CIVIS mit Sonde 2016/3

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03 — 2016

Demografie

CIVIS & SONDE



CIVIS & SONDE



ÂťKinder bekommen die Leute immer.ÂŤ Konrad Adenauer


CIVIS & SONDE 03 — 2016

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Liebe Leserin, lieber Leser,

„Aus aktuellem Anlass“ versammeln wir auch einige Perspektiven zu tagesaktuellen Themen: Deutschland und das Wahljahr (Voigt), Europa und die Handelspolitik (Caspary), Großbritannien und eine – erfundene – Staatskrise (Weingartner), und schließlich: USA und seine Präsidentschaftswahl (Güldenzopf).

die vor Ihnen liegende „CIVIS mit Sonde“ widmet sich dem demografischen Wandel. Gesellschaftlichen Problemen sollte man sich in einer offenen Debatte ohne Scheuklappen stellen (siehe den Beitrag von Dulger). Dem kommt zum Auftakt des Heftes Jens Spahn in besonderer Weise nach. Ein demokratischer Dialog der Generationen (Gründinger) ist in diesem Interview allerdings nur deswegen ausgeblieben, weil die Bahn einer pünktlichen Anreise Kurt Biedenkopfs nach Berlin einen Strich durch die Rechnung machte.

Ein erfreulicher Anlass für „CIVIS mit Sonde“ war kürzlich außerdem die Nominierung für den diesjährigen „Politikaward“ in der Kategorie „Medienformate“, über die wir uns außerordentlich gefreut haben. Das ist ein besonderer Ansporn für uns, das Heft kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Pünktlich zum anstehenden Bundestagswahlkampf hat uns außerdem eine neue Rentendebatte erreicht, bei der wir dringend zu einer sachlichen Debatte zurückfinden (Kemmer) und zügig notwendige Reformen angehen müssen (Rindfleisch). Nicht nur das Rentensystem muss dabei Anforderungen an die Generationengerechtigkeit erfüllen (Kluth), auch das Gesundheitssystem wird sich daran zu messen haben (Leienbach). Bei den steigenden Lebenserwartungen bietet die Digitalisierung hier aber große Chancen (Schenk).

Ohne die erhellenden Beiträge unserer Autorinnen und Autoren wäre all dies nicht möglich. Wir danken Ihnen herzlich für die Beiträge zur vorliegenden Ausgabe. Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir eine anregende Lektüre! Herzlichst

Außerdem werden wir schon bald sehen, dass der demografische Wandel auch Themen wie die Arbeitsmarkt- (Whittaker), Einwohner- (Kröhnert) und Familienpolitik (Liminski) betreffen wird. Die Feststellung, dass die Probleme in diesen Politikfeldern jedoch nicht unsachgemäß aus dem demografischen Wandel zu deduzieren sind und ihre Bedeutung auch überbewertet wird, wirkt schließlich gleichermaßen warnend und ermutigend für die zukünftige Debatte (Weber).

Erik Bertram Chefredakteur PS: Besuchen Sie CIVIS mit Sonde doch auch mal in den sozialen Netzwerken auf Facebook und Twitter oder unter www.civis-mit-sonde.de!

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Im Gespräch 10

Streiten lernen CIVIS mit Sonde im Gespräch mit dem Parlamentarischen Staatssekretär Jens Spahn

Standpunkte 32

Demografie 4.0 Oliver Schenk beantwortet den demografischen Wandel mit digitaler Vernetzung

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Ein großes Wort Volker Leienbach konstruiert ein generationengerechtes Gesundheitssystem

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Weichenstellungen Rainer Dulger rät zu einer offenen Debatte ohne Scheuklappen

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Das deutsche Rentensystem zukunftsfähig machen Ronja Kemmer mahnt zu mehr Sachlichkeit in der Rentendebatte

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Demografie und Arbeitsmarkt Kai Whittaker fordert konsequentes und baldiges Handeln

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Die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme und die Problematisierung der Demografie Hannes Weber entkräftet die Demografie als Hauptursache gesellschaftlicher Probleme

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Jetzt aber richtig! Eva Rindfleisch formuliert Antworten der Rentenpolitik auf den demografischen Wandel

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Wahlfreiheit und Leistungsgerechtigkeit Jürgen Liminski errichtet Säulen für eine moderne Familienpolitik

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Standpunkte 70

Der Sozialstaat und das Versprechen von Generationengerechtigkeit Winfried Kluth misst Gerechtigkeit an theoretischen und verfassungsrechtlichen Maßstäben

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Stadt und Land driften auseinander Steffen Kröhnert dringt auf einen innovativen Umgang mit dem Einwohnerschwund

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Alte-Säcke-Politik Wolfgang Gründinger legt den Einfluss der Demografie auf die Demokratie offen

Aus aktuellem Anlass 88

In welchem Deutschland wollen wir leben? Mario Voigt nimmt das Wahljahr 2017 in den Blick

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CETA: Ein Ausweg aus der europäischen Selbstverzwergung Daniel Caspary sucht Lösungen zur Rettung der gemeinsamen Handelspolitik der EU

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Die Troika in Großbritannien Maximilian Weingartner präsentiert einen Ausschnitt aus seinem Debütroman

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Erkenntnisse aus dem US-Präsidentschaftswahlkampf Ralf Güldenzopf über den zurückliegenden Wahlkampf in den USA

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Abonnement

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Impressum

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Streiten lernen CIVIS mit Sonde im Gespräch mit Jens Spahn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, über den demografischen Wandel und seine Implikationen für Rente, Kinder, Migration und Finanzen sowie über mögliche Koalitionen. Interview: Anja Pfeffermann & Carl-Philipp Sassenrath Fotografie: Maximilian König



seit 20 Jahren breit diskutiert: in Stadträten, Landtagen, im Bundestag, in Europa. Viele scheinen zu denken: Wir reden doch schon so lange darüber, das muss doch endlich mal vorbei sein mit dieser Demografie! Dabei geht es erst richtig los!

Ursprünglich war das Gespräch in Doppelbesetzung mit Kurt Biedenkopf, Ministerpräsident a.D., geplant. Die Deutsche Bahn machte uns leider einen Strich durch die Rechnung. CIVIS: Herr Spahn, es gibt kaum ein gesellschaftspolitisches Thema, das nicht auch unter dem Stichwort der Demografie diskutiert wird. Es droht eine „Demografisierung“ gesellschaftlicher Probleme. Vor diesem Hintergrund fragt man sich: Was ist der wirkliche Kern der Demografie-Debatten?

Anders als andere denke ich nicht, dass wir das Thema überbewerten. Denn ein längeres Leben ist ja erstmal etwas ziemlich Schönes. Wir leben in einer Zeit, in der sich der alte Menschheitstraum vom längeren Leben jeden Tag ein Stück mehr erfüllt. Ich jedenfalls möchte ziemlich lange leben und das gesund. Und einen wesentlichen Vorteil hat diese Entwicklung: Sie ist vorhersehbar. Diejenigen, die 2050 ihren 60. Geburtstag feiern, sind ja alle schon lange geboren. Wir können also vorausplanen und uns vorbereiten. Das gilt nicht nur für die Renten, sondern für viel mehr Bereiche des Alltags: Von der Innenstadt, die altersgerecht sein muss und in der man Kindergärten schließt und Seniorenheime aufbaut, bis hin zur Bundesund Europapolitik – ja, bis hin zur Außenpolitik. Gerade dort wird Demografie unterschätzt. Das lernen wir auch im Umgang mit Afrika. Wir sehen also: Es sind viele Aspekte.

»Wir werden weniger und älter.« Spahn: Politik und Wissenschaft reden schon sehr lange über den demografischen Wandel, Kurt Biedenkopf übrigens als einer der ersten. Demografischer Wandel bedeutet kurz gefasst nicht mehr als: Wir werden weniger und älter, es gibt weniger Geburten und gleichzeitig steigt die Lebenserwartung. Und zwar jeden Tag in Deutschland im Schnitt um knapp sechs Stunden. Das Thema wird

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»Die ganze Republik meint, unser Hauptproblem sei die Altersarmut. Dabei ist unser Hauptproblem die Kinderarmut.« ein bisschen länger arbeiten müssen und die Jüngeren einen etwas höheren Beitrag bezahlen und privat vorsorgen müssen, sollte man nicht ständig rumschrauben.

CIVIS: Sie sprachen bereits die Rentenpolitik an. In einer kürzlich erschienenen Studie fordert das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln): Zeit zu handeln! Wie müssen wir denn handeln?

CIVIS: Wenn man einen Plan hat, sollte man also an ihm festhalten?

Spahn: Gerade bei der Rente haben wir frühzeitig gehandelt. Das eigentlich Spannende an der deutschen Rentendebatte ist doch, dass es nur wenige Rentensysteme gibt, die so gut auf den demografischen Wandel vorbereitet sind wie unseres. Aber wenn man die Debatte in Deutschland betrachtet, gewinnt man immer den Eindruck, es wäre in den letzten Jahren alles ganz falsch gelaufen. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade die Entscheidungen der letzten 20 Jahre haben die Perspektive stark verändert.

Spahn: Ja, auch wenn es nicht immer beliebt ist. Die Rente ist das einzige Demografiethema, das so viele Emotionen hervorruft. Obwohl es nur ein Aspekt von vielen ist. Da fühlen sich ganz schnell viele persönlich angegriffen. Denn es geht ja um die persönliche Lebensleistung, jeder gleicht das mit der eigenen Erfahrung ab.

Die größten Veränderungen bei der Rente hat in den neunziger Jahren übrigens Norbert Blüm eingeleitet. Da gab es die größte Kürzung bei den Rentenansprüchen – das will er heute gar nicht mehr wahrhaben. In den ersten Jahrzehnten galt immer: Die Renten steigen nach einer Formel immer weiter – egal wie teuer es wird und wie der Beitragssatz steigt. Seit einigen Jahren haben wir die Perspektive geändert und drehen immer an drei Schrauben: Die Renten für die heutigen Rentner steigen weniger stark an als früher und gleichzeitig werden die Kosten beim Beitragssatz für die heutigen Arbeitnehmer begrenzt. Dazu haben wir die Lebensarbeitszeit schrittweise erhöht und die private Vorsorge stärker gefördert. Die müsste man noch verbindlicher gestalten, damit jeder privat vorsorgt.

Gleichzeitig setzen wir bei der Rente den falschen Fokus. Die ganze Republik meint, unser Hauptproblem sei die Altersarmut. Dabei ist unser Hauptproblem die Kinderarmut. In der deutschen Gesellschaft sind Familien mit vielen Kindern und Alleinerziehende von Armut überproportional betroffen. Wenn ich in die Kindergärten und Schulen gehe, gibt es da viel zu viele Kinder, die es zu Hause wirklich nicht leicht haben.

Wir haben die richtigen Entscheidungen getroffen, teilweise unter großem Protest. An dem gesellschaftlichen Grundkonsens, dass die Älteren

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»Wenn in Niger jeder Zweite unter 15 Jahren alt ist und in Deutschland das Durchschnittsalter bei Mitte vierzig liegt, dann werden die Unterschiede schnell klar.« ist in UK passiert – und leider passiert das auch manchmal bei deutschen Wahlen.

Außerdem haben wir eine Rentnergeneration, der es so gut geht wie noch nie einer Generation zuvor. Das, was eigentlich nötig wäre, etwa an Veränderungen im Bildungssystem, wird viel zu wenig betrachtet. Das ärgert mich eigentlich an der Diskussion: Wir erwecken den Eindruck, bei den Älteren lägen unsere größten Hausaufgaben – dabei besorgen mich eher die Jungen! 50.000 junge Menschen, die jedes Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen: Das ist beschämend für unser Land! Darum müssen wir uns kümmern!

Es gab übrigens einen sehr spannenden Ansatz in Irland beim Referendum über die Gleichstellung der Homoehe. #RingYourGranny nannte sich die Aktion, die sehr erfolgreich war. Die Jüngeren wurden aufgefordert: Ruf bei Deiner Großmutter oder Deinem Großvater an und überzeuge sie, jetzt mit „Ja“ zu stimmen. Denn im Zweifel sind es eher ältere Menschen, die ein Problem damit haben, weil sie es über Jahrzehnte eben nicht anders erfahren haben. Eigentlich hätte man diese Aktion auch in UK machen sollen: Gerade Ihr, die Ihr als jüngere Generation Europa jeden Tag lebt, habt die Verpflichtung, dafür zu werben und die Großeltern, die es vielleicht anders sehen, in eine Diskussion zu verstricken.

CIVIS: Ist der demografische Wandel vor dem von Ihnen geschilderten Hintergrund auch eine Herausforderung für unsere Demokratie? Und welche Themen könnten noch zu Generationenkonflikten führen? Die Entscheidung zum Brexit etwa scheint ja sehr altersabhängig gewesen zu sein. Drohen uns ähnliche Auswirkungen?

CIVIS: Wir werden aber weniger, weil es nicht mehr so viele Geburten gibt. Ist Familienleben nicht attraktiv genug? Spahn: Diese Frage beschäftigt mich sehr, auch wenn man das nicht immer vermutet. Laut den Shell Jugendstudien möchten 80, 90 Prozent der Jungen eine eigene Familie gründen. Warum erfüllen sie sich diesen Wunsch dann nicht? Bei mir könnte ich ja noch erklären, warum...(lacht) Bei mir zu Hause gibt es den Ort Heek, der die meisten Geburten pro 1000 Einwohner in Nordrhein-Westfalen aufweist – woran liegt das? Am Geld sicher nicht. Am Angebot an Kindestagesplätzen auch nicht, auch wenn sich das gebessert hat. Ich habe den Eindruck, das ist eher eine Frage des Lebensgefühls. Ich bin der festen Überzeugung, wir müssen Familien helfen, auch finanziell! Auch der Ausbau der Ganztagsbetreuung ist sehr wichtig – gerade für Kinder, für die es ganz gut ist, wenn sie nicht den ganzen Tag zuhause sind. Die gibt es leider auch. Aber alles in allem

Spahn: Gerade beim Brexit habe ich mich sehr über das anschließende Gejammer von manchen Jüngeren geärgert. Bei der Wahlbeteiligung zeigten sich große Unterschiede – gerade zwischen Jüngeren und Älteren. Ich finde es schwierig, erst nicht zur Wahl zu gehen und sich dann zu beschweren. Das

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bin ich mir nicht sicher, ob es jenseits des Werbens für den Mut zur Familie überhaupt eine politische oder finanzielle Maßnahme geben kann, die wirklich die Kinderzahl erhöht.

sozialen Absicherung. Und es gab schlichtweg keine Chance für Frauen zu verhüten oder sich gegen den Mann durchzusetzen. Dann kamen die Rentenversicherung und die Pille. Jeder konnte selbst entscheiden, ob und wann er Kinder bekam. Beides ist erst mal ein wahnsinniger Freiheitsgewinn. Ich muss Kinder nicht aus welchen Gründen auch immer kriegen, sondern ich kann, wenn ich will. Dieser Freiheitsgewinn hat zur Entwicklung sinkender Geburtenzahlen geführt. Ich finde, wir müssen damit umgehen lernen und es nicht nur beklagen.

CIVIS: Geraten wir beim Thema Demografie also nur etwas in Panik? Oder werden wir wirklich immer weniger? Spahn: Weniger werden wir momentan wegen der Zuwanderung nicht. Die Frage ist aber: Wie gut bereiten wir uns darauf vor, wenn die Wenigen im Schnitt auch noch älter werden? Wenn in Niger jeder Zweite unter 15 Jahren alt ist und in Deutschland das Durchschnittsalter bei Mitte vierzig liegt, dann werden die Unterschiede schnell klar: in der Dynamik, im Straßenbild, auf der Suche nach Lebensperspektive verbunden mit der Hoffnung auf ein besseres Leben.

CIVIS: Sie erwähnten bereits Niger, wo die Bundeskanzlerin auch während ihrer Afrikareise zu Gast war. In den Ländern Afrikas gibt es eine demografische Entwicklung, die ganz anders aussieht als bei uns. Es gibt beispielsweise in Nigeria ein deutliches Wirtschaftswachstum, das aber nicht auf die noch stärker wachsende Bevölkerung vorbereitet ist. Müssen derartige demografische Entwicklungen noch stärker in den Fokus der Außenpolitik gerückt werden?

Ich glaube nicht, dass es per se schlechter ist, weniger Kinder zu haben. Früher musste man Kinder bekommen, einfach wegen der

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Spahn: Zunächst einmal betrifft der demografische Wandel nicht nur Deutschland. Wir sind zwar vorne mit dabei, aber eben nicht allein: Europa ist ein alternder Kontinent. Die Entwicklung ist in ganz Europa die gleiche. Um uns herum leben wahnsinnig junge Gesellschaften, ob im Nahen Osten oder in Afrika. Historisch ist es immer schon so gewesen, dass Unruhen, möglicherweise kriegerische Auseinandersetzungen oder innere Revolten, von der jungen Generation ausgingen. Es hängt immer davon ab, welche Perspektive die Jungen haben. Wenn man sich in unserer Nachbarschaft umschaut, besteht da offensichtlich viel Stoff für Konflikte. Die Migrationsbewegungen oder die Bevölkerungsprognosen bergen eine ganze Menge Druck, verbunden damit, dass weltweit jeder auf seinem Smartphone sehen kann, in welchem Wohlstand wir hier in Europa leben.

»Es hängt immer davon ab, welche Perspektive die Jungen haben.« Gleichzeitig steigt in fast allen Ländern der Welt die Lebenserwartung, während die Geburtenrate sinkt. Man kann empirisch nachvollziehen: Wo die Teilhabe der Frauen steigt, wo Frauen mehr Zugang zu Bildung haben, wo es wirtschaftliches Wachstum gibt, gehen die Kinderzahlen zurück. Und deshalb liegt der Schlüssel am Ende wie bei fast allem in der Bildung. Wir haben in der Klimapolitik zum Beispiel das Zwei-Grad-Ziel gesetzt – vielleicht sollten wir auch einmal versuchen, weltweit das Zwei-Kinder-Ziel zu erreichen. Wenn auch natürlich nicht mit drakonischen Maßnahmen wie China, sondern mit Verhütungskampagnen, Bildung und Aufklärung.

eine riesige Generation in das Rentenalter kommt und im Grunde keine Rentenversicherung besitzt? Da braucht es mehr Geld für Soziales statt für Soldaten. Das hat also ebenfalls außenpolitische Implikationen. Viele geraten ja in Aufregung, dass China uns da und dort überholen wird. Ich sag immer, schaut auf die Demografie! Bleibt gelassen.

China finde ich im Übrigen besonders spannend. Das Land wird alt sein, bevor es reich werden konnte. Wir in Europa hatten die Chance, ein hohes Wohlstandsniveau zu erreichen, bevor wir jetzt rapide altern. China wird durch seine drastische Ein-Kind-Politik jetzt sehr schnell altern, es ist eines der am schnellsten alternden Länder der Welt, ohne dass es bis dahin die Chance haben wird, Reichtum aufzubauen. Egal, wie stark die jetzt noch wirtschaftlich wachsen. Dazu kommt die steigende Lebenserwartung. Wie entwickelt sich dann die innere und soziale Stabilität, wenn

CIVIS: Im öffentlichen Diskurs wird häufig behauptet, die Zuwanderung könne das Demo­ grafieproblem lösen. Ist dem so? Spahn: Es kommt darauf an, welche Zuwanderung Sie meinen. Wenn ich die letzten zwölf Monate und die Flüchtlingsbewegung herausrechne, so waren wir vorher schon in absoluten Zahlen das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt – nach den USA. Wenn wir von irregulärer Zuwanderung

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sprechen, wie wir sie im vergangenen Jahr hatten, werden wir das Demografieproblem nicht lösen können. Das geht nicht mit 15-, 20- oder 25-jährigen Menschen, die in aller Regel nicht besonders qualifiziert sind, keinen Schulabschluss und keine Ausbildung haben. Wir leisten gegenüber den Flüchtlingen ausschließlich humanitäre Hilfe. Es ist fatal, dass einige den Eindruck erweckt haben, damit wäre unser Fachkräfteproblem jetzt gelöst. Wenn man hilft, steht erstmal das Teilen im Vordergrund, nicht das Lösen eigener Probleme. Den Deutschen aber zu erzählen, die Flüchtlinge lösten jetzt den Fachkräftemangel, das ist Quatsch. Damit sollten wir auch nicht anfangen.

Wandel, aber es wird ihn nie beenden. Allein um etwa das Durchschnittsalter zu halten, müssten jedes Jahr über eine Million Menschen zuwandern – die nächsten dreißig Jahre! CIVIS: Nutzen illegale Einwanderer die Möglichkeit aus, dass wir kein Einwanderungsgesetz haben? Spahn: Unsere Einwanderungsregeln sind insgesamt besser als wir selbst wahrnehmen. Wir sollten ein Einwanderungsgesetz schaffen, das die bereits vorhandenen Regeln zusammenführt. Damit ließe sich nach innen wie nach außen deutlicher machen, welche Regeln wir schon haben. Denn die sind gar nicht so schlecht. Die Möglichkeiten in Deutschland zu arbeiten, zu studieren oder eine Ausbildung zu machen, sind relativ gut.

Entscheidend ist, dass wir die Zuwanderung selbst steuern. Wenn wir sie selbst regulieren, ist das eine Erleichterung für den demografischen

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Wir haben diese Möglichkeiten in den letzten Monaten sogar noch erweitert. Allerdings sollte man vor Abreise ein Visum in unseren Botschaften und Konsulaten beantragen. Erst herkommen und dann mal schauen, das ist der falsche Weg. Diese Botschaft müssen wir auch in die Welt tragen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es immer die geben wird, die die Chance zur Einwanderung nach Deutschland nicht erhalten können. Selbst bei Asylentscheidungszentren in Nordafrika wird nicht jeder die erhoffte Zusage bekommen. Letztlich müssen wir uns dann mit denjenigen beschäftigen, die ein „Nein“ erhalten haben und es trotzdem versuchen. Damit sind wir dann bei Themen wie der Grenzsicherung. Denn all die Verfahren und die schönsten Gesetze, die wir uns ausdenken, ergeben nur einen Sinn, wenn die Unterscheidung zwischen zugelassenen und abgelehnten Einwanderern am Ende auch eine praktische Folge hat.

»Der Begriff des Einwanderungsgesetzes löst sehr viele Assoziationsketten aus.« Es stimmt, leider wird qualifizierten Fachkräften, die nach Deutschland kommen wollen, an unseren Konsulaten und Botschaften nicht immer das Gefühl gegeben, sie seien hier wirklich willkommen. Da muss die vielbeschworene Willkommenskultur noch besser werden. Auch unsere Ausländerbehörden haben die qualifizierten Fachkräfte nicht immer so behandelt, dass sie Lust auf Deutschland bekommen.

CIVIS: Warum ist das Einwanderungsgesetz so ein Alarmthema? Warum ist es so schwierig, die bestehenden Gesetze zu einem Einwanderungsgesetz zusammen zu führen? Spahn: Weil der Begriff des Einwanderungsgesetzes sehr viele Assoziationsketten auslöst. Damit haben von Anfang an viele den Gedanken verbunden: Jetzt wollen die Politiker auf einmal

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»Entscheidend ist, dass wir die Zuwanderung selbst steuern.« Millionen neuer Menschen ins Land holen. Als dann noch die vielen Flüchtlinge und Migranten der letzten zwölf Monate hinzukamen, hat sich das Gefühl noch verstärkt.

Zeichen nach Europa und in die Welt. Aber auch für uns selbst ist es gut zu wissen, dass beides – ausgeglichener Haushalt und Investitionen – möglich ist. Diesen Kurs sollten wir fortsetzen.

Das aktuelle Gesetz heißt: „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung“. Das Ziel dahinter ist richtig: Wir wollen Kontrolle darüber haben, was passiert. Damit ist nicht gemeint: Wir lassen keinen mehr rein. Stattdessen gibt es klare Kriterien. Steuerung und Begrenzung dienen einem positiven Ziel. Ein solches Einwanderungsgesetz, das zunächst Kriterien definiert und diese dann auch umsetzt, wird, nach meiner Erfahrung, von vielen befürwortet. Insofern ist die Debatte der letzten 18 Monate – trotz oder wegen dessen, was wir erlebt haben – ein ganzes Stück vorangekommen.

Und dennoch haben wir eine problematische Entwicklung im Bundeshaushalt. Der Anteil der Sozialausgaben steigt immer weiter. Die Zinsen ausgenommen, haben wir im Jahr 1990 von 100 Euro 30 Euro für Soziales ausgegeben. 2017 werden es 55 von 100 Euro sein. Schauen Sie sich allein die Steigerungen der letzten Monate an: Wir haben an vielen Stellen die Sozialleistungen erhöht: Wohngeld, Kindergeld, Hartz IV, Kinderzuschlag, BAföG.

CIVIS: Lassen Sie uns einen Blick auf die finanzpolitischen Herausforderungen werfen. Könnte es sein, dass der viel beschworene Begriff der schwarzen Null, für die sie sich ja auch sehr einsetzen, verdeckt, dass die Herausforderungen unter ökonomischen Gesichtspunkten wesentlich höher sind als dies in der öffentlichen Diskussion verbreitet wird? Spahn: Die Herausforderungen sind auf jeden Fall höher als wir wahrnehmen. Nichtsdestotrotz ist diese schwarze Null ja kein Fetisch, wie manche immer plakativ behaupten. Am Ende geht es darum, kommenden Generationen Spielraum zu lassen. Es ist zunächst ein Wert an sich, in den vergangenen Jahren gezeigt zu haben, dass wirtschaftliches Wachstum trotz Sparkurs möglich ist. Ja, wir investieren so viel wie lange nicht: in Stra­ ßen, in Breitband, in Forschung und vieles mehr. Wir bauen sogar die Sozialleistungen aus, ohne neue Schulden zu machen. Das ist ein wichtiges

Die Frage ist: Wenn ich zusätzlich einen Euro ausgebe, müsste ich dann nicht zusätzlich einen Euro für Investitionen ausgeben? Es muss ein vernünftiges Verhältnis von Sozialausgaben und Investitionen geben. Diese Gewichtung droht in eine falsche Richtung zu laufen. Natürlich ist es für jeden Politiker vor allem im Wahlkampf schöner, Sozialleistungen zu versprechen als Forschungsausgaben.

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»Wir werden wieder lernen müssen umzuschichten, Prioritäten zu setzen, möglicherweise in manchen Bereichen auch mal Leistungen zu kürzen.«

diesem Zeitrahmen kommt man fast über die demografisch schwierigste Phase in Deutschland hinweg. Die wird so zwischen 2030 und 2045 liegen. Ich werbe sehr dafür, dass wir die momentane Lage nutzen, um uns möglichst langfristig zu verschulden, damit wir auch diese Phase überbrücken können. Außerdem sollten wir uns langfristig die niedrigen Zinsen für künftige Steuerzahler sichern.

CIVIS: Anders als die Sozialleistungen tauchen aber viele Risiken, insbesondere die bei der Rente, in der Gewinn- und Verlustrechnung des Bundeshaushalts gar nicht auf. Spahn: Die implizite Verschuldung hat mit dem Bundeshaushalt direkt nichts zu tun. Aber auch da gibt es wundervolle Statistiken, vor allem für die Rentenversicherung. Die zeigen, dass unsere Rentenreformen der letzten zwanzig Jahre diese implizite Verschuldung enorm reduziert haben. In der Rente haben wir viel richtig gemacht. Unsere eigentlichen Kostentreiber und Risiken für die zukünftige Beitragssteuerung sind die Bereiche Gesundheit und Pflege. Damit werden wir uns in den nächsten Jahren beschäftigen müssen. Der Krankenversicherungsbeitrag wird irgendwann den Rentenversicherungsbeitrag überholen.

CIVIS: Und was passiert, wenn das Zinsniveau wieder steigt? Spahn: Klar, das kann passieren. Dann wird man irgendwann, wenn man die schwarze Null behalten will, an anderen Stellen sparen müssen. CIVIS: An welchen Stellen? Spahn: Ich merke gerade in den letzten Monaten, dass sich in der großen Koalition das Gefühl breitmacht: Geld ist ja da. Da sehe ich links und rechts manchmal nur so die Milliarden purzeln. Früher wäre immer ein Fragezeichen im Kopf aufgeploppt: Muss das jetzt sein? Können wir das nicht schieben? Könnte man das nicht anders gegenfinanzieren? Im Moment können wir immer alles zusätzlich. Wir werden wieder lernen müssen umzuschichten, Prioritäten zu setzen, möglicherweise in manchen Bereichen auch mal Leistungen zu kürzen, um wünschenswert Neues zu finanzieren. Ich hoffe, wir verlernen das gerade nicht zu sehr.

CIVIS: Für wie groß halten Sie diesbezüglich die Risiken für kommende Generationen, insbesondere in Bezug auf das Problem instabiler Zinsentwicklungen? Spahn: Wir wissen, dass bei einer Billion Schulden jedes halbe Prozent Zinsen mehr oder weniger schnell einige Milliarden Euro sind. Natürlich hat der niedrige Zins geholfen, dass wir jetzt keine neuen Schulden machen. Aber man sieht in Nordrhein-Westfalen und in manchen anderen europäischen Ländern, dass viele gerade wegen der niedrigen Zinsen besonders viele Schulden machen. Im Bund machen wir das zum Glück umgekehrt.

CIVIS: Sie sind ja selber schon ganz schön lang der Junge.

Wir im Bundesfinanzministerium wollen aktuell die durchschnittliche Laufzeit unserer Verschuldung erhöhen. Das Zinsumfeld ist jetzt günstig, Geld für die nächsten 30 Jahre zu leihen. Mit

Spahn: Ich bin schon so lange jung, dass ich schon wieder alt bin.

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Und im Übrigen gibt es auch viele Jüngere, die manchmal mit Blick auf Wahlen, erschreckenderweise, eher unerwartete Positionen vertreten... Jüngere Kollegen irritieren mich manchmal etwas in ihrem Kampf für manche Rentenreformen, insbesondere für „Rentenrückdreherreformen“.

CIVIS: Man vergisst manchmal, wie jung Sie immer noch sind, weil Sie vielleicht schon so lange dabei sind. Erwächst Ihnen daraus eine besondere persönliche Verantwortung? Spahn: Klar!

CIVIS: Sie sprachen gerade die Wählerbindung besonders junger Menschen zur AfD an. Außerdem sagten Sie, Sie möchten die AfD überflüssig machen. Was genau meinen Sie damit und wie soll das aus Ihrer Sicht funktionieren?

CIVIS: Um dann beispielsweise für das Parteipräsidium zu kandidieren, obwohl da eigentlich kein Platz für Sie frei war? Spahn: Das stimmt ja gar nicht. Da war ein Platz frei. (lacht) Da war sogar der Platz von einem Jungen frei. Aber das ist eine andere Debatte...

»Wir haben 70 Jahre lang erfolgreich bewiesen, dass wir das Land regieren können.«

CIVIS: Aber genau das ist ja der Punkt: Streiten wir nicht genug? Streiten sich vor allen Dingen die Generationen – auch innerhalb der Partei – nicht genug, insbesondere, wenn es um den demografischen Wandel geht? Spahn: Als ich angefangen habe im Deutschen Bundestag musste ich mich – wie es überall so ist – hinten anstellen, etwa in der Wahl der Ausschüsse. Schnell war klar: Es wird keiner der gefragten Ausschüsse. Dann habe ich gedacht: Eigentlich ist der Ausschuss für Rente und Gesundheit – die Themen waren damals im selben Ausschuss – für den Jüngsten in der Fraktion auch nicht schlecht. Da sollten eben nicht nur die sitzen, die schon älter sind, sondern auch Jüngere. Ich bin sehr froh, dass sich heute in der Jungen Gruppe viele auch um diese Themen kümmern.

Spahn: Ehrlich gesagt spekulieren mir zu viele rum über irgendwelche Koalitionen mit denen. In dem Moment, wo ich über Koalitionen rede, akzeptiere ich, dass es da eine Kraft gibt, die bleibt. Ich finde, es reden auch zu viele von einer angeblichen Normalisierung in Deutschland mit Blick auf das europäische Parteiensystem. Denn rechtspopulistische Parteien gäbe es ja auch in anderen Ländern. Wer so etwas formuliert, hat schon akzeptiert, dass die bleiben. Ich finde das nicht normal. Wir haben 70 Jahre lang erfolgreich bewiesen, dass wir das Land regieren können. Am Anfang der Bundesrepublik haben wir zudem bestimmte Parteien integriert oder überflüssig gemacht, die zum Teil deutlich rechter unterwegs waren. Insgesamt rede ich auch eigentlich ungern über die AfD, sondern viel lieber über die dahinter stehenden Themen.

CIVIS: Wie funktioniert dabei die Kompromissfindung Spahn: Bei einer Partei mit einem Durchschnittsalter von 60 Jahren ist man immer wieder gezwungen Kompromisse zu finden. Auch bei mir zu Hause im Wahlkreis laufen ja nicht nur Zwanzigjährige rum. Es geht nicht darum kompromissunfähig zu sein, sondern darum, bestimmten Stimmen Geltung zu verschaffen, die dann in den Kompromiss einfließen.

Viele Menschen sagen: Ich will denen, die da in Berlin regieren, zeigen, dass meine Themen nicht mehr Beachtung finden. Genau da müssen wir selbstkritisch sagen, dass wir offensichtlich bei der inneren Sicherheit, dem Umgang mit dem Islam, der Integration, den jugendlichen Straftätern und anderen Themen Vertrauen zurückgewinnen müssen. Das ist doch der Markenkern der Union!

Ich hoffe, dass mir das mit 50 und 60 Jahren auch noch so gelingt wie heute. Und mir der Blick dafür, wie sich politische Entscheidungen für die 20und 10-Jährigen auswirken, später nicht verloren geht. Ich kenne aber viele Ältere, Kurt Biedenkopf gehört dazu, die darauf immer noch einen starken Fokus haben. Das ist nicht per se eine Altersfrage.

CIVIS: Welche Themen sollten denn mehr Beachtung finden?

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Spahn: Ich verstehe beispielsweise nicht, warum wir in den Debatten den Islam nicht genauso behandeln wie die katholische Kirche. Mir geht es dabei nicht um Ressentiments oder um pauschalisierende Urteile gegenüber „den“ Muslimen. So wie man sich mit Kirchengemeinden auseinandersetzt, kann man sich auch mit Moschee­ gemeinden auseinandersetzen. Oder die Thematik um jugendliche Straftäter, die nach einer halben Stunde wieder draußen stehen und die nächste Tat begehen. Viele dieser Probleme sind nicht neu. Aber gerade weil sie nicht neu sind, suchen sie sich, wenn wir sie nicht beachten, andere Wege, wahrgenommen zu werden.

den Protest unterstützen. Das heißt nicht, dass man alle abholen kann oder muss. Im Gegenteil: Sobald Adjektive wie „völkisch“ oder „volksverräterisch“ gebraucht werden oder ein bewusstes Anbiedern an das Nazi-Milieu stattfindet, muss ein klarer Schnitt gemacht werden. Die Menschenwürde ist nicht verhandelbar. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir alles richtig machen, können wir die AfD überflüssig machen. Aber das muss bald passieren. CIVIS: Im Moment hat man das Gefühl, die AfD ist eine Ein-Themen-Partei: Erst profitierte sie von der Euro-Krise, dann von der Flüchtlingskrise...

CIVIS: Wie sollte man diese Themen bearbeiten? Und wo gibt es Grenzen?

Spahn: Das sind ja schon zwei Themen.

Spahn: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir viele Wähler zurückgewinnen können, wenn wir unsere Kernthemen vernünftig bearbeiten und klar kommunizieren. Denn die meisten möchten jedenfalls nicht dauerhaft

CIVIS: Die aber jedes Mal nur für einen be­ stimm­ten Zeitraum relevant waren. Spahn: Unterschätzen Sie das Eurothema nicht – das ist nicht weg!

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Jens Spahn MdB ist seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestags. Von 2009 bis 2015 war er gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Spahn ist Mitglied des Präsidiums der CDU Deutschlands und Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen.

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»Es gibt keine Koalition, in der nicht auch gestritten wird – selbst mit der CSU diskutieren wir manchmal leidenschaftlich.« CIVIS: Müsste man nicht bestimmte Themen auch präventiv besetzten, damit es anderen nicht gelingt, dort Boden zu gewinnen?

kenne (schmunzelt). Inhaltlich und vom Lebensgefühl her ist schwarz-gelb am Ende immer unser Favorit. Genauso wie etwa für die Grünen immer rot-grün der Favorit ist.

Spahn: Was wir zunächst einmal präventiv brauchen, ist eine richtige Opposition. Diese große Koalition ist aus den Umständen von 2013 nachvollziehbar und sie macht ja auch vieles richtig. Aber wir haben keine richtige Opposition. Wer mal Lust hat, kann sich in den Bundestag setzen und den Reden zu hören. Die meisten sind nicht schlecht, aber es ist keine richtige Opposition dabei. Grüne und Linke fordern nämlich höchstens immer nur mehr vom Gleichen. Aber nie sind 100 Prozent der Bevölkerung zufrieden mit dem, was gerade passiert. Und die Unzufriedenen müssen eine Chance haben, sich in der Opposition wieder zu finden. Deswegen wäre es präventiv wichtig, dass die Unterschiede wieder sichtbar werden. Und dafür muss nicht nur die Union sorgen, sondern das gilt für alle Parteien. Hoffentlich lässt das Wahlergebnis etwas anderes als eine große Koalition zu. Eine weitere große Koalition wäre fatal für das Land.

Die spannende Frage ist, was passiert, wenn keine der beiden favorisierten Optionen möglich ist. Ich finde, dann müssen wir als Union zumindest sprechfähig sein, um zum Beispiel mit den Grünen die Möglichkeiten auszuloten. Das ist aber keinesfalls ein Automatismus. Denn es gibt auch mit den Grünen viele umstrittene Themen. Es gibt aber keine Koalition, in der nicht auch gestritten wird – selbst mit der CSU diskutieren wir manchmal leidenschaftlich. In einer Koalition muss es aber möglich sein, theoretisch wie praktisch miteinander zu reden und zu verhandeln. Dieses Potenzial war bei der letzten Wahl offensichtlich noch nicht ausreichend vorhanden, aber es war schon besser als 2009. Ich werbe sehr dafür, dass Schwarz-Grün 2017 zumindest als eine realistische Option auf dem Tisch liegt. Darauf esse ich eine grüne Kiwi...

CIVIS: Was wäre denn Ihr Wunsch?

CIVIS: Herr Spahn, wir danken Ihnen für das Interview.

Spahn: Der Wunsch wäre natürlich die große absolute Mehrheit, wie ich sie von zu Hause

Das Gespräch fand statt am 13. Oktober 2016.

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Oliver Schenk

Demografie 4.0 Die digitale Vernetzung ist die Antwort auf den demografischen Wandel

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meistern können. Freilich, es tut weh, wenn man die Entwicklungen in manchen Kommunen sieht: Erst haben Theater und Kinos geschlossen, dann hat die Bankfiliale zugemacht und einen Automaten zurückgelassen. Die Post hat Unterschlupf im verbliebenen Supermarkt gefunden und Schulen müssen sich zusammenschließen oder ganz schließen, weil es zu wenig Kinder gibt. Ein sich immer stärker abzeichnender Mangel an Hausärzten verstärkt die Sorgen und führt zu nachvollziehbaren Verunsicherungen und Ängsten.

Deutschland hat heute die zweitälteste Bevölkerung weltweit nach Japan. Die Einwohnerzahl wird bis 2060 drastisch sinken, von bis zu 13 Millionen weniger Menschen gehen Experten aus, trotz Zuwanderung und wieder steigender Geburtenrate. Die Folge: Die Bevölkerungsdichte nimmt ab. In manchen Regionen unseres Landes hat sie sich schon in den letzten 25 Jahren fast halbiert. Für viele sind das Horrornachrichten. „Wir stecken in einer demografischen Falle, aus der es kein Entkommen gibt, es tickt eine demografische Bombe. Die Sozialsysteme werden schon in wenigen Jahren kollabieren. Das Wohlstands­ niveau wird dramatisch sinken.“ So tönt es vielfach in auf Weltuntergang gestimmten Medien. Ohne Zweifel: Wir werden älter – und weniger. Viele befürchten deshalb steigende Gesundheitskosten, einen ausufernden Fachkräftemangel und wachsende Probleme bei der Daseinsvorsorge gerade abseits der großen Ballungsräume – um nur einige Probleme herauszugreifen.

Aber zugleich leisten vorausschauende Kommunalpolitiker heute schon Erstaunliches, um zu kreativen Lösungen zu kommen. Auch die Landespolitik reagiert beispielsweise mit Behördenund Kreisreformen und Anpassungen in den kommunalen Finanzausgleichssystemen. Gerade in Ostdeutschland, wo die Entwicklung früher und wuchtiger eingesetzt hat, gibt es bereits viele gute Beispiele für gelungene Anpassungsstrategien. Zwei Prinzipien sind dabei zu beachten: Erstens gibt es nicht die eine Strategie, die alle Probleme löst. Denn die Probleme sind unterschiedlich und erfordern deshalb auch unterschiedliche Lösungsansätze, die in Ballungs- anders als in Schrumpfungsräumen aussehen, die sich in wirtschaftsstarken anders als in wirtschaftsschwachen Gemeinden darstellen ebenso wie in älteren im Vergleich zu jüngeren Stadtteilen.

Jeden Tag nimmt die Lebenserwartung sechs Stunden zu Man kann es aber auch anders betrachten: Wir leben länger und vor allem länger besser. Jeden Tag nimmt die durchschnittliche Lebenserwartung rund sechs Stunden zu. In den letzten 30 Jahren haben wir so 7 Jahre dazu gewonnen. Jedes zweite Kind, das heute geboren wird, wird auch noch im Jahr 2116 leben.

Zweitens werden wir lernen müssen, Ungleiches viel stärker als bisher ungleich zu behandeln. Das wird nicht leicht sein in unserer auf Ausgleich bemühten Gesellschaft. Auch hier brauchen wir ein Umdenken. Wir sollten uns davor hüten, den Menschen fertige Konzepte anzubieten oder gar überzustülpen. Der Umbau wird nur im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern gelingen. Für die Veränderungen müssen wir werben, die Initiativen vor Ort aktivieren und den Wettbewerb um die besten Ideen nutzen.

»Heute sind viele 70-Jährige so fit wie damals 50-Jährige.« Wir können damit auch länger arbeiten, nicht aus Zwang, sondern freiwillig, weil es erfüllend ist. Ein Blick auf Fotografien unserer Vorfahren genügt, um zu begreifen, welche Veränderung da im Gange ist: Das harte Leben in der klassischen Industriegesellschaft ließ viele Menschen früh altern. Heute sind viele 70-Jährige so fit wie damals 50-Jährige.

Digitalisierung eröffnet die Chance zu einer besseren Versorgung Vor allem aber müssen wir die zweite große Veränderung unserer Zeit nutzen – die Digitalisierung. Sie ist so etwas wie der Schlüssel zur Lösung der neuen Herausforderungen. Kaum etwas hat unser Leben in den letzten zwanzig Jahren so verändert wie das Internet und die rasante Verbreitung digitaler Technologien.

Kluge Politik eröffnet neue Perspektiven Der Bevölkerungswandel ist kein Schicksal, sondern eine politische Gestaltungsaufgabe – die wir

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überspielte Computertomographie-Bilder des Patienten stehen innerhalb weniger Sekunden zur Verfügung und werden gemeinsam begutachtet. So überwindet Telemedizin räumliche Entfernungen und erleichtert die medizinische Versorgung, wo anderenfalls ein Mangel an Ärzten droht.

Der „Imperativ des Silicon Valley“ hat alles erfasst: Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert, weil es das Leben einfacher macht und Innovationen hervorbringt, die keiner missen will. Die Älteren haben noch Vinyl-Schallplatten gekauft – heute wird Musik „gestreamt“, Videotheken verschwinden und Telefonzellen gibt es nicht mehr. Der klassische Einzelhandel kämpft gegen den Online-Handel, Airbnb und Uber wirbeln die Hotel- und Taxibranche durcheinander. Und wer erinnert sich noch daran, dass man früher Fotos zum Entwickeln brachte? Wer das heute seinen Kindern oder Enkelkindern erzählt, der erntet nur die Frage: „Wohin?“

Für Patienten, die bislang regelmäßig eine Klinik aufsuchen mussten, stehen heute Sonden für die „rund um die Uhr-Beobachtung“ zur Verfügung. Sobald eine kritische Veränderung des Gesundheitszustandes von den „virtuellen Ärzten“ registriert wird, meldet sich der Arzt und greift ein. So kann auch der Patient im ländlichen Raum mit Spitzenmedizin versorgt werden, ohne dass er dafür lange Fahrten auf sich nehmen oder gar ins Krankenhaus eingewiesen werden muss. Telemedizin wird so zu einem echten Fortschritt für ein selbstbestimmtes Leben, möglichst lange Selbständigkeit im Alter und damit insgesamt noch mehr Lebensqualität.

»Wohin brachte man früher Fotos zum Entwickeln?« Mancher sieht darin eine Bedrohung. Wir sollten eher die Chancen sehen. Das Gesundheitswesen bietet dafür heute schon viele eindrucksvolle Möglichkeiten. Es ist zum Beispiel beeindruckend zu sehen, was Telemedizin leistet, obwohl sie noch in den Kinderschuhen steckt.

Politische Gestaltungsaufgabe Aufgabe der Politik im demografischen Wandel ist es sicherzustellen, dass alle an diesem Fortschritt teilhaben und sich diese guten Erfahrungen überall in unserem Land durchsetzen. Es geht darum, dass jeder am medizinischen Fortschritt teilhaben kann, egal wie alt er oder sie ist und wo er oder sie wohnt. Der entscheidende Punkt dabei ist die digitale Vernetzