weniger bedeutsam als die Mahnung, diese Wert auch zu leben: Wenn die deutsche Gesellschaft sie den Flüchtlingen gegenüber praktiziert, werben wir am besten für sie.

Zudem darf das, was der Begriff Leitkultur meinen soll, nicht als starres Konzept aufgefasst werden: Er beschreibt vielmehr einen Prozess, so wie sich auch die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten zu mehr Pluralität und Weltoffenheit hin entwickelt hat. Die Frage nach dem, was den Begriff mit Inhalt füllt, wäre 1950 anders

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Arbeitnehmer. Dass Wirtschaftsbetriebe eigene oder ergänzende Deutschkurse für ihre Mitarbeiter auf die Beine stellen, ist keine abwegige Forderung, weil sie als erstes davon profitieren. Die neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Menschen mit einem Wert und mit Bedürfnissen wahrzunehmen und nicht als bloße Posten in einer Kosten-Nutzen-Kalkulation, ist auch Ausdruck eines christlichen Verantwortungsgefühls.

Darüber hinaus bietet es sich an, die Diskussion über Werte und identitätsstiftende Merkmale auch auf europäischer Ebene zu führen. Zum einen wird eine Selbstverständigung darüber umfassender und langlebiger sein, wenn sie über die nationalen Besonderheiten hinausgeht. Zum anderen könnte sie die EU-Mitgliedsstaaten daran erinnern, dass der europäische Gedanke mehr ist als eine Ansammlung von anzapfbaren Regionalund Strukturfonds.

Zusammengefasst möchte ich feststellen: Nur wenn wir gemeinsam die Integration der Flüchtlinge zu unserem Ziel machen und dabei die Werte leben, deren Einhaltung wir fordern, werden wir als Aufnahmegesellschaft vorankommen. Was wir brauchen, sind weniger schrille Forderungen als ein Gesamtkonzept, und hier sehe ich durchaus Verbesserungsbedarf im Zusammenspiel von Bund, Ländern und Kommunen.

Unsere christlichen Werte in der Praxis Wenn wir unsere christlichen Werte als Bestandteil dessen herausarbeiten, was unsere Gesellschaft ausmacht, müssen wir diese Werte auch leben, weil Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Ehrlichkeit sonst zu Worthülsen verkommen. Unehrlich bis schäbig ist es zum Beispiel, hilfsbedürftige Personengruppen gegeneinander auszuspielen. Kein Hartz-IVEmpfänger wird wegen der Flüchtlinge auf seine finanzielle Unterstützung verzichten müssen!

»Dass sie hier sein können und aufgenommen wurden, verdanken sie unserem Grundgesetz.«

Wir dürfen und müssen von den Menschen, die zu uns kommen und Teil unserer Gesellschaft werden wollen, die Akzeptanz unserer Werte einfordern. Aber mit Forderungen alleine kommen wir nicht weit. Wir müssen bei der Umsetzung der Forderungen behilflich sein, und unsere Forderungen müssen realistisch bleiben: Wir sollten von den Flüchtlingen nicht mehr verlangen, als wir von unseren eigenen Bürgerinnen und Bürgern fordern.

Ich weigere mich, mit rechtspopulistischen Parteien wie der AfD den Untergang Deutschlands heraufzubeschwören. Die AfD versucht bewusst, mit erfolglosen Konzepten aus der Vergangenheit genau zu dem Misserfolg im Umgang mit Flüchtlingen zu kommen, der Rechtsextremisten in ihrer Haltung bestärkt, dass Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte nicht integrierbar seien.

So bedauerlich ich es beispielsweise auch fände, wenn mir eine ältere, in Deutschland aufgewachsene Dame nicht die Hand geben wollte, so wenig könnte ich sie dazu zwingen, weil es ein Teil ihrer Freiheit ist, mir ihre Hand zu verwehren. Ich wünsche mir ein Deutschland, in dem die Menschen freundlich und höflich miteinander leben. Aber ich wünsche mir keinen Staat, der mir vorschreibt, wann und wem ich die Hand zu geben habe.

Und im Hinblick auf die Kontroversen innerhalb der Union bin ich der festen Überzeugung, dass wir uns im Ziel einig sind, nur auf dem Weg dahin auf unterschiedliche Instrumente zur Integration der Flüchtlinge setzen. Das beste Integrationsgesetz ist und bleibt für mich unser Grundgesetz. Es sollte jedem, der neu zu uns kommt, in seiner jeweiligen Muttersprache ausgehändigt werden. Es wird den Flüchtlingen deutlich machen: Dass sie hier sein können und aufgenommen wurden, verdanken sie unserem Grundgesetz. Dieses nun zu respektieren und in seinem Geist zu leben, werden sie genauso selbstverständlich finden wie ich.

Einbinden möchte ich auch stärker die Wirtschaft, die so laut nach Fachkräften ruft und gleichzeitig über das Angebot einer Arbeitsstelle oder eines Ausbildungsplatzes nicht hinaus kommt. Ich fordere keine zusätzlichen Abgaben von der Wirtschaft, aber ein größeres Engagement in der Integration ihrer neuen Arbeitnehmerinnen und

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»Wir dürfen und müssen von den Menschen, die zu uns kommen und Teil unserer Gesellschaft werden wollen, die Akzeptanz unserer Werte einfordern.« Serap Güler ist integrationspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen und Mitglied im Bundesvorstand der CDU Deutschlands.

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Fatih Köylüoğlu

Patriotismus Zusammenhalt einer pluralen Republik

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Miteinander reden statt Übereinander – Patriotismus beginnt vor der eigenen Haustür

beginnt der Patriotismus bereits vor der eigenen Haustür. Die Nächstenliebe, der Respekt und die Toleranz gegenüber seinen Nachbarn und Mitmenschen. Nicht die vorurteilsbehafteten Gespräche übereinander, sondern das grundlegende Interesse füreinander und der Dialog miteinander. Ein Patriotismus mit Herz und Verstand.

Morgens um Viertel nach sieben schieße ich aus dem Bett, um meinen alltäglichen Aufgaben und damit verbundenen Verpflichtungen nachzugehen. Ich erfrische noch kurz meinen Geist mit einem traditionell frisch aufgebrühten, schwarzen Tee und verspüre bereits, wie sich der dichte Nebel in meinem Kopf wirkungsvoll löst. Ich packe noch rasch meine Tasche, ziehe meine winterfesten Schuhe an und gehe aus dem Haus. Mit großen Schritten bewege ich mich auf den örtlichen Bahnhof zu. Auf dem Weg dorthin geht ein Anruf meiner Mutter ein, die mir ihren Unmut über unseren neu eingezogenen deutschen Nachbarn in türkischer Sprache zum Ausdruck bringt. Sie hat einen leckeren Kuchen gebacken und wartet seit geraumer Zeit erwartungsvoll darauf, dass die deutschen Nachbarn sie besuchen und sich vorstellen. So kannte sie es zumindest aus ihrer eigenen Tradition. Vergeblich. Wenige Tage später hat sie erfahren, dass die deutsche Familie in direkter Nachbarschaft ebenfalls einen Kuchen gebacken hat, denn es sei bei ihnen üblich, dass die Nachbarn vorbeikommen und sie willkommen heißen. Letztendlich sind beide Familien mit ihrem Kuchen allein geblieben.

