CIVIS mit Sonde 2016/2

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Sicherheit

CIVIS & SONDE


7 . D e M o K r A t I e - K o n g r e S S

Wie gefährdet ist die Demokratie? Kongress der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Verhältnis von „Populismus und Demokratie”

18. November 2016 | 14.00 Uhr Ehem. Plenarsaal des Deutschen Bundestages | Bonn n Peter Altmaier MdB

Chef des Bundeskanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben n Dr. Wolfgang Schüssel

Bundeskanzler der Republik Österreich a. D. und Vorsitzender des Kuratoriums der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. In den Podien diskutieren unter anderem: n Prof. Dr. Ulrike Ackermann

Gründerin und Leiterin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung in Heidelberg n Prof. Dr. Eckhard Jesse

Professur Politische Systeme Technische Universität Chemnitz (Emeritus)

Der Kongress bilanziert überdies „60 Jahre Politische Bildung” der Konrad-Adenauer-Stiftung. Weitere Informationen sowie eine Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie unter

www.kas.de/demokratiekongress2016

Fotos v.l.: © Peter Altmaier, ÖVP, ASU – Die Familienunternehmer, E. Jesse

u. a. mit folgenden Gästen:


CIVIS & SONDE


»Wir werden von allen Seiten bedroht, unser Staat ist den größten Gefahren ausgesetzt, und die Welt um uns droht einzustürzen. Aber in dieser Situation gilt es umso mehr, dass wir uns auf die Prinzipien des Rechtsstaats verlassen. Mit dem Recht ist es nämlich wie mit der Freundschaft – sie taugt nichts, wenn es sie nur für die guten Tage gibt.« Schlussvortrag der Staatsanwältin im Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach


»[…] Wenn Sie also ein zweifelhaftes Verfassungsprinzip über diesen einzelnen Fall stellen, dann sagen Sie damit, dass wir uns gegen Terroristen nicht wehren dürfen. Vielleicht hat die Staatsanwältin recht, vielleicht machen wir die Passagiere damit zu Objekten, und vielleicht nehmen wir ihnen damit die Würde. Aber wir müssen begreifen, dass wir im Krieg sind. Wir haben es uns nicht ausgesucht, aber wir können es nicht ändern. Und Kriege, auch wenn das heute niemand mehr hören will, gibt es nun einmal nicht ohne Opfer.« Schlussvortrag des Verteidigers im Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach


CIVIS & SONDE 02 — 2016

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Liebe Leserin, lieber Leser,

Fanatismus am effektivsten mit Freiheit, Offenheit und noch mehr Toleranz gegenüber Andersgläubigen und Menschen aus einem anderen Land mit einer anderen Kultur.

ein täglicher Blick in die Medien genügt um den Eindruck zu gewinnen, die Welt sei vollkommen aus den Fugen geraten. Beispiele findet man zuhauf: Immer wiederkehrende Anschläge von IS-Terroristen, Amokläufe psychisch labiler Einzeltäter, der Untergang ganzer Staaten im Nahen Osten sowie bürgerkriegsähnliche Zustände, die sich nur durch ihre Grausamkeit voneinander unterscheiden. Die Zeitungen und Fernsehsendungen überschlagen sich geradezu mit Meldungen, die auf die vielen getöteten Menschen hinweisen und uns allgemein das Gefühl geben, dass man nirgendwo auf dieser Welt, selbst zu Hause, mehr sicher sein kann.

Mit Blick auf die aktuellen Geschehnisse wollen wir uns in diesem Heft schwerpunktmäßig mit drängenden sicherheitspolitischen Fragen unserer Zeit beschäftigen. Müssen wir unsere Freiheit zugunsten der Sicherheit einschränken? Sollten Deutschland seine Außenpolitik nicht nur von Werten, sondern auch stärker von Interessen leiten lassen? Und was bedeutet der „Brexit“ für den Zusammenhalt der Europäischen Union und der NATO? Diese und viele andere spannende Themen finden Sie in dieser Ausgabe.

Dabei ist es doch genau das, was der Terror sich zum Ziel gesetzt hat. Er will verunsichern, Angst schüren, unser alltägliches Leben beeinträchtigen. Der sogenannte „Islamische Staat“ selbst ist weit weg von uns, doch in Würzburg oder München sind wir fast alle schon einmal gewesen. Wir kennen Freunde und Bekannte, die dort leben, und aufgrund derer all die abscheulichen Taten ganz plötzlich einen persönlichen Bezug erhalten. Doch die Antworten auf diese Ereignisse dürfen nicht Hass oder Abschottung lauten, denn sobald wir unsere Lebensweise an die äußeren Umstände anpassen, hat der Terror über unsere freiheitliche Grundordnung, über unser Wertesystem, gesiegt. Diesen Gefallen dürfen wir all denjenigen, die unser Leben mit Gewalt beeinträchtigen wollen, nicht tun. Stattdessen bekämpft man religiösen

Wir wünschen Ihnen eine interessante und kontro­verse Lektüre! Herzlichst

Erik Bertram Chefredakteur

PS: Besuchen Sie CIVIS mit Sonde doch auch mal in den sozialen Netzwerken auf Facebook und Twitter oder unter www.civis-mit-sonde.de!

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Im Gespräch 10

Ordnung und Unordnung CIVIS mit Sonde im Gespräch mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière

Briefwechsel 32

Sicherheit vs. Freiheit Briefwechsel zwischen Stephan Mayer und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Kontraste 38

Von Werten und Interessen Meinungen von Kristina Eichhorst und Carlo Masala in der Gegenüberstellung

Standpunkte 48

Keine Digitalisierung ohne Cyber-Sicherheit Arne Schönbohm über die Herausforderungen digitaler Sicherheitspolitik

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Gemeinsam mit unserer Sicherheit stirbt auch die Freiheit Rainer Wendt über die Rolle der Polizei im Innern

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Zwischen Staatsraison und Menschenwürde Sven Thomas über die rechtliche Dimension des Theaterstücks "Terror"

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Fanal des Terrors in Europa Florian Hartleb über die Zeit nach dem „schwarzen Juli“ 2016

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Standpunkte 70

Zur Verteidigung der Sicherheit Deutschlands Hendrik Hoppenstedt über die rechtlichen Aspekte von Bundeswehreinsätzen

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Hybride Kriegführung betrifft uns alle! Uwe Hartmann über eine moderne Form des Krieges

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Bundeswehr im Innern Bastian Schneider über die Bedeutung der Bundeswehr in unserer Gesellschaft

Aus aktuellem Anlass 86

Same Same But Different Pia Seyfried über die Auswirkungen des Brexit auf die Verteidigungspolitik der EU

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Herz über Kopf – Lehren aus dem Brexit Henrique Laitenberger und der Ausstieg Großbritanniens aus der EU

In Memoriam 94

Lothar Späth zum Gedächtnis Nachruf von Bernhard Vogel auf den verstorbenen Lothar Späth

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Abonnement

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Impressum

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Interview: Carl-Philipp Sassenrath Fotografie: Maximilian König

Ordnung und Unordnung CIVIS mit Sonde im Gespräch mit dem Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière, über die öffentliche Sicherheit, die Flüchtlingspolitik, die AfD und das Verhältnis zur CSU.



»Man sollte seine eigene Zeit und seine Generation nicht zu wichtig nehmen.«

CIVIS: Herr Bundesminister, was ist das für ein Bild an Ihrer Wand?

Was den inneren Frieden angeht: Ich spreche bewusst vom Zusammenhalt der Gesellschaft. Das geht weit über den Frieden im Inneren hinaus. Dazu gehört ein Mindestmaß an Kohäsion in unserer Gesellschaft und dass die Ränder nicht ausfransen, dass wir uns zugehörig fühlen zu diesem Land. Das ist der gesellschaftliche Zusammenhalt. Und der funktioniert nicht nur mit Mitteln von Polizei und Justiz, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Für beide Aspekte ist der Bundesinnenminister zuständig Das macht dieses Amt so reizvoll.

de Maizière: Das ist ein Werk von Olaf Holzapfel, einem zeitgenössischen Dresdner Künstler, und heißt „Looking for a Yellow Frog“. Es handelt sich um zusammengefügte Bauzeichnungen, die nach meiner Wahrnehmung Unendlichkeit symboli­ sieren sollen. Was ich daran schön finde: Es entsteht das Gefühl von Ordnung, obwohl das Bild eigentlich total unordentlich ist und nichts so richtig zusammenpasst. Den gelben Frosch habe ich aber noch nicht gefunden.

CIVIS: Trotz Ihres umfassenden Aufgabenspektrums steht derzeit die öffentliche Sicherheit sehr stark im Fokus. Muss mehr für die öffentliche Sicherheit getan werden als früher?

CIVIS: Ihre Aufgabe ist es, die öffentliche Ordnung zu erhalten oder gegebenenfalls herzustellen. Ein Bereich, in dem dies gegenwärtig von besonderer Bedeutung erscheint ist jener, der gemeinhin als „innere Sicherheit“ bezeichnet wird. Sie bevorzugen jedoch den Sprachgebrauch „innerer Frieden“ und „öffentliche Sicherheit“. Was möchten Sie damit inhaltlich zum Ausdruck bringen und welche Folgen hat das für das Aufgabenprofil Ihres Ministeriums?

de Maizière: Ja. Und vieles haben wir im Bund da schon erreicht. Wir haben wichtige Gesetze auf den Weg gebracht und verabschiedet und ich habe mich erfolgreich dafür eingesetzt, dass die Sicherheitsbehörden des Bundes erheblich aufgestockt wurden. Die Bedeutung des Themas war aber auch in anderen Perioden schon groß. Das war bei Otto Schily, bei Wolfgang Schäuble oder bei Hans-Dietrich Genscher, während der Olympischen Spiele in München oder der RAF-Zeit auch nicht anders. Es gibt Phasen, in denen die öffentliche Sicherheit stärker bedroht ist, und dann sind natürlich diejenigen, die dafür Verantwortung tragen, stärker im Interesse der Öffentlichkeit. Ich glaube aber, man sollte seine eigene Zeit und seine Generation nicht zu wichtig nehmen.

de Maizière: Viele Menschen können mit dem Begriff der inneren Sicherheit nicht viel anfangen oder verbinden damit eher die persönliche Selbst­ sicherheit, für die in einer freiheitlichen Demokratie die Menschen selbst zuständig sind. Außerdem lässt sich Sicherheit inzwischen kaum mehr strikt in Inneres und Äußeres trennen. Der Bereich, für den ich zuständig bin, ist die öffentliche Aufgabe schlechthin und Kern dessen, wofür ein Staat überhaupt existiert: die öffentliche Sicherheit.

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Was aber neu ist, hat ganz zentral mit dem Thema IT-Sicherheit und Cyber-Kriminalität zu tun: Während wir im Deutschen nur einen Begriff für Sicherheit haben, gibt es im Angelsächsischen mindestens zwei: „safety“ und „security“. „Safety“ bedeutet, dass ein Flugzeug nur dann abheben darf, wenn die Turbinen sicher sind, und „security“ liegt vor, wenn wir daran arbeiten, dass das Flugzeug nicht von Terroristen abgeschossen werden kann. Wir Deutschen haben für all das nur einen Begriff: Sicherheit. Die Anforderungen an "safety" sind dabei immer höher als an "security". Die Betriebssicherheit muss immer zu annähernd einhundert Prozent gewährleistet sein, im Bereich der "security" kann man dagegen nie den Zustand vollständiger Sicherheit herstellen. Im IT-Bereich verschwimmen die Begriffe von "safety" und "security" nun zunehmend. Es ist eine besondere Situation, dass der Innenminister im IT-Bereich zugleich für eine gleichbleibend hohe Betriebssicherheit sowie für die Abwehr von Angriffen zuständig ist, während für die Betriebs­ sicherheit von Autos der Verkehrsminister zuständig ist, bei Kraftwerken der Energieminister und beim Hochwasserschutz der Umweltminister.

lichem beziehungsweise europäischem Geltungs­ anspruch des öffentlichen Rechts und der faktisch globalen Verbreitung des Regelungsgegenstandes Internet.

CIVIS: Die Informationstechnologien lösen einen Strukturwandel öffentlicher und internationaler Gewalt aus – bis hin zu einer partiellen Erosion staatlicher Monopole. Wie muss sich staatliche Politik neu organisieren, um dieser Herausforderung auf Augenhöhe begegnen zu können?

CIVIS: Viele dieser Aspekte würden im intergouvernementalen Bereich umgesetzt werden?

»Wir müssen an weltweiten Standards arbeiten.« Wie können wir darauf reagieren? Wir müssen erstens das regeln, was wir nationalstaatlich regeln können. Wir haben jetzt zum Beispiel festgelegt, dass auch beim Kauf eines Prepaid-Handys die eigene Identität sicher nachgewiesen werden muss. Wir müssen zweitens bei grenzüberschreitenden europäischen Sachverhalten europäische Regelungen treffen. Das haben wir beispielsweise bei der europäischen Datenschutzgrundverordnung gemacht. Und drittens müssen wir an weltweiten Standards arbeiten. Zum Beispiel wollen wir eine international wirksame Selbstverpflichtung von Telekommunikationsprovidern erwirken, Aufrufe zu Hass und Terror selbstständig aus dem Netz zu entfernen.

de Maizière: Soweit es nicht nationalstaatlich ist, ja. Oder auch durch neues Völkerrecht, was sich begründen wird. Dafür gibt es mittlerweile auch entsprechende Gremien auf UN-Ebene. Aber die Interessen sind natürlich zwischen uns, den USA und China, um einmal drei Staaten zu nennen, teilweise sehr unterschiedlich gelagert. CIVIS: Und dadurch der Koordinationsaufwand... de Maizière: ...ungleich höher. Und derzeit werden technologisch Fakten geschaffen. Deswegen ist es wichtig, dass wir im europäischen Markt hinreichende IT-Kapazitäten besitzen und zusehen, dass wir die Beurteilungskompetenz sichern und zeitnah einen gemeinsamen europäischen Regelungsrahmen finden. Wenn die Standards zwischen Amerika, Europa, Asien und Afrika sehr unterschiedlich sind, dann werden sich große amerikanische Unternehmen eher überlegen, ob sie nicht lieber einen gemeinsamen europäischen Standard nehmen. Der Anreiz wäre ungleich größer, als wenn jeweils national unterschiedliche Standards gelten würden.

de Maizière: Das zentrale Problem ist nicht die Erosion des staatlichen Gewaltmonopols, sondern ein Auseinanderfallen von nationalstaat­­ -

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CIVIS: Das setzt aber zunächst Einigungen auf europäischer Ebene voraus.

de Maizière: Der Begriff des „Gefährders“ ist vor allem für die Polizei von großer Bedeutung, damit sie zum Beispiel weiß, ob sie an der Grenze einen gefährlichen Menschen vor sich hat. Es ist auf europäischer Ebene in der Tat bisher nicht gelungen, eine allgemeingültige Definition des „Gefährders“ abzustimmen. Die Rechtstraditionen sind dafür zu unterschiedlich.

de Maizière: Mit der europäischen Datenschutzgrundverordnung haben wir ein europäisches Recht für die Nutzung von Internetangeboten in Europa geschaffen. Gleichzeitig wurde eine Entscheidungsinstanz begründet, die aber keine neue supranationale Behörde erforderlich macht. Vielmehr gibt es einen Zusammenschluss der nationalen Datenschutzbeauftragten, mit der Möglichkeit, gegen deren Bescheide in dem Land der Belegenheit zu klagen. Das ist nicht besonders einfach, war aber der bestmögliche Kompromiss zwischen „wir haben zwar eine europäische Regelung, aber es wird nur national entschieden“ und „wir haben eine europäische Regelung mit einer europäischen Suprabehörde“. Wir werden sehen, wie gut dieser Mechanismus funktioniert, dann könnte er vielleicht auch für andere den Maßstab bilden.

»Andere Staaten fordern oft keine Tatsachen, es reicht der bloße Verdacht.« Für uns ist ein Gefährder jemand, aus dessen Verhalten konkrete Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass er oder sie einen terroristischen Anschlag oder eine besonders gefährliche Straftat begehen könnte. Andere Staaten fordern oft keine Tatsachen, es reicht der bloße Verdacht. Wir werden insbesondere Staaten, in denen sich große Terroranschläge ereignet haben, nicht so schnell dazu bringen, den Gefährderbegriff enger zu fassen.

CIVIS: An anderen Stellen, etwa wenn es im Bereich der öffentlichen Sicherheit um den Begriff des Gefährders geht, bestehen zwischen den europäischen Staaten Uneinigkeiten.

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CIVIS: Sind es auch diese Unterschiede der Rechtstraditionen, die auf europäischer Ebene zu Problemen bei der Errichtung und Pflege gemeinsamer Datenpools führen?

Aber auch das deutsche Institut der Zweckbindung verbietet nicht, dass man aus guten Gründen das einmal erhobenen Datum auch zu anderen Zwecken nutzen kann. Und die Wahrung der öffentlichen Sicherheit kann ein solcher guter Grund sein. Das geht schon, wenn man will. Die spannende Frage bei der Zweckbindung ist eher, wann man „Big Data“-Anwendungen auch im Bereich persönlicher Daten erlaubt. Wann also darf man Daten nutzen, die zu einem bestimmten Zweck erhoben worden sind, die aber zu einem anderen Zweck vielleicht gemeinnützlich eingesetzt werden könnten, etwa bei medizinischen Reihenuntersuchungen.

de Maizière: Wer ein Visum beantragt, geht durch das sogenannte „Visa-Informationssystem“, bei dem die Begriffe völlig klar sind. Wer nach Europa kommt und Asyl beantragt, für den gilt die Eurodac-Verordnung und da sind die Regeln auch klar. Dort soll allerdings der Anwendungsbereich breiter werden. Bei Beidem – Visa und Migration – haben wir nicht das Problem mangelnder übereinstimmender Begrifflichkeiten, sondern dass diese Datentöpfe faktisch Datensilos darstellen und nicht miteinander verknüpft sind. Das ist ein grundsätzliches Problem und die Anschläge in Paris und Brüssel haben gezeigt, dass wir das lösen müssen. Wir brauchen eine intelligente Verknüpfung von den Informationen, die uns über Reisende nach Europa bekannt sind, von Menschen, die ein Visum beantragen, die als Touristen hierher kommen oder die wir als Straftäter oder gefährliche Menschen bezeichnen. Letztlich geht es darum, Straftaten besser verhüten und aufklären zu können. Die Innenminister der EU haben deswegen beschlossen, die Interoperarbilität solcher Datensilos zu ermöglichen.

CIVIS: Die Datenerhebung erfolgt ja insbesondere auch durch Nachrichtendienste. Wie begegnen Sie der Kritik an deren Arbeit?

»Wenn Nachrichtendienste Daten erheben, dann entstehen sehr kritische Fragen.« de Maizière: Zunächst bin ich mir nicht sicher, ob die Nachrichtendienste wirklich die meisten Daten erheben. Polizei, Finanzbehörden, Meldebehörden, Sozialbehörden, Steuerbehörden, Ausländerbehörden erheben eine Fülle von Daten und das ist bei der Bevölkerung völlig unstreitig. Von Datenerhebungen durch private Unternehmen mal völlig abgesehen. Wenn Nachrichtendienste Daten erheben, dann entstehen plötzlich sehr kritische Fragen. Das verstehe ich einerseits. Aber das Nachrichtendienste zum Zwecke öffentlicher Sicherheit gerade auch im Vorfeld gefährlicher Entwicklungen Daten erheben müssen, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Wir in Deutschland statten unsere Nachrichtendienste aus den Erfahrungen der Nazizeit und der DDR-Diktatur nicht mit exekutiven Befugnissen aus. Das Bundesamt für Verfassungsschutz darf zum Beispiel niemanden festnehmen. Das ist in anderen Staaten, auch in demokratischen Staaten, anders. Da haben Nachrichtendienste durchaus auch operative Befugnisse. Bei uns ist es so: Wenn jemand festgenommen werden soll, dann brauchen wir einen Richter und einen Haftbefehl, denn dann bestehen strenge rechtsstaatliche Kriterien. Insofern ist das System völlig in Ordnung.

CIVIS: Steht die Verknüpfung von Datentöpfen nicht im Widerspruch zur Zweckbindung von Datenerhebung und Datenaustausch?

de Maizière: Unser deutsches Datenschutzrecht lebt vom Begriff der Zweckbindung. Das Datum eines Menschen, das von Behörden zu einem öffentlichen Zweck erhoben wird, darf nur zu diesem Zweck verwendet werden. Andere europäische Staaten kennen diesen Grundsatz nicht.

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CIVIS: Wie ist es mit dem Zweck nachrichtendienstlicher Arbeit vereinbar, wenn in der Öffentlichkeit immer wieder mehr Transparenz der Nachrichtendienste gefordert wird?

Jahre, etwas zu stark auf die Nachrichtendienste. Private Unternehmen hingegen sammeln ohne jede Transparenz aus Gründen des Geschäftsinteresses eine Menge Daten und verknüpfen sie.

de Maizière: Nachrichtendienste können ihre wichtigen Aufgaben nicht erfüllen, wenn alles öffentlich ist. Wir sind auch mit unseren Partnern nicht kooperationsfähig, wenn sie die Sorge haben müssen, dass ihre Informationen ver­ öffentlicht werden könnten. Deswegen haben wir eine parlamentarische Kontrolle, die hinter verschlossenen Türen stattfindet. Wir teilen also mit fast allen Demokratien der Welt, dass es strenge Kontrollgremien in den Parlamenten gibt, die aber eben nicht öffentlich arbeiten. Und deswegen gibt es da grundsätzlich kein Demokratiedefizit zu beklagen. Da wo wir Verbesserungspotential sehen, wird dies gerade mit der Reform der parla­ mentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste konsequent angegangen. Wir fokussieren uns aber bei der Transparenz, vielleicht auch wegen den Erfahrungen der letzten

»Private Unternehmen hingegen sammeln ohne jede Transparenz eine Menge Daten.« Wenn das Angebot eines Unternehmens besonders attraktiv ist, haben wenige etwas dagegen, ihre Daten zu übermitteln. Ich will es an einem weiteren Beispiel klar stellen: Wenn der Staat Bewegungsprofile erstellt, ist das sofort Gegenstand kritischer Beobachtung. Wenn ein Internetunternehmen Bewegungsprofile erstellt, damit sie wissen wo die nächste Pizzeria ihrer Wahl ist, dann nimmt daran niemand Anstoß. Es gibt da so manchen Wertungswiderspruch, den man sich vielleicht bewusster machen sollte.

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CIVIS: Im Blickpunkt der Diskussionen standen auch die sogenannten „Foreign Fighters“. Von wie vielen sich in Deutschland aufhaltenden Foreign Fighters gehen Sie derzeit aus?

mit über 1000 Tatverdächtigen. So viele hatten wir noch nie. Diese Regelungen, die insbesondere das Reisen in Krisengebiete an sich unter Strafe gestellt haben, waren eine wesentliche Mög­ lichkeit, überhaupt Ermittlungen durchführen zu können.

de Maizière: Foreign Fighters sind Menschen, die in Deutschland leben oder gelebt haben, in ein Krisengebiet gehen, um dort zu kämpfen oder in anderer Weise den Terror zu unterstützen und dann nach einiger Zeit zurückkommen. Wir haben derzeit etwas mehr als 800 solcher Foreign Fighters aus Deutschland. Davon ist etwa ein Drittel wieder zurückgekehrt und etwa 140 dieser Personen sind in Syrien oder im Irak ums Leben gekommen.

CIVIS: Wenn präventive Mechanismen zur Terrorabwehr versagen, muss der Staat unter Umständen dafür gewappnet sein, zum letzten Mittel zu greifen. Im Luftsicherheitsgesetz war eine Möglichkeit vorgesehen, von Terroristen gekaperte Flugzeuge gezielt zum Absturz zu bringen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung verworfen. Das Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach simuliert den Strafprozess eines Bundeswehrpiloten, der entgegen der bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten und der militärischen Anweisungen ein auf die vollbesetzte Allianz-Arena zufliegendes Flugzeug abschießt. Über das Fehlen passender Regelungen für diese Extremfälle schreibt der Rechtsanwalt Dr. Sven Thomas in diesem Heft: „Es erstaunt nicht,

CIVIS: Inwieweit haben sich die neuen strafrechtlichen Regelungen in Bezug auf die Foreign Fighters bewährt? de Maizière: Wir verzeichnen nach den Gesetzesverschärfungen einen großen Anstieg von Ermittlungsverfahren. Wir haben allein über 700 Verfahren im Kontext des islamistischen Terrorismus

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»Nachrichtendienste können ihre wichtigen Aufgaben nicht erfüllen, wenn alles öffentlich ist.« Deutschen Bundestag geführt, über die Fragen der Sterbehilfe und der Stammzellenforschung. Tatsächlich gibt es da Bereiche, die sich einer juristischen Regelbarkeit entziehen. Dann muss aber trotzdem im Einzelfall entschieden werden, wie jetzt etwa der Umgang mit der Menschenwürde ausgelegt werden muss.

dass der Pilot Lars Koch von den Theaterbesuchern in der überwiegenden Mehrheit als Opfer gesehen wird, der für die Insuffizienzen des Gesetzgebers den Kopf hinhalten soll. Wer die Verfassung ins Wanken bringt, kann nicht Kompensation über die Verurteilung desjenigen verlangen, der die (gewollte) wenig gepflegte Arbeit für die Gesellschaft erledigt.” Wie lautet ihre Reaktion auf diesen Vorwurf?

CIVIS: Aber entzieht sich der Gesetzgeber und damit der Staat nicht seiner Verantwortung, wenn er die Entscheidung über einen Abschuss im Einzelfall den Bundeswehrpiloten überlässt?

de Maizière: Die Formulierung halte ich für abwegig. Der Gesetzgeber hat ein Gesetz mit einer klaren Regelung erlassen. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz aufgehoben mit der Begründung, dass es nach der Menschenwürde des Grundgesetzes „schlechterdings unvorstellbar ist, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls sogar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten vorsätzlich zu töten.“

»Wir haben es mit Grenzen des Rechts zu tun.« de Maizière: Nein, ich kann mir kaum eine gesetzliche Regelung vorstellen, die in einem solchen Fall alle denkbaren Konflikte bewältigen könnte. Ab wann sollte denn der Abschuss eines Flugzeugs zulässig sein? Wenn ein Flugzeug mit 200 Passagieren auf ein Hochhaus mit 300 Bewohnern zufliegt? Oder erst bei 200 Passagieren gegenüber 70.000 Menschen? Das ist durch den Gesetzgeber schlechterdings nicht regelbar.

Das Bundesverfassungsgericht hat aber zugleich gesagt, dass damit kein Urteil über die strafrechtliche Bewertung eines möglichen Einzelfalls gesprochen wurde. Wir haben es deshalb nicht mit einer Insuffizienz des Gesetzgebers, sondern mit Grenzen des Rechts zu tun. Der Gesetzgeber kann und sollte in diesen Grenzbereichen keine Regelungen treffen. Wir haben eine ähnliche, sehr sehr schwierige Debatte im

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»Man muss sich damit abfinden, dass diejenigen, die in der Exekutive tätig sind, eine Entscheidung treffen und dafür die Verantwortung tragen müssen.«

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Man muss sich damit abfinden, dass diejenigen, die in der Exekutive tätig sind, eine Entscheidung treffen und dafür die Verantwortung tragen müssen. Helmut Schmidt hat vor dem Einsatzbefehl bei der Befreiung der Geiseln in einem Flugzeug in Mogadischu eine schriftliche Rücktrittserklärung verfasst und gesagt: Wenn das schief geht, trete ich zurück. Und einer meiner Vorgänger als Verteidigungsminister, Georg Leber, hatte auch einen solchen Fall zu entscheiden, der sich dann anders gelöst hat, weil er sich nicht als ein Angreifer herausstellte, sondern als ein Fehler eines Piloten. Ein ähnliches Beispiel betrifft den finalen Rettungsschuss, der zu den schwierigsten Entscheidungen eines Polizeibeamten gehört. Sie können als Gesetzgeber nur sagen, dass ein solches Vorgehen in seltenen Einzelfällen notwendig ist. Aber das nimmt nicht die Entscheidung des Polizeiführers oder des Scharfschützen ab, unter Umständen den Geiselnehmer zu erschießen. Natürlich wäre es besser, wenn der Rechtsanwender Hilfe vom Gesetzgeber bekommt, aber in solchen Extremsituationen muss die Exekutive die Verantwortung übernehmen und entscheiden. CIVIS: Lassen Sie uns versuchen, von den Sicherheitsaspekten einen Bogen zum Thema der Flüchtlingskrise zu schlagen. Welche Zusammenhänge bestehen denn zwischen den beiden Bereichen und ist das der jeweiligen Sache dienlich? de Maizière: Zunächst will ich mal sagen: Wenn so viele Menschen nach Deutschland kommen, dann sind das nicht alles Heilige oder alles Straftäter. Unter den Flüchtlingen findet man natürlich die gesamte Bandbreite des menschlichen Lebens. Und wenn viele Menschen ins Land kommen, steigt auch, weil es einfach mehr Menschen sind, die Kriminalitätsbelastung. Übrigens auch gegen Asylbewerber und Asylbewerbereinrichtungen.

zeigt, dass wir große Unterschiede zwischen Flüchtlingsgruppen haben. Syrer, zum Beispiel, sind in der Regel unterdurchschnittlich an Straftaten beteiligt. Dagegen sind Asylbewerber aus den Westbalkanstaaten und aus den nordafrikanischen Staaten weit überdurchschnittlich vertreten.

»Wenn viele Menschen ins Land kommen, steigt auch die Kriminalitätsbelastung.«

CIVIS: Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? de Maizière: Man kann jetzt nicht alle Asylbewerber dafür in Haft nehmen, dass diejenigen aus bestimmten Herkunftsländern überproportional kriminell sind, sondern man muss spezifische Regelungen schaffen. Das haben wir gemacht mit einem verschärften Ausweisungsrecht und beschleunigten Verfahren für diejenigen, die aus sicheren Herkunftsländern kommen oder die sich

Da es viele Gerüchte und Spekulationen gab, welche die AfD und andere für ihre Propaganda missbraucht haben, habe ich im letzten September ein Lagebild der Kriminalitätsbelastung durch Asylbewerber in Auftrag gegeben. Das Ergebnis

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sonst der Mitwirkung in den Verfahren verweigern. Daneben gibt es die Sorge, dass sich unter den Flüchtlingen Terroristen einschmuggeln könnten. Darauf haben wir in der Tat Hinweise, und jedem wird nachgegangen. Teilweise konnten wir die Ermittlungen einstellen, teilweise ermitteln die Sicherheitsbehörden auch noch weiter. Natürlich gab es auch schon Festnahmen von Menschen, die als Asylbewerber zu uns gekommen sind.

verschiedenen. Beispielsweise müssen Straftäter erstmal ermittelt und überführt werden. Solche Verfahren müssen zuerst abgeschlossen sein. Das dauert in Deutschland teilweise zu lange. Zudem hatten wir Fälle von Abschiebungen, in denen Asylbewerber kurz zuvor eine erneute Straftat begangen haben. Dann hat die Staatsanwaltschaft das Einvernehmen zur Abschiebung nicht erteilt, weil diese Straftat unter Umständen in Deutschland abgeurteilt werden muss. Es könnte ja sein, dass diese Straftat im Ausland andernfalls nicht verfolgt wird. Daneben gibt es beispielsweise auch medizinische Abschiebehindernisse, Schwierigkeiten bei der Identitätsklärung und der Passersatzbeschaffung, und Engpässe bei der Ausstattung der Ausländerbehörden. An all diesen Punkten arbeiten wir und das hat zunächst nichts mit den Herkunftsländern zu tun.

CIVIS: Herr Bundesminister, Sie haben mehrere bilaterale Rückführungsabkommen geschlossen. Dieser Tage stellt sich heraus, dass diese nicht in dem Maße erfolgreich sind, wie man sich das erhofft hätte. Was muss man tun? de Maizière: Es gibt aber nicht ein alleiniges Abschiebehindernis, sondern eine Häufung von

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»Wir haben von Anfang an daran gearbeitet, den Schutz der europäischen Außengrenzen zu gewährleisten.«

CIVIS: Und wo liegen die Probleme in der Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern?

de Maizière: Dass innerhalb der Union - nicht nur zwischen CDU und CSU - über bestimmte Grundfragen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden, ist nichts Ungewöhnliches.

de Maizière: Zuerst wollen die Herkunftsländer nachvollziehbarer Weise wissen, ob das ihre Staatsbürger sind. Und wenn jemand keinen Pass hat, weil er ihn verloren oder bewusst weggeschmissen hat, dann müssen wir erst einmal in irgendeiner Weise nachweisen, aus welchem Land die Person kommt. Da wir in vielen Staaten der Welt Grenzziehungen quer durch verschiedene Ethnien haben, ist das gar nicht so einfach. Ein Paschtune aus Afghanistan kann sagen: Ich komme aus Pakistan. Er kann aber auch sagen: Ich komme aus Afghanistan. Den Nachweis dann zu führen, welche Staatsangehörigkeit er hat, ist nicht trivial. Ähnliches gilt für die Kurden und auch für Menschen, die in Tunesien und Libyen leben. Nun haben wir aber mit drei nordafrikanischen Staaten vereinbart, dass wir Fingerabdrücke nutzen. Die marokkanische Seite hat zugesagt, dass sie uns innerhalb von 45 Tagen mitteilt, ob es sich um einen Marokkaner handelt oder nicht. Kurzum: Die Bereitschaft einiger Staaten, ihre Staatsbürger zurückzunehmen, muss besser werden. Aber es liegt nicht nur daran, sondern auch an innerstaatlichen Hindernissen, die wir gemeinsam, Bund und Länder, jetzt abarbeiten.

»Was mich gestört hat, war der Ton der Debatte.« Wir haben heftig etwa über die Frage der Ostpolitik von Willy Brandt diskutiert, über die Aussetzung der Wehrpflicht, über die Frage der Einführung des Mindestlohns und die Frage der Mitbestimmung. Es ist also normal, dass zentrale politische Entwicklungen auch in der Union kontrovers diskutiert werden. Was mich aber gestört hat, war der Ton der Debatte. Es wurde ein Vokabular verwendet, das der schwierigen Lage unangemessen war. CIVIS: Inhaltlich wurde kritisiert, dass man Anzieheffekte ausgelöst und den Schutz der Außengrenzen aufgegeben habe. de Maizière: Dass wir den Außengrenzschutz aufgegeben haben, stimmt doch nicht. Wir haben vielmehr von Anfang an daran gearbeitet, den Schutz der europäischen Außengrenzen zu gewährleisten und wo nötig zu verbessern. So wurde eine neue Frontex-Verordnung erarbeitet, die Frontex zu einer europäischen Küstenwache aufwertet.

CIVIS: Gemeinsames Handeln ist zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU zuletzt manches Mal ausgeblieben.

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CIVIS: Als Innenminister sind Sie, wie sie eben auch schon beschrieben haben, für den inneren Frieden der Gesellschaft verantwortlich. Sehen Sie diesen durch Populisten, etwa durch die AfD, erheblich gefährdet? Inwiefern muss den Sorgen der AfD-Wähler Verständnis entgegen gebracht werden und wie bewahrt man da die richtige Balance?

CIVIS: Aber hätte man nicht früher erkennen müssen, dass es auf europäischer Ebene nicht zu effektiven Lösungen kommt? de Maizière: Wir sind der Überzeugung, dass nationale Lösungen keine nachhaltigen Lösungen gewesen wären. Die Flüchtlingszahlen waren so groß, dass beispielsweise eine Grenzschließung möglicherweise gar nicht hätte durchgesetzt werden können. Eine dauerhafte nationale Lösung hätte darüber hinaus jede Menge Probleme, auch wirtschaftlicher Art, hervorgerufen. Deswegen war die Schließung der Balkanroute nur in Verbindung mit der Vereinbarung mit der Türkei der richtige Weg. Mit der Vereinbarung ist klar, dass jeder, der von der Türkei irregulär nach Griechenland kommt, keine Chance hat, in Europa Asyl zu bekommen. Und deswegen finde ich, dass spätestens nach dem wir dieses Abkommen geschlossen haben, der Streit auch im Interesse der Zusammenarbeit innerhalb der Union für erledigt erklärt werden muss.

»Wir sollten nicht Stichwortgeber für die AfD sein.« de Maizière: Das ist eine Gratwanderung. Wir sollten nicht Stichwortgeber für die AfD sein. Wo die AfD aber bestehende Probleme anspricht, darf man diese nicht leugnen, nur weil die AfD darauf hinweist. Wir dürfen der AfD nur nicht das Agendasetting überlassen. Es ist immer der beste Rat, die Probleme offen anzusprechen und konsequent zu lösen, die in der Bevölkerung als problematisch empfunden werden. Das scheint mir auch der richtige Weg in der Auseinandersetzung mit dem Populismus der AfD zu sein.

CIVIS: Ist es nicht klug, dass die CSU auch andere Strömungen im politischen Spektrum zu bedienen versucht?

CIVIS: Sie selber haben auch schon einmal die Aussage von Strauß unterstrichen, es dürfe keine Partei rechts der Union entstehen. de Maizière: Der Satz ist völlig richtig. Nur können wir nicht jede Grundsatzposition der Union aufgeben, um dieses Ziel zu erreichen. Die Frage ist, wie wir das hinbekommen. Es kann sein, dass Deutschland wie fast alle anderen europäischen Länder eine rechtspopulistische Partei behält. Ich hoffe das nicht und werde hart dagegen arbeiten. Wenn es aber beispielsweise um die Menschenwürde, um die Frage des Verhältnisses zu unserer Demokratie oder um die NATO-Mitgliedschaft geht, müssen wir klar Position beziehen und klare Kante zeigen. Wenn etwa der AfD Landesvorsitzende in Thüringen sagt, die AfD sei die letzte evolutionäre Chance für das System des Bundesrepublik Deutschland, ist das die Androhung einer revolutionären Veränderung. Dem muss man hart widersprechen. Wir sind eine christlich-demo­ kratische Union im ganzen Spektrum von Mitte bis Mitte-rechts. Wir müssen selbstbewusst und in klarer Sprache für unsere Positionen werben.

de Maizière: Ja, sicher, das war auch in der Geschichte der Union von CDU und CSU schon oft so, und solange das arbeitsteilig funktioniert, ist das okay. Die Menschen akzeptieren jedoch nicht, wenn das aus taktischen Gründen geschieht. Stattdessen muss es aus innerer Überzeugung kommen und im Geiste der Geschwisterlichkeit von CDU und CSU erfolgen.

CIVIS: Herr Bundesminister, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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Dr. Thomas de Maizière MdB war von 2005 bis 2009 Chef des Bundeskanzleramtes. Von 2009 bis 2011 war er bereits einmal Bundesminister des Innern. Von 2011 bis 2013 amtierte er als Bundesminister der Verteidigung, bevor er 2013 wieder in das Bundesinnenministerium zurßckkehrte. Er ist Mitglied im CDU-Bundesvorstand.

Das Interview fand statt am 13. Juni 2016.

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Sicher­— heit vs. Frei— heit Ein Briefwechsel zwischen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Stephan Mayer

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Lieber Herr Mayer,

28. April 2016

den Staat nicht nur um die rechtmäßige Nutzung dieser Daten, sondern immer auch um das Missbrauchspotenzial, das damit verbunden ist. In den öffentlichen Debatten wird dieses Potenzial insbesondere von Vertretern der Union meist ausgeblendet. Und das ist eigentlich verwunderlich. Denn erstens haben die vergangenen Jahre gezeigt: Die Behörden sind gar nicht in der Lage, den immer größeren Datenberg auszuwerten, den sie anhäufen. Ein Plus an Sicherheit ist also kaum nachweisbar.

ich freue mich über die Gelegenheit, mich mit Ihnen zum Thema „Sicherheit vs. Freiheit“ auszutauschen. Zum Einstieg möchte ich eine Begebenheit schildern, auf die der Journalist Holger Bleich aufmerksam gemacht hat, und die sich in Amsterdam zugetragen hat. Amsterdam gilt seit jeher als Musterbeispiel gelungener Stadtplanung. Bereits 1851 begann die Stadt, systematisch Daten der Bevölkerung zu erheben, um optimal ihre Ressourcen zu verteilen. Fürs "Bevolkingsregister" gaben die Einwohner bereitwillig Beziehungsstatus, Beruf und Religionszugehörigkeit an. 1936 stieg man sogar auf die Datenerfassung mit einem hochmodernen Lochkartensystem um. 1939 aktualisierte eine Volkszählung das Stadtregister nochmals. Im Mai 1940 rissen die einmarschierten deutschen Besatzer das Register an sich und ermittelten anhand dieses Datenschatzes in wenigen Tagen fast alle jüdischen Einwohner. Ein Großteil der rund 100 000 Amsterdamer Juden wurde ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Modern ausgedrückt: Von einem Tag auf den anderen entschied ein Marker im Big-Data-Pool über Leben und Tod.

»In den öffentlichen Debatten wird das Missbrauchspotenzial von Vertretern der Union meist ausgeblendet.« Und Zweitens: Das Bundesverfassungsgericht korrigiert den Gesetzgeber regelmäßig, oft in drastischem Umfang und in klarer Sprache, weil meist von der Union mit herbei geführte Parlamentsmehrheiten die Gefahren des Missbrauchs unserer Daten und die Gefahr der Verletzungen des Kernbereichs der Grundrechte mehr oder weniger ignorieren.

Nun bringe ich diese Ereignisse natürlich nicht in unseren Dialog ein, weil ich eine zweite Machtergreifung und Deportationen befürchte. Vermutlich sind wir beide sehr glücklich über das hohe Maß an demokratischer Stabilität und Verfassungsfestigkeit in der Bundesrepublik Deutschland.

So nutze ich gerne diese Gelegenheit, lieber Herr Mayer, Sie zu fragen, warum die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in Ihrer Partei und in Ihrer Schwesterpartei auf so viel Kritik und damit auch ausgedrücktes Desinteresse stoßen.

Dennoch sollten wir bei allen Diskussionen über „Sicherheit vs. Freiheit“ die Amsterdamer Ereignisse im Hinterkopf behalten, denn sie zeigen: Es geht bei der massenhaften Datenerhebung durch

Mit besten Grüßen Ihre Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

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Sehr geehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger,

28. April 2016

Mindestspeicherungsfristen für Verkehrsdaten oder auch die Online-Durchsuchung unter der Herrschaft unseres Grundgesetzes schlechterdings undenkbar seien, in schöner Regelmäßigkeit vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen werden.

natürlich ruft die Erinnerung an das grausame Verbrechen der Judenverfolgung Abscheu und Scham hervor. Und natürlich müssen wir alles dafür tun, dass sich solche Verbrechen nie wiederholen. Ich halte es aber nicht für geeignet, uns bei dem Thema „Freiheit vs. Sicherheit“ substanziell weiterzubringen. Sie selbst aber nennen einen anderen Punkt, der mir als Hintergrund für unsere Diskussion viel besser geeignet scheint. Wir haben in der Tat – wie sie selbst schreiben – in unserem Land ein hohes Maß an „demokratischer Stabilität und Verfassungsfestigkeit“.

Das Bundesverfassungsgericht fordert, stets den hohen Stellenwert der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr betonend, leider in der Tat oft Nachbesserungen – es hat aber nie die akustische Wohnraumüberwachung, die Online-Durchsuchung oder die Mindestspeicherungsfristen für Verkehrsdaten schlechterdings untersagt. Ich kann nicht erkennen, wo wir den Vorgaben nicht auch nachgekommen wären. Sie sehen: Wir nehmen die Urteile des Bundesverfassungsgerichts nicht nur zur Kenntnis, sondern lesen sie ganz genau. In den allermeisten Fällen kommt es eben nicht zu einer Verletzung des Wesensgehaltes der Grundrechte (meinten Sie das mit dem „Kernbereich“ der Grundrechte?).

In diesem Bewusstsein und daher vor allem mit einem guten Selbstbewusstsein sollten wir unsere Debatte führen. Gibt es wirklich Anlass zur Vermutung, dass behördlich erhobene Daten derart für andere Zwecke missbraucht würden? Was mich daher in den Debatten stets stört, ist das Schüren von Angst vor einem Überwachungsstaat. Wir sollten uns angewöhnen, diese Diskussionen gerade vor dem oben beschriebenen Hintergrund etwas gelassener zu führen. All die zum Teil hysterischen Debatten über die Volkszählung im Jahr 1983, über die akustische Wohnraumüberwachung und die sogenannte Online-Durchsuchung und Vorratsdatenspeicherung waren von einem Zerrbild unseres Staates und in vielen Fällen auch unserer Sicherheitsbehörden geprägt, das einfach nicht der Wirklichkeit entspricht und auch nicht denjenigen gerecht wird, die jeden Tag für die Sicherheit unseres Landes arbeiten.

Ich würde gerne einen anderen Aspekt ansprechen, den Sie leider bisher vollkommen ausblenden. Geht eine Gefährdung des Rechts auf Informationelle Selbstbestimmung und des Rechts heutzutage nicht viel eher von privaten Unternehmen aus? Auf ihrem Gebiet jeweils marktbeherrschende Unternehmen wie Google oder Facebook verfügen über eine weitaus größere Zahl personenbezogener Daten aller ihrer Nutzer als es eine Sicherheitsbehörde in Deutschland jemals täte. Sollten wir unser Augenmerk nicht vielmehr hierauf richten, anstatt immer das gleiche Lied vom „Überwachungsstaat“ zu singen?

Ihren Vorwurf, die Union nehme die Urteile des Bundesverfassungsgerichts nicht ernst, vermag ich nicht nachzuvollziehen. Im Gegenteil: Wir nehmen das höchste deutsche Gericht beim Wort, was angesichts der immer detaillierter werdenden Vorgaben übrigens auch gar nicht so schwer fällt. Ich darf aber daran erinnern, dass die von den Klägerinnen und Klägern vorgetragenen Argumente, wonach bestimmte, rechtspolitisch besonders umstrittenen Ermittlungsinstrumente per se verfassungswidrig seien und Maßnahmen wie die akustische Wohnraumüberwachung, die

Mit freundlichen Grüßen Ihr Stephan Mayer P.S.: Unnötig zu sagen, dass ich das Thema unseres Schriftwechsels „Sicherheit vs. Freiheit“ für falsch halte. Freiheit und Sicherheit sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander – diese Diskussion setze ich aber als bekannt und letztlich auch ausdiskutiert voraus.

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»Mich stört das Schüren von Angst vor einem Überwachungsstaat.«

Lieber Herr Mayer,

16. Juni 2016

man möchte beim Lesen Ihrer Zeilen meinen, das Bundesverfassungsgericht habe in den vergangenen Jahrzehnten etwa in Art einer Technischen Kommission den einen oder anderen handwerklichen Fehler des Gesetzgebers ausgeglichen. War das tatsächlich alles?

So profan die Lösung ist: Wir brauchen mehr Beamte, um mit den neuen Sicherheitsherausforderungen fertig zu werden. Und es kommt am Ende auch nicht darauf an, ob die umfangreichen Datensammlungen, wie Sie schreiben, missbraucht werden – schon die Erhebung der Daten ist in vielen Fällen ein Grundrechtseingriff.

Die Vorratsdatenspeicherung nannten die Verfassungsrichter „einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt“. Bei der Entscheidung zur akustischen Wohnraumüberwachung müssen Sie sich schon viel Zeit nehmen, um alle Einwände durchzuarbeiten, die Karlsruhe vorgetragen hat.

»Wer mit wem wie lange telefoniert, geht niemanden etwas an.«

Wenn Sie darin kein Muster erkennen – ich erkenne eins: Sobald ein Sicherheitsproblem auftaucht, möchte man eine schnelle Lösung bieten. Und die besteht in Verschärfungen der Gesetze vor allem zu dem Zweck, den Datenbestand zu erhöhen. Dabei bestehen erhebliche Zweifel daran, ob unsere Sicherheitsbehörden die schon bestehenden Datenmengen sinnvoll auswerten können. Volker Tripp brachte es auf den Punkt: Wer die Nadel im Heuhaufen finden will, tut sich keinen Gefallen damit, den Heuhaufen immer weiter zu vergrößern.

Ihr Vertrauen in die Exekutive in allen Ehren – es gibt einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung, der ganz altmodisch der Meinung ist: Mit wem ich wie lange wann telefoniere, das geht niemanden etwas an. Auch nicht den Staat. Bei diesen Menschen handelt es sich im Übrigen nicht nur um hysterische Aktivisten, sondern um Bürgerinnen und Bürger jeden Alters und jeglichen Bildungsstandes. Das weiß ich aus den täglichen Gesprächen, die ich führe, und auch um deren Sorgen über private Datensammlungen, die sie angeführt haben.

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»Weder Google noch Facebook können bei ihren Nutzern eine Hausdurchsuchung ansetzen.« Ich gehe darauf erst jetzt ein, weil das Risiko, das mit privaten Datensammlungen einhergeht, von anderer Qualität ist als bei staatlichen Datenbanken – weder Google noch Facebook können bei ihren Nutzern eine Hausdurchsuchung ansetzen oder in deren Umfeld Befragungen durchführen. Hier droht im Augenblick vor allem eine unkontrollierbare Flut an Werbemails. Doch dagegen und gegen anderen Datenmissbrauch der Zukunft können wir gemeinsam vorgehen, wenn wir klare Regeln setzen. Erstens: Jeder soll einer unbegrenzten Speicherung, Verwendung und Weitergabe persönlicher Daten

erfolgreich und unkompliziert widersprechen können. Und zweitens: Datenschutz der Zukunft bedeutet auch, datenschutzfreundliche Technologien zu entwickeln und zu fördern (Privacy by Design). Neugeräte im Regal sollen immer mit den für den Kunden bestmöglichen Privatsphäre-Einstellungen ausgeliefert werden. (Privacy by Default). Mit diesen beiden Schritten wäre schon viel gewonnen. Mit besten Grüßen Ihre Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Liebe Frau Leutheusser-Schnarrenberger,

20. Juli 2016

natürlich verstehe ich das Bundesverfassungsgericht nicht als eine „Art Technische Kommission“, nach deren Vorgaben das ein oder andere Gesetz im Bereich der Inneren Sicherheit nachzubessern wäre. Ich habe bereits betont: Ich nehme die Urteile des Bundesverfassungsgerichts ernst.

Übrigens gab es in den Anfangsjahren des Bundesverfassungsgerichts die Möglichkeit, dieses um Rechtsgutachten zu bitten. In dem Fall der sogenannten Online-Durchsuchung hätte dies für den Gesetzgeber durchaus hilfreich sein können. Erinnern Sie sich: Es war bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts völlig offen, an welchem Grundrecht eine solche Maßnahme zu messen war.

Aber, und das müssten Sie als ehemalige Bundesministerin der Justiz nachvollziehen können, läuft der Gesetzgeber gerade im Bereich der Inneren Sicherheit oft Gefahr, in Grundrechte einzugreifen. Und nur er muss im Anschluss an die parlamentarische Diskussion den Nachweis einer praktikablen, aber auch verfassungsgemäßen Regelung erbringen. Ich sage das nur, um zu erklären, warum gerade im Bereich der Inneren Sicherheit in jüngster Zeit einige der gesetzlichen Regelungen vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurden.

Die Diskussion reichte von dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung über das Fern­ meldegeheimnis bis hin zur Unverletzlichkeit der Wohnung. Mit der Schaffung des letztlich neuen Grundrechts auf Gewährleistung der Ver­ traulichkeit und Integrität informationstech­ nischer Systeme hatte damals niemand wirklich rechnen können.

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Was hätte Ihrer Meinung nach der Gesetzgeber in dieser Situation aber tun sollen? So wie es geschehen ist, den Versuch einer verfassungsgemäßen Regelung unternehmen? Oder aber, letztlich aus Angst vor dem negativen verfassungsgerichtlichen Urteil, eine Regelung unterlassen, obgleich er ein dringendes Regelungsbedürfnis sah und wie ich meine, angesichts der hohen terroristischen Bedrohung unseres Landes, auch sehen musste?

müssen dagegen vorgehen. Und hierbei spielt das Internet eine immer größere Rolle.

»Ihre vorgeschlagene Lösung – mehr Beamte – ist nicht zielführend.« Sprechen Sie doch einmal mit Polizeipraktikern, welche Rolle etwa die Verschlüsselung von Kommunikation in diesen Deliktsfeldern spielt. Die von Ihnen vorgeschlagene Lösung – mehr Beamte – ist leider nicht profan, sondern in dem Zusammenhang nicht zielführend. Wie will ich mit einem noch so großen Einsatz von Personal eine zwischen Deutschland und Afghanistan ausgetauschte und verschlüsselte Nachricht entziffern? Sicherlich brauchen wir mehr Polizei, aber eben nicht nur.

Ihr Vorwurf, es gehe darum, immer größere Datensammlungen zu schaffen, lässt zumindest eine gewisse Differenzierung vermissen. Nehmen wir die von Ihnen selbst in diesem Zusammenhang erwähnte Wohnraumüberwachung. Bei dieser geht nicht um die Schaffung einer großen Datensammlung, sondern den sehr gezielten Eingriff in die Privatsphäre einer bestimmten Person, die einer besonders schweren Straftat verdächtigt wird. Es geht mitnichten um ein Anhäufen von Informationen zu dem Zweck, diese irgendwann einmal benötigen zu können, sondern um eine sehr zielgerichtete Maßnahme. Und die Häufigkeit, mit der diese Maßnahme eingesetzt wird, hat alle Befürchtungen vor einem „Überwachungsstaat“ in das Reich der Phantasie verwiesen.

Was die von Ihnen angesprochenen datenschutzrechtlichen Verbesserungen im privaten Bereich angeht, so können wir uns am Ende vielleicht doch in einem Punkt einigen: Hier wird die Datenschutzgrundverordnung der Europäischen Union eine deutliche Verbesserung bringen.

Nein, wir stehen vor großen Bedrohungen. Terrorismus, Organisierte Kriminalität, Kinderpornographie – diese Dinge sind leider real und wir

Mit freundlichen Grüßen Stephan Mayer

Stephan Mayer

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

ist direkt gewählter Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Altötting. Er ist Sprecher der Arbeitsgruppe Inneres der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und gehört dem Fraktionsvorstand an. Er ist Mitglied des Parteivorstandes der CSU Bayern.

ist Mitglied der FDP und war von 1992 bis 1996 sowie von 2009 bis 2013 Bundesministerin der Justiz. Aus Protest gegen die geplante akustische Wohnraumüberwachung im Rahmen des Großen Lauschangriffs schied sie 1996 aus dem Amt aus. Sie ist Mitglied des Vorstands der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

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Kristina Eichhorst

Globaler Resilienzaufbau statt internationaler Demokratieförderung Abschied von einer wertegeleiteten Außenpolitik? Am 28. Juni 2016 präsentierte die Hohe Repräsentantin der Europäischen Union, Frederica Mogherini, die neue Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU.1 Auffällig an diesem Grundlagendokument ist das, was augenscheinlich fehlt: die traditionelle Postulierung einer wertegeleiteten Außenpolitik und die damit verbundene Ausrichtung auf das Ziel einer weltweiten Demokratieförderung. Im neuen Dokument macht die bisher so deutliche Priorisierung von guter Regierungsführung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Ziel der europäischen Außenpolitik einem "prinzipiengeleiteten Pragma­tismus" Platz und kehrt damit, so einige Analysten, zur klassischen Realpolitik zurück.2

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Carlo Masala

Von Werten und Interessen Eine ausschließlich wertorientierte Außenpolitik kann nicht das Ziel sein Ob ein Land in seiner Außenpolitik wertorientiert oder interessenbasiert vorgehen sollte, ist ein Streit, der in der Bundesrepublik Deutschland alle Jahre immer wieder offen ausbricht. Allerdings nur unter Akademikern. Denn seitens der politischen Elite in Berlin, dominiert der wertorientierte Ansatz. In den meisten Reden, sei es der Kanzlerin, des Außenministers oder im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik exponierter Parlamentarier, dominiert der Verweis auf Werte als Fundament deutscher Außenpolitik. Und dafür gibt es auch gute Gründe.

wie z.B. dem Bekenntnis zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1.Abs. 2 GG). Und darüber hinaus gibt es zahlreiche völkerrechtliche Verträge und Konventionen, denen die Bundesrepublik seit 1949 beigetreten ist, und in denen sie sich verpflichtet hat, bestimmte Werte zu wahren. Somit ist eine wertorientierte Außenpolitik so etwas wie die DNA bundesrepublikanischer Außenpolitik. An dieser Stelle könnte ich enden, wäre da nicht das Problem, dass es in der internationalen Politik eine eklatante Diskrepanz zwischen dem Wünschbaren und dem Machbaren gibt. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn sich alle Staaten dieser Welt an „unseren“ Werten orientieren und diese zur Grundlage ihrer eigenen Innen- und Außenpolitik machen würden.

Zum einen die historische Verpflichtung, nach der nationalsozialistischen Terrorherrschaft der Jahre 1933 bis 1945, eine Außenpolitik zu betreiben, die dem Frieden in Europa und der Welt verpflichtet ist. Zum anderen gibt es normative Vorgaben, die die Gründerväter und –mütter der Bundesrepublik Deutschland ins Grundgesetz geschrieben haben,

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Damit trägt die neue Strategie den internationalen Entwicklungen der vergangenen Jahre Rechnung. Nach anfänglichen Erfolgen der Demokratieförderung, insbesondere im Kontext der Erweiterungspolitik, blieben seit Mitte der 2000er Jahre nicht nur Fortschritte aus, sondern mussten auch Rückschläge hingenommen werden.

sich diese Kritik von einer legitimen Hinterfragung der Effektivität ("Ist der Westen überhaupt noch in der Lage, Einfluss auf globale und regionale Entwicklungen zu nehmen?") zu Zweifeln an der Legitimität einer solchen Strategie ("Darf der Westen anderen Staaten sein Wertemodell oktroyieren?").

Nachdrücklich zeigte sich dies spätestens in Folge des "Arabischen Frühlings" und der gewalttätigen Destabilisierungsprozesse in Ländern wie Libyen, Ägypten, Syrien und zuletzt der Türkei. Der Verzicht auf den "Demokratisierungssprech" erweckt nun den Eindruck, man habe sich den Realitäten angepasst, die wertegeleitete Außenpolitik ad acta gelegt und sich vom Ziel der globalen Demokratieförderung verabschiedet. Die neue EU-Strategie steht damit symbolhaft für einen Trend, der sich auch in den nationalstaatlichen Außenpolitiken ihrer Mitglieder, v.a. aber im sicherheitspolitischen Diskurs der sogenannten "strategic community" beobachten lässt.

»Demokratieförderung ist der stärkste Garant für Frieden.« Spätestens hier droht sich diese Kritik mit der antiwestlichen Propaganda autoritärer Despoten zu vereinen. Statt also die berechtigte Frage nach dem Sinn und Zweck wie auch nach den Möglichkeiten und Grenzen einer wertegeleiteten Außenpolitik zu stellen, wird mitunter das demokratische Ordnungsmodell per se als fragwürdig verworfen. Im Ergebnis droht die selbstinszenierte narrative Schwächung des erfolgreichsten Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, das die moderne Welt kennt. Auf die legitime Frage nach Sinn und Zweck sowie nach den Möglichkeiten und Grenzen einer wertegeleiteten Außenpolitik soll allerdings an dieser Stelle eingegangen werden.

Auf den ersten Blick scheint damit ein uralter Disput beendet: der Streit um die Frage, ob Werte oder Interessen die Außenpolitik demokratischer Staaten dominieren sollten. Vordergründig also zu Gunsten der Interessen entschieden, stellt sich unweigerlich die Frage, ob der daraus abzuleitende Paradigmenwechsel richtig ist – nicht im (häufig unterstellten) moralischen, sondern v.a. im strategischen Sinne, ausgerichtet am Ziel der Bewahrung von Freiheit, Frieden und Wohlstand für die Staaten der EU.

Werte als Selbstzweck? Die Frage nach Sinn und Zweck Demokratieförderung beruht nicht auf einem philanthropischen Spleen einer westlichen Elite und ist keinesfalls selbstlos. Sie entspringt vielmehr aus dem starken Interesse (sic!) demokratischer Staaten, es mit einem Gegenüber zu tun zu haben, das sich an vergleichbare Normen hält wie man selbst. Wer glaubt, eine wertegeleitete Außenpolitik erkläre sich durch idealistische Motive, verkennt also, dass sie im nationalstaatlichen Interesse westlicher Demokratien liegt.

Sehnsucht nach Realpolitik Die weitverbreitete Sehnsucht nach einer Anpassung an die aktuellen Realitäten ist nachvollziehbar. Zu katastrophal scheinen die jüngsten Entwicklungen in Syrien, zu desolat die Resultate der Interventionen im Irak und in Libyen, zu ungewiss die Chancen auf eine demokratische Stabilisierung Tunesiens. Da kann einen schon einmal der Mut verlassen.

Zu begründen ist dies mit den eigentlich wohlbekannten, aber häufig in Vergessenheit geratenen Argumenten, die hier holzschnittartig genannt seien: Demokratien führen nachweislich untereinander keine Kriege, Demokratieförderung ist also in der Tat der stärkste Garant für Frieden. Staaten, die sich im Inneren an Recht und Gesetz halten, tendieren dazu, dies auch auf internationaler Ebene zu tun.

Da die bisherigen Ergebnisse nicht den erhofften Zielen entsprechen, scheint aus Sicht vieler eine wertegeleitete Außenpolitik idealistische Utopien verfolgt zu haben. Geschlussfolgert wird, dass eine solche Außenpolitik notwendigerweise auch eine fehlgeleitete, aussichtslose, gar naive Außenpolitik sei. In ihrer extremsten Form wandelt

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Natürlich wäre es wünschenswert, wenn sich die Demokratie im globalen Maßstab ausbreiten würde, überall Menschenrechte geachtet werden und internationales Recht das Verhältnis der Staaten auf diesem Globus untereinander regeln würde. Ohne Zweifel, all dies wäre wünschenswert. Allerdings: wir leben nicht in einer solchen Welt, haben es nie und werden es nie. Wir leben in einer anarchischen Welt, in der es keine den Staaten übergeordnete Instanz gibt, die über die Einhaltung von Regeln wacht und Regelverletzung sanktioniert. Wir leben in einer Welt, in der Staaten nach Macht streben und ausschließlich daran interessiert sind, ihre eigene Position in diesem Staatensystem zu erhalten oder zu verbessern. Wir leben in einer Welt, in der Konflikte und ggf. Kriege ein Mittel sind, um Politik zu betreiben.

»Altruismus und Solidarität haben in der internationalen Politik keinen Platz!« Zusammengefasst: Wir leben in einer Welt, in der sich jeder Staat selbst am nächsten steht. Altruismus und Solidarität haben in der internationalen Politik keinen Platz! In einer solchen Welt hat eine auf Werte basierende Außenpolitik zwei Möglichkeiten. Sie kann versuchen, ihre Werte in den Vordergrund zu stellen und diese zum Maßstab ihres Handelns zu machen oder sie orientiert sich an der „konkreten Lage“ und versucht das machbare zu realisieren. Entscheidet man sich für Ersteres bedeutet dies, dass man in der Außenpolitik unflexibel und dogmatisch wird. Im Extremfall sogar neoimperialistisch. Denn der Versuch, die eigenen Werte anderen aufzudrängen wird, wie die Erfahrung der vergangenen 25 Jahre deutlich macht, in Widerstand enden und letzten Endes die Werte, für die man einsteht, diskreditieren. Insbesondere dann, wenn man nicht bereit oder in der Lage ist, diese wertorientierte Politik konsequent anzuwenden bzw. umzusetzen. Wie soll man erklären, dass die Talibanherrschaft in Afghanistan gegen unsere Werte verstieß, Saudi-Arabien allerdings von uns hofiert wird, weil es einen regionalen Stabilitätsanker darstellt und an unseren Waffen interessiert ist? Warum sanktionieren wir Russland,

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»Dass dieser Zusammenhang zwischen Demokratie, Freiheit, Frieden und Wohlstand heute überhaupt wieder durchdekliniert werden muss, verwundert doch.« Dies ist die Grundlage für zwischenstaatlichen Handel und ausländische Investitionen, die nur dann sicher sind, wenn im betreffenden Staat Rechtsstaatlichkeit herrscht. Rechtstaatlichkeit ist damit eine wichtige Voraussetzung für Wirtschaftswachstum, das i.d.R. zur Entstehung einer Mittelschicht beiträgt und es Menschen erleichtert, sich aus der Armut zu befreien. Das wiederum trägt bei zu – genau: Frieden, Freiheit und Wohlstand durch Handel unter Berücksichtigung internationaler Regeln und Normen und damit zur Stabilisierung der internationalen liberalen Ordnung, etwas, woran gerade die Exportnation Deutschland größtes Interesse hat. Dass dieser Zusammenhang zwischen Demokratie, Freiheit, Frieden und Wohlstand heute überhaupt wieder durchdekliniert werden muss, verwundert doch. Nur so lässt sich aber zeigen: In der Form, in der der behauptete Widerspruch zwischen Werten und Interessen postuliert wird, besteht er überhaupt nicht. Kurzfristig mögen beide stark divergieren, langfristig betrachtet jedoch sind sie kongruent. Es gibt also einen Punkt auf der Zeithorizontalen, auf dem Werte und Interessen dieselbe Form annehmen. Reine Interessenpolitik wäre somit kurzsichtige Politik. Aus diesem Grund leitet auch das im Juli vom Kabinett verabschiedete Weißbuch der Bundesregierung die sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands u.a. ab aus der Werteordnung des Grundgesetzes sowie aus den europäischen Rechtsnormen und dem Völkerrecht.3 Dies zeigt, dass die klare Abgrenzung von Werten und Interessen nur im Theoriestreit aufrechterhalten werden kann. In der praktischen Ausformulierung einer sicherheitspolitischen Strategie aber löst sie sich zumindest insofern auf, als dass es hier nur noch um die Frage der Gewichtung beider Elemente – nicht um das entweder/oder – geht.

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Eine solche Politik würde aber in letzter Konsequenz dazu führen, dass der syrische Bürgerkrieg noch lange andauern wird. Denn die Dämonisierung Assads verhindert, dass er Verhandlungspartner bei einer Lösung wird und „zwingt“ ihn dazu, den Krieg bis zum Ende fortzusetzen. Eine wertorientierte Politik, die Assad als Verhandlungspartner ausschließt, führt zu noch mehr Leid und Zerstörung in Syrien. Und sollte Assad aus diesem Konflikt als Sieger hervorgehen, würde eine wertorientierte Politik jeglichen Einfluss auf den syrischen Diktator in der Post-Konflikt Ära verlieren.

das die Krim annektiert hat, aber nicht China, welches Tibet seit mehr als 60 Jahren besetzt hält? All diese Fragen stellen sich, wenn man den Anspruch verfolgt, eine ausschließlich wertorientierte Politik zu betreiben. Orientiert man sich hingegen am Machbaren, an der „konkreten Lage“, dann heißt dies sich darüber bewusst zu sein, dass man ab und an, seine eigenen Werte in den Hintergrund stellen muss, weil es Interessen gibt, die diesen entgegenstehen. Wenn es dem Interesse der Bundesregierung entspricht, im Mittleren Osten regionale Stabilität herzustellen, bedeutet dies mit den Machthabern zusammenzuarbeiten, die ein ähnliches Anliegen verfolgen. Und dann kommt man nicht umhin, mit Saudi-Arabien und Ägypten zu kooperieren, auch wenn in beiden Staaten die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Wenn die Bundesregierung ein Interesse dran hat, dass die europäische Sicherheitsarchitektur nicht gänzlich zusammenbricht, dann muss man mit Russland reden, und wenn das ökonomische Interesse Deutschlands darin besteht, immer mehr Zugang zum chinesischen Markt zu erhalten, dann ist Peking wichtiger als Lhasa.

Eine solche Politik würde aber auch dazu beitragen, dass jene Akteure, die Assad in diesem Konflikt unterstützen (Russland und Iran) sich jeglicher Lösung dieses Konfliktes, die ohne ihren Verbündeten betrieben werden soll, widersetzen werden. Mithin würde eine wertorientierte Politik zur Verlängerung des Krieges beitragen. Orientiert man sich hingegen am Machbaren, dann gibt es drei gute Gründe, dass fast alle im syrischen Konflikt beteiligten Akteure ihre Einstellung zu Assad nochmals fundamental überdenken sollten.

»Die Orientierung der Außenpolitik an dem Machbaren schafft Einflussmöglichkeiten, die Orientierung an Werten führt zu Einflussverlust.«

1. Assad ist schlecht, doch der IS ist noch schlechter Wie so oft in der arabischen Welt gibt es auch im syrischen Bürgerkrieg weder gut noch böse, sondern nur schlecht und noch schlechter. Assad zählt zweifelsohne zu den Schlechten, der IS aber zu den noch Schlechteren. Da der Aufbau einer nicht-fundamentalistischen syrischen Opposition grandios gescheitert ist, fehlt es ansonsten an Partnern auf syrischem Boden, wenn man ein Interesse daran hat, den Konflikt zu beenden.

Die Orientierung der Außenpolitik an dem Machbaren schafft Einflussmöglichkeiten, die Orientierung an Werten führt zu Einflussverlust. Dies ist – auf eine einfache Formel gebracht – die Alternative. Überträgt man dies auf die gegenwärtige Situation im syrischen Bürgerkrieg bedeutet dies Folgendes: Eine wertgebundene Politik würde das Argument in den Vordergrund schieben, dass der syrische Machthaber Assad, auf Grund der von ihm und seinem Regime begangenen Verbrechen, kein legitimer Verhandlungspartner bei der Lösung nach einem Ausweg aus dem syrischen Albtraum ist. Ziel ist es weiterhin, dass Assad gestürzt wird und sich für die von ihm bzw. in seinem Namen begangenen Verbrechen eines Tages vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten muss.

2. Assad will zurück zum alten Status, der IS will die Umwälzung des Bestehenden Im Gegensatz zu den Steinzeitfundamentalisten des IS ist Assad ein syrischer Nationalist. Ihm geht es nicht darum, die Grenzen im Nahen Osten (und darüber hinaus) gewaltsam zu verändern. Sein Anliegen ist es, seinen Machterhalt innerhalb der syrischen Grenzen zu sichern. Er wäre gegebenenfalls sogar bereit, territoriale Konzessionen zu machen, um sein politisches wie persön­ liches Überleben zu garantieren.

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Hoffnungslos aussichtslos? Die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen

stand. Der Glaubwürdigkeit der europäischen Mitgliedstaaten gegenüber der demokratischen Opposition in der Region hat diese Interessenpolitik schwer geschadet. Erfolgreiche Außenpolitik sieht anders aus.

All das kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kritiker einer prioritär wertegeleite-ten Außenpolitik in einem Punkt recht haben: Sie ist ein schwieriges Feld. Demokratisierung ist ein jahrzehntelanger Prozess, der – wie auch in Europa – mit Rückschlägen einhergeht und gerade deswegen einen langen Atem und nachhaltige Unterstützung braucht. Wenngleich sich gerade in den 1990er Jahren zahlreiche Erfolge vorweisen ließen, hat sich die internationale Lage seit Mitte der 2000er nicht so entwickelt, wie von den westlichen Demokratien erhofft. Weder hat die Konditionierung von Entwicklungszusammenarbeit allerorten zu guter Regierungsführung geführt, noch haben vom Westen geförderte demokratische Kräfte überall auf der Welt breite Unterstützung erringen können. Im Gegenteil: Die Demokratie scheint weltweit auf dem Rückzug.

Das Dilemma besteht damit darin, dass sich aktuell weder die eine, noch die andere strategische Ausrichtung als eindeutig vielversprechend erweist – der Streit zwischen Interessen versus Werten ist also noch lange nicht entschieden. Resilienzaufbau: Der goldene Mittelweg? Auch die EU-Strategie trifft in diesem Streit keine Entscheidung. Sie versucht aber mit der Zauberformel "Resilienzaufbau" den Ausweg aus dem beschriebenen Dilemma zu weisen: Unter dem aus der Biologie und Psychologie stammenden Begriff Resilienz versteht man die Fähigkeit eines Organismus, externe Schocks zu verarbeiten, sich an widrige Umstände anzupassen und Flexibilität im Umgang mit neuen Herausforderungen zu entwickeln. Dies lässt sich auf politische Systeme und Institutionen übertragen, deren Anpassungsund Reformfähigkeit zu stärken das Ziel eines Resilienz­aufbaus darstellt. Dessen Notwendigkeit wächst mit der Masse an Sicherheitsherausforderungen in unserer global vernetzten Welt.

Die aktuelle internationale Lage einzig einer gescheiterten wertegeleiteten Außenpolitik zuzuschreiben, führt allerdings in die Irre, denn dies unterstellt zweierlei: zum einen, dass die westliche Außenpolitik bislang kontinuierlich und kohärent wertegeleitet gewesen sei, und zum anderen, dass eine rein interessengeleitete Außenpolitik im Zweifel erfolgreicher wäre. Beides trifft nicht zu. Weder lässt sich die Behauptung aufrechterhalten, kurzfristige Interessenpolitik hätte nicht (auch) immer schon eine Rolle in der außenpolitischen Strategie der EU und ihrer Mitgliedstaaten gespielt – schließlich gibt es einen Unterschied, zwischen dem, was postuliert, und dem, was implementiert wird (man denke nur an die Abschottung der europäischen Agrarmärkte gegenüber Produkten aus Afrika).

Resilienz ist also kein Endzustand, sondern ein dauerhafter Prozess. Das Konzept ist darauf angelegt, Strukturen und Prozesse permanent zu überprüfen, zu reformieren und an sich wandelnde Bedingungen zu adaptieren, um damit letztlich die Stabilität und Überlebensfähigkeit des Gesamtsystems zu sichern. Da eine – wie auch immer geartete – europäische Außenpolitik starke und stabile Partner braucht, legt die neue Globale Strategie der EU den Fokus nicht länger auf die Förderung der demokratischen Verfasstheit, sondern zuallererst auf die Stärkung der Resilienz internationaler Partner.

Noch lässt sich feststellen, dass dort, wo Interessen die Außenpolitik der EU oder ihrer Mitgliedstaaten dominiert haben, diese Politik immer erfolgreich gewesen sei: Die Zusammenarbeit mit den vordergründig stabilen Militärdiktaturen der Präsidenten Gaddafi und Mubarak jedenfalls war nicht unbedingt von Erfolg gekrönt – beide Beispiele haben vielmehr gezeigt, dass die angenommene Stabilität der autoritären Regime in Libyen und Ägypten nichts anderes als eine Schimäre war und die interessengeleitete Zusammenarbeit mit ihnen letztlich auf tönernen Füßen

Dies ist auf den ersten Blick ein eleganter Ausweg aus dem oben beschriebenen Dilemma, kann doch das Konzept der Resilienz als wertneutral verstanden werden. Einen Haken jedoch hat die Idee: Zentrale Grundbedingung für einen erfolgreichen Resilienzaufbau ist per definitionem die Lernfähigkeit eines Systems. Lernfähig allerdings sind Systeme nur dann, wenn in selbstkritischer Weise Schwachstellen gesucht, identifiziert,

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Assad ist am Zustand vor dem Konflikt orientiert, der IS an der Umwälzung des Bestehenden. An letzterem sind aber weder die USA, die EU, Russland noch andere externe Akteure in diesem Konflikt interessiert. In einer solchen Notlage wäre es angebracht, pragmatisch auf den Akteur in diesem blutigen Konflikt zuzugehen, der den eigenen Ordnungsvorstellungen am nächsten kommt. Und dies ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt Baschar al-Assad. 3. Assads Truppen gewinnen die Oberhand Assads Truppen sind gerade dabei (mit tatkräftiger Hilfe der russischen, aber wohl auch der iranischen Armee), die militärische Balance in Syrien zu ihren Gunsten zu verändern. Neben den kurdischen Milizionären sind Assads Truppen somit gegenwärtig die einzigen, die in der Lage sind, den IS erfolgreich zu bekämpfen und ihn gegebenenfalls langfristig zu besiegen. Diese drei Gründe sprechen dafür, Assad zu einem Verhandlungspartner zu machen, um den Krieg in Syrien zu beenden und den IS militärisch und politisch zu besiegen. Trotz aller Bedenken, die vorherrschen, und die, angesichts der von seinem Regime begangenen Verbrechen, legitim sind. Dies sind kurz skizziert die Alternativen, die sich bieten, je nachdem, ob man eine wertorientierte oder eine interessenorientierte Außenpolitik betreibt.

»Diese drei Gründe sprechen dafür, Assad zu einem Verhandlungspartner zu machen, um den Krieg in Syrien zu beenden und den IS militärisch und politisch zu besiegen.«

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Eine wertegeleitete Außenpolitik schließt nicht aus – im Gegenteil, sie fordert es sogar ein – mit autoritären Staaten im Austausch zu bleiben, den Dialog zu führen. Es geht nicht darum, Werte militärisch zu implementieren oder politische und wirtschaftliche Kontakte zu autoritären Staaten abzubrechen. Vielmehr ist es entscheidend, in der grundsätzlichen Bestimmung der Außenpolitik den eigenen Wertekompass – und dabei auch seine demokratisch gesinnten Partner – nicht aus den Augen zu verlieren und sich des langfristigen Ziels stets bewusst zu sein.

analysiert und offengelegt werden dürfen, um anschließend innovative Lösungen entwickeln und Neuerungen implementieren zu können. Dies aber erfordert ein Gesellschaftsmodell, in dem das Recht zur Kritik einhergeht mit grundsätzlichen bürgerlichen Freiheiten. Diese wiederum garantieren den notwendigen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Freiraum, in dem kritischer Austausch ohne gedankliche Schranken erlaubt ist. So können neue Ideen entwickelt, Initiativen ergriffen und technische Innovationen erdacht werden. Dies zeigt: Nur in einem offenen – um nicht zu sagen: demokratischen – System ist auch Resilienzaufbau möglich. Man ahnt es bereits: Wir drehen uns im Kreis.

Auch die EU wendet sich in ihrer Globalen Strategie nicht von demokratischen Werten ab: Sie stellt klar, dass Demokratie ein Grundelement eines resilienten Staates ist und auch die Förderung unserer Werte nach wie vor in unserem Interesse liegt. Sie macht das jedoch, wie beschrieben, deutlich verhaltener als in früheren Zeiten und erklärt den Resilienzaufbau, nicht die Demokratieförderung zur prioritären Aufgabe. Ob dies strategisch klug ist, darf hinterfragt werden. Gerade in Zeiten, in denen die Gegner der offenen Gesellschaften des Westens den Kampf um Werte und Ideen umso aggressiver führen und antiwestliche Propaganda zum integralen Teil einer hybriden Kriegsführung geworden ist, sollte das eigene Wertesystem nicht kleingeredet, seine Bedeutung und Errungenschaften nicht relativiert werden. Sonst stellt sich am Ende die Frage: Wenn wir die Relevanz dieser Werte nach außen relativieren, warum sollten sie denn nach innen hin noch so bedeutsam sein?

Werte als Kompass Der hier skizzierte Zusammenhang zwischen Resilienz und Demokratie ist ein zentraler Grund, warum am Ziel der Demokratieförderung – und damit an einer selbstbewusst wertegeleiteten Außenpolitik – festgehalten werden muss: Es führt kein Weg daran vorbei, dass es im westlichen Interesse ist, das demokratische Modell weltweit zu fördern. Es führt im Übrigen auch kein Weg daran vorbei, dass es weltweit das mit Abstand erfolgreichste Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist, mag sich der eine oder andere Despot noch so daran stören. Demokratieförderung ist allerdings ein langfristiger Prozess, für den man einen langen Atem braucht. Aufzugeben ist aufgrund der erläuterten Zusammenhänge indes keine Option.

»Das eigene Wertesystem sollte nicht kleingeredet, seine Bedeutung und Errungenschaften nicht relativiert werden.« 1 vgl. Europäische Union (Hrsg.), Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe. A Global Strategy for the European Union's Foreign and Security Policy, Brüssel, Juni 2016, [http://europa.eu/globalstrategy/ en/shared-vision-common-action-stronger-europe].

Dr. Kristina Eichhorst

2 vgl. Sven Biscop, The EU Global Strategy. Realpolitik with European Characteristics, in: Egmont Royal Institute for International Relations (Hrsg.), Security Policy Brief, No 75, June 2016.

ist Koordinatorin für Krisen- und Konfliktmanagement der Konrad-Adenauer-Stiftung. Vor ihrem Wechsel zur Stiftung leitete sie als Geschäftsführerin das Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel (ISPK/ISUK).

3 siehe Bundesministerium d. Verteidigung (Hrsg.), Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin, Juni 2016, S. 24f.

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Ich habe eingangs erwähnt, dass die Debatte zwischen Werten und Interessen eine rein akademische ist. In der praktischen Politik der Bundesrepublik Deutschland haben die Werte immer die Rhetorik, die Interessen immer das Handeln bestimmt. Konrad Adenauer war Realpolitiker reinsten Wassers, Helmut Kohl hat mit seiner Politik der Nachrüstung und der Wiedervereinigung deutsche Interessen verfolgt und nicht umsonst vergleicht die Wissenschaft aber auch die seriöse Presse (nicht ohne Sympathie und Bewunderung) seit einiger Zeit Bundeskanzlerin Merkel mit dem deutschen Realpolitiker schlechthin: mit Bismarck. Das eigentliche Dilemma deutscher Außenpolitik liegt nicht in der Frage, ob Werte oder Interessen das Handeln bestimmen sollen, sondern darin, dass man auch rhetorisch vermitteln sollte, dass eine ausschließlich wertgeleitete Außenpolitik nicht nur Grenzen hat, sondern oftmals kontraproduktiv ist – und dass Deutschland wie alle anderen Staaten auf dieser Welt Interessen hat, die es verfolgt und auch als solche mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie alle anderen Staaten benennt. Eine solche Ehrlichkeit würde dazu beitragen, dass der oftmals geäußerte Vorwurf gegenüber der Außenpolitik der Bundesrepublik (und auch des „Westens“), einen doppelten Standard zu haben, wie ein Kartenhaus in sich zusammen­ brechen würde.

»Man sollte auch rhetorisch vermitteln, dass eine ausschließlich wertgeleitete Außenpolitik nicht nur Grenzen hat, sondern oftmals kontraproduktiv ist.« Prof. Dr. Carlo Masala studierte von 1988 bis 1992 an den Universitäten Köln und Bonn Politikwissenschaften, Deutsche und Romanische Philologie. Er wurde im Jahr 1996 promoviert und ist seit 2007 Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München.

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Arne Schönbohm

Keine Digitalisierung ohne Cyber-Sicherheit Herausforderungen für das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik

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Die Digitalisierung hat mittlerweile fast alle Bereiche unseres Lebens erreicht. In der Verwaltung und in den Dienstleistungsbranchen arbeiten wir bereits heute IT-gestützt und hochgradig vernetzt. Industrie 4.0 umschreibt die grundlegenden Veränderungen im Produktionsbereich. Smart Home, Mobile Work, eHealth und Entwicklungen im Bereich Automotive wie selbstfahrende Autos sind weitere Beispiele für die rasant fortschreitende Digitalisierung, die Chancen eröffnet, aber auch Risiken beinhaltet. Cyber-Sicherheit wird dabei zum wesentlichen Erfolgsfaktor.

Gegen die Zahlung von Lösegeld in der digitalen Währung Bitcoin stellten sie die Entschlüsselung in Aussicht. Im Fall des medial breit berichteten Lukaskrankenhauses in Neuss war auch das BSI auf Bitten des zuständigen Landeskriminalamts NRW an der Analyse und Aufarbeitung des IT-Sicherheitsvorfalls beteiligt. Auch der Betreiber des Kernkraftwerks Gundremmingen hat das BSI über einen IT-Sicherheitsvorfall informiert, den das BSI gemeinsam mit den zuständigen Aufsichtsbehörden prüft.

Ende April fand in Hannover mit über fünftausend Ausstellern und mehr als 190.000 Besuchern die weltweit größte Industriemesse statt. Politische Highlights waren der Besuch des US-amerikanischen Präsidenten Barak Obama anlässlich des Partnerlands USA sowie die vielfältigen mit hochrangigen Vertretern aus Politik und Wirtschaft besetzten Gesprächsrunden zur Zukunft unserer Wirtschaft. Der thematische Schwerpunkt der Hannover Messe war die Digitalisierung der Produktion. Die Technikpräsentationen in den Ausstellungshallen zeigten, dass Industrie 4.0 bereits ein Stück Realität geworden ist, die dem deutschen Maschinen- und Anlagebau erhebliche Innovations- und Marktchancen bietet. Es zeigte sich aber auch, dass bei der Transformation der industriellen Fertigung zu den so genannten Smart Factories die IT- und Cyber-Sicherheit ein wesentliches Gestaltungselement darstellt. Der zweite Themenschwerpunkt der diesjährigen Hannover Messe, das Energiesystem der Zukunft (Integrated Energy), das die Erzeugung, Übertragung, Verteilung und Speicherung von Energie umfasst, und somit nachhaltig zur Energiewende in Deutschland beitragen soll, wird durch Digitalisierung erst möglich.

»Zahlreiche Unternehmen sind von Ransomware betroffen.« Im April hat das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (www.bsi.bund.de) im Rahmen der Allianz für Cyber-Sicherheit eine Umfrage zur Betroffenheit der deutschen Wirtschaft durch Ransomware durchgeführt. Demnach waren ein Drittel (32 Prozent) der befragten Unternehmen in den letzten sechs Monaten von Ransomware betroffen. Dabei waren Unternehmen aller Größenordnungen betroffen. Die Auswirkungen des Ransomware-Befalls waren zum Teil erheblich: Während 70 Prozent der betroffenen Unternehmen angaben, dass einzelne Arbeitsplatzrechner befallen waren, kam es in jedem fünften der betroffenen Unternehmen (22 Prozent) zu einem erheblichen Ausfall von Teilen der IT-Infrastruktur, elf Prozent der Betroffenen erlitten einen Verlust wichtiger Daten. Auch das Jahr 2015 war geprägt durch eine Reihe von IT-Sicherheitsvorfällen. Der Cyber-Angriff auf den Deutschen Bundestag im Mai sowie der Cyber-Angriff auf den französischen Fernsehsender TV5 Monde im April sind nur zwei Beispiele dafür. Sie haben die Bedeutung von Cyber-Security ins Blickfeld auch einer breiteren Öffentlichkeit gebracht. Cyber-Attacken finden in Deutschland täglich statt:

Herausforderungen Die Digitalisierung erschließt erhebliche gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Vorteile. Sie birgt aber auch Herausforderungen, zum Beispiel in der Prävention, Detektion und Abwehr digitaler Angriffe, die zunehmend professionalisiert durchgeführt werden. So wurden im Frühjahr 2016 in Deutschland die Dateisysteme von Unternehmen, Gemeinden und kritischen Infrastrukturen wie Krankenhäusern erfolgreich mit Erpressungs-Software (Ransomware) angegriffen. Die Täter waren in der Lage, Dateien zu verschlüsseln und versuchten, die Betroffenen zu erpressen.

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Täglich verzeichnet das IT-Lagezentrum des BSI mehr als zehn Schwachstellen in Standardprogrammen und rund 60.000 neue Schadprogramme und Varianten. Allein für die elf verbreitetsten in der BSI-Schwachstellenampel erfassten Softwareprodukte wurden 2015 rund 850 kritische Schwachstellen bekannt.


Täglich beobachtet das IT-Lagezentrum tausende ungezielte Angriffe sowie 15 gezielte Angriffe auf die Regierungsnetze; wurden monatlich rund 11.000 unerwünschte E-Mails in den Regierungsnetzen in Echtzeit abgefangen.

Täglich gibt es rund 1.000 Zugriffsversuche auf kompromittierte Webseiten, immer wieder sind Webseiten wegen so genannter Denial-of-Service-Angriffe nicht erreichbar. 2015 wurden über 60.000 derartiger Angriffe registriert.

(Zero Days Exploits) aus, sondern schlagen auch Kapital daraus, dass Updates und Patches in der Praxis häufig verspätet eingespielt werden. Die durchschnittliche Zeit, bis Reparaturprogramme oder Sicherheitsupdates durch einen Software-Hersteller bereitgestellt werden, beträgt im Schnitt etwa einen Monat. Hinzu kommt die Verzögerung beim Patch Management in den Organisationen, die die Software einsetzen. Cyber-Sicherheit gestalten Bereits 2011 hat die Bundesregierung mit der Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland den Grundstein für mehr Sicherheit im Cyber-Raum gelegt. Konkrete Maßnahme der Cyber-Sicherheitsstrategie war die Einrichtung des Nationalen Cyber-Abwehrzentrums, das sich in den fünf Jahren seines Bestehens unter Federführung des BSI als Kooperationsplattform bewährt hat.

Die Art der Angriffe stellt sich dabei sehr unterschiedlich dar. Massenangriffe stehen neben gezielten, individuell zugeschnittenen Angriffen. Und auch die Ziele sind unterschiedlich: •

Einerseits geht es den Angreifern um Informationsgewinnung, um mit den Daten und digitalen Identitäten von Bürgern Geld zu verdienen.

Auf der anderen Seite erfolgen Angriffe auf Wirtschaftsunternehmen, um vertrauliche Informationen auszuspionieren und deren Know-how zu erlangen.

Zum dritten werden Wirtschaft und Verwaltung angegriffen, um Infrastrukturen außer Betrieb zu setzen oder zu sabotieren.

Und schließlich nutzen Nachrichtendienste die Möglichkeiten des Cyber-Angriffs, um Daten abzugreifen, Personen auszuspähen oder Sicherheitsmechanismen zu schwächen.

Die in der Cyber-Sicherheitsstrategie 2011 verankerten strategischen Ziele werden mit der 2014 beschlossenen Digitalen Agenda der Bundesregierung weiter verfolgt. Das IT-Sicherheitsgesetz, das im Juli 2015 in Kraft trat, ist ein erstes konkretes Ergebnis der Agenda, das auf die Verbesserung der Verfügbarkeit und Sicherheit der IT-Systeme, insbesondere im Bereich der Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) abzielt. Diese Infrastrukturen sind dadurch gekennzeichnet, dass ein Ausfall oder eine Beeinträchtigung der Versorgungsdienstleistungen dramatische Folgen für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft in Deutschland zur Folge hätte. Im Mai 2016 ist der erste Teil der Rechtsverordnung zur Umsetzung des IT-Sicherheitsgesetzes in Kraft getreten, in dem geregelt ist, welche Unternehmen aus den KRITIS-Sektoren Energie, Informationstechnik und Telekommunikation sowie Wasser und Ernährung unter das IT-Sicherheitsgesetz fallen. Bis Anfang 2017 sollen durch eine Änderungsverordnung auch die Betreiber in den Sektoren Transport und Verkehr, Gesundheit sowie Finanz- und Versicherungswesen identifizierbar werden.

»Die durchschnittliche Zeit für Sicherheitsupdates beträgt etwa einen Monat.« Die Angreifer sind den Verteidigern von IT-Systemen häufig einen Schritt voraus. Sie können ihre Ziele über das Internet einfach erreichen und es gibt viele Methoden, die Angriffswege zu verschleiern. Zudem bietet die heutige Informationstechnik aufgrund ihrer Komplexität viele potenzielle Angriffspunkte. Die Täter nutzen nicht nur neue und bislang unbekannte Schwachstellen

Neue Aufgaben Durch das IT-Sicherheitsgesetz wird die Rolle des BSI als zentrale Stelle für die Belange der IT-Sicherheit vor allem gegenüber der Wirtschaft gestärkt. Mit der Übertragung von mehr Verantwortung und Kompetenzen durch Erweiterung

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»Durch das IT-Sicherheitsgesetz wird die Rolle des BSI als zentrale Stelle für die Belange der IT-Sicherheit gegenüber der Wirtschaft gestärkt.« der bisherigen operativen Aufgaben wächst aber auch die Verpflichtung des BSI, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Dies gilt zum einen für die in das IT-Sicherheitsgesetz aufgenommene Befugnis, IT-Produkte und Software auf Sicherheitslücken zu untersuchen. Das gilt zum anderen für den Umgang mit den Meldungen, die die KRITIS-Betreiber bei erheblichen IT-Sicherheitsvorfällen an das BSI machen müssen. Das BSI bewertet und analysiert die eingehenden Meldungen und setzt sie mit weiteren Meldungen und Erkenntnissen aus anderen Quellen in Beziehung. Daraus entsteht ein Lagebild, auf dessen Basis beispielsweise kurzfristige Warn- und Alarmierungsmeldungen sowie Handlungsempfehlungen für Betroffene erstellt werden können. Diese tragen dazu bei, dass sich KRITIS-Betreiber, aber auch andere Unternehmen und Behörden, frühzeitig auf Angriffe oder Ausfälle vorbereiten bzw. entsprechende Gegenmaßnahmen treffen können. Die Meldungen der KRITIS-Betreiber sind daher eine wichtige Voraussetzung für die nationale Handlungsfähigkeit und Grundlage für bundesweit abgestimmte Reaktionen. Die Betreiber erhalten somit Informationen und Know-how und können von der Auswertung der Meldungen aller Betreiber sowie vieler anderer Quellen durch das BSI profitieren. Die Prozesse der Meldestruktur sind im BSI bereits heute etabliert. Hier wird auf die Erfahrungen zurückgegriffen, die im Rahmen der bereits seit langem geltenden Meldepflicht für IT-Sicherheitsvorfälle in der Bundesverwaltung gewonnen wurden.

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Kooperationen für Wirtschaft und Gesellschaft

Dienstleistungen Kritischer Infrastrukturen in Deutschland auch im Zeitalter der Digitalisierung möglichst uneingeschränkt aufrechtzuerhalten.

Als nationale Cyber-Sicherheitsbehörde gestaltet das BSI die Digitalisierung in Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft mit einem ausgeprägten kooperativen Ansatz. IT-Sicherheitsanalysen und der fachliche Diskurs der Cyber-Sicherheitsexperten des BSI mit den Experten aus Industrie, Fachorganisationen und Verbänden sind ein wesentliches Handlungsfeld des BSI.

»Das BSI unterstützt mittelständische Unternehmen gegenüber Cyber-Angriffen.« Die nationale Cyber-Sicherheitsbehörde BSI fördert mit ihrer IT-fachlichen Expertise die Aufklärungs- und Präventionsarbeit auch in Kooperation mit weiteren staatlichen Akteuren, zum Beispiel im Wirtschaftsschutz. Mit der Allianz für Cyber-Sicherheit (www.allianz-fuer-cyber­ sicherheit.de) verfolgt das BSI das Ziel, die Widerstandsfähigkeit des Standortes Deutschland, insbesondere der kleinen und mittelständischen Unternehmen gegenüber Cyber-Angriffen zu stärken. Dies erfolgt unter anderen durch die Bereitstellung praktikabler IT-Sicherheitsempfehlungen für KMU durch das BSI und durch Partner der Allianz. Der Allianz gehören inzwischen knapp 1.700 Institutionen an.

Zur Hannover Messe veröffentlichte das BSI zum Beispiel eine Sicherheitsanalyse des Kommunikationsprotokolls Open Platform Communications Unified Architecture (OPC UA), einem einheitlichen und weltweit anerkannten Industrieprotokoll, welches mit seinen kryptographische Mechanismen als zentraler Baustein auf dem Weg zu Industrie 4.0 angesehen wird. Diese Analyse, die von der OPC-Foundation unterstützt wurde, und deren Ergebnisse bringt das BSI mit den Ziel der Erhöhung des Cyber-Sicherheitsniveau zentraler Komponenten von Industrie 4.0 in die fachliche Diskussion ein. Im Bereich der Kritischen Infrastrukturen kooperiert das BSI über seine Aufgaben aus dem IT-Sicherheitsgesetz hinaus im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft zwischen den KRITIS-Betreibern, deren Verbänden und den zuständigen staatlichen Stellen zur Erhöhung der IT-Sicherheit in Deutschland.

Damit auch die Bürgerinnen und Bürger die Chancen des Internet sicher nutzen können, stellt das BSI seine Erkenntnisse zur Cyber-Sicherheitslage auch Privatanwendern zum Schutz ihrer IT-Systeme und Daten zur Verfügung. Für IT-Laien leicht verständliche IT-Sicherheitsempfehlungen und Warnhinweise bietet das Bürger-Angebot (www.bsi-fuer-buerger.de) des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik.

Der UP KRITIS adressiert acht der neun Sektoren Kritischer Infrastrukturen. Das zentrale Ziel des UP KRITIS ist es, die Versorgung mit

Arne Schönbohm ist Diplom-Betriebswirt und seit Anfang Februar 2016 Präsident des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Davor war er als Präsident des Cyber-Sicherheitsrat Deutschland e.V. und parallel bereits seit Ende 2008 als Vorstandsvorsitzender der BSS BuCET Shared Services AG (BSS AG) tätig.

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Rainer Wendt

Gemeinsam mit unserer Sicherheit stirbt auch die Freiheit Die aktuelle Sicherheitspolitik aus der Sicht eines Polizisten

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eigenen Wählermilieus nicht zu verprellen. Der einflussreiche „Seeheimer Kreis“ hat in einem bemerkenswerten Papier vom „allgemeinen Trend zu Einsparungen und Personalabbau bei den deutschen Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern“ gesprochen und richtigerweise festgestellt, dass das die „Handlungsfähigkeit unserer Sicherheitsbehörden stark eingeschränkt hat“. Die versammelten Sozialdemokraten identifizierten ein „Vollzugsdefizit“ und kamen zu dem Ergebnis, dass Politik eben nicht nur Gesetze zu erlassen, sondern auch dafür zu sorgen hat, dass diese durchgesetzt werden.

Zwei Meldungen vom selben Tag: Bundesjustizminister Heiko Maas sieht die Demokratie bedroht, weil rechte Hetze und Gewalt ein nicht mehr hinnehmbares Maß erreicht haben. Der Berliner Chef des Verfassungsschutzes Bernd Palenda warnt vor einer Gewaltoffensive von Linksextremisten und stellt lapidar fest, dass es mehr oder weniger Zufall oder Glück sei, dass es bislang noch nicht zu Toten oder Schwerverletzten gekommen ist. Vermutlich haben beide Recht. Die Wechselwirkungsspirale rechter und linke Gewalttäter dreht sich unaufhörlich nach oben. Bundesinnenminister Thomas de Maizière weist darauf hin, dass alle extremistischen Szenen regen Zulauf haben und die Zahl der Gewaltdelikte dramatisch in die Höhe steigt.

Nun, das ist genauso richtig, wie alt. Seit Jahren machen Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes darauf aufmerksam, dass Sparpolitik auf dem Rücken der Beschäftigten die Wirkungskraft des Staates reduziert und ihn oft genug der Lächerlichkeit preisgibt, wo er eigentlich Respekt erhofft hatte. Berlin ist eines der traurigsten Beispiele dafür. Hier in der Hauptstadt haben Sarrazin und Wowereit die öffentliche Verwaltung gründlich vor die Wand gefahren. „Sparen, bis es quietscht“ wollte man und hat es geschafft, dass die Bürgerinnen und Bürger nur noch müde und verzweifelt sind, wenn etwa das Meldegesetz ihnen auferlegt, sich nach einem Umzug innerhalb von zwei Wochen umzumelden. In der Realität ist das schlicht unmöglich, denn jeder weiß, dass es frühestens nach drei Monaten einen Termin gibt und das ist nur eines von vielen Beispielen, die es aus unserer Weltmetropole zu berichten gäbe.

»Schon in kurzer Zeit wird Deutschland mehr als 10.000 Salafisten haben, eine angemessene Überwachung ist undenkbar.« Auch der religiös motivierte Extremismus hat Hochkonjunktur, schon in kurzer Zeit wird Deutschland mehr als 10.000 Salafisten haben, eine angemessene Überwachung ist undenkbar. Rockerbanden bekriegen sich nicht mit Fäusten auf dem Hinterhof, sondern mit Schusswaffen in aller Öffentlichkeit und an immer neue Rekorde bei Wohnungseinbrüchen haben wir uns längst gewöhnt. Von der ganz alltäglichen Gewalt ist dabei noch gar nicht gesprochen worden. Ebenso wenig von den Angriffen auf Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und anderen Rettungsdiensten, auf weitere Beschäftigte des Staates, von Gewalt auf unseren Schulhöfen, innerhalb und außerhalb der Fußballstadien, im Internet und hinter den Mauern privater Lebensräume.

Und bei der Polizei sieht es kaum besser aus; rund 28.000 Beschäftigte hatte die Hauptstadt nach der Wende, jetzt sind es rund 5.000 weniger. Mühsam muss Innensenator Frank Henkel wieder aufzubauen versuchen, was verantwortungslose Sparorgien vergangener Jahrzehnte angerichtet haben. Der Investitionsstau in den maroden Gebäuden ist gigantisch, rund 600 Millionen Euro allein bei der Polizei, gerade einmal sieben Millionen fließen. Unsere Bereitschaftspolizei ist bundesweit im Dauereinsatz, jagt von einem Einsatz zum anderen, steht heute vor randalierenden Fußballrowdys, morgen zwischen aufgebrachten Gruppen von Zuwanderern, in rechts-links-Auseinandersetzungen, die zunehmend brutaler werden oder soll den verzweifelten Versuch unternehmen, die täglichen Angriffe auf Unterkünfte von Menschen zu verhindern, die hilfesuchend zu uns gekommen sind.

Diese Entwicklung hat Folgen, schon jetzt. Die Menschen in Deutschland haben Angst. Sie spüren die geringer werdenden Möglichkeiten eines geschwächten Staates, sich den Entwicklungen kraftvoll in den Weg zu stellen. Sie sehen die Unwilligkeit der Justiz, mit richtungsweisenden Urteilen Einhalt zu gebieten, und sie treffen auf politische Entscheidungsträger im Dauerwahlkampf, regelmäßig vor allem darauf bedacht, die

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damit zu befassen haben. Die Steigerungen bei Neueinstellungen für die Bundespolizei kommen mit dreitausend neuen Stellen eindrucksvoll daher, waren aber auch dringend nötig, um den bereits seit Jahren bestehenden Personalfehlbestand zu kompensieren. Die neu hinzugekommenen Aufgaben werden weitere Anstrengungen notwendig machen und damit darf nicht wieder jahrelang gewartet werden! Die Entlastung der Vollzugskräfte durch kurzfristige Einstellung von 1.000 Bundespolizeilichen Unterstützungskräften (BUK) ist auch nach jahrelanger Forderung noch immer nicht auf den Weg gebracht.

Auch die Funktionsfähigkeit unserer Justiz steht nur noch auf dem Papier. So fleißig und kreativ der Gesetzgeber ist, immer neue Vorschriften und Gesetze zu erlassen, müssen dramatisch unterbesetzte Staatsanwaltschaften und Gerichte damit fertig werden, was politisch gewollt und verursacht wurde. Zu den mindestens 2.000 Beschäftigten, die der Deutsche Richterbund für die Staatsanwaltschaften und Gerichte fordert, müsste rund das zehnfache an Personal eingestellt werden, um die Flut an Vorgängen einigermaßen beherrschbar zu machen. Der Staat im Verfall, das Personal professionell und motiviert, aber eben auch ausgepowert und überaltert, vom täglichen Kampf um die Ressourcen frustriert und stets von dem Gefühl begleitet, dass gigantische Gelder für sinnlose Projekte zur Verfügung stehen (da sind die leeren Regionalflughäfen in der Republik traurige Beispiele, die aber nicht die einzigen sind), aber erheblich zu wenig für die existentiellen Angelegenheiten des Staates, wie etwa ein funktionierendes Bildungswesen oder eben die Innere Sicherheit.

Fleißig sind manche Entscheidungsträger auch und vor allem darin, nach Möglichkeiten zu fahnden, die Arbeit der Polizei möglichst zu erschweren. Ein fast kollektives Aufjaulen beim Thema Vorratsdatenspeicherung oder Videoüberwachung, vorsorgliches Aufbegehren der Datenschützer überall dort, wo es etwa um vorbeugende Kriminalitäts- oder Verkehrsunfallbekämpfung geht und überall Rechtsbedenkenträger, wenn die Polizei Informationen sinnvoll vernetzen oder ihre Ressourcen schonend einsetzen will.

Im Bund und in den Ländern bewegen sich die Einstellungszahlen bescheiden nach oben - vielen Beobachtern vermittelt sich der Eindruck, es hätte eine Trendwende in der Personalpolitik stattgefunden. Doch genau dieser Eindruck täuscht, die großen Pensionierungswellen kommen erst noch, der Staat bleibt schwach und wird mit zunehmender Aufgabenvielfalt schwächer. Da helfen auch gute Anti-Terror-Gesetze nichts, die vor allem mit ihrer zentralen Informationssteuerung bislang gute Dienste geleistet haben, um Terroranschläge in Deutschland zu verhindern, wie wir sie aus anderen Ländern kennen. Aber auch bei innovativen Plänen stoßen Behörden immer wieder rasch an Grenzen, seien es Ressourcengrenzen oder Eitelkeiten der Länder, etwa beim Aufbau einer dringend notwendigen sachgerechten IT-Infrastruktur für Polizei und andere Sicherheitsbehörden.

»In der Folge nimmt nicht nur die Sicherheit ab, sondern auch unsere Freiheit.« Dabei kommen sowohl aus den Sicherheitsbehörden als auch aus unserer Wirtschaft immer wieder hervorragende Anregungen, Vorschläge oder entwickelte Produkte, um die Anstrengungen der Behörden zu unterstützen und zu mehr Erfolgen zu führen. Zentraldateien und zentrale Steuerung von Informationen, Intelligente Videosoftware, Predictive Policing, Atemalkoholanalyse und Halterhaftung im Straßenverkehr, Streckenabschnittskontrolle, sichere Fahrzeugkennzeichen, elektronische Grenzsicherung und Fahndung, Kennzeichenlesegeräte und Datenanalysen und vieles andere mehr wird immer wieder rasch vom Tisch gewischt, weil wir vor allem sehr rasch und umfassend Gründe dafür finden, warum irgendetwas nicht geht.

Glücklicherweise hat wenigstens der Bund nun endlich beim Bundesnachrichtendienst (BND) und Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV ) Nachbesserungen im Etat beschlossen, was offensichtlich dem Terrordruck geschuldet ist. Das war auch höchste Zeit. Die Neuregelung der gesetzlichen Befugnisse des BND wird schon fast reflexhaft von der Opposition kritisiert und das Bundesverfassungsgericht wird sich sicher auch

Und in der Folge nimmt nicht nur die Sicherheit ab, sondern auch unsere Freiheit. Wenn alte Menschen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht

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»Die Funktionsfähigkeit unserer Justiz steht nur noch auf dem Papier.« mehr auf die Straße trauen, öffentliche Verkehrsmittel und größere Personenansammlungen gemieden werden, wenn Menschen ihr Verhalten ändern, weil sie sich von Kriminalität bedroht fühlen, dann sind dies kollektive Verluste persönlicher Freiheit, die nicht akzeptabel sind. Der Anteil von Frauen, die sich konkret davon bedroht fühlen, Opfer eines Verbrechens zu werden, hat sich von 2011 bis 2016 vervierfacht, und allein von 2014 bis 2015 hat sich die Zahl derjenigen, die große Sorge hinsichtlich des Anstiegs von Kriminalität und Gewalt haben, von 52 % auf 82 % erhöht.

Der Abbau staatlicher Strukturen, vor allem in den Ländern und Kommunen, war eine der größten politischen Sünden der Nachkriegsjahrzehnte. Er begann nach der deutschen Wiedervereinigung mit der Illusion, dass nunmehr die ganze Welt zu Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie nach westlichem Muster bereit und in der Lage sei und auch die Staaten außerhalb Europas nichts anderes im Sinn hätten, als parlamentarische Demokratien eben nach diesem Vorbild aufzubauen. Diese Illusion ist nunmehr zerstört, viele Regionen der Welt versinken in Blut und Terror und werden noch lange Zeit zu leiden haben.

Es stimmt, rein statistisch lässt sich die Angst nicht rechtfertigen, und die Kriminalitätsfurcht war schon immer größer als die objektive Kriminalitätswahrscheinlichkeit. Aber zum Leben in Freiheit und Sicherheit gehört auch das Recht, nicht ständig in Angst vor Kriminalität und Gewalt leben zu müssen. Dazu zählt, dass der Staat angemessene Antworten darauf haben muss, wenn Menschen Opfer geworden sind. Wenn sich das Handeln des Staates dann darauf beschränkt, die Personalien der Täter festzustellen, reicht dies vielen Menschen als Antwort auf Gewalt und Kriminalität eben nicht. Aber viel zu oft erleben Opfer nichts anderes und müssen hilflos zur Kenntnis nehmen, dass die Täter schon Stunden nach der Tat bereit und in der Lage sind, nach neuen Opfern Ausschau zu halten.

Dem kann sich kein schwacher, weinerlicher und wehleidiger Kontinent Europa zur Wehr setzen, sondern nur eine kraftvolle Staatengemeinschaft, die bereit und in der Lage ist, unsere Art zu leben nicht nur mit wohlmeinenden Reden, sozialen Projekten und politischen Ankündigungen zu verteidigen. Sie muss auch mit aller rechtsstaatlichen Konsequenz und notfalls harter Verteidigung allen Versuchen entgegentreten, diese Werte zu beschädigen oder zu vernichten. Deshalb ist es richtig und dringend notwendig, den Staat in seinen Strukturen wieder zu stärken und auszubauen um den Menschen zu zeigen, dass er seine Schutzpflicht ihnen gegenüber ernst nimmt. Denn das Gewaltmonopol des Staates verliert seine Gültigkeit, wenn er dieser Schutzpflicht nicht angemessen nachkommt. Und das kann niemand wollen.

Rainer Wendt ist Polizist und seit 2007 Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. Darüber hinaus ist er Mitglied im Bundesvorstand des Deutschen Beamtenbundes (DBB).

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Sven Thomas

Zwischen Staatsraison und Menschenwürde Anmerkungen zum Theaterstück „Terror“

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Das Stück

Staatsanwaltschaft und Verteidigung, in denen die entscheidende Frage herausgearbeitet wird: Rechtfertigt die Rettung einer unbestimmten Vielzahl von Menschen die bewusste Tötung einer begrenzten Anzahl von Passagieren in einem gekaperten Flugzeug? Ferdinand von Schirach präzisiert die konfligierenden Positionen in seinem oben erwähnten Beitrag mit der provokanten Fragestellung: „Werden wir uns für die Freiheit oder für die Sicherheit entscheiden? Wollen wir, dass die Würde des Menschen trotz der Terroranschläge noch gilt?“

Dem Schriftsteller und – nunmehr – Dramatiker Ferdinand von Schirach ist mit seinem Theaterstück „Terror“ in den Augen der Intendanten und Dramaturgen der Deutschen Bühnen sowie – was der Kritik natürlich verdächtig vorkommt – aus der Sicht des Publikums ein großer Wurf gelungen. Das Stück wurde und wird in den Spielzeiten 15/16 und 16/17 an 54 Bühnen aufgeführt, die Düsseldorfer Inszenierung ist durchgängig ausverkauft, die Theaterbesucher sind integraler Bestandteil des „theatrum poenale“.

Der Hintergrund Worum geht es in dem Schauspiel? Mit den Worten des Autors in einem Beitrag im SPIEGEL: „Ein Terrorist kapert eine Lufthansa-Maschine auf dem Weg von Berlin nach München. Er zwingt die Piloten, Kurs auf die Allianz-Arena zu nehmen. Dort findet an diesem Abend vor 70.000 Zuschauern das Länderspiel Deutschland gegen England statt. Alle Versuche, das Flugzeug abzudrängen oder zu stoppen, scheitern. Gegen den ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten schießt der Pilot eines Kampfjets der Bundeswehr den Airbus ab. Alle Passagiere sterben. Der Pilot muss sich nun für sein Handeln vor Gericht verantworten. Die Theaterzuschauer sind die Schöffen, die über den Piloten – Lars Koch – zu Gericht sitzen und am Ende des Stückes über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten abstimmen.“

Die Imagination des Stückes beruht auf handfesten historischen Abläufen: Zum einen den Attentaten von 9/11 in den USA, hier insbesondere dem Geschehen um die vierte Maschine, die zum Absturz gebracht wurde, und zum anderen auf dem Schicksal des Luftsicherheitsgesetzes vom 11. Januar 2005. Auf Betreiben der seinerzeitigen rot-grünen Koalition war § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes verabschiedet worden, der vorsah, dass die Streitkräfte durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abschießen dürfen, soweit dieses gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollte. Der Bundespräsident hatte Bedenken gegen die von ihm letztlich vorgenommene Unterzeichnung des Gesetzes und empfahl eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht. Dieses stellte fest, dass die Ermächtigung zum Abschuss mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar sei, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.

»Hätten Sie auch geschossen, wenn Ihre Frau in dem Flieger gewesen wäre?«

Nach der Kassation des Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht erklärte der Abgeordnete der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen, Hans-Christian Ströbele, im Bundestag, dass der seinerzeitige Koalitionspartner – insbesondere der damalige Bundesinnenminister – ein Recht auf Abschuss in einer Notsituation auch für Passagierflugzeuge, in denen unbeteiligte Passagiere sitzen, schaffen wollte, man selbst aber geglaubt habe, mit einer Formulierung des Gesetzes diesem Dilemma auszuweichen (wörtlich: „Wir haben versucht, eine Formulierung zu finden, mit der beide Koalitionspartner – wie das leider in Koalitionen so ist, […] leben können“).

Im Zentrum der Aufführung – deren alleiniger Inhalt eine Hauptverhandlung wegen des Vorwurfs des 164-fachen Mordes gegen den Piloten Lars Koch ist – stehen ein Dialog zwischen dem Angeklagten und der Staatsanwältin, in dem Lars Koch den Abschuss der Maschine mit Argumenten verteidigt, die aus den parlamentarischen Beratungen über das Luftsicherheitsgesetz bekannt sind, und die Staatsanwältin ihn schließlich mit der hypothetischen Frage konfrontiert, ob er auch geschossen hätte, wenn seine Frau in dem Flugzeug gewesen wäre, sowie den Plädoyers von

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Am 11. September 2001 wurden vier Passagierflugzeuge in den USA von Selbstmordattentätern der Terrororganisation Al Qaida entführt und auf verschiedene Ziele gelenkt. Zwei Flugzeuge rasten in die beiden Türme des World Trade Centers (AA 11 und UA 175), ein weiteres (AA 77) stürzte gezielt in das Pentagon und ein viertes (UA 93) nahm – gesteuert von dem Entführer-Piloten Ziad Jarrah – Kurs auf Washington mit dem mutmaßlichen Ziel des Weißen Hauses oder des Capitols. Die Insassen dieser Maschine nahmen ihr Schicksal in die eigenen Hände, stürmten um 9.57 Uhr das Cockpit, der Pilot führte den Absturz um 10.03 Uhr auf ein Feld in Shanksville, Pennsylvania, herbei. Alle Passagiere starben.

Im Nachgang zu der Entscheidung äußerte sich ein früherer Bundesverteidigungsminister dahin, dass er sich durch die geschriebene Rechtslage nicht gebunden fühle und unter Berufung auf den übergesetzlichen Notstand einen Abschussbefehl erteilen würde. Das Bundesverfassungsgericht hatte solchen Interpretationen Vorschub geleistet, indem es die Frage der Strafbarkeit eines Abschusses mit der Folge der Tötung unschuldiger Menschen bewusst offenließ und – unter Berufung auf die umfangreichen, kontroversen Stimmen im strafrechtlichen Schrifttum – ausführte, dass „nicht zu entscheiden (ist), wie ein gleichwohl vorgenommener Abschluss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären.“

In einem gesicherten Raum im Weißen Haus erhielt Vizepräsident Dick Cheney um 10.02 Uhr die Nachricht, dass sich ein wahrscheinlich gekapertes weiteres Flugzeug auf dem Weg nach Washington befände. Er wurde gefragt, ob er die Ermächtigung erteile, das Flugzeug abzuschießen (der 9/11 Commission Report beschreibt dies wörtlich mit: „Vice President Cheney was asked for authority to engage the aircraft.“). Seine Reaktion wird von Anwesenden wie folgt geschildert (9/11 Commission Report): „His reaction was described … as quick and decisive, in about the time it takes a batter do decide to swing“ (also in der Zehntelsekunde, die ein Baseballspieler für die Entscheidung zum Schlag gegen den heranfliegenden Ball benötigt). Er ermächtigte Abfangjäger zum Abschuss („to engage the inbound plane“), dies in Unkenntnis des bereits zuvor erfolgten Absturzes des Flugzeugs durch den Angriff der Passagiere.

»Das BVG ließ die Frage der Strafbarkeit bewusst offen.« Beispielhaft für die Zerrissenheit in der Strafrechtswissenschaft ist die Auffassung des Doyen der Strafrechtsdogmatik, Claus Roxin, der zwar eine strafrechtliche Relevanz des Abschusses annimmt, den Piloten allerdings von einer Bestrafung freistellen will: „Aber man kann auf eine Bestrafung verzichten, weil der Täter nicht aus kriminellen Motiven, sondern aus Gründen der Lebenserhaltung gehandelt hat, weil nicht wenige rechtsgelehrte Beurteiler ein solches Verhalten sogar billigen und weil einer Gewissensentscheidung auch von der Verfassung (Art. 4 GG) ein zwar nicht Rechtswidrigkeit und Schuld, unter Umständen aber doch ein die Strafe ausschließender Stellenwert zugesprochen wird.“

Die Selbstverständlichkeit des Abschussbefehls und die Akzeptanz dieser Entscheidung – die fehlende Infragestellung – in allen späteren Untersuchungen (insbesondere im 9/11 Commission Report) spiegelt den in den USA vorherrschenden Utilitarismus wieder, der den einzelnen Menschen nicht als abwägungsfreies Rechtssubjekt ohne Blick auf den Nutzen der Gemeinschaft begreift, sondern den Gemeinwohlaspekt zum Gegenstand einer Relativierung des persönlichen „pursuit of happiness“ verwendet. Wenn es gilt, den denkbar größten Schaden – die Tötung vieler Menschen – zu vermeiden, hat der Einzelne auf seine Rechtsposition zu verzichten. Das „Rechnen“ – Menschenleben gegen Menschenleben – ist dann erlaubt.

Utilitarismus versus Menschenwürde des Einzelnen Wer Klarheit angesichts dieses buntscheckigen Bildes an Unvereinbarkeit einer Abschussermächtigung gegen entführte Passagiere eine Flugzeuges einerseits und der Fragwürdigkeit einer strafrechtlichen Sanktionierung des Handelnden andererseits gewinnen will, muss sich in einem ersten Schritt mit den tragenden Prinzipien der bundesrepublikanischen Verfassung und den abweichenden Grundsätzen anderer Rechtsordnungen befassen.

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»Am Schauspielhaus Düsseldorf lautete das Urteil immer auf Freispruch.«

Das Votum der Theaterbesucher

Im Stück findet diese Überzeugung ihren Ausdruck in einer rhetorischen Frage der Staatsanwältin und der bejahenden Antwort des angeklagten Piloten Lars Koch: „Sie glauben, die Menschen im Flugzeug müssten sich opfern, weil die Staatsraison das verlangt.“

Die Verwerfung der Ermächtigung zur Tötung besagt zwar nicht, dass der Gesetzgeber einen gleichwohl vorgenommenen Abschuss mit einem Poenalisierungsgebot auszustatten hat. Eines solchen bedarf es aber bereits deshalb nicht, weil das Rechtsgut Leben durch das StGB umfassend geschützt wird und die Zurechnung persönlicher Schuld über die allgemeinen strafrechtsdogmatischen Institutionen zu erfolgen hat.

Unter dem Regime des Grundgesetzes kommt eine solche Pflicht zur Aufopferung – vollzogen durch den Staat – nicht in Betracht. Das Bundesverfassungsgericht verwendet hierfür eine – gemessen am zurückhaltenden Sprachgebrauch des höchsten deutschen Gerichts – deutliche Formulierung, dass es nämlich „unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG (scil: Unantastbarkeit der Menschenwürde) schlechterdings unvorstellbar (ist), auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls sogar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten vorsätzlich zu töten“.

Präzise an dieser Stelle bieten die Abstimmungsergebnisse der Aufführungen an den einzelnen Bühnen ein empirisches Anschauungsmaterial, das ungeachtet der imaginierten Szenerie des Theaterstücks den Antagonismus vom strafrechtlich bewehrten Schutz des Lebens des Einzelnen und dem Gerechtigkeitsempfinden des Zuschauers / Laienrichters offenkundig werden lässt. Mit Stand 17.07.2016 fanden an den deutschen Bühnen insgesamt 376 Aufführungen (= Abstimmungen) statt mit folgenden Ergebnissen: 353 Freisprüche, 23 Verurteilungen. Am Schauspielhaus Düsseldorf beispielsweise lautete das Urteil der Besucher in 48 Aufführungen 48 mal auf Freispruch.

Das Verdikt des „schlechterdings unvertretbar“ ist ein dem Juristen geläufiger Topos. Es bedeutet, dass eine solche Ermächtigung sich als Willkürmaßnahme darstellt, also als eine unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vertretbare gesetzliche Gestaltung. Mit diesem „Karlsruhe locuta, causa finita“ ist der gesetzgeberische Spielraum für etwaige vergleichbare Eingriffe zur Bekämpfung des Terrorismus auf Null reduziert, die Tötung Unschuldiger zur Rettung anderer Personen nicht mehr legitimierbar. Alle Argumentationsmuster, wie etwa die Bewertung entführter Passagiere als „Waffe“ von Terroristen, sind damit hinfällig.

Der Autor selbst dürfte – wie ein Statement nach der Düsseldorfer Premiere zu erkennen gab – von der überwältigenden Tendenz zum Freispruch überrascht und möglicherweise betroffen gewesen sein, zumal das Verfassungsgebot durch die Ablehnung einer strafrechtlichen Sanktionierung faktisch zum Leerlauf verurteilt wurde.

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»Es erstaunt nicht, dass der Pilot von den Theaterbesuchern in der Mehrheit als Opfer gesehen wird, der für die Insuffizienzen des Gesetzgebers den Kopf hinhalten soll.« Die Zuweisung individueller Schuld in der Perzeption des involvierten Betrachters setzt allerdings nicht nur eine die Strafbarkeit konstituierende Norm, sondern weit mehr voraus: Ein Parlament, das mit Mehrheit ein Gesetz verabschiedet, das sodann der Verwerfung durch das Bundesverfassungsgericht anheimfällt („schlechterdings unvertretbar“), und dessen die Regierung tragenden Fraktionen aus Koalitionsräson mit einer Mentalreservation hinsichtlich der Tragweite der Ermächtigung operieren (Statement Ströbele), verliert den Anspruch auf eine uneingeschränkte Gewährleistung des Rechts auf Leben.

wenig gepflegte Arbeit für die Gesellschaft erledigt. Das Schauspiel lässt es durch den Abschuss der Maschine nicht zu jener Katastrophe kommen, der in den USA Tausende von Menschen zum Opfer fielen. Wie die Reaktion der medialen Öffentlichkeit ausfallen würde, wenn ungeachtet der Möglichkeit einer Verhinderung durch einen Abschuss eine gekaperte Maschine in eine Massenveranstaltung gelenkt würde, vermag man sich nicht auszumalen. Rufe nach einer Änderung des Grundgesetzes und subtile Interpretationen für eine modifizierte Neuauflage des Luftsicherheitsgesetzes wären sicher zu prognostizieren.

Was nach Inkrafttreten des Gesetzes – vor der Aufhebung durch das Bundesverfassungsgericht – erlaubt war, kann danach schwerlich als Mord geahndet werden. Der Geltungsanspruch einer Norm bedarf einer Fundierung aus dem Rechtsgut heraus; bereits die Verabschiedung des Gesetzes hat seine Unverbrüchlichkeit aufgehoben.

Wer sich dem verführerischen Virus des Utilitarismus nicht widersetzen und die Aufopferung aus Gründen des staatlichen Allgemeinwohls postulieren will, sei an einen Essay von Hans Magnus Enzensberger erinnert, der 1992 zu dem Bild des vollen Rettungsbootes und dem Dilemma der Bootsinsassen und der Ertrinkenden, die bei einer Aufnahme das Boot zum Sinken bringen würden, auf unser aller mangelnde Betroffenheit verwies: „Den Moralphilosophen und allen anderen, die darüber verhandeln, fällt der Umstand, dass sie auf dem Trockenen sitzen, gewöhnlich gar nicht weiter auf.“

Es erstaunt daher nicht, dass der Pilot Lars Koch von den Theaterbesuchern in der überwiegenden Mehrheit als Opfer gesehen wird, der für die Insuffizienzen des Gesetzgebers den Kopf hin­halten soll. Wer die Verfassung ins Wanken bringt, kann nicht Kompensation über die Verurteilung desjenigen verlangen, der die (gewollte)

Dr. Sven Thomas ist Rechtsanwalt und Partner einer Düsseldorfer Kanzlei. Er zählt zu den renommiertesten strafrechtlich tätigen Wirtschaftsanwälten in der Bundesrepublik Deutschland.

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Florian Hartleb

Fanal des Terrors in Europa Analyse aus Sicht eines Politikwissenschaftlers

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auf Twitter: “Wenn das 'Normalität 2016' ist, will ich nicht mehr normal sein“, während sie einen Link auf einen Liveticker zu den Ereignissen von München setzte. André Poggenburg, AfD-Chef in Sachsen-Anhalt, twitterte: „Einheitspartei Merkel: Danke für den Terror in Deutschland und Europa“. Der sächsische Landesverband der AfD fügte hinzu: „Der Terror ist wieder zurück! Wann macht Frau Merkel endlich die Grenze dicht!“ „AfD Wählen!“, twitterte AfD-Bundespressesprecher Christian Lüth, löschte den Tweet aber nach etlichen heftigen Reaktionen. Über den Täter oder dessen Motiv war zu diesem Zeitpunkt noch nichts bekannt. Insgesamt ist die Politik in einem Ausnahmezustand. In Deutschland werden Maßnahmen wie ein Einsatz der Bundeswehr im Innern diskutiert. Die jüngste Gewaltwelle dürfte die Polarisierung der deutschen Gesellschaft in der Flüchtlings- und Ausländerpolitik weiter verstärken. Donald Trump, Präsidentschaftskandidat der Republikaner in den USA, fordert schlicht verschärfte Sicherheitsauflagen für Deutsche und Franzosen.

Leben wir im freien Europa mitten in einem oder gar ganz neuem Zeitalter des Terrorismus? Wird das Leben hier wie in Israel, wo die Menschen mit dem Bewusstsein leben, dass überall Gefahr droht? Die LKW-Attacke am französischen National­ feiertag auf der Prachtmeile in Nizza vom 14. Juli, der mehr als 80 Menschen zum Opfer fielen, könnte schnell zu dieser Schlussfolgerung führen. Offenbar hat der Täter aus radikal-islamistischen Motiven gehandelt. Die Terrorangst wächst in den westeuropäischen Gesellschaften, dürfte in kommenden wichtigen Wahlen das beherrschende Thema werden, nicht nur im kommenden Frühjahr in Frankreich, wo Präsidentschaftswahlen anstehen.

»In dieser schwierigen Gemengelage haben es Populisten erst einmal leicht, Betroffenheit in geschmacklose Genugtuung umzumünzen.«

Schon seit Jahren ist immer wieder davon die Rede, dass die islamistischen Terrororganisationen, erst Al Qaida und dann der sogenannte Islamische Staat (IS), zu Akten aufrufen, die kleine Zellen oder sogar “Einsame Wölfe” begehen sollen. Letztgenannte sind Einzeltäter, die, ohne direkt zu einer Terrororganisation zu gehören und einer Hierarchie unterworfen zu sein, agieren. Anschläge mit Fahrzeugen gelten generell als perfide und waren in dieser Form nicht mitten in Europa, sondern aus anderen Weltregionen bekannt. IS ist zu einem Mitmachereignis für einige wenige fanatisierte Muslime oder Einzeltäter geworden. Ob die Attentäter letztlich Überzeugungstäter sind, ob sie überhaupt gläubige Muslime sind – all das spielt für die IS-Führung längst keine Rolle mehr. Eine persönliche Kränkungsideologie führt dazu, dass sich die Täter selbst schulen, etwa über Videos.

2016 (Brüssel und Nizza) ist wie schon 2015 (Paris), 2011 (Oslo und Utøya durch den Einzeltäter Breivik) und 2004 (Madrid) und 2005 (London) als schwarzes Jahr in Europas jüngste Terror-Geschichte eingegangen. Hinzu kommt nur kurz nach Nizza der Amoklauf von München als “gefühlter Terror”, der die Stadt an einem Freitagabend einige Zeit in Ausnahmezustand versetzte. Im “schwarzen Juli” kam es auch noch in Ansbach zu einem Selbstmordattentat eines syrischen Flüchtlings, der vor der Abschiebung stand. Es war das erste Selbstmordattentat in Deutschland. Gibt es etwa eine fatale Kettenreaktion? In dieser schwierigen Gemengelage haben es Populisten erst einmal leicht, Betroffenheit in geschmacklose Genugtuung umzumünzen. Terrorismus gilt ihnen als Zeichen für vieles: das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft, die Gefährlichkeit des Islams, tickende Zeitbomben unter den Flüchtlingen. Das zeigen die Reaktionen der AfD auf den Amoklauf von München. Noch in der Nacht, als sich München im Ausnahmezustand befand, die Hintergründe der Tat nicht klar waren, schrieb die Parteivorsitzende Frauke Petry

Aus subjektiver Hinsicht ist die Terrorgefahr bereits nach den barbarischen Attacken von Paris und Brüssel omnipräsent geworden. Innerhalb von nur wenigen Monaten konnten Terrorzellen ihre Taten planen und umsetzen – besonders erschreckend sind die Querverbindungen zwischen beiden Akten. Es gehört auch zum Kalkül der Terroristen – Drahtzieher scheinen Zellen zu sein – weitere Terrorakte anzukündigen.

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Maryland versuchen seit 1970 weltweit Terroranschläge zu dokumentieren. Eine Terrorattacke muss drei Bedingungen erfüllen, um in die “Globale Terrorismus Datenbank” aufgenommen zu werden: ein nichtstaatlicher Akteur muss vorsätzlich Gewalt gegenüber Menschen oder Objekten anwenden oder zumindest androhen, um politische, religiöse oder soziale Ziele zu erreichen.

Sicherheitsbehörden und Geheimdienste warnen schon seit längerem vor islamistisch motivierten Anschlägen, gerade auch in Deutschland. Naturgemäß emotionale Reaktionen im Nachgang der jüngsten Terrorakte erinnern an den 11. September 2001. Allgemein ist von “einer neuen Dimension des globalisierten Terrorismus” die Rede. Die Forderung des französischen Präsidenten François Hollande, einen “Krieg gegen den Terrorismus” auszurufen, gleichen denen des damaligen US-Präsidenten George W. Bush. Nach der Blutspur von Nizza hat er umgehend den Ausnahmezustand im Land verlängert. Gegenwärtig ist auch wieder die Diskussion um den “Kampf der Kulturen” und den fundamentalistischen Missbrauch des Islams als Waffe. Nicht nur in Frankreich sorgte der kurz vor den Pariser Terrorattacken erschienene Roman “Unterwerfung” von Michel Houellebecq für heftige Diskussionen. Der Autor beschreibt darin das Szenario eines Landes, das von islamistischen Fundamentalismus und Rechtsextremismus erschüttert, ja traumatisiert ist.

Dabei wird deutlich: Besonders in den 1970er und 1980er Jahren gehörten Terroranschläge in Teilen Europas zum Alltag. Terroristen agierten in Gruppen, professionell-hierarchisch organisiert, mit hoher Symbolik und auch international. Es existierte eine Vielzahl von terroristischen wie separatistische Organisationen, die sich katholisch nennende Irisch-Republikanische Armee (IRA) in Nordirland, die baskisch-separatistische Euskadi Ta Askatasuna (baskisch für Baskenland und Freiheit), die linksextremistische Rote Armee Fraktion (RAF) in der Bundesrepublik Deutschland, die kommunistischen Roten Brigaden, die neofaschistische Ordine Nuovo in Italien sowie nicht-europäische Terrorzellen.

»Angst wie Unsicherheit über die Art der Bedrohung sind mit Händen zu greifen. Doch ist der Terror in Westeuropa nicht neu.«

Auch wenn die Terrororganisationen insgesamt auf ihre Länder fixiert waren, kam es teilweise auch zu einer Internationalisierung: Gerade die RAF betrachtete sich als Teil einer weltweiten Front und pflegte intensive Kontakte zu anderen linksterroristischen Organisationen in Westeuropa, was in gemeinsame Bekennerschreiben und Strategiepapieren mündete. In der Praxis schätzte die RAF wie die ETA die Kooperation mit der palästinensischen Befreiungsbewegung. Kämpfer wurden dort trainiert in eigenen Camps. Unterstützung erhielten die Terroristen auch von der DDR: RAF-Angehörige kamen mehrmals im Jahr in die DDR, welche die Möglichkeit sah, den “Klassenfeind” zu destabilisieren.

Seit dem 11. September tritt die Figur des Selbstmordattentäters in den Vordergrund – aktuell bei den Anschlägen in Brüssel, Nizza und Ansbach. Mittlerweile tragen soziale Medien die schrecklichen Bilder fast in Echtzeit um die Welt. Wir wissen: Die Terrorvereinigung des so genannten Islamischen Staates (IS) will in Syrien und im Nordirak ein eigenes Kalifat aufbauen. Mit internationalen Hilfe wird sie nun zurückgedrängt. Ihre Antwort darauf ist, Terror nach Europa zu bringen. Angst wie Unsicherheit über die Art der Bedrohung sind also mit Händen zu greifen – zu Recht. Doch ist der Terror in Westeuropa nicht neu. Europa wurde von den 1970er bis Mitte der 1990er Jahren immer wieder von Terrorwellen heimgesucht. Jährlich 100 bis 400 Menschen fielen Anschlägen zum Opfer. Globale Datenbanken zeigen, dass der Terrorismus weltweit zunimmt, nicht aber in Europa. Forscher der US-Universität

Die Olympischen Spiele von 1972 im München wurden gar von Terrorismus überschattet. Palästinensische Geiselnehmer verlangten die Freilassung von 232 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen sowie zweier führender deutscher RAF-Terroristen. 17 Menschen starben dabei. Während des Nordirlandskonflikt von 1969 bis 2005 starben primär in Großbritannien und Nord­irland rund 3500 Menschen durch Terror. Die ETA ermordete über 800 Menschen. Das blutigste ETA-Attentat war ein Anschlag auf ein Kaufhaus in Barcelona im Juni 1987 mit 21 Toten und 30 Verletzten.

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ÂťGlobale Datenbanken zeigen, dass der Terrorismus weltweit zunimmt, nicht aber in Europa.ÂŤ

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man sie mit gefälschten Pässen über offizielle Grenzen oder auf den üblichen Flüchtlingsrouten nach Europa. Dort folgen sie den allgemeinen Leitlinien des IS, können aber autonom agieren. Informationen aus Sicherheitskreisen legen sogar nahe, dass mindestens 400 Kämpfer für mögliche Anschläge in Europa ausgebildet wurden. Das Phänomen des islamistischen Terrorismus mit seiner salafistischen Vision eines transnationalen Gottesstaates, der von Ungläubigen gereinigt ist, entfaltet seine Wirkung aus einem Konglomerat: dem Zusammenwirken von autoritären lokalen Regimen, dem fundamentalistischen Islam und westlichen Interventionen. Aus einer Unzufriedenheit von jungen Menschen meist mit muslimischen Hintergrund in den westlichen Ländern entsteht mitten in Europa ein neues Bedrohungspotential. Wie sich auch mit dem Terror in Nizza zeigt, sind diese oftmals hier sozialisiert.

Wie jetzt in Paris oder Brüssel gab es auch damals Angriffe, die an einem öffentlichen Platz möglichst viele Opfer treffen sollten: 1980 wurden bei einem Anschlag auf den Hauptbahnhof in Bologna 85 Menschen getötet, mehr als 200 verletzt. Diese Zeit ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte Italiens: über 400 Todesopfer durch Rechts- und Linksterrorismus zwischen 1969 und 1987.

»Informationen aus Sicherheitskreisen legen nahe, dass mindestens 400 Kämpfer für mögliche Anschläge in Europa ausgebildet wurden.«

»Umso wichtiger ist es, dass Staaten genau darauf achten, wem sie ihre Türen öffnen.«

Im 21. Jahrhundert gilt der islamistische Fundamentalismus als die Hauptquelle des Terrorismus von heute. Die Attacken in Paris und Brüssel haben den IS zur derzeit prominentesten Terrororganisation gemacht. Al Qaida stand vom Schlüsselereignis des 11. September 2001 an im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mittelbar beeinflusste die Organisation via Botschaften Gewaltakte von eigenständig agierenden islamistischen Terroristen in Europa. Im Jahr 2004 kamen bei den Bombenanschlägen auf Regionalzüge in Madrid 191 Menschen ums Leben. Ein Jahr darauf folgten die von islamistischen Selbstmordattentätern verübten Anschläge auf den Nahverkehr in London mit 56 Toten und mehr als 700 teilweise Schwerverletzten.

In manchen Ländern sind Parallelgesellschaften entstanden. So ist es kein Zufall, dass ausgerechnet in Paris und Brüssel Terroristen agierten. Auch Nizza gilt als Zentrum für islamistische Extremisten. Unabhängig, ob diese bereits eine Laufbahn als Kleinkriminelle einschlugen oder vorgeblich voll integriert waren, wollen sie in der derzeitigen Konstellation Teil eines “Befreiungskampfs” sein. Umso wichtiger ist es, dass Staaten genau darauf achten, wem sie ihre Türen öffnen. Der Verfassungsschutz machte im Flüchtlingsstrom des vergangenen Jahres 17 Personen aus, die im Auftrag des IS nach Europa gereist seien. Die Zahl der Migranten, bei denen wegen fehlender Perspektiven die Enttäuschung über den Westen programmiert ist, wird jedoch um ein Vielfaches höher sein. Nun zeigen die jüngsten Anschläge die reale Gefahr, vor der Sicherheitsbehörden schon vergangenen Herbst gewarnt haben.

Das Netzwerk Al Qaida hatte nach dem Tod seines Gründers Osama bin Laden im Jahr 2011 keine zentrale Führung mehr. Stattdessen übernahmen regionale Ableger das Kommando. Im Gegensatz dazu verfolgt der IS eine internationale Strategie. Die Dschihadisten haben aus ihrer Sicht ein staatliches Territorium im Irak und in Syrien geschaffen. Dies begreifen sie als Einfallstor für die Errichtung eines weltweiten Kalifats auf der Basis der islamischen Scharia. Anfang 2014 begannen die IS-Strategen damit, potenzielle Kandidaten in geheimen syrischen und irakischen Trainingslagern für ihren Auslandseinsatz zu schulen. Nach dem Terrortraining schickte

In der digitalen Gesellschaft von heute hat sich die Bandbreite an Möglichkeiten für Terroristen aller Couleurs, nicht nur für islamistisch-fundamentalistische Fanatikern deutlich erweitert.

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zahlreiche Belege finden. Verschwörungstheorien sind deshalb oft Tür und Tor geöffnet, was sich auch publizistisch vermarkten lässt.

Anders als beim herkömmlichen, von Gruppen organisierte Terrorismus muss dem Anschlag nicht unbedingt eine Ausbildung in einem Terrorcamp vorausgehen. Der Radikalisierungsprozess der Attentäter vollzieht sich inmitten der Gesellschaft. Drastisch zeigte das der norwegische Einzeltäter Anders Behring Breivik, geboren und aufgewachsen in Oslo. Am 22. Juli 2011 brachte der so genannte Einsame Wolf erst eine Autobombe im Regierungsviertel von Oslo zur Explosion, die acht Menschen tötete. Nur wenige Stunden später richtete er, als Polizist verkleidet, auf der 30 km entfernt gelegenen Insel Utøya mit einer Schusswaffe ein Massaker an. Im Laufe von mehr als einer Stunde fielen dem Terroristen 69 meist junge Personen zum Opfer, die im Zeltlager der sozialdemokratischen Partei waren.

»Das Westeuropa von heute ist sicherer, als es vor Jahrzehnten war.« Das Agieren von Einzeltätern oder Kleinzellen fügt sich in die Strategie des islamistisch-fundamentalistischen Terrorismus ein, der, wie jetzt die Terrormiliz “IS”, seit Jahren Einzeltäter und Kleingruppen in Europa ideologisiert und radikalisiert. Genutzt werden hier alle Möglichkeiten moderner Technologie, insbesondere Videos zur Rekrutierung aus der Ferne sowie soziale Medien. 2016 (Brüssel und Nizza) wird bereits jetzt wie schon 2015 (Paris), 2011 (Oslo und Utøya durch den Einzeltäter Breivik) und 2004 (Madrid) und 2005 (London) als schwarzes Jahr in Europas jüngste Terror-Geschichte eingehen.

Der perfide Akt kann nur deshalb nicht als Amoklauf bezeichnet werden, weil der Täter vor seinen Taten eine, wenn auch krude, politische Botschaft – ein Europa frei von „Kulturmarxismus und Islamismus“ – hinterließ und vorgeblich aus politisch-destruktiven Motiven handelte. Wichtiges Merkmal der Einsamen Wölfe scheint zu sein, dass sie eine Phase der eigenen Radikalisierung, die sie mitunter im stillen Kämmerlein erfuhren, neuerdings via Internet und soziale Medien erfahren. Isoliert von der Gesellschaft, scheinen sie ihre Taten professionell, gar minutiös planen zu können. Im November 2011 nahm die deutsche Öffentlichkeit schockiert von der Existenz einer rechtsterroristischen Kleinzelle namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) Kenntnis. Eine Trio mit der einzig Überlebenden Beate Zschäpe und zwei Männern soll unter anderem für neun Morde an türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern sowie an einer Polizistin verantwortlich sein. Wie bei vielen Terrorakten folgt im Anschluss eine intensive Diskussion über ein Versagen von Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten, wo sich meist

An der langjährigen Tendenz, dass Westeuropa nach den Terrorwellen in den 1970er- bis 90er-Jahren heute weit weniger Opfer zu beklagen hat, ändert das aber wenig. Kommentare sprechen unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse davon, dass der Terror in Europa nun allgegenwärtig sei. Manche Boulevardzeitung lässt vermuten, dass in Frankreich, Belgien, Deutschland, Spanien oder der Türkei hinter jeder Ecke ein Terrorist lauert. Wer so argumentiert, macht sich zum Erfüllungsgehilfen terroristischer Absichten, die sich gerade aus Selbstilisierung und -erhöhung speisen. Wir sollten uns vor solchen Bildern und Dramatisierungen hüten, auch zum Selbstschutz. Das Westeuropa von heute ist sicherer, als es vor Jahrzehnten war. Der schwarze Juli 2016 wird dennoch in die Geschichte eingehen. Zu gravierend waren die Taten.

Dr. Florian Hartleb wurde bei Eckhard Jesse zum Thema „Rechts- und Linkspopulismus“ zum Dr. phil. promoviert. Er arbeitet als Politikwissenschaftler und tritt des öfteren als Experte bei politischen Sendungen, u.a. bei Phoenix, ARD und im ZDF, auf.

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Hendrik Hoppenstedt

Zur Verteidigung der Sicherheit Deutschlands Die vÜlker- und verfassungsrechtlichen Aspekte von Bundeswehreinsätzen

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bei denen ausdrücklich der Krieg erklärt wurde. Nicht immer wird klar erkennbar sein, durch wen ein Angriff erfolgt, wenn beispielsweise Soldaten ohne Hoheitsabzeichen kämpfen. Darüber hinaus müssen nichtstaatliche Terroristengruppen bekämpft werden, deren Angriffe sich hauptsächlich gegen Ziele der Zivilgesellschaft richten.

Deutschlands Ansatz zur Lösung internationaler Konflikte ist regelmäßig ein Gesamtkonzept, das primär auf politische Lösungen und Entwicklungszusammenarbeit setzt. Mitunter erfordern internationale Konflikte als Ultima Ratio ein militärisches Eingreifen, d.h. den Einsatz von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Über vorbereitende Maßnahmen und Planungen kann die Exekutive entscheiden. Der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte außerhalb des Geltungsbereichs des GG bedarf jedoch der konstitutiven Zustimmung des Bundestages.

Spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland zeigt sich, dass die Bundeswehr auch ihre Fähigkeiten zur Landesverteidigung wieder stärken muss, um „klassische“ sicherheitspolitische Aufgaben, sprich die Landes- und Bündnisverteidigung, bewältigen zu können. Beim NATOGipfel Anfang Juli 2016 wurden Grundlagen für den geplanten Bundeswehreinsatz in Litauen gelegt, bei dem die Bundeswehr ihre NATOPflicht erfüllen und einem Bündnispartner Beistand leisten wird.

Vor solchen Auslandseinsätzen sind die völkerund verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zu prüfen. Dies war zuletzt hinsichtlich des Syrien-Einsatzes zur Verhütung von IS-Terror sowie zur Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak umstritten.

»Kein Staat kann die Aufgaben kollektiver Verteidigung alleine stemmen.«

I. Aufgabenwandel: Von der reinen Landesverteidigung zur Armee im Einsatz Seit Gründung der Bundeswehr im November 1955 und Inkraftsetzung der Wehrverfassung (Art. 87a: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“) am 22. März 1956 hat sich der Aufgabenbereich der deutschen Streitkräfte maßgeblich gewandelt.

Die sicherheitspolitischen Herausforderungen werden weiter zunehmen. Kein Staat ist dazu in der Lage, die Aufgaben kollektiver Verteidigung und Krisenintervention einschließlich Krisenprävention und Krisennachsorge organisatorisch und finanziell allein zu stemmen. Nur gemeinsam mit einer Vernetzung von Fähigkeiten werden wir die zukünftigen Herausforderungen bewältigen können. Dies erfordert eine fortschreitende Bündnisintegration der Bundeswehr im Rahmen von NATO und EU.

Während des Kalten Krieges war die Aufgabe der Bundeswehr in erster Linie die klassische Landesverteidigung und auch die Bündnisverteidigung gem. Art. 5 NATO-Vertrag. Mit Ende des Kalten Krieges ist diese unmittelbare militärische Bedrohung aus dem Osten weggefallen. Das sicherheitspolitische Umfeld für Deutschland und die Bundeswehr hat sich seitdem deutlich verändert. Anstelle einer panzerstarken Verteidigungsarmee werden mobile und flexibel einsetzbare Streitkräfte für den Einsatz im Ausland gebraucht. International muss die Bundeswehr einen militärischen Beitrag zur Friedenserhaltung leisten, sodass Auslandseinsätze zunehmen und auch intensiver werden.

Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen muss eine offene und ehrliche politische Debatte über die rechtlichen Grundlagen geführt werden, auf die die Einsätze der Bundeswehr als „Parlamentsarmee“ gestützt werden. II. Rechtsgrundlagen 1. Völkerrechtliche Zulässigkeit von Einsätzen

Die veränderte globale Sicherheitslage führt zu asymmetrischen und hybriden Bedrohungen. Die Parteien, mit denen wir Konflikte austragen, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, Strategien oder Taktiken massiv. Es gibt kaum noch klassische Kriege Staat gegen Staat,

Art. 2 Nr. 4 der VN-Charta enthält als Grundsatz das Gewaltverbot: Alle Mitglieder der Vereinten Nationen unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines

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Grenzspannungen mit vereinzelten Schusswechseln lösen das Selbstverteidigungsrecht nicht aus. Die sorgsam koordinierte Anschlags-Serie von Paris inklusive der geplanten Selbstmordattentate im Stade de France war aber von solch erheblicher Intensität, dass dies einem bewaffneten Angriff entspricht. Es wären nicht nur tausende Menschen getötet worden, sondern ggf. mit Staatspräsident Hollande das Staatsoberhaupt selbst.

Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt. Jeder Einsatz militärischer Gewalt bedarf als Ausnahme von diesem Grundsatz daher einer völkerrechtlichen Legitimation. a. Mit Zustimmung der Regierung eines anderen Staates ist ein militärisches Vorgehen auf dessen Territorium zulässig (sog. Intervention auf Einladung). So hatte der irakische Außenminister mit Schreiben vom 25. Juni 2014 alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen um Unterstützung im Kampf gegen die Terrororganisation IS gebeten, d.h. der Ausbildungs-Einsatz der Bundeswehr erfolgt auf ausdrückliche Bitte und im Einverständnis der Regierung des Irak sowie der Region Kurdistan-Irak.

Da der IS eine Terrorgruppe ist, richtet sich die Verteidigung formal nicht gegen einen Staat. Die sog. safe-haven-doktrin, mithilfe derer der Terror-Angriff dem Staat zugerechnet werden kann, der Terroristen Unterschlupf gewährt (so nach 9/11: Al-Qaida – Talibanregime in Afghanistan), hilft nicht weiter, da Syrien dem IS nicht willentlich ein sicheres Rückzugsgebiet gewährt. Aufgrund der Entwicklung hin zur spezifischen Erscheinungsform des transnationalen Terrorismus muss man sich aber von der klassischen zwischenstaatlichen Perspektive mit Zurechnung eines Terrorangriffs zu einem Staat lösen. Auch Terroristen können „Angreifer“ iSd. Art. 51 VN-Charta sein, gegen die das Selbstverteidigungsrecht zulässig ist.

b. Militärische Gewaltanwendung kann auch durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen legitimiert werden. Erforderlich hierfür ist ein Beschluss des VN-Sicherheitsrates, der ausdrücklich einen konkreten Streitkräfteeinsatz beschließt und den Rahmen und die Regeln des Einsatzes bestimmt, d.h. auch ggf. zum Einsatz robuster Mittel ermächtigt.

Aufgrund der Intensität und Zielrichtung der Anschlagsserie sprechen gute Argumente dafür, dass die Terroristen Frankreich und die freiheitliche Werteordnung Europas insgesamt angegriffen haben.

c. Schließlich ist militärische Gewaltanwendung völkerrechtskonform, wenn sie auf das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ gegen einen bewaffneten Angriff (Art. 51 VN-Charta) gestützt werden kann.

Vor dem Hintergrund der territorialen Integrität des Staates, in dem sich terroristische Angreifer aufhalten, stellt sich die Frage, ob dort Selbstverteidigungsmaßnahmen zulässig sind. Der Einsatz im Irak ist als Intervention auf Einladung zulässig.

Der Syrien-Einsatz wird u.a. auf dieses Selbstverteidigungsrecht und eine VN-Resolution gestützt. Nach den Anschlägen in Paris am 13. November 2015 hatte Frankreich um Unterstützung im Kampf gegen den IS in dessen Kerngebiet, d.h. Irak und Syrien, gebeten. Deutschland engagiert sich insbesondere mit Aufklärungsflugzeugen und Tankflugzeugen zur Luft-zu-Luft-Betankung von Kampfflugzeugen der internationalen Allianz und einer Fregatte als Begleitschutz für einen französischen Flugzeugträger.

Für Syrien gilt, dass ein Staat, der selbst nicht zur Bekämpfung der Terroristen bereit oder dazu fähig ist, militärische Maßnahmen gegen solche Gruppen auf seinem Territorium dulden muss. Da Syrien allein den IS nicht erfolgreich bekämpfen kann, sieht die VN-Resolution vor, dass die Bekämpfung des IS ausdrücklich auch auf dem Staatsgebiet Syriens erfolgen soll.

Das Selbstverteidigungsrecht setzt einen bewaffneten Angriff voraus. Klassischerweise stellt man sich darunter den Einmarsch einer Armee aus einem anderen Staat vor. Erforderlich ist eine gewisse Intensität der Waffengewalt.

Sowohl der Syrien-Einsatz als auch der Ausbildungseinsatz Kurdistan/Irak sind damit völkerrechtlich zulässig.

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2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit

die im Verteidigungsfall gem. Art. 115a Abs. 1 GG legaldefiniert ist.

Gem. Art. 87a Abs. 2 GG dürfen die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. a. Ein „Einsatz“ liegt vor, wenn aufgrund des Einsatzzusammenhangs und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist.

Teilweise wird eingewandt, bislang sei noch kein Bundestagsmandat auf Art. 87a Abs. 2 GG gestützt worden. Die Begründung „Das haben wir noch nie so gemacht.“ ist aber kein überzeugendes Sachargument. Die Bundesregierung wollte den Ausbildungseinsatz Irak/Kurdistan auch deswegen nicht auf Art. 87a GG stützen, weil sie befürchtete, damit Hürden für Auslandseinsätze abzusenken.

b. Selbstverständlich darf die Bundeswehr im Verteidigungsfall eingesetzt werden, d.h. wenn das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht (Art. 87a Abs. 3 iVm. Art. 115a GG).

»Wir dürfen uns nicht von Moskau oder Peking abhängig machen.«

c. Ein Fall, in dem das GG den Einsatz zulässt, ist Art. 24 Abs. 2 GG. Danach kann sich die Bundesrepublik Deutschland zur Friedenswahrung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit wie z.B. NATO oder VN einordnen. Das umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu diesem kollektiven Sicherheitssystem typischerweise verbundenen Aufgaben, d.h. die Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die „im Rahmen und nach den Regeln“ dieses Systems stattfinden.

Absehbar wird diese Begründung im parteipolitisch linken Spektrum auf Widerstand stoßen. Gleichwohl muss darüber diskutiert werden. Wenn nämlich Bundeswehreinsätze regelmäßig nur auf Art. 24 Abs. 2 GG und Sicherheitsratsresolutionen gestützt werden, führt dies dazu, dass wir bei Blockaden im Sicherheitsrat keine tragfähige Rechtsgrundlage haben oder den Einsatz nicht durchführen können. Als souveränes Land dürfen wir uns in der Frage der Auslandseinsätze der Bundeswehr aber nicht von Moskau oder Peking abhängig machen.

Die Bundesregierung sieht die Rechtsgrundlage sowohl für den Syrien-Einsatz der Bundeswehr als auch für den Ausbildungseinsatz Kurdistan/Irak in Art. 24 Abs. 2 GG, Art. 42 Abs. 7 EUV und mehreren VN-Resolutionen bzw. einer Erklärung des Präsidenten des Sicherheitsrates.

Auf Artikel 87a Absatz 2 GG können auch Bündnisverteidigung und Drittstaaten-Nothilfe gestützt werden, da beides unter „Verteidigung“ subsumiert werden kann. Dies gilt auch für den Syrieneinsatz als deutsches Hilfsangebot an Frankreich nach den Anschlägen von Paris. Die Bedrohungslage Deutschlands wurde auch hier deutlich, denn im Stade de France befanden sich nicht nur die deutsche Nationalmannschaft, sondern auch viele tausend deutsche Fans. „Verteidigung“ iSd. Art. 87a Abs. 2 GG ist weit auszulegen. Auch wir müssen uns im Ausland gegen den IS verteidigen.

Diese verfassungsrechtliche Begründung überzeugt mich zumindest hinsichtlich des Ausbildungseinsatzes nicht. Unzweifelhaft liegt kein spezielles Mandat des UN-Sicherheitsrates vor, das ausdrücklich die Entsendung von Soldaten zur Friedenssicherung vorsieht und damit den Rahmen und die Regeln des Einsatzes bestimmen würde. Auch die Präsidentenerklärung enthält im Kern lediglich den politischen Aufruf, den Irak zu unterstützen.

Angesichts einer zunehmenden internationalen Verflechtung der Streitkräfte und der gegenüber früher veränderten Bedrohungslage, sollten wir eine offene politische Diskussion über den Verteidigungsbegriff führen und Mut haben, den schon jetzt juristisch möglichen Weg des Art. 87a Abs. 2 GG zu gehen. Denn nicht nur am Hindukusch, sondern auch im Nordirak und anderswo wird die Sicherheit Deutschlands verteidigt.

d. Nach meiner Überzeugung findet der Einsatz der Bundeswehr aber eine verfassungsmäßig tragfähige Rechtsgrundlage in Art. 87a Abs. 2 1. Alt. GG. Der Begriff der „Verteidigung“ umfasst mehr als die Verteidigung der eigenen Staatsgrenzen,

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»Die Begründung „Das haben wir noch nie so gemacht.“ ist kein überzeugendes Sachargument.« Dr. Hendrik Hoppenstedt MdB ist zuständiger Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion für die Bundeswehreinsätze im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages.

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Uwe Hartmann

Hybride KriegfĂźhrung betrifft uns alle! Die Bedeutung des hybriden Krieges fĂźr die Sicherheitspolitik

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von Geheimdienstpersonal, Militärpersonal ohne Hoheitsabzeichen, Desinformationen, sehr gezielte Propaganda, Schüren von sozialen Disparitäten oder Spannungen in einer bestimmten Region, massiver Aufwuchs von Truppen in Grenzregionen, auch als psychologisches Druckmittel – und das Ganze zum Teil kombiniert mit wirtschaftlichem Druck.“1 Ein konventionell hoch gerüsteter Staat kombiniert also den Einsatz seiner Streitkräfte kreativ mit irregulären und nicht-militärischen Mitteln und Wegen.

Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts zeigte er seine hässliche Fratze im auseinanderfallenden Jugoslawien. Zwanzig Jahre später überzieht er die Menschen in der Ukraine mit Tod und Zerstörung. Der NATO-Gipfel von Warschau am 8./9. Juli 2016 lenkte die Augen der Welt auf die Baltischen Staaten, deren politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität durch Putins Russland bedroht ist. Die Rückkehr des Krieges auf dem europäischen Kontinent darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kriege immer anders sind. Sie wechseln ihr Erscheinungsbild und passen sich veränderten politischen, gesellschaftlichen und technologischen Rahmenbedingungen an. Der preußische General und Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz bezeichnete Krieg daher als ein "Chamäleon". Sind die Baltischen Staaten und damit alle Mitgliedsstaaten der NATO mit der Fortsetzung eines Kriegsbildes konfrontiert, wie es das Denken und Handeln der Mächte und Menschen während des Kalten Krieges bestimmt hat? Eine Analyse der Bedrohungsperzeptionen in den Baltischen Staaten verdeutlicht, dass diese nicht nur einen Angriff russischer Panzerverbände befürchten. Sie sehen sich vielmehr inmitten einer bereits heute stattfindenden, von ihrem Nachbarn im Osten orchestrierten hybriden Kriegführung.

Unter Analysten gibt es unterschiedliche Auffassungen, ob nur Staaten oder beispielsweise auch die Taliban oder der sogenannte Islamische Staat (IS) Formen einer hybriden Kriegführung anwenden. Für die Einbeziehung nicht-staatlicher Akteure spricht der Ursprung des Begriffs. US-amerikanische Strategieberater führten ihn in die Diskussion ein, um die Schwierigkeiten der israelischen Armee im Kampf gegen die Hisbollah im Libanon-Krieg 2006 zu erklären. Damals hatte die terroristische Organisation der Hisbollah den konventionell überlegenen israelischen Streitkräften empfindliche Schläge zugefügt, wie keine arabische Armee in den Kriegen zuvor. Die Hisbollah wandte nicht nur irreguläre Kampftechniken wie Hinterhalte und Anschläge an, sondern hatte auch moderne konventionelle Taktiken und Mittel in ihr Handlungsrepertoire eingebaut. Dazu gehörten etwa tiefgestaffelte Verteidigungsstellungen, Drohnen, Panzerabwehrwaffen, Boden-Luft-Raketen und moderne Führungssysteme. Die Hisbollah zerstörte sogar ein israelisches Schiff mit einer Rakete. Ihr Handeln bettete sie in eine geschickte Informationspolitik ein. Es war damit deutlich komplexer als israelische Strategen dies erwartet hatten.

»Hybride Kriegführung bezeichnet die kreative Mischung von Mitteln und Wegen der Gewalt.« Was ist mit hybrider Kriegführung gemeint? Worauf müssen sich die deutsche Politik und die Bürger und Bürgerinnen einstellen, wenn Einheiten und Verbände der Bundeswehr in den Baltischen Staaten eingesetzt werden, um Solidarität und Geschlossenheit der NATO zu demonstrieren Hybride Kriegführung bezeichnet zunächst nichts anderes als die kreative Mischung von Mitteln und Wegen der Gewalt. Die Bundesministerin der Verteidigung, Ursula von der Leyen, beschrieb in einer Rede im Bundestag, wie Russland hybrid im Konflikt mit der Ukraine agierte. Die russische Vorgehensweise umfasse „verdeckte Operationen und offener Einsatz von Mitteln, Einsickern

»Hybride Kriege lösen die vertraute Binarität auf. Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten.« Insgesamt zeichnet sich also eine Erweiterung des Gewaltspektrums von zwei Seiten ab: Nicht-staatliche Akteure nutzen neben asymmetrischen Mitteln und Wegen auch konventionelle; und konventionell gerüstete Staaten setzen verstärkt irreguläre sowie zivile Mittel und Wege ein.

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Angriffsziele sind allerdings nicht nur schwache Staaten in Krisenregionen, sondern auch gefestigte Demokratien in den bisherigen Wohlstandszonen. In einem übertragenen Sinne sind Hauptstädte weiterhin Hauptangriffsziele. Es geht jedoch nicht mehr darum, diese zu erobern, sondern die Handlungsmöglichkeiten von Regierungen und Parlamenten einzuschränken. Ziele könnten beispielsweise darin bestehen, die Bereitschaft westlicher Staaten zur Humanitären Intervention oder zur Verhängung von Sanktionen zu untergraben oder ganz einfach deren Attraktivität im weltweiten Systemwettbewerb zu mindern. Bündnisse, Regierungen, Gesellschaften und Streitkräfte stehen damit vor der gemeinsamen Aufgabe, ihre Widerstandskraft (Resilienz) gegen diese Bedrohungen als Voraussetzung für außen- und innenpolitische Handlungsfähigkeit zu vergrößern.

Handlungsweisen, die früher als Konflikte niedriger und hoher Intensität voneinander abgegrenzt waren, fließen ineinander. Es gibt weder eine scharfe Trennung noch eine zeitliche Linearität, sondern ein unscharfes Sammelsurium. Phänomene, die in den westlichen Denk- und Ordnungssystemen begrifflich klar getrennt waren, verschwimmen nun: Herrscht noch Frieden oder findet bereits Krieg statt? Haben wir es mit einem Staatenkrieg, einem Bürgerkrieg oder beidem zugleich zu tun? Ist der Gegner ein Kombattant oder Nicht-Kombattant oder etwas noch nicht definiertes Drittes? Geht es um innere oder um äußere Sicherheit, oder lässt sich beides nicht mehr trennen? Hybride Kriege lösen die vertraute Binarität auf. Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Verunsicherung greift um sich. Für diese Entwicklung gibt es zwei wesentliche Ursachen. Aufgrund der materiellen und technologischen Überlegenheit der USA und ihrer westlichen Verbündeten versuchen Staaten, vitale Ziele unterhalb der Schwelle eines konventionellen Krieges zu erreichen. Sie haben aus der Geschichte gelernt, dass aggressive Landmächte in einem bewaffneten Konflikt mit einem Seebündnis kaum gewinnen können. Zudem beruht der Machterhalt von Regierungen autoritärer Staaten vor allem auf ihrem Militär, das daher nur im Ausnahmefall für außenpolitische Abenteuer eingesetzt würde. Nicht-staatliche Akteure hingegen nutzen die Chancen marktverfügbarer Technologien sowie der Proliferation, um sich mit modernen Waffensystemen auszurüsten. Dabei haben sie sogar Vorteile gegenüber modernen Streitkräften, deren Beschaffungsprozesse oftmals sehr langwierig sind.

Das schließt nicht aus, dass hybrid agierende Akteure offensive Operationen durchführen, wenn sie den Gegner als militärisch schwach beurteilen. Dies ist beispielsweise beim IS der Fall, der Gelände eroberte, um das Kalifat auszurufen und dadurch sein Narrativ attraktiv zu halten. In ihrer militärischen Schwäche liegt auch eine große Gefahr für die Sicherheit der Baltischen Staaten. Eine Studie der RAND Corporation stellte fest, dass russische Streitkräfte nicht mehr als 60 Stunden benötigten, um vor den Toren von Riga und Tallinn zu stehen.2 Eine Verstärkung durch schnelle Eingreifkräfte der NATO käme dann zu spät. Die russische Seite könnte dadurch zu Fehlkalkulationen verleitet werden, während die NATO zu einer Eskalation des Konflikts gezwungen wäre, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhalten.

Die Hybridisierung der Kriegführung ist Ausdruck für veränderte politische Zwecke und militärische Ziele. Kriegführung zielt nicht vorrangig auf die Zerschlagung gegnerischer Streitkräfte, sondern auf die Destabilisierung staatlicher Strukturen und gesellschaftlicher Institutionen durch Schwächung des nationalen Zusammenhalts in einem Land. Dazu eignen sich vor allem Propaganda, Unruhen, Aufstände, eingefrorene und immer wieder entfachbare Konflikte und schließlich Terror und Bürgerkriege. Es geht also darum, bestehende politische Konflikte zu verschärfen und innere Frontlinien zu vertiefen, um die Gestaltungsfähigkeit von Politik und Gesellschaft zu überfordern.

»Streitkräfte spielen weiterhin eine wichtige Rolle in der Sicherheitsvorsorge.« Daher spielen Streitkräfte weiterhin eine wichtige Rolle in der Sicherheitsvorsorge. Auch im Rahmen einer hybriden Kriegführung ist militärische Abschreckung unverzichtbar, wenn Gegner ihre Truppen grenznah aufmarschieren lassen, um Nachbarn einzuschüchtern.

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ÂťAngriffsziele sind nicht nur schwache Staaten in Krisenregionen, sondern auch gefestigte Demokratien in den bisherigen Wohlstandszonen.ÂŤ

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die Ursachen und den Verlauf von Konflikten, die wie eine Nebelwand wirken, wird die Wahrheit verdeckt, die Interpretation der Geschehnisse erschwert und so abgestimmtes, von den Bürgern getragenes Regierungshandeln behindert. Ideen und Informationen werden also weitaus intensiver als geistige Waffen eingesetzt. Die Digitalisierung in offenen Gesellschaften und die Instrumentalisierung freier Medien bieten ungeahnte Möglichkeiten der zielgerichteten Einflussnahme auf Institutionen und Menschen.

Dazu müssen die im Rahmen der Bündnisverteidigung bereitgehaltenen Verbände nicht nur Solidarität zum Ausdruck bringen, sondern auch reaktionsschnell und durchsetzungsfähig sein. Die Hybridisierung der Kriegführung mit dem zumindest zeitlichen Primat von irregulären Mitteln und Wegen darf keineswegs beruhigen, solange ein Gegner die grundsätzliche Möglichkeit hat, mit überlegenen konventionellen Kräften anzugreifen. Man sollte nicht, wie Clausewitz einst formulierte, zum Galanteriedegen greifen müssen, wenn der Gegner bereits sein Schwert gezogen hat.

Die neue Rolle von Mensch und Medien in Konflikten wurde in westlichen Staaten bisher nicht vollumfänglich erkannt. So meinte Sir Rupert Smith kürzlich mit einem Hauch Zynismus, sein Buch werde zwar von Putin und dem IS, nicht aber in den westeuropäischen Hauptstädten gelesen.

Die Hybridisierung des Krieges steht für einen Paradigmenwechsel, den der britische General Sir Rupert Smith als War among the people beschreibt.3 Militärische Einsätze finden immer unter den Augen der Weltöffentlichkeit statt. Die Menschen verfolgen das Konfliktgeschehen und engagieren sich politisch, ggf. auch gewaltsam. Hybrid agierende Akteure setzen hier an und verleiten die Menschen gezielt durch Terror oder Informationskampagnen zu bestimmten Verhaltensweisen. Abhängig von ihren jeweiligen politischen Zielen versuchen sie, Menschen zu motivieren, in andere Länder zu flüchten und dortige Regierungen unter Druck zu setzen oder ganz einfach nur militärische Marschbewegungen zu blockieren. Sie sollen bestimmte politische Meinungen in Umfragen äußern und damit die Handlungsmöglichkeiten von Regierungen beschränken oder in eingefrorenen Konflikten kämpferisch aktiv werden, damit diese wieder hoch kochen, Regierungen destabilisieren, die Staatenwelt beschäftigen und eine Brandschneise schlagen, die das Durchqueren unerwünschter Waren und Werte behindert.

»Deutschland steht im Fadenkreuz hybrid agierender Akteure.« Deutschland steht im Fadenkreuz hybrid agierender Akteure. Täglich finden kreative und konzentrierte Einflussnahmen auf in Deutschland lebende Menschen statt. Unser Land ist sogar ein bevorzugtes Angriffsziel. Dies liegt nicht zuletzt an seiner Lage in der Mitte Europas und seiner wachsenden Rolle im internationalen Krisen- und Konfliktmanagement von NATO, EU und OSZE. Zur Sicherheitsvorsorge gehört daher eine selbstkritische Analyse von Schwachstellen, die hybrid agierende Akteure gezielt angreifen könnten. Seit Jahrzehnten kommt aus den Reihen der Politik, der Kirchen und anderer Institutionen die Forderung nach einer substanziellen sicherheitspolitischen Debatte. Der inklusive Prozess der Erstellung des neuen Weißbuchs 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr setzte kürzlich erste Impulse. Auf größere Resonanz stoßen auch die Hinweise von Historikern und Politikwissenschaftlern auf Strategiedefizite in der deutschen Politik.4 Eine möglichst breite sicherheitspolitische Debatte sowie eine belastbare strategische Kultur sind wesentliche Stützpfeiler für die Resilienz eines Landes im Angesicht hybrider Bedrohungen.

Dabei nutzen hybrid agierende Akteure aus, dass die Regierungen demokratischer Staaten den Einsatz militärischer Gewaltmittel weitaus intensiver legitimieren müssen als beispielsweise in autoritären Systemen. Dieses Scharnier zwischen Staat und Bürgern wird verstärkt attackiert: Durch medial blitzschnell verbreitete Behauptungen werden ‚Fakten‘ geschaffen, welche die eigene Seite in ein schlechtes Licht rücken. Ob diese stimmen oder nicht, ist dabei völlig irrelevant, wie das Beispiel der angeblichen Vergewaltigung eines 13-jährigen russlanddeutschen Mädchens im Januar 2016 verdeutlicht. Durch die Verbreitung von widersprüchlichen Informationen über

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Russlands Vorgehen in der Ukraine sowie die Expansion des IS traf die westliche Staatenwelt weithin unvorbereitet. Um künftig rechtzeitig reagieren zu können, reicht der Aufbau von Frühwarnsystemen nicht aus. Entscheidend sind schnelle Prozesse in der Erarbeitung und Umsetzung von Strategien sowie die Verfügbarkeit reaktionsschneller, durchsetzungsfähiger, flexibler und interoperabler Sicherheitskräfte, die über ausreichend Reserven verfügen und eng mit anderen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Instrumenten vernetzt sind.

Selbstverständnis ihrer Angehörigen bestimmt, war ursprünglich ein umfassendes Gedankengebäude, um Resilienz und Handlungsfähigkeit von Politik, Gesellschaft und Militär zu stärken. Sie forderte von den Staatsbürgern mit und ohne Uniform ein umfassendes politisches Verständnis von Krisen und Konflikten. Alle Staatsbürger wurden zu einem aktiven Eintreten für fundamentale demokratische Werte ermutigt. Eine intensive politische, ethische und historische Bildung war Katalysator für staatsbürgerliches Engagement und gleichzeitig Schutz gegen die Verlockungen einfacher Lösungen für außen- und innenpolitische Herausforderungen.

In der Gründungs- und Aufbauphase der Bundeswehr erarbeiteten Militärreformer in enger Abstimmung mit Politikern sowie Repräsentanten staatstragender Institutionen eine Führungsphilosophie, der das Kriegsbild eines "permanenten (Welt-)Bürgerkriegs"5 zugrunde lag. Konventionelle Kriege waren demnach „nur noch ein Teil einer auf allen Gebieten angreifenden geistigen Kampfführung, die keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Krieg und Frieden kennt.“6 Die Innere Führung, die noch heute die Führungskultur in der Bundeswehr und das

Bürger mit und ohne Uniform sollten Schulter an Schulter zusammen stehen. Die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft beruhte auf einer kritischen Debatte über die Sinnhaftigkeit militärischer Verteidigung bei gleichzeitiger Würdigung der Soldaten für ihren Dienst für Freiheit und Frieden. Im Angesicht hybrider Bedrohungen kommt es darauf an, diese Grundsätze unter veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erneut mit Leben zu füllen.

Dr. Uwe Hartmann ist Pädagoge und Offizier. Von 2009 bis 2013 war er Leiter des Studentenbereichs der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg. Er hat zuletzt das Buch "Hybrider Krieg als neue Bedrohung von Freiheit und Frieden" veröffentlicht.

1 Rede der Bundesministerin der Verteidigung anlässlich der ersten Lesung des Haushalts 2015 im Dt. Bundestag. 2 David A. Shlapak and Michael W. Johnson, Reinforcing Deterrence on NATO's Eastern Flank. Wargaming the Defence of the Baltics, RAND Corporation 2016. 3 Sir Rupert Smith, The Utility of Force, New York 2007. 4 Klaus Naumann, Einsatz ohne Ziel? Zur Politikbedürf– tigkeit des Militärischen, Hamburg 2006; Peter R. Neumann, Die neuen Dschihadisten. IS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus, Berlin 2015. 5 Wolf Graf von Baudissin, Grundwert Frieden in Politik – Strategie – Führung von Streitkräften, herausgegeben von Claus von Rosen, Berlin 2014. 6 Baudissin, Grundwert Frieden, S. 170.

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Bastian Schneider

Bundeswehr im Innern der Gesellschaft?

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selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund fühlte sich berufen, seine geballte sicherheitspolitische Expertise gegen einen Einsatz im Innern in die Waagschale zu werfen. Woher kommt dieses Fremdeln?

Die beispiellose Serie terroristischer Anschläge, die Europa und die USA in den vergangenen Monaten erschüttert haben, hat auch vielen Menschen in Deutschland eindrücklich vor Augen geführt, dass in einer Welt des freien Waren-, Informations- und vor allem Personenverkehrs für viele alte Gewissheiten kein Raum mehr ist. Krisen und Konflikte in fernen Regionen sind nicht mehr nur bloßes Nachrichtenmaterial, sondern können sich unversehens ganz unmittelbar auf unser Leben in Deutschland auswirken.

Bemerkenswerterweise verhält sich das Maß jener inneren Distanziertheit häufig umgekehrt proportional zum Maß der eigenen Erfahrung mit der Truppe. Wer selbst gedient hat oder wessen Verwandte, Freunde, Bekannte bei der Bundeswehr waren oder sind, der weiß, dass in den Uniformen ganz normale Menschen stecken – Menschen mit Familien, Menschen mit Hobbies, Menschen, die sich ebenso wie jeder andere in Deutschland ein Leben in Frieden und Freiheit wünschen und die dafür jeden Tag ihr Bestes geben. Und wer erlebt hat, mit welcher berechtigten Kompromisslosigkeit in der Bundeswehr gegen jede Art von Extremismus durchgegriffen wird, der weiß: Von dieser Armee hat unsere demokratische Gesellschaft nichts zu befürchten. Ganz im Gegenteil: Niemals in der langen Geschichte unserer Nation hatten wir eine Armee, die derart freiheitlich verfasst und die so wenig Armee der Regierung und so sehr Armee des Volkes ist.

Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen. Unter diesem Eindruck hat sich die Bundesregierung in ihrem unlängst beschlossenen Weißbuch 2016 in seltener Deutlichkeit dazu bekannt, im Falle einer terroristischen Großlage im Einklang mit Art. 35 Abs. 2 Grundgesetz auch einen Einsatz der Bundeswehr im Innern in Erwägung ziehen zu wollen. Doch warum ist das überhaupt bemerkenswert? Versteht es sich nicht von selbst, dass sich der Staat im Ernstfall zum Schutze seiner Bürger aller ihm rechtlich und tatsächlich zu Gebote stehenden Mittel bedient?

»Es scheint ein diffuses Unbehagen gegenüber der Bundeswehr zu geben.«

Wenn aber persönlicher Kontakt zur Truppe einen gelasseneren Umgang mit der Materie befördert, dann sind die Reformen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte nicht angetan, an dieser Stelle etwas zum Besseren zu wenden. Mit rund 180.000 Soldaten ist die Bundeswehr heute nurmehr so groß wie die Streitkräfte Italiens – eines Landes, das 20 Millionen Einwohner weniger hat als Deutschland, selbst nicht im Rufe einer waffenstrotzenden Militärmacht steht und mit den Karabinieri überdies noch über rund 100.000 den Streitkräften zugeordnete Paramilitärs verfügt. Zum Vergleich: Frankreich mit seinen rund 66 Millionen Einwohnern verfügt demgegenüber über fast 230.000 Soldaten.

Haben sich an dieser Frage über Jahrzehnte hinweg Auseinandersetzungen nachgerade ideologischer Härte entzündet, so ist an deren Stelle weithin eine entspannte Nüchternheit getreten. Im Lichte weltpolitischer und gesellschaftlicher Veränderungen mag das hohle Schreckgespenst des preußisch-deutschen Militarismus gegenüber handfesteren Gefahren an Bedrohlichkeit verloren haben, und in Jahrzehnten treuen Dienstes für unseren freiheitlichen Staat hat sich die Bundeswehr in breiten Schichten unseres Volkes größte Anerkennung erworben.

Eine kleinere Truppe aber hat notwendigerweise auch weniger Multiplikatoren in der Bevölkerung, und während zu Zeiten der Wehrpflicht Quartal für Quartal Zehntausende junge Männer und damit auch deren Familien einen persönlichen Bezug zur Bundeswehr entwickelten, beschränkt sich der dahingehende Erfahrungshorizont heutiger Generationen in der Regel auf die nicht immer von Erhellungsinteresse getragene Berichterstattung der Medien.

Und doch scheint in Teilen der Gesellschaft nach wie vor ein diffuses Unbehagen vorzuherrschen, wenn es darum geht, ob unsere Gesellschaft ihrer Bundeswehr auch in Ausnahmesituationen voll vertrauen kann. Aus SPD, Grünen und Linkspartei etwa verlautete teils tiefe Skepsis gegenüber den Plänen der Bundesregierung und

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selbstverständlich praktiziert wird, ist da wirklich die Entstehung eines Staates im Staate zu befürchten? Die Entstehung einer sozial so homogenen Gruppe, dass sich deren Interessen substantiell von denen der Gesellschaft unterscheiden? Tatsächlich mag die Bundeswehr zwar nach außen hin geschlossen auftreten – im Innern aber ist sie ebenso heterogen, ebenso politisch, kulturell und sozial divers wie jede andere Institution dieser Größe auch.

Daneben und darüber hinaus jedoch wirkt es, als habe der Segen jahrzehntelangen Friedens, den die europäische Einigung und die transatlantische Allianz uns beschert haben, Teile unserer Gesellschaft ganz grundsätzlich allem Militärischen entfremdet. Wo die Bundeswehr allenfalls als unbewaffnetes „grünes THW“ zur Bewältigung von Naturkatastrophen willkommen ist, die Unterstützung der Polizei etwa bei der Bewachung öffentlicher Einrichtungen in einem besonders schweren Unglücksfall jedoch als Bedrohung empfunden wird, da scheint die Wahrnehmung einer grünen Uniform sich grundlegend von derjenigen einer blauen zu unterscheiden. Vertreter unseres freiheitlichen Rechtsstaates aber ist der Soldat nicht minder als der Polizist, und einen objektiven Anlass zu derart unterschiedlichen Bewertungen gibt jedenfalls die nunmehr fast 70-jährige Geschichte unserer Bundesrepublik nicht.

»Wer kann militärische Sachverhalte überhaupt noch einordnen?« Eher schon als eine vermeintliche Entfremdung von der Mehrheitsgesellschaft dürfte da eine wechselseitige Entfremdung zwischen bestimmten gesellschaftlichen Eliten und der Bundeswehr zu besorgen sein. Welcher Anteil der Entscheidungsträger in Politik oder Medien etwa kann denn noch auf persönliche Erfahrungen mit unseren Streitkräften zurückgreifen und komplexe militärische Sachverhalte auch in Zeiten kurzgetakteter und übersteuerter Berichterstattung angemessen einordnen? Und wie wird dieser Anteil aussehen, wenn die heute über 50-Jährigen in den Ruhestand gegangen sein werden?

»Was ist Kameradschaft anderes als Solidarität?« Die bisweilen zu beobachtende innere Distanz zum Militärischen namentlich auf der linken Seite des politischen Spektrums verwundert umso mehr, als es gerade die von dieser für sich beanspruchten Werte sind, die in der Bundeswehr Tag für Tag gelebt werden. Was ist Kameradschaft anderes als Solidarität? Wo treten religiöse Überzeugungen, wo tritt das Geschlecht, wo treten soziale und ethnische Herkunft mehr in den Hintergrund als in einer Institution, in der derlei Unterschiede ganz bewusst schon im Äußerlichen ausgeblendet werden?

Welchen Stellenwert genießt eigentlich Sicherheits- und Verteidigungspolitik in unserem Land? Ist es bei uns denkbar, dass ein Politiker aus der ersten Reihe mit nationaler Bekanntheit wie etwa ein gescheiterter Kanzlerkandidat sein Glück im Verteidigungsausschuss sucht? Und welchen Stellenwert genießt abseits abstrakter Wohlwollensbekundungen die Bundeswehr in den bestimmenden Gruppen unserer Gesellschaft? Kommt dem deutschen Bürgertum ein auch nur zeitweiliges Zwischenspiel des eigenen Nachwuchses bei der Bundeswehr heute auch nur noch annähernd so gelegen wie etwa ein Medizin-, Juraoder BWL-Studium oder etwa kostspielige Selbstfindungsreisen in Neuseeland oder Südamerika? Wie aber sollen dann die zukünftigen Politiker, Wirtschaftslenker oder Chefredakteure einmal einen persönlichen Eindruck von der Natur der Materie gewinnen, über die sie einmal in der einen oder anderen Form zu befinden haben werden?

Wo alle die gleiche Uniform tragen, da zählen nur die eigene Persönlichkeit und die eigene Leistung. Bezeichnenderweise sind es denn auch gerade viele Migranten, die sich in der Bundeswehr sehr schnell und häufig zum ersten Mal „richtig“ dazugehörig fühlen: In der Straßenbahn mögen sie durch ihr Äußeres auffallen – bei der Bundeswehr aber zählt der Dienstgrad, und dessen Vergabe richtet sich nicht nach Hautfarbe oder dergleichen. Und wo dergestalt die Integration aller sozialen Gruppen und Schichten ganz

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»Ein größerer persönlicher Kontakt wäre zumindest geeignet, jenem Unwohlsein vorzubeugen, das nicht wenige Menschen in Deutschland beim Anblick einer Flecktarnuniform noch immer zu überkommen scheint.«

Selbstverständlich muss niemand bei der Bundeswehr gewesen sein, um ein guter Mensch zu werden oder um sicherheitspolitische und militärische Probleme durchdringen zu können. Der Mensch fängt nicht beim Leutnant an und Analyse- und Entscheidungsfähigkeit erfordern nicht notwendigerweise persönliche fachbezogene Erfahrungen. Und doch wäre ein größerer persönlicher Kontakt wohl zumindest geeignet, jenem subtilen Unwohlsein vorzubeugen, das nicht wenige Menschen in Deutschland beim Anblick einer Flecktarnuniform noch immer zu überkommen scheint.

Dass die Bundeswehr über Werbekampagnen, Youtube-Videos und dergleichen deutlich stärker als noch vor wenigen Jahren den direkten Kontakt mit der Öffentlichkeit sucht, ist vor diesem Hintergrund sehr erfreulich und wird hoffentlich dazu beitragen, anstelle unbegründeter Scheu ein wenig mehr Wohlwollen, Teilnahme und vor allem Gelassenheit gegenüber diesem Teil unseres freiheitlichen und demokratischen Staates zu wecken. Denn abseits politischer Spiegelfechtereien haben wir eines zu unserem Glück seit vielen Jahrzehnten: Eine Bundeswehr im Innern der Gesellschaft.

Bastian Schneider ist Oberleutnant der Reserve und steht im Referendardienst am Oberlandesgericht Karlsruhe. Er ist Mitglied im Bundesvorstand der Jungen Union Deutschlands.

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Pia Philippa Seyfried

Same Same But Different Die Auswirkungen des Brexit auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik GroĂ&#x;britanniens und der EU

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Verteidigungspolitik wird traditionell von drei wesentlichen Charakteristika bestimmt: Erstens ist die NATO, in der Großbritannien als Atommacht großen Einfluss besitzt, eine zentrale Referenz. Desweiteren sind die engen Beziehungen zu den USA relevant, die aufgrund historisch gemeinsamer Wurzeln als „special relationship“ gelten. Dabei dient die NATO als Vehikel, um USA und EU aneinander zu binden bzw. wechselseitig Einfluss auszuüben.

Wenige Tage nach dem Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der EU präsentierte die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, den europäischen Staats- und Regierungschefs die „Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU“, mit deren Erarbeitung sie seit dem vergangenen Jahr beauftragt gewesen war. Das Grundsatzdokument ist die Reaktion auf eine „existentielle Krise der Europäischen Union“ und fordert eine „starke Union, die strategisch denkt, eine gemeinsame Vision hat und gemeinsam handelt“. Sie ersetzt in weitaus größerer Dimension die bisherige „Europäische Sicherheitsstrategie“ aus dem Jahr 2003 und steckt allgemeine Ziele europäischer Außenund Sicherheitspolitik ab.

Zweitens beansprucht Großbritannien auf EU-Ebene einen intergouvernementalen Ansatz, um möglichst wenig nationalstaatliche Souveränität abzugeben. In der Vergangenheit haben britische Regierungen strukturelle Reformen der GASP und speziell der GSVP weitestgehend blockiert. So verhinderte Großbritannien etwa ein EU-Hauptquartier zur Planung und Führung ziviler und militärischer Operationen, da sowohl die NATO als auch einzelne Mitgliedstaaten über entsprechende Einrichtungen verfügen würden. Der ehemalige Premierminister David Cameron bekräftigte diese ablehnende Haltung im Februar nach dem Abschluss des „Deals“, der den Verbleib Großbritanniens in der EU sichern sollte: „Wir haben ein für allemal völkerrechtlich festgelegt, dass die alleinige Verantwortung für die nationale Sicherheit Großbritanniens bei der britischen Regierung liegt – daher werden wir zum Beispiel nie Teil einer Europäischen Armee sein.“

»Zeichnet der Brexit nicht die politischen Gegebenheiten nach?« Dieser integrationspolitische Impuls für ein von nationalstaatlicher Souveränität geprägtes Politikfeld wird gebrochen durch das Scheiden eines der politisch machtvollsten und militärisch stärksten Mitgliedstaaten der Union. Bereits im Vorfeld des Referendums wurde befürchtet, dass ein Austritt Großbritanniens aus der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik (GASP) und der darin verankerten Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) die weltpolitische Einflusskraft sowohl Großbritanniens als auch die der EU erheblich schwächen würde. In der Tat verliert die EU nun ein Mitglied, das über einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, Nuklearwaffen und international einsatzfähige Streitkräfte verfügt. Werden die Auswirkungen aber tatsächlich so gravierend sein? Für Großbritannien, für die EU als Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaft? Oder zeichnet die sich nun vollziehende Distanzierung nicht ohnehin realpolitische Gegebenheiten nach, die das traditionelle Verhältnis Großbritanniens zur GASP/GSPV reflektieren?

Gleichzeitig wurde der Aufbau und Einsatz militärischer Fähigkeiten immer unterstützt. So sind britische Soldaten an mehreren Militärmissionen der EU beteiligt: am Horn von Afrika gegen Piraterie, im Mittelmeer zur Seenotrettung und Schlepperbekämpfung sowie in Somalia zu Ausbildungszwecken. Als Akteur mit klarem Verständnis einer militärischen Rolle in der Außenpolitik bemüht sich Großbritannien drittens um bilaterale Vereinbarungen mit militärisch bedeutsamen Partnern außerhalb der EU. Seit 2010 bestehen z.B. die durch David Cameron und den damaligen französischen Staatspräsident Nicolas Sarkozy unterzeichneten „Verträge von Lancaster House“ über die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Diese beabsichtigen eine Verbesserung der kollektiven Verteidigungsfähigkeit – auch im Rahmen der NATO und der EU.

Nähe und Distanz: Großbritanniens Sicherheitsund Verteidigungspolitik im Kontext der GSVP Um die Konsequenzen eines Brexit für Großbritannien und die EU zu beurteilen ist es sinnvoll das sicherheitspolitische Selbstverständnis des Landes zu skizzieren. Die Sicherheits- und

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Carry on – Fortsetzung bestehender Kooperationen

gegenwärtig schwer abzuschätzen. Großbritannien behält seine geografische und geopolitische Position. Es bleibt eine Vetomacht im UN-Sicherheitsrat, wird in den wirkmächtigen Zusammenschlüssen von G7 und G20 vertreten sein, sowie weiterhin über starke militärische Handlungsfähigkeit und weit vernetzte Intelligence verfügen. Im besten Fall könnte Großbritannien – vor dem Hintergrund der in der Globalen Strategie anvisierten noch engeren Kooperation zwischen EU und NATO – weiterhin seiner Funktion als Bindeglied zwischen beiden Akteuren gerecht werden.

Es sind diese bilateralen Kooperationen, die nun ungeachtet des Brexit gefestigt werden könnten. Sowohl Großbritannien als auch Frankreich bekräftigten, dass der Brexit den bestehenden Kooperationsvertrag zunächst nicht beeinflussen werde. Bereits bis in das Jahr 2020 bestünden konkrete Vereinbarungen, so z.B. die Entwicklung unbemannter Luftfahrzeuge mittlerer Höhe gemeinsam voranzutreiben. Britisch pragmatisch lautete auch die Botschaft aus deutschen Regierungskreisen hinsichtlich nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit: Deutschland und Großbritannien befänden sich geografisch im gleichen Gefahrenraum, der Brexit würde daher keine Einschränkung der Kooperation mit Großbritannien nach sich ziehen.

Brexit als Katalysator für weitere Integrationsschritte in der EU? Auch wenn der Austritt Großbritanniens mehrheitlich bedauert wird, mehren sich auf politischer Ebene die Meinungen, ein Brexit böte auch die Chance, die EU als sicherheits- und verteidigungspolitischen Akteur handlungsfähiger zu machen. Im deutschen Diskurs um den Weißbuchprozess zur Sicherheitspolitik ist das „Pooling und Sharing“ von Fähigkeiten auf EU-Ebene ein zentraler Punkt. Großbritannien habe stets eine engere Kooperation in der europäischen Verteidigungspolitik verweigert und die EU dahingehend gelähmt, kritisierte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Nun würden Deutschland und Frankreich mit anderen EU-Partnern über eine enge Kooperation bei Verteidigung und Rüstung diskutieren – mit dem fernen Ziel einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion. Dazu zähle, wie gleichsam von Mogherini in der Globalen Strategie gefordert, der Aufbau eines zivil-militärischen Hauptquartiers, aus dem die EU zivile und militärische GSVP-Einsätze führen könne. Ein Projekt, das stets von Großbritannien verhindert wurde.

»Großbritannien könnte Bindeglied zwischen EU und NATO werden.« Auch im Hinblick auf die EU bestehen zunächst keine Ambitionen, die enge Kooperation im Rahmen der GASP/GSVP einzufrieren. Der Brexit habe dem britischen Verteidigungsminister Michael Fallon zufolge keine Konsequenzen für das britische Engagement in NATO- und EU-Missionen. Das Land werde seinen Verbündeten in Europa und der Welt nicht den Rücken kehren. Der neue britische Außenminister Boris Johnson zeigte sich bei seiner ersten Teilnahme am EU-Außenrat in Brüssel ähnlich kooperativ: Großbritannien wolle weiterhin seine führende Rolle in europäischer Kooperation einnehmen. Er verwies u.a. auf die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden nach dem Anschlag in Nizza und betonte, die Europäer müssten ihre Antwort auf den Terrorismus miteinander abstimmen. Für Großbritannien drängte er bei den weiteren Entwicklungen im Bereich der GASP auf “Andockmöglichkeiten und offene Türen”. Zu erwarten ist also, dass zukünftige Formen der Kooperation im sicherheitspolitischen Bereich jedenfalls und bei gegenwärtiger Situation nicht behindert, sondern eher flexibilisiert werden.

Der Vorstoß deckt sich mit einem von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und seinem französischen Amtskollegen, Jean-Marc Ayrault, veröffentlichten Strategie-Papier mit dem Titel „Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt“. Die Minister fordern darin eine unabhängige, als globaler Akteur aktiver auftretende EU. Dies beinhalte eine integrierte Außen- und Sicherheitspolitik, welche alle verfügbaren politischen Mittel und Instrumente bündelt. Sie empfehlen, dass mehrere Mitgliedstaaten im Rahmen der „ständigen strukturierten Zusammenarbeit“ verteidigungspolitisch stärker zusammenarbeiten

Wie sich die Rolle Großbritanniens im Dreieck von EU, NATO und den USA gestalten wird, ist

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verteidigungspolitisch ein ebenbürtiger Partner zu sein. Der Brexit ist als Teil einer vieldimensionalen Debatte also ein sensibilisierendes Moment, eine unmittelbare integrationspolitische Dynamik dürfte jedoch nicht von ihm ausgehen.

und damit integrationspolitisch voranschreiten. Die nationalen Verteidigungsfähigkeiten und -planungen sollten zudem halbjährlich durch ein „Europäisches Semester“ besser aufeinander abgestimmt werden. Auch in Mogherinis Globaler Strategie ist dieses Mittel der gegenseitigen Synchronisierung und Anpassung erwähnt.

Brexit als Chance für Reflexion und Strategieentwicklung

Eine verstärkte Europäisierung der Außenpolitik würde von einer Mehrheit der Europäer getragen. In einer Eurobarometer-Umfrage von November 2015 sprechen sich 63 Prozent der Befragten für eine gemeinsame europäische Außenpolitik, 72 Prozent sogar für eine gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik aus. Es liegt also nahe dieses sensible souveränitätsbeladene Politikfeld weiter zu integrieren, zumal der Vertrag von Lissabon bereits die notwendigen rechtlichen Grundlagen (z.B. Prinzip der ständigen strukturierten Zusammenarbeit) liefert.

Die Abstimmung in Großbritannien hat eine Signalwirkung auf den Zusammenhalt in der EU. Dazu ist bereits eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der EU entstanden, die sich mit den bevorstehenden Bundestags- und Präsidentschaftswahlen in Deutschland und Frankreich in 2017 nur intensivieren dürfte. Insbesondere durch die Herausforderung populistischer Bewegungen und damit einhergehender politischer Fliehkräfte wird Europa gezwungen sein, eine Reflexion des eigenen Zukunftsbildes sowie einen Diskurs über nötige/unnötige Integrationsschritte zu bestreiten. Dazu wird das Thema einer europäischen Sicherheitsarchitektur gehören: Europa hat aufgrund vielseitiger Bedrohungen Bedarf an einer Sicherheitspolitik, die europäischer geprägt ist als bisher.

Fraglich ist jedoch, wie die GSVP im Augenblick des Scheidens eines finanziellen und militärischen Schwergewichts aus der EU belebt werden, und welches Land diesen Wegfall kompensieren kann. Auch ist zweifelhaft, ob der grundsätzlich verunsichernd wirkende Brexit eine Reformbereitschaft erzeugen wird, welche die bisherige sicherheits- und verteidigungspolitische Integrationsmüdigkeit bewältigt. Hierbei könnte sich die momentan eher integrationsfeindliche Haltung in vielen Mitgliedstaaten zusätzlich lähmend auswirken. Interessant wird sein, wie sich insbesondere diejenigen (kleinen) Mitgliedstaaten zu den deutsch-französischen Initiativen positionieren werden, die sich in der Vergangenheit an der sicherheitspolitischen Haltung Großbritanniens orientiert oder sich sogar hinter ihr versteckt haben. Letztlich müsste auch Deutschland sein Engagement sowohl finanziell als auch materiell verstärken, um Frankreich sicherheits- und

Mit der Globalen Strategie ist dieser wichtige Reflexions- und Aushandlungsprozess in Gang gekommen. Der Europäische Rat hat die Hohe Vertreterin, die Kommission und den Rat „ersucht“, die bisherige Arbeit nunmehr „weiter voranzubringen“. Abzuwarten bleibt, ob die EU – mit oder ohne Großbritannien – angesichts diverser sicherheitspolitischer Kulturen und militärisch-strategischer Traditionen eine langfristig kohärente Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln kann. Entscheidend hierfür werden die zukünftige Sicherheitslage, daraus resultierende nationale Interessen sowie der entsprechende politische Handlungswillen auf Regierungsebene sein.

Pia Philippa Seyfried ist Politik- und Europawissenschaftlerin. Ihre besondere Expertise liegt im Bereich der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, mit den Schwerpunktthemen Terrorismusbekämpfung und Nachrichtendienstliche Zusammenarbeit.

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Henrique Laitenberger

Herz über Kopf Lehren aus dem Brexit

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die Risiken eines Austritts waren insbesondere den obersten Entscheidungsträgern bekannt: ein Brexit würde Großbritannien nicht nur in eine Rezession stürzen, Arbeitsplätze kosten und die Lebensunterhaltskosten steigen lassen. Er würde den diplomatischen Einfluss des Landes beschneiden, sowie die sicherheitspolitische Zusammenarbeit erschweren. Zusätzlich würde ein durch England erzeugtes Brexitvotum schottische Unabhängigkeitsbestrebungen erstarken lassen und die Nordirlandfrage neu öffnen – kurz das Vereinigte Königreich in seiner Existenz gefährden. Auf dieser „praktischen, nicht emotionalen“ Grundlage begründete Cameron seine Unterstützung für den EU-Verbleib.

Um 23 Uhr britischer Zeit am 23. Juni 2016 deuteten die Zeichen nicht auf Umwälzung hin. Die Wahllokale hatten seit einer Stunde geschlossen und soeben war die erste Hochrechnung des Meinungsforschungsinstituts YouGov publik geworden: 52 Prozent der Briten hätten für die weitere EU-Mitgliedschaft ihres Landes gestimmt. Kurz darauf räumte Nigel Farage die Niederlage seines Lagers ein. Für einen Augenblick schien es, als würde sich alles, nach Monaten der erbitterten Kampagne, zum Positiven wenden. Wenige Stunden später war alles anders. Entgegen aller Erwartungen verkündete die Wahlleitung in den frühen Morgenstunden, dass 51,9 Prozent der britischen Wähler für den „Brexit“ gestimmt hatten. Die Befunde der Meinungsforscher hatten sich, wie zuvor bei den Unterhauswahlen im Mai 2015, als unzuverlässig erwiesen. Premierminister David Cameron erklärte kurz darauf seinen Rücktritt, das Pfund fiel auf das schwerste Tief seit dreißig Jahren. Farage verkündete, in einer für einen Bürger der ehemals größten Kolonialmacht der Welt recht taktlosen Siegesrede, das Land müsse den 23. Juni nun zu seinem „Unabhängigkeitstag“ erklären. Innerhalb von knapp sechs Stunden war das Schicksal des Vereinigten Königreiches und Europas auf den Kopf gestellt.

»Bis April schien ein Ausstieg mehr als unrealistisch.« Der Glaube, dass urbritischer Pragmatismus die Aversion gegenüber Brüssel schon zügeln würde, lief wie ein roter Faden durch die Referendumskampagne. Es war nicht nur die Kernbotschaft pro-europäischer Tories, sondern auch der überparteilichen „Britain Stronger IN Europe“: Unter Berufung auf die Risiken eines Brexit für Großbritanniens Wirtschaft, Sicherheit und globalen Einfluss betonte man, dass das Land innerhalb der EU „stronger, safer, better off“ – stärker, sicherer, wohlhabender – wäre. Eine Reihe namhafter Experten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens versammelten sich hinter den pro-europäischen Kräften, von Professor Stephen Hawking zu Großunternehmer Richard Branson, Bestsellerautorin Joanne K. Rowling und US-Präsident Barack Obama. Mit Ausnahme von UKIP unterstützten sämtliche Großparteien des Landes den Verbleib in der EU, in einem für die Insel beispiellosen Konsens. In den Umfragen wurde dies entsprechend reflektiert. Bis April schien ein britisches Votum für den EU-Ausstieg mehr als unrealistisch.

»Schon vor Jahrzehnten wetterte man gegen die EU.« Wie konnte das zuvor Undenkbare, eine Verabschiedung Großbritanniens aus der EU, geschehen – und was bedeutet es für Europa im Allgemeinen? Das Verhältnis zwischen Großbritannien und der Europäischen Gemeinschaft war stets ein kompliziertes. Nicht grundlos wurde Euroskeptizismus, die Ablehnung immer tiefergehender europäischer Integration, lange als exklusiv britisches Phänomen angesehen. Während die europäische Idee in den meisten Mitgliedsländern politischen Konsens darstellte, wetterte man schon vor Jahrzehnten in Westminster gegen „nicht gewählte Bürokraten“ und Regulierungen.

Dass es dennoch dazu kam, hatte mehrere Gründe. Entscheidend jedoch war ein Umdenken in der Tory-dominierten „Vote Leave“ Kampagne. Lange auf wirtschaftlicher und verfassungsphilosophischer Grundlage argumentierend, wandte sie sich im April einer anderen Frage zu: der Einwanderung.

Dennoch schien es schwer vorstellbar, dass das Land sich dafür entscheiden würde, dem europäischen Projekt den Rücken zu kehren. Denn

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so Boris Johnson und Co., könne die Masseneinwanderung stoppen und Großbritannien wieder Herr über die eigenen Grenzen werden lassen. Die für viele Wähler zuvor abstrakte Idee der „Kontrolle“ wurde für viele plötzlich greifbar. Beflügelt durch steigende Umfragewerte, verfuhren die Tory-Brexiter nun ganz nach dem populistischen Lehrbuch. Der Volksentscheid wurde so zu einer Rebellion des Volkes gegen die selbstsüchtigen Eliten in Westminster und Brüssel stilisiert. Dies entbehrte nicht einer gewissen Komik: immerhin entstammten die Wortführer der Brexiter, von Johnson zu Farage, nahezu ausschließlich der privatschulgebildeten oberen Mittelschicht des Landes. Dennoch verfing sich die Vorstellung schnell. Anstatt von einem Kontrollgewinn des britischen Parlaments, getreu der britischen Verfassungsdoktrin der eigentliche Souverän des Königreichs, sprach man nun offen von der Wiederherstellung der „Volkssouveränität“.

Spätestens seit der Erweiterung der EU im Jahr 2004 und der anschließenden Verdopplung der im Königreich lebenden EU-Bürger von 1,4 auf 2,8 Millionen innerhalb von zehn Jahren bestimmte diese brisante Frage die britische politische Agenda, noch vor der Wirtschaft. Sie war maßgeblich für den Aufstieg UKIPs zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft in den Vorjahren verantwortlich. Vote Leave zögerte lange, bevor es auf dieses Thema umschwenkte: die Abgrenzung zu UKIPs Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus war lange ihre oberste Priorität gewesen. Stattdessen wollte man das „positive, liberale Argument“ für den Brexit liefern. Vote Leaves hochtrabende Thesen eines Großbritannien, das von den Ketten Brüssels befreit zu einer wirtschaftlichen Vormacht und weltpolitisch bedeutenden Nation erwachsen könne, wurden jedoch von namhaften Experten nahezu völlig diskreditiert. Angesichts der drohenden Niederlage entschied sich Vote Leave zur inhaltlichen Kehrtwende: so erschienen wenige Monate vor der Abstimmung im ganzen Land Poster mit der Aufschrift: „Die Türkei (Bevölkerung 76 Millionen) tritt der EU bei!“ Untermalt war der Slogan von Fußstapfen die in einen als offene Tür stilisierten britischen Pass traten. Die Botschaft war unmissverständlich: bleiben wir in der EU, riskieren wir eine neue unkontrollierte Masseneinwanderung. Die empörten Reaktionen vieler Kommentatoren ließen nicht lange auf sich warten: nicht nur sei die Türkei weit von einem EU-Beitritt entfernt, das Plakat spiele beinahe unverhohlen fremdenfeindliche Instinkte an.

Das „People vs. Establishment“ Narrativ ermöglichte es ebenso, akademische Bedenkenträger als abgehobene Interessenvertreter der „kosmopolitischen Eliten“ zu verwerfen. Offen gesagt, meinte so Justizminister Michael Gove, habe das Land genug von „Experten“. Mehrere Forschungsinstitute und Akademiker, welche Behauptungen der Leave-Kampagne sachlich widerlegten, wurden von Brexitern der Befangenheit und Unseriosität bezichtigt, weil sie EU-Fördergelder erhalten hatten. Im Gegenzug erlaubte es der Antiintellektualismus der Leavers, Fakten schonungslos zu ihren eigenen Gunsten zu verdrehen: Man druckte eine offensichtlich falsche Zahl der 350 Millionen Pfund, die Großbritannien angeblich wöchentlich an die EU zahle, auf einen Kampagnenbus und Minister wie Penny Mordaunt behaupteten, Großbritannien könne gegen den EU-Beitritt der Türkei kein Veto einlegen. Es war der Sieg der „post-factual politics“, wo die Wahrheit allein im Auge des Betrachters lag.

»Der Entscheid wurde zu einer Rebellion gegen die Eliten in Brüssel stilisiert.« Nichtsdestotrotz wurde die Affiche zum Symbol für den Triumph des Leave-Lagers – denn das Einschwenken auf populistisches Territorium war die Wende im Wahlkampf. Der Strategiewechsel wurde nämlich auch auf strategischer Ebene zum Leitmotiv für die letzten zwei Monate der Brexit-Kampagne: Emotionen statt Expertise war nun die Devise. In Kombination mit dem politisch schlagkräftigen Argument der Einwanderung, entfaltete der Slogan „Take Back Control“ seine volle Wirkung: nur ein Austritt aus der EU,

Der Populismus der Brexit-Kampagne deckte schonungslos die Schwächen der EU-Befürworter auf, die sich ausschließlich darauf konzentriert hatten, Köpfe statt Herzen zu gewinnen. Schon als diese in den Umfragen vorne lagen, warf man der Kampagne Panikmache vor – ein Vorwurf, der sich in der post-faktisch geführten Debatte nur erhärtete. Wenngleich der Vorwurf des „Project Fear“ ungerechtfertigt war, wie allein die Entwicklungen unmittelbar nach der Abstimmung erwiesen,

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Hierin offenbart sich letztendlich die Hauptlehre aus dem Brexit: Wir müssen das emotionale Narrativ für Europa wiederbeleben und es kompromisslos verteidigen. Hierfür ist nicht zwingend eine Grundsatzreform oder Vertragsänderung der EU notwendig – zunächst muss entschiedener Widerspruch gegen anti-europäische Agitatoren die Priorität aller überzeugten Verteidiger der europäischen Idee sein. Denn Großbritannien mit seiner Fülle an „opt-outs“ zeigt auf, dass die Gegner Europas die EU aus Prinzip und somit gleich in welcher Form ablehnen.

darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es den „Remainers“ nicht gelang, eine positive Vision zu bieten. „Stronger, safer, better off“ verkam allzu oft zu „weaker, poorer, more unsafe“ – schwächer, ärmer, unsicherer. Während die Remain-Kampagne bezichtigt wurde Großbritannien „kleinzureden“, gewann das emotionale Narrativ der Brexiter schrittweise die Oberhand. Cameron und Alliierte, wie der ehemalige Premier Gordon Brown und der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, versuchten in den letzten Wahlwochen noch eine Wende, indem sie an den britischen Kampfgeist und Internationalismus appellierten. Erfolglos – es war „too little, too late“.

Wir müssen uns wieder darauf fokussieren, sie im Prinzip zu verteidigen. Die Kultur des „Brussels“-Bashing, auch unter einigen pro-­ europäischen Politikern beliebt, darf nicht länger salonfähig bleiben. Es reicht nicht ausschließlich, in der Praxis verantwortungsvolle Politik zu machen, sie muss auch mit Verve beworben werden. Wie es viele Briten im ganzen Land taten, die überwiegend für den Verbleib stimmten und Stimmung machten.

Der Brexit ist ein Triumph des Populismus. Ihm ging ein Wahlkampf voraus, in denen Freund gegen Feind-Denken dominierte und Emotionen über Fakten triumphierten – und im „Mainstream“ Einzug hielten. Zeitgleich ist er aber auch das Produkt einer Jahrzehnte andauernden Diffamierung der Europäischen Union, ihrer Institutionen und Grundideen durch britische Politiker sämtlicher Parteien, aber insbesondere der Konservativen, und Teilen der Presse. Angesichts dessen verwarf Britain Stronger IN Europe jegliche Ambitionen einer positiv-emotionalen Kampagne, welche die europäische Idee und ihre Errungenschaften in den Mittelpunkt gestellt hätte. Die Strategie des, in den Worten Camerons, „head not heart“ erwies sich als uninspirierend, wie Arron Banks, ein Großspender der UKIP-Kampagne Leave. EU feststellte: „Die Remain-Kampagne bestand aus Fakten, Fakten, Fakten, Fakten, Fakten. Das funktioniert nicht. Man muss eine emotionale Verbindung mit den Wählern herstellen. Das ist das Erfolgsrezept Trumps.“ Der Koalition aus tief verwurzeltem britischen Euroskeptizismus und „modernem“ Populismus, wie er momentan allseits in der westlichen Welt zu beobachten ist, hatten EU-Befürworter wenig entgegenzusetzen.

Dies ist der andere, ebenso gewichtige Schluss: wenn wir an den Brexit denken, sollten wir nicht zunächst an Johnson oder Farage denken. Sondern an die zehntausenden Demonstranten am 2. Juli, die in London für Europa marschierten. Sie stehen symbolhaft für jene Briten, die Europa nach wie vor mit Fortschritt, Frieden und Freiheit assoziieren. Die in dieser Nacht vom 23. auf den 24. Juni 2016 ihre EU-Staatsbürgerschaft, viele ihrer Zukunftschancen und ihre Identität verloren. Wenn die Europäische Union diese schwerste aller Krisen ihrer Existenz überwinden will, muss sie diesen (vornehmlich jungen) Briten die Tür nach Europa offen halten. Dies ist eine Aufgabe derer wir uns alle annehmen müssen und zu welcher wir alle unseren Beitrag leisten können – und müssen.

Henrique Laitenberger studierte von 2011 bis 2014 Geschichte im Bachelorstudiengang am King’s College in London und von 2014 bis 2015 im Masterstudiengang an der Universität Oxford, wo er heute promoviert. Er engagierte sich in der Kampagne für den Verbleib Großbritanniens in der EU.

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Lothar Späth zum Gedächtnis Ein Nachruf von Bernhard Vogel

Mit dem 18. März 2016 hat ein ganz und gar ungewöhnlicher Lebensweg sein Ende gefunden. Niemand hat dem am 16. November 1937 in Sigmaringen geborenen Lothar Späth, der in einem streng pietistischen Elternhaus aufwuchs, die Oberschule mit der Mittleren Reife verließ und seinen Berufsweg bei der Finanzverwaltung der Stadt Bietigheim begann, vorausgesagt, dass aus dem Bürgermeister dieser Stadt und dem Geschäftsführer der gewerkschaftseigenen „Neue Heimat“ einer der erfolgreichsten und eigenwilligsten deutschen Ministerpräsidenten werden sollte.

gesprächsbereit, rastlos tätig, gelegentlich widerspenstig, nicht immer berechenbar. Fast täglich in den Medien präsent. Flexibel und unideologisch, reformfreudig. Allem Neuen aufgeschlossen. Ein beispielhafter Kommunikator! Die Popularität des „Cleverle“, wie er bald liebevoll, aber wegen seiner durchschlagenden Wirksamkeit auch sehr verkürzt genannt wurde, stieg von Jahr zu Jahr. 1980, 1984 und 1988 gewann er bei den Landtagswahlen absolute Mehrheiten. Aus den drei in Teilen eher verschlafenen südwestdeutschen Kleinstaaten, die erst 1952 zum Land Baden-Württemberg zusammengefügt worden waren, wurde unter seiner Führung – noch vor Bayern – das deutsche Musterland. Nicht nur technologisch, auch kultur- und vor allem wissenschaftspolitisch belegte es den Spitzenplatz. Auf der Bundesebene wurde er zunehmend wahrgenommen, auf den Weltmärkten war er präsent, wie vor ihm wohl kein deutscher Ministerpräsident. Ohne die Bundesregierung zu fragen oder sich durch sie stören zu lassen, entstanden weltweit baden-württembergische Landesvertretungen, nicht nur in Brüssel. Nicht Landesvater, Chef der Baden-Württemberg GmbH wollte er sein.

Seine politische Karriere begann 1968 mit seiner Wahl in den Stuttgarter Landtag. Schon vier Jahre später berief die CDU-Landtagsfraktion den 35-Jährigen zu ihrem Vorsitzenden. Als er im Februar 1978 als Innenminister in das Kabinett Filbinger eintrat, pfiffen die Vögel bereits von den Dächern, dass er dessen Nachfolge antreten wolle. Als Filbinger wenige Monate später wegen seiner Vergangenheit als Marinerichter zurücktreten musste, wurde Lothar Späth zum damals jüngsten deutschen Ministerpräsidenten gewählt. Für mehr als zwölf Jahre. Er stand für einen neuen, bis dahin völlig ungewohnten Politikstil: bürgernah, vorwärtsdrängend, allzeit

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Jenoptik Carl Zeiss Jena. Er wurde – mit großzügiger Unterstützung der Treuhand und des Freistaates Thüringen – zum erfolgreichsten Aufbauhelfer in den jungen Ländern. Er hat nicht abgewickelt, sondern entwickelt. Die Operation gelang: Es ist sein Verdienst, dass Jena zum Mittelpunkt einer blühenden Landschaft wurde. Zum High-Tech-Standort von Weltrang. Die Stadt hat es ihm schon 1997 durch die Berufung zum Ehrenbürger gedankt. So ganz nebenbei war Lothar Späth für sieben Jahre auch Präsident der IHK Ostthüringen.

Sein Erfolg als Ministerpräsident brachte ihn zwangsläufig in Konkurrenz zu Helmut Kohl, dem Bundesvorsitzenden der CDU, dem Fraktionsvorsitzenden im Bundestag und ab 1982 dem Bundeskanzler. Je kritischer die öffentliche Meinung mit Helmut Kohl umging, je öfter man ihm vermeintliche pfälzische Provinzialität vorwarf, umso mehr wurde Lothar Späth zum Ersatz-Bundesvorsitzenden, zum Reservekanzler. Als es schließlich auf dem Bremer Parteitag im September 1989 zum Schwur kam und Späth, zunächst unterstützt von Heiner Geißler, Norbert Blüm und Rita Süssmuth, den Parteivorsitzenden ablösen sollte, zuckte er im letzten Moment – wohl auch unter dem Eindruck der ungarisch-österreichischen Grenz­öffnung – zurück.

»Er hat BadenWürttemberg, Thüringen und Deutschland gedient.«

Im Gegensatz zu Heiner Geißler, der trotz seiner Ablösung als Generalsekretär in das Parteipräsidium gewählt wurde, wurde Lothar Späth härter als andere abgestraft und nicht mehr zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt. Er, lange Zeit von den Medien verwöhnt, ja gehätschelt, musste erkennen, dass sich das Blatt von einem auf den anderen Tag wenden sollte. Aus Lobpreis wurde herbe Kritik. Wegen der „Traumschiff-Affäre“ geriet er in Stuttgart unter Druck. Der Landtag richtete einen Untersuchungsausschuss ein. Lothar Späth fackelte nicht lange und trat, obwohl er sich nicht schuldig fühlte und er von jeder persönlichen Schuld freigesprochen wurde, überraschend schnell zurück.

2002 berief ihn Edmund Stoiber als Kanzlerkandidat in sein Kompetenzteam und plante, ihn zum „Superminister“ für Innovation, Struktur und Strategie zu machen. Auch nach seinem Abschied von Jena blieb Lothar Späth vielfältig engagiert, zum Beispiel als Repräsentant der Londoner Europazentrale der US-Investmentbank Merrill Lynch. Lothar Späth war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Mit all seinen ungewöhnlichen, vielfältigen Fähigkeiten und mit seiner ganzen Kraft und Leidenschaft hat er über Jahrzehnte seinem Land Baden-Württemberg, dem wiedererstandenen Freistaat Thüringen und der Bundesrepublik Deutschland gedient. Er hat es verdient, nicht in Vergessenheit zu geraten und der jungen Generation von heute als Vorbild zu dienen.

Schon wenige Monate später nahm er eine neue, ungewöhnliche Herausforderung an. Ein neuer, zweiter Lebensabschnitt begann. Er folgte der Bitte meines Vorgängers Josef Duchač und entwarf ein Sanierungskonzept für die Volkseigene

Dr. Bernhard Vogel war von 1976 bis 1988 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und von 1992 bis 2003 des Freistaats Thüringen. Er war von 1989 bis 1995 und von 2001 bis 2009 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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02 — 2016

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