Zukunft zählt, nicht Herkunft! – Patriotismus als Schlüssel für gesellschaftliche Entwicklung Das gemeinsame Interesse an einer zukunftsfähigen und einer immer bunter werdenden Gesellschaft ist im Zuge des demografischen Wandels sowie der zunehmenden Globalisierung ein Indikator für die soziale und emotionale Verbundenheit mit der eigenen Nation. Eine Nation, die von der Vielfalt und dem bürgerschaftlichen Engagement lebt und diese als eine Bereicherung versteht. Diese Bindung ist ein Nationalgefühl, ein Merkmal des patriotischen Bürgers, der sich grundlegend vom Nationalisten differenziert, denn ein Nationalist denkt, dass Menschen anderer Herkunft oder Ethnie nicht so wertvoll sind, wie Menschen ohne Migrationshintergrund.

»Deutschland gewinnt durch seine Vielfalt und Zuwanderung.«

Es wird deutlich, wie Missverständnisse und Vorurteile entstehen können. Ohne es pauschalisieren zu wollen, wird wohl eine türkische Familie denken, dass die deutschen Familien unfreundlich, distanziert und tendenziell sogar fremdenfeindlich sind. Die deutschen Familien werden wohl eher annehmen, dass die türkische Familie eine Parallelgesellschaft mitten in ihrem Wohnviertel aufbaut und es vorzieht, unter sich zu bleiben. Dabei sind es fehlende Informationen über die gegenseitige Kultur, die zu diesen Vorurteilen führen.

Dies scheint ubiquitär zu sein. Überall sind diese vorzufinden, jedoch spreche ich von Patrioten, die Vielfalt als Motor gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung unserer Gesellschaft definieren. Echte Patrioten sind sich ihrer zivilgesellschaftlichen Verantwortung bewusst und leisten ihren Beitrag für eine positive Entwicklung des Landes, nicht nur für sich selbst oder explizit einer Bevölkerungsgruppe, sondern für alle. Für eine Nation.

Der interkulturelle Austausch und gemeinsame Dialog sind der Schlüssel für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Durch die soziale und kulturelle Interaktion werden stereotype Denkmuster aufgebrochen, Gemeinsamkeiten entdeckt und daraus resultierend das Wir-Gefühl gestärkt. Vor diesem Hintergrund sind Anstrengungen aller Bevölkerungsgruppen erforderlich. Es ist ein gesellschaftlicher Prozess, in dem alle Menschen, unabhängig ihrer ethnischen Herkunft, mit einbezogen sind. In diesem Sinne

Deutschland gewinnt zunehmend durch seine Vielfalt und Zuwanderung. Das durch die Zugewanderten mitgebrachte soziale und kulturelle Kapital, die Sprachenvielfalt oder die unternehmerische Leistungsbereitschaft, bereichern unser Land und stärken unsere Zukunftsfähigkeit. Als Einwanderungsland können wir im Wettbewerb um Talente nur bestehen, wenn wir heute die richtigen Weichen stellen.

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Das ewige Lamento über den Sprachverfall – die deutsche Sprachkultur am Puls der Zeit

der Globalisierung. Ein komplexes Themenfeld, das durchaus viel Freiraum für Interpretationen und auch Debatten über den Patriotismus lässt. Selbsternannte Patrioten und besorgte Bürger, die sich angeblich um das Schicksal der deutschen Sprache kümmern und skandieren, dass Ausländer diesen negativen Trend verschulden würden.

Um halb neun komme ich am Bahnhof an und nehme an der Mündung der Treppenstufen, die den fließenden Übergang zu den Gleisen führen, flüchtig einige Jugendliche wahr, die sich aufgrund ihrer lautstarken Diskussion zu erkennen geben. Ich sitze nun in der Bahn, mein konzentrierter Blick auf die Anzeigetafel wird durch die in die S-Bahn stürmende Gruppe Jugendlicher unterbrochen. Diese scheinen ungehemmt ihre Diskussion in der S-Bahn lautstark fortzusetzen und ziehen kritische, teils musternde Blicke auf sich. Im Rahmen der Diskussion fallen Namen. Murat, Darko und Jens.

65 Prozent aller Deutschen sind der Meinung, die deutsche Sprache verkomme immer mehr. In der Wahrnehmung der Menschen wird nur noch wenig Wert auf eine gepflegte Ausdrucksweise im Elternhaus, in der Schule und in den Medien gelegt. Vor allem Ältere sorgen sich über diesen Entwicklungsprozess. Dies ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage der Gesellschaft für Deutsche Sprache (GfdS) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sprachrat. Eine Aussage, die vor allem zwei Fragen aufwirft: Sind die Sorgen über den Verfall der deutschen Sprache berechtigt und worin liegen die Gründe für diese mögliche Tendenz?

» ›Sie importieren die Scharia nach Deutschland und sind kriminell.‹ «

Damit eine Sprache tatsächlich verkommt, sich also über einen andauernden Zeitraum verschlechtern kann, muss es als Ausgangspunkt eine optimale, fehlerfreie Sprache gegeben haben. Man stellt sich also einen Muttersprachler vor, der die Sprache, in diesem Fall das Deutsche, perfekt beherrscht und sprachlich versiert ist. Eine klare Illusion, denn jeder produziert fortwährend Normverstöße. Ein Unterschied besteht lediglich darin, in welcher Intensität dies geschieht. Viele Menschen meinen, wenn in der Gegenwart etwas schlecht ist, dann muss es in der Vergangenheit zwangsläufig besser gewesen sein. „Die guten alten Zeiten", wie man gerne zu sagen pflegt.

Neben mir sitzt eine ältere Dame und beobachtet mit einem grimmigen Blick die Jugendlichen. Sie schaut mich an und zögert zuerst. Dann dreht sie ihren Kopf erneut zu mir und sagt in verärgertem Ton: „Wenn es so weiter geht mit Multikulti, der Sozialromanze sowie der unaufhaltbaren Zuwanderungslawine, werden wir bald hier kein richtiges Deutsch mehr sprechen und außerdem ist das Boot voll. Sie importieren die Scharia nach Deutschland und sind kriminell. Die deutschen Kinder fangen schon an, unsere schöne Sprache zu verlernen. Kein Wunder, wenn sie mit diesen Alis verkehren."

Jede Sprache ist eine hybride Sprache und verändert sich unentwegt

Ich war sprachlos, ließ meine Gedanken schweifen und hinterfragte ihre Aussage. Ich verspürte den sich innerlich aufbäumenden Drang zu intervenieren. Verkommt die deutsche Sprachkultur? Liegt die Ursache dieses angst- und hasserfüllten Gedankengutes in der zunehmenden Vielfalt unserer Gesellschaft und der Zuwanderung von mehrheitlich jungen Flüchtlingen?

Fatal ist es in jedem Fall, bestimmten Gruppen, wie Jugendlichen, Migranten oder Flüchtlingen den Vorwurf zu machen, sie seien für den Niedergang der deutschen Sprache verantwortlich. In Frage gestellt werden muss ebenso die Behauptung, dass Veränderungen in einer Sprache generell zu Verschlechterungen führen. Geht man dieser Aussage auf den Grund, wird man feststellen, dass Sprachen selbstverständlich veränderlich sind und sich sogar verändern müssen. Schließlich sind sie Hauptverständigungsfaktoren, die sich der fortwährend verändernden Umwelt adaptieren.

Die kontroverse Diskussion über den Verfall der deutschen Sprache ist in aller Munde und scheint allgegenwärtig zu sein, insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und

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»65 Prozent aller Deutschen sind der Meinung, die deutsche Sprache verkomme.«

Vielfalt und Mehrsprachigkeit sind eine Bereicherung und das Fundament einer multikulturellen Brücke. Daher ist die Haltung mancher Kritiker strikt abzulehnen und schlichtweg unpatriotisch. Die Sprachenvielfalt und die Vielfalt in der Sprache sind positive Aspekte einer sich stetig weiterentwickelnden Gesellschaft.

Dass besonders die Älteren der Ansicht sind, die deutsche Sprache verfalle, liegt daran, dass sie den modernen Entwicklungsprozess der Sprache nicht begleiten. Sie meinen, das Richtige gelernt zu haben, was wiederum suggeriert, dass das, was Jüngere lernen, schlechter ist, weil es eben anders ist. Insgesamt wäre es aber durchaus angebracht –wenn man immer noch der Ansicht ist, die deutsche Sprache verliere ihr Niveau – bei sich selbst zu beginnen und nicht andere diesbezüg­lich anzuprangern. Dabei muss immer im Hinter­ kopf behalten werden: Jede Sprache ist eine hybride Sprache.

PEGIDA – das Markenzeichen einer unpatriotischen und unchristlichen Bewegung Um halb zehn Uhr steige ich aus und laufe an einer auffällig lauten Gruppe vorbei. Sie posaunen lautstark, sie seien das Volk. Mir wird schnell mulmig. Es handelt sich um die Gruppierung namens PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Besorgte Wutbürger, die sich zu einer perfiden Bewegung aufbäumen und ethnische Minderheiten zur Zielscheibe machen. Sie kreieren ein Feindbild und schüren Vorurteile und Ängste. Hitzige Demonstrationen entwickeln sich zu einem weitreichenden Nährboden für Gewalt und Hass. Die Wut, die in ihrer eigenen Unzufriedenheit aufkeimt und sich in der Masse gegen eine vermeintliche Überfremdung und Islamisierung des Abendlandes entlädt.

Die gesprochene Sprache unter Jugendlichen, auch „Nähesprache" genannt, ist bei weitem nicht repräsentativ für die deutsche Gesamtbevölkerung und somit für die Entwicklung und Zukunft der deutschen Sprache. Diese Unterschiede hat es in der Geschichte immer gegeben. Schon seit den alten Ägyptern klagt die Generation der Erwachsenen darüber, dass alles schlechter geworden ist. Wichtig wird es für diese jungen Menschen, sich in späteren Phasen ihres Lebens innerhalb der deutschen Sprache zu entwickeln und sich schwerpunktmäßig der offiziellen Hochsprache zumindest anzunähern. Je mehr ihnen das gelingt, desto größer sind ihre Chancen im Berufsleben. Wir leben in einer pluralen Gesellschaft, in der mehrere Kulturen zu Hause sind. Wenn wir diesen Reichtum und diese Ressourcen nutzen können, sind völlig neue Erfahrungen möglich. Kulturelle

Eine alarmierende Entwicklung, die weder patriotisch noch christlich ist. Sie entspricht nicht unseren europäischen Wertevorstellungen und verläuft konträr zu unserer christlich-abendländischen Kultur. Darüber hinaus ist sie unserer Verfassung nicht würdig und sogar verfassungswidrig.

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einen jungen Politiker mit türkischen Wurzeln und muslimischem Glauben dazu, der CDU beizutreten? Herr Köylüoglu, sind Sie nicht in der falschen Partei?“ Oftmals werde mit derartigen Fragestellungen konfrontiert. Auf sozialen Plattformen, von der Presse, im Verwandten- und Freundeskreis und sogar in der eigenen Partei. Wie passt das zusammen, dass ein Muslim in der christlich-konservativen Partei engagiert ist?

Die PEGIDA-Anhänger haben eine erhöhte Gewaltbereitschaft gegen ethnische Minderheiten und werfen einen großen Schatten auf den menschenrechtlichen Grundpfeiler. Sie sind keine Patrioten, sondern eher Nationalisten, die eine sichtbar ablehnende Position gegen andere Bevölkerungsgruppen vertreten und Menschen nach Herkunft selektieren. Deutschland gehöre nur den Deutschen und sie seien besorgt um das eigene Volk. Dabei führt uns doch der Patriotismus zusammen und ermöglicht den Zusammenhalt in einer bunten Gesellschaft.

Ich bin gerade wegen dem „C“ im Namen der Partei beigetreten. Für mich war klar, dass die CDU nicht entschieden voraussetzt, dass man als Mitglied Christ sein muss. Das „C“ steht für die Werte wie Toleranz, Familie, Zusammenhalt und Nächstenliebe. Diese zentralen Werte sind in den monotheistischen Glaubensrichtungen verankert. Sie weisen eine hohe Affinität zum Christentum, Judentum und Islam auf. Der humanitäre Aspekt und die werteorientierte Politik stehen im Fokus.

Wahre Patrioten bekennen sich zu den konstitutionellen Normen wie die Achtung der Menschenwürde, die freiheitlich-demokratische Grundordnung sowie die Chancengerechtigkeit eines unteilbaren und unerlässlichen Werteverständnisses unseres Landes und der EU. Diese Normen und elementaren Wertevorstellungen bilden das Fundament des friedlichen Zusammenlebens in einer zivilisierten Gesellschaft.

Das „U“ hat auch einen besonderen Stellenwert. Es steht für die gemeinsamen Werte, die uns verbinden und vereinen. Der Patriotismus ist auch mit dem Ziel verbunden, verschiedene Menschen zusammenzuführen und das Zusammenleben zu fördern. Dieses Nationalgefühl und das Gefühl der Zugehörigkeit machen uns zu einer vereinten Nation. Echte Patrioten, die ihr Land lieben, müssen nicht immer ihr Land beschönigen. Sie müssen aufmerksam versuchen, das Land zu verbessern. Dies beginnt vor der eigenen Haustür, bei jedem selbst. Jeder kann seinen persönlichen Beitrag im eigenen Umfeld leisten, wie die folgende Anekdote, die dieses Lebensbild bekräftigt:

Wer das Grundgesetz aufschlägt, der findet die Präambel vor, in der der verfassungspatriotische Kerngedanke verankert ist: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. […]“ Patriotisch sein, heißt sein Land zu lieben und zu achten. Religiös und wertebewusst zu sein, heißt weltoffen und tolerant zu sein. Der Glaube zu Gott und unsere sozialen, kulturellen und religiösen Werte setzen eine klare Grenze zum übersteigerten Patriotismus und Nationalismus.

Ein Kind wollte mit seinem Vater spielen. Da der Vater weder Zeit noch Lust zum Spielen hatte, kam ihm eine Idee, um das Kind zu beschäftigen. In einer Zeitung fand er eine detailreiche Abbildung der Erde. Er riss das Blatt mit der Weltkugel aus der Zeitung und zerschnitt es in viele kleine Einzelteile. Das Kind, das Puzzles liebte, machte sich sofort ans Werk und der Vater zog sich zufrieden zurück. Aber schon nach kurzer Zeit kam das Kind mit dem vollständigen Welt-Bild. Der Vater war verblüfft und wollte wissen, wie es möglich war, in so kurzer Zeit die Einzelteile zu ordnen.

Das „C“ steht für Patriotismus und Werteorientierung Als ich um zehn Uhr den Veranstaltungssaal erreicht habe, um mir eine Podiumsdiskussion mit diversen Vertretern etablierter Parteien zum Thema Migranten in der Politik anzuschauen, bin ich in einen impulsreichen Diskurs eingebunden worden. Ich stelle mich kurz vor und gebe einen kurzen Abriss meines politischen Engagements.

„Das war ganz einfach!“, antwortete das Kind stolz. „Auf der Rückseite des Blattes war ein Mensch abgebildet. Damit habe ich begonnen. Als der Mensch in Ordnung war, war es auch die Welt.“

Mit großen Augen und offenem Mund werde ich gemustert. „Du bist in der CDU? Was bewegt

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»Patriotisch sein, heißt sein Land zu lieben und zu achten.« Fatih Köylüoğlu ist in Siegburg geboren und studiert Volkswirtschaftslehre in Bonn. Er ist bei den Jungen Integrationspolitikern der KAS engagiert, sowie bei der JU, beim Landesnetzwerk Integration der CDU NRW uvm.

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Der Wahlk채mpfer Ein Nachruf auf Helmut Schmidt

von Peter Radunski

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„Überlebensgroß“, wie es im Titel eines Theaterstücks hieß. Er war ein brillianter Politiker auf nationaler und internationaler Ebene. Nicht ganz uneitel hielt er sich zugute, „Weltökonom“ zu sein. Er gab den Bürgern nach der Ära Brandt das Gefühl der ruhigen und kompetenten politischen Führung. „Kontinuität und Konzentration“ lautete der Titel seiner ersten Regierungserklärung, was auch sein persönliches Programm war.

„Emotion ist Manipulation und gehört deshalb nicht in die Politik“ und „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“ – zwei kernige Aussagen von Helmut Schmidt, jeder Wahlkämpfer bekommt eine Gänsehaut.

»Wahlkämpfe ohne Emotionen führen auf die Verliererstraße.«

Schmidt liebte es, im internationalen Rahmen mit großen politischen Vorschlägen hervorzutreten, um sich einen Namen zu machen. Dazu benötigte er geistig-politische Akzente, die er mit den Namen Kant, Marc Aurel und Karl Popper belegte. Übrigens waren das Denker, die in den theoretischen Überlegungen der Sonde eine Rolle spielten. Poppers kritischer Realismus war ein Bezugspunkt der Grundsatzpolitik des RCDS in jenen Jahren.

Sind nicht Wahlkämpfe dann besonders gut geführt, wenn sie eine Mischung von Emotionen und Sachen bringen? Können Wahlkämpfe nicht ganze Gesellschaften zu neuen Zielen bewegen, wenn sie emotional und visionär die Wähler ansprechen? Kennedy, Brandt und Obama haben das zeitweilig erreicht. Jede Erfahrung zeigt überdies, dass Kopf gegen Herz eine schiefe Schlachtordnung in öffentlichen Auseinandersetzungen der Wahlkämpfe ist. Wahlkämpfe, die keine Emotionen erwecken können, bringen ihre Protagonisten zumeist auf die Verliererstraße.

Die Europäischen Währungsgemeinschaft (ECU) und der NATO-Doppelbeschluss waren politische Konzepte, die Schmidt mit europäischen und amerikanischen Staatsmänner wie Giscard d’Estaing, Gerald Ford und Jimmy Carter entwickelte. Diese Konzepte setzte Helmut Kohl als Nachfolger Schmidts im Kanzleramt in den Jahren nach 1982 in praktische Politik um. Schmidt und Kohl sind ohne Zweifel unterschiedliche Politikertypen, die beide zeigen, wie man in der Politik mit gedanklichen Anregungen, aber auch mit politischen Spürsinn und Gefühl erfolgreich sein kann.

Viel von dem, was man Schmidt als Staatsmann, Denker und Macher positiv zuschreibt, war dem Wahlkämpfer Schmidt nicht unbedingt förderlich. Die politischen Tugenden können auch die Schwächen von Politikern sein: Nicht jeder gute Wahlkämpfer wird ein guter Kanzler und nicht jeder Kanzler ist unbedingt ein guter Wahlkämpfer.

Schmidt war ein scharfer Debattenredner, deshalb auch „Schmidt Schnauze“ genannt. Seine Debattenbeiträge im Bundestag waren oft scharf geführt und grenzten nicht selten an Arroganz. Auch das machte Schmidt zu einem idealen Spitzenkandidaten im Wahlkampf. Wie sollte dagegen der Neuling in der Bundespolitik aus Mainz, Helmut Kohl, ankommen. Viele Journalisten hielten Kohl für chancenlos und auch als Kanzler ungeeignet. Schmidt selbst sprach vom „Provinz­ politiker Kohl“.

Helmut Schmidt war nach Brandts Sturz im Mai 1974 Kanzler geworden. Gewählt vom Deutschen Bundestag, nicht aus einem Wahlkampf heraus. Erst als er zweieinhalb Jahre regiert hatte, musste er 1976 seine Macht im Wahlkampf verteidigen. Schmidt, der damals schon 30 Jahre in der Politik war, führte zum ersten Mal einen Wahlkampf im eigenen Interesse. Einen Wahlkampf, dessen Strategie er entwickeln musste und dessen Hauptperson er darstellte. Im modernen Wahlkampf ist der Spitzenpolitiker Regisseur und Hauptdarsteller. Deshalb muss er seine Wahlkampfstrategie selbst verantworten. Je geschickter er seine Strategie aufgebaut hat, desto besser kann seine Persönlichkeit das Gesicht seiner Partei im Wahlkampf sein. Die Spitzenrolle spielte Schmidt mit Glanz, er war der Trumpf seiner SPD, ein herausragender Kandidat.

Für die CDU sah das alles nach einer unlösbaren Aufgabe im Wahlkampf 1976 aus. Schließlich wiesen alle Umfragen Helmut Schmidt zu 90 Prozent als perfekten Kanzler aus. Sympathie, Kompetenz, Durchsetzungsfähigkeit – Schmidt wurde fast so positiv beurteilt, wie die Deutschen ihren Idealkanzler beschrieben.

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dem Bürger spricht und weiß, was die Bürger wollen. Die Zeit der wahlkämpferischen Überlegenheit der SPD in 1972 war nun vorbei. Deutschland hatte mit der CDU ein zweites, großes politisches Lager bekommen.

Für die Entwicklung einer CDU-Wahlkampfstrategie halfen Umfragen nicht mehr. Auch die Werbeleute waren ratlos, zumal sie selbst Schmidt gut beurteilten. Wie bei vielen Deutschen war auch bei ihnen zu hören: Der Schmidt müsste in der CDU sein, das wäre ein Gespann!

Für die Wahlkampfstrategien waren Union und SPD gut aufgestellt. In der SPD waren die Strategen der Brandt-Ära noch aktiv: Harry Walter, Volker Riegger, Albrecht Müller und Bodo Hombach. Sie alle sind in die Wahlgeschichte der Bundesrepublik eingegangen. In der CDU hatte Generalsekretär Kurt Biedenkopf ein neues Management aufgebaut: Karl-Heinz Bilke, Meinhard Miegel, Dorothee Wilms, Günter Meyer und Peter Radunski. So, wie Helmut Kohl sich offensiv Helmut Schmidt stellte, bot nun auch die CDU der seit Jahren erfolgreichen SPD die Stirn. Als Oppositionspartei hatte die CDU Rückenwind bekommen durch die Schwächung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Die CDU entwickelte kritische alternative Ansätze zur Wirtschaftspolitik und forderte den Regierungswechsel. Schmidt bot oft mit finanz- und wirtschaftspolitischen Aussagen kritische Ansatzpunkte.

Intensiv diskutierten wir im Wahlkampfstab das Thema Schmidt-Kohl. Gab es keinen Unterschied zwischen beiden? How to make the difference, eine typische amerikanische Fragestellung im Wahlkampf, war unser Problem. Endlich gab es einen Befund. Kohl wurde mehr von den Wählern vertraut, als Schmidt. Ein neues Testverfahren brachte es an den Tag, Kohl genoss mehr Vertrauen bei den Wählern, als Schmidt. Auch der vielleicht heute eher abgedroschene Test „Von wem würden Sie einen Gebrauchtwagen kaufen?“, wurde positiv für Helmut Kohl beantwortet. Vertrauen zu schaffen war Kohls Sache. Unser Slogan war gefunden: „Helmut Kohl – Der Mann, dem man vertrauen kann.“ Das Vertrauensthema blieb Kohl für seine gesamte politische Amtszeit. Oft wurde vom Kanzler des Vertrauens gesprochen. Diese Aussage war für den Kanzlerkandidaten Helmut Kohl eine offensive Waffe gegen Helmut Schmidt. Allgemeine Überraschung war das Echo, Helmut Kohl war im Rennen. Und siehe da, im Unterschied zu Schmidt wurde im Wahlkampf immer deutlicher, dass Kohl der erfahrenere Wahlkämpfer war.

So wurde eine Aussage von ihm zu einem Schwerpunkt im Wahlkampf. Im Frühjahr 1976 sagte Schmidt: „Fünf Prozent Inflation sind mir lieber als fünf Prozent Arbeitslose.“ Im Herbst waren beide auf acht Prozent geklettert. Die CDU produzierte einen TV-Spot mit einem guten Bild von Schmidt in der Mitte, das sich mit seinem wechselnden Aussagen drehte. Am Schluss drehte sich das Bild von Schmidt rasend. Flip-Flop – die CDU hatte das Modell des Spots aus dem amerikanischen Wahlkampf geholt. Überhaupt war 1976 der CDU-Wahlkampf in vielen Elementen von amerikanischen Wahlkampfmodellen durchsetzt.

Für einen erfolgreichen Politiker wie Helmut Kohl sind Politik und Wahlkämpfe untrennbar verbunden. Seit 1947 hat er diese Lehre praktisch von der Pike auf erfahren. Der Politiker Helmut Kohl sagte bewusst Ja zum Wahlkämpfer Helmut Kohl. Kohl baute auf die Erfahrung früherer Jahre auf, dazu gehörten ungebärdige Plakatschlachten um den Stadtrat in Ludwigshafen. Wichtig war ihm die Reorganisation seiner damals altväterlich gewordenen Partei in Rheinland-Pfalz.

Die CDU wurde immer selbstbewusster. Als Schmidt in einer Bundestagsdebatte die Union als Sicherheitsrisiko bezeichnete, wurde ein CDUButton herausgegeben „ich bin ein Sicherheitsrisiko“, das CDU-Anhänger selbstbewusst trugen. Schmidts Vorwurf wurde nicht mehr wiederholt. Dafür wurden die CDU-Anhänger überall auf Straßen und Plätzen mit ihren Ständen in großen Massen bemerkt. Jugend-, Arbeitnehmer- und Frauenkampagnen wurden geführt. Hausbesuche und zahlreiche kleine und große Diskussionen sowie breite Verteilungen von Zeitungen und Materialien mobilisierten die CDU-Wähler.

Das alles gehörte zur unsichtbaren Kommunikationsausrüstung, von der Karl Deutsch einmal gesprochen hat und die Helmut Kohl in seine nationalen Wahlkämpfe einbrachte. Folgerichtig hat Helmut Kohl seit 1973 organisatorische Reformen der CDU zu einem Kernpunkt seiner Opposition gemacht, gemanagt von seinem Generalsekretär, Kurt Biedenkopf. Das Bild von der CDU als einer lebendigen Volkspartie entstand, die direkt mit

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» ›Der Schmidt müsste in der CDU sein!‹ «

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des Wahlkampfs befürworteten 40 Prozent der Befragten den Slogan und 36 Prozent lehnte ihn ab. Helmut Kohl kam auf seinem Plakat dem Wähler entgegen. Schmidt dagegen wurde mit einem sehr schönen Foto und Schwarz-Rot-Gold abgebildet. Mit humorvollen Szenen auf Plakaten, die heute noch sehenswert sind, machte die SPD auf ihre Politik aufmerksam. Den Vogel aber schoss die CDU mit ihrem Poster „Komm aus Deiner linken Ecke!“ ab. Das Poster zeigt eine junge Frau mit Boxhandschuhen und einem Gänseblümchen im Mund. Ein Plakat, das noch heute in vielen Schulbüchern abgebildet ist und im jüngsten hessischen Wahlkampf wieder eingesetzt wurde.

Jetzt machte sich der Elan der Neumitglieder bemerkbar, die besonders aktiv waren. Mit gut 600.000 Mitgliedern wirkte die CDU wie eine Massenbewegung. Man sah mehr von der CDU als von der SPD, die SPD hatte Mühe, sich zu mobilisieren.

»Der CDU-Aufkleber war so bekannt wie der Mercedes-Stern.« Interessant war auch der Unterschied beim Generalthema Deutschland. Ein wichtiges sozialpsychologisches Moment überzog hier den Wahlkampf. Beide Parteien setzten auf das nationale Thema und unterlegten es mit den Farben Schwarz–Rot-Gold. Damals war es üblich, Autoaufkleber zu fahren. Bald zeigte sich die Begeisterung der Unionsanhänger für die nationale Anmutung des Aufklebers. Die Nationalfarben wurden von der CDU in drei schrägen Balken präsentiert. Diese schwarz-rot-goldenes Zeichen der CDU erwies sich in späteren Umfragen so bekannt wie der Mercedes-Stern. Der SPD-Aufkleber wurde wesentlich seltener gesehen, die SPD-Anhänger hatten keinen großen Bedarf an nationalem Engagement.

Als der Wahlkampf in die Schlussphase ging, sah es so aus, als könnte die CDU die absolute Mehrheit erringen. Das machte die SPD-Strategen nicht nur nervös, sondern auch kreativ. In den letzten Tagen des Wahlkampfs wurde ein reiner Schmidt-Wahlkampf geführt. Plakataufkleber „Zieh‘ mit, wähl‘ Schmidt!“ und der Aufmacher der SPD-Sonntagszeitung „Stürzt Helmut Schmidt wegen der Nichtwähler?“ waren die entscheidenden Aussagen am Ende des Wahlkampfs. Schmidt machte zum Glück mit und konnte so seine Kanzlerschaft retten.

»Thatcher kommentierte trocken: ›That‘s no democracy.‹ «

Bei der SPD hieß der zentrale Slogan „Modell Deutschland“ ergänzt mit den Aussagen „Den Frieden wählen“ oder „Freiheit, Sicherheit Soziale Demokratie“. Die CDU thematisierte das Deutschlandthema mit der Aussage „Aus Liebe zu Deutschland“. „Aus Liebe zu Deutschland“ wurde eine Poster-Kampagne mit gesamtdeutschen Motiven aus Köln, Dresden, Kreidefelsen an der Ostsee, Bodensee und Berlin. Die Poster bekamen sogar Sammlerwert. Es wurde darüber hinaus sehr deutlich mit diesen Postern, wie ernst es der CDU mit dem Willen zur Wiedervereinigung war. In der Hauptplakatkampagne ergänzte die CDU „Aus Liebe zu Deutschland“ mit den drei Worten „Sicher, sozial und frei“. Im Endspurt plakatierte die CDU nach langen internen Debatten „Aus Liebe zu Deutschland, Freiheit statt Sozialismus. CDU. Sicher, sozial und frei.“

Die CDU errang 48,6 Prozent bei 90 Prozent Wahlbeteiligung, die SPD errang 42,6 Prozent. Helmut Schmidt hatte sich zwar als Wahllokomotive erwiesen, aber keine Strategie gegen den CDU finden können. Die FDP sicherte schließlich Schmidts Kanzlerschaft mit ihren 7,9 Prozent. Als Margaret Thatcher wenig später bei ihrem Besuch im Konrad-Adenauer-Haus von diesem Wahlergebnis erfuhr, kommentierte sie trocken: „That‘s no democracy“. Schließlich hatte fast jeder zweite Erwachsene, dem man auf der Straße begegnete, die Union gewählt. Auch im Europawahlkampf '79 schöpfte die Union neue Hoffnung. Trotz Schmidt und Brandt als Aushängeschilder der SPD gewann die Union die erste Europawahl mit knapp 50 Prozent. Dieser

„Freiheit statt Sozialismus“ war der umstrittenste Slogan in den deutschen Nachkriegswahlkämpfen mit großer publizistischer Ablehnung. Am Ende

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»Es wurde geschrien, persönliche Beschimpfungen und sachliche Verdrehungen aller Art dominierten.«

Dieser Mobilisierungssieg brachte große Zuversicht für die Bundestagswahl 1980. Die Bundestagsfraktion wählte Strauß zum Kanzlerkandidaten. Es kam zum Giganten-Duell Schmidt-Strauß. Dieser Wahlkampf wurde mit großer Härte geführt. Dagegen half auch nicht eine vorsorglich eingerichtete Schiedsstelle gegen Unfairness im Wahlkampf. Atmosphärisch zeigt ein kleines Beispiel, wie es damals zuging. Schmidt begrüßte Strauß öffentlich: „Na, Du alter Gauner!“, Strauß antwortete: „Na, alter Lügner!“. Das war der Ton der Kampagne, zumal es Unterstützungsgruppen für die SPD gab, die Strauß mit Anti-Goebbels-Material bekämpften, in dem sie einfach den Kopf von Goebbels gegen den von Strauß tauschten.

konnte. Es dauerte lange, aber passierte in den letzten Wochen des Wahlkampfs. Die Union kämpfte überzeugt gegen Schmidt und für Strauß. Die Angriffe gegen Schmidt wurden härter, aber immer sachpolitisch begründet. So nannte Geißler Schmidt einen Rentenlügner, weil die Rentenfinanzierung undurchsichtig geworden war. Als Schlusskampagne wählte die Union die Staatsschulden und prangerte die Schuldenpolitik der Regierung Schmidt mit großer Härte an. Dabei wurde die Union von der Katholischen Bischofskonferenz und vielen anderen Institutionen, insbesondere auch von der Presse, unterstützt. Schmidt war in seiner Kernkompetenz Wirtschaft und Finanzen schwer getroffen. Legendär wird wohl für immer im deutschen Wahlkampf die TV-Diskussion zwischen Schmidt, Strauß, Kohl und Genscher bleiben. Es wurde geschrien, flegelhaftes Benehmen dominierte, persönliche Beschimpfungen und sachliche Verdrehungen aller Art dominierten.

Mit einer Ausstellung „Wahlkampf gegen die Menschenwürde“ im Konrad-Adenauer-Haus und eine dazugehörige Broschüre entlarvte die CDU dieses Vorgehen. Das brachte etwas Ruhe in den Wahlkampf. Die große Frage war, ob Strauß nicht nur die CSU sondern auch die CDU mobilisieren

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»Schmidt begrüßte Strauß öffentlich: ›Na, Du alter Gauner!‹, Strauß antwortete: ›Na, alter Lügner!‹. Das war der Ton der Kampagne.«

Peter Radunski war von 1981 bis 1991 Bundesgeschäftsführer der CDU, anschließend Senator für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie von 1996 bis 1999 Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Berlin. Er ist heute Senior Advisor der MSLGROUP Germany GmbH und Beiratsmitglied von CIVIS mit Sonde.

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er schon eines Abends den Wahlkampf 1983. Er weihte in seine Strategie ein: Regierungsbildung, Regierungsprogramm mit Gesetzgebung und vorgezogenen Wahlen im März 1983. So denkt ein guter Wahlkämpfer, er denkt seine Politik immer auch im Kontext von Wahlen. Wahlkampf ist Politik.

Es ist überraschend gewesen, warum Schmidt in dieser Atmosphäre mitgemacht hat und nicht den distanzierten Kanzler darstellte. Vielmehr hat er sich hinreißen lassen, sich mit Strauß und Kohl heftigst auseinander zu setzen, was dazu führte, dass er kleinteilig wirkte und sein staatsmännisches Flair in der Garderobe gelassen hatte. Kein Wunder, dass Genscher, der ruhig blieb, viele Punkte für sich und die FDP holte.

Kohl hat das übrigens auch 1990 während der 2+4 Verhandlungen so gehalten, dass er regelmäßig die Wahlkampfmanager der CDU über den Stand der möglichen Wiedervereinigung informierte. An der internationalen Entwicklung konnte jeweils abgelesen werden, ob es einfache Bundestagswahlen oder erste gesamtdeutsche Wahlen geben würde. Der Staatsmann Kohl verlor die Wahlen nicht aus den Augen.

Es blieb insgesamt die große Überraschung des Wahlkampfs 1980, dass Schmidt keine Strategie gegen Strauß fand und in der Schlussphase von der Union in die Defensive gedrängt wurde. Der Staatsmann war erneut kein Wahlkampfstratege. 1980 errang die Union 44,5 Prozent, die SPD 42,0 und die FDP 10 Prozent. Wiederum konnte die FDP Schmidts Kanzlerschaft absichern.

Helmut Schmidt wollte Staatsmann sein, für ihn waren Wahlen wohl eine eher störende Nebensache. Helmut Schmidt machte jedoch eine Ausnahme: Kurz vor seinem Sturz 1982 führte er leidenschaftlich-wütend einen Landtagswahlkampf in Hessen. „Verrat in Bonn“ lautete sein Slogan für den hessischen Landtagswahlkampf. Damit wurden CDU und FDP souverän aus dem Felde geschlagen und die neue Koalition von Rot-Grün auf den Weg gebracht.

»Helmut Schmidt war eine Wahlkampflokomotive.« 1980 kam Helmut Kohl angeschlagen aus dem Wahlkampf. Obwohl 75 Prozent der Deutschen ihn zum Kanzler haben wollten und nur 25 Prozent Franz-Josef Strauß, hatte Schmidt einen Wahlerfolg verfehlt. Natürlich fragte man sich in der SPD auch, was der Wahlkampfmagnet Schmidt denn brachte, wenn er nicht einmal gegen Strauß die SPD in die Mehrheit führte.

Helmut Schmidt war mit seiner großen Popularität eine Wahlkampflokomotive. Er konnte Massen ansprechen, hat aber keine zwingende Strategie für seine Wahlkämpfe 1976 und 1980 gefunden. Nie konnte er seine SPD so mobilisieren, dass sie Wahlkampfsieger wurde.

Obwohl viele in der CDU 1980 niedergeschlagen waren, konnten sie erleben, wie Helmut Kohl mit diesen 44,5 Prozent schon zwei Jahre später eine Koalition mit der FDP eingehen konnte. Am 2. Oktober 1982 wurde Helmut Kohl zum Kanzler gewählt. Hier kann man sehr gut erkennen, was einen guten Wahlkämpfer ausmacht. Kohl war noch gar nicht zum Kanzler gewählt, da besprach

Schmidt hat selbst sein Bild als Politiker klug und bescheiden beschrieben: „Alle, die Geschichte machen und sich ein Denkmal setzen wollen, sind im Grunde gescheitert. Ich betrachte mich als einen preußischen Hanseat und es bereitet mir Genugtuung, meine Pflicht erfüllt zu haben. Und wenn man sagt, ich habe sie gut erfüllt, bin ich froh.“

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Portrait

Oliver Scheele: Im (Einsatz-) Anzug von Sebastian Hass Eine bunte Truppe mit großem Gemeinschaftssinn, in die jeder seine Fähigkeiten und Talente einbringen kann. Handwerker, Akademiker, Ingenieure, Gleisbauer und viele andere, die ehrenamtlich helfen wollen und bereit sind, im Zweifelsfall auch nachts zu einem Einsatzort zu eilen, die bereit sind anzupacken. Das gefällt ihm, Olli steigt ein. Koordinieren und planen, das kann er. Er nimmt an Schulungen teil, fährt zu Weiterbildungen und lernt eine Hilfsorganisation kennen, deren Aufgabenspektrum so umfangreich ist wie wichtig: Verschüttete retten, Trinkwasserversorgung sicherstellen, Ölschäden bekämpfen, Stromversorgung sicherstellen – die Liste ließe sich noch lange fortführen.

Sitzungswochen im Bundestag haben ihre eigene Dynamik. Lauter sind sie. Und schneller. Abgeordnete eilen zur nächsten Abstimmung, hunderte wissenschaftliche Mitarbeiter flitzen mit viel Papier über die Flure, schreiben an Reden, bereiten Ausschusssitzungen vor. Einer von ihnen ist Oliver Scheele, den hier alle nur Olli nennen. Auch er kann rennen. Im Bundestag, aber auch beim THW. Olli stammt aus dem niedersächsischen Scheeßel, über Politik gestritten hat er sich schon in der Schule gerne. Dass Mitmachen besser als Meckern ist, lernt er schon in jungen Jahren zu Hause: Seine Mutter ist Scheeßels Bürgermeisterin. Sie motiviert den Filius auch zum konkreten politischen Engagement: Den ersten Jahresbeitrag für eine politische Jugendorganisation übernimmt sie gerne, für welche, das stellt sie Oliver frei. Er entscheidet sich für die Junge Union. Hier fühlt er sich am wohlsten.

Heute ist Olli Zugtruppführer beim Berliner THW. Und das ist zurzeit ziemlich gefragt. Die Unterbringung von Flüchtlingen ist für die Bundeshauptstadt eine Mammutaufgabe. Ohne das THW, die Freiwilligen Feuerwehren, das Rote Kreuz sowie die zahllosen weiteren Freiwilligeninitiativen und ehrenamtlichen Helfer wäre diese wohl nicht zu stemmen. Zurzeit klingelt Olivers Telefon manchmal auch tagsüber im Büro. Seine Kollegen und er sind ein eingespieltes Team; sie wissen, dass das wichtig ist. Olli eilt dann aus dem Bundestag, auf der Fahrt zu seinem THW-Ortsverband führt er erste Telefonate, fragt Verfügbarkeiten ab, bespricht sich mit anderen Führungskräften. Am Sammlungspunkt angekommen tauscht er Anzug und Krawatte gegen seinen Einsatzanzug und macht sich an die Arbeit. Funkgeräte vorbereiten, Sonderbedarfe für den anstehenden Einsatz prüfen: Hilft man etwa beim Bettenaufbau, braucht man mehr Akkuschrauber. Klingt logisch, muss aber auch erst einmal organisiert werden. Auch die Dokumentation des Einsatzes obliegt Olli.

Ein Praktikum bei der CDU-Fraktion im niedersächsischen Landtag schärft das Interesse an der Politik. Von da an ist es bis zur Entscheidung für ein politikwissenschaftliches Studium nicht mehr weit. Olli wählt die Freie Universität Berlin. Wenn schon Politik studieren, dann doch gleich im Schatten des Reichstagsgebäudes. Dort heuert er alsbald auch als studentischer Mitarbeiter an: Im Büro des Abgeordneten Norbert Brackmann lernt er das kleine Einmaleins des Bundestages. Mit dem, was man in klugen Lehrbüchern über die Prozesse im Parlament liest, hat das wenig gemein. „Bundestag muss man lernen“, sagt Olli. Doch Olli sucht auch noch etwas „Handfestes“; Studium und Politik reichen ihm nicht. Er stößt auf das Technische Hilfswerk und ist beeindruckt.

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Die weiteren Helfer sind am Stützpunkt eingetroffen, nach einer kurzen Lageeinweisung bricht die Gruppe zum Einsatzort auf, beispielsweise zu einer Turnhalle. Nach der Ankunft geht es gleich weiter. Olli nimmt gemeinsam mit den anderen Führungskräften Verbindung mit den örtlichen Verantwortlichen auf, stimmt sich mit den Kollegen anderer Organisationen ab, etwa mit der Feuerwehr. Wer macht was? Wer kann was besser? Wo fangen wir an? Denn bei der Einrichtung von Notunterkünften geht es nicht nur um Bettenbau. Sensible Hallenböden etwa müssen fachgerecht abgedeckt, Wege beleuchtet, Sanitäranlagen angepasst werden. Sehr viel Arbeit in sehr kurzer Zeit.

»Es sind viele bewegende Momente dabei, nicht von allen möchte er erzählen.« Mitunter erleben Olli und seine Mitstreiter dabei berührende Momente. Etwa, wenn ankommende Flüchtlinge ihr Hab und Gut rasch in einer Ecke verstauen und tatkräftig mithelfen, Hammer, Akkuschrauber und Schraubenschlüssel in die Hand nehmen, um am Aufbau ihrer Unterkunft

mitzuwirken. Wenn Olli von solchen Momenten spricht, von der Dankbarkeit, die die vielen freiwilligen Helfer bei diesen Einsätzen erfahren, von den Kindern, die fröhlich durch die Halle toben, versteht man ein wenig besser, was ihn und so viele Ehrenamtliche antreibt. Es sind viele bewegende Momente dabei, nicht von allen möchte er erzählen. Wenn die Notunterkunft soweit hergerichtet ist, brechen Olli und die THWler wieder auf. Ihr Einsatz ist beendet. Der vieler weiterer Helfer beginnt dann erst: Essen ausgeben, Kleidung verteilen – das alles machen später andere, mit ebenso großer Motivation und Hingabe. Wenn Olli fertig ist, war der Bundestag für einige Stunden weit weg. Alsbald bindet er sich die Krawatte wieder um und kümmert sich weiter um Forschungspolitik, die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und Polarforschung bei seiner Chefin, der Lübecker Abgeordneten Alexandra Dinges-Dierig. In seinem THW-­ Engagement unterstützt sie ihn seit jeher. Bei manchem Einsatz wird es spät. Sehr spät. Olli fällt dann einfach ins Bett und schläft. Die Flüchtlinge in der Notunterkunft auch. Sie haben ein Dach über dem Kopf, ein ordentliches warmes Bett. Auch dank Olli und seiner Kollegen.


Hochschulservice

CampusCompaCt Ihr Risiko-Management im und nach dem Studium Gerade das persönliche Risiko-Management wird während des Studiums und danach oft vernachlässigt. Aber mit den Wechselfällen des Lebens und dem Schutz von Hab und Gut sollten Sie sich frühzeitig beschäftigen. Folgende existenzielle Risiken sollten Sie unbedingt absichern: Unfall Unfälle im Studium, Beruf und in der Freizeit, weltweit und rund um die Uhr Privathaftpflicht Schutz vor den finanziellen Auswirkungen von Schäden, die Sie Dritten zufügen und für die Sie nach dem Gesetz verantwortlich sind (auch z. B. an der Hochschule bei Teilnahme an Vorlesungen, Seminaren, Praktika, am Hochschulsport oder im Labor) Hausrat Schäden an Hausratgegenständen (z. B. Möbel, Teppiche, Bekleidung etc.) und an elektrischen Haushaltsgeräten (z. B. Waschmaschine, TV, Computer etc.) durch Brand, Blitzschlag, ExploDebeka Krankenversicherungsverein a. G. Lebensversicherungsverein a. G. Allgemeine Versicherung AG Pensionskasse AG Bausparkasse AG

sion, Detonation, Verpuffung, Implosion, Einbruchdiebstahl, Raub, Leitungswasser, Sturm und Hagel. Optional: Ersatz des Fahrrads, wenn es gestohlen werden sollte Nutzen Sie den Beitragsvorteil von über 20 % gegenüber den Normaltarifen. Die Sonderkonditionen gelten bis zur Vollendung des

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Chefredakteur: Erik Bertram Geschäftsführer: Michael Lönne Konzeption & Art Direction: Jonas Meyer, jmvc.de Fotografie: Maximilian König, www.maximilian-koenig.com Illustrationen: Roland Brückner, bitteschoen.tv Redaktion: Barbara Gerlach, Sebastian Hass, Anja Pfeffermann und Carl-Philipp Sassenrath Bewegtbild: Marcel Schlegelmilch Herausgeber: Dorothee Bär, Ursula Männle, Arnold Vaatz, Mario Voigt, Matthias Wissmann und Martin Röckert als Bundesvorsitzender des RCDS Beirat: Christoph Brand, Stephan Eisel, Matthias Graf von Kielmansegg, Jürgen Hardt, Johannes Laitenberger, Gottfried Ludewig, Fabian Magerl, Heinz Neubauer, Peter Radunski, Hans Reckers, Christian Schneller, Wulf Schönbohm und Johannes Zabel

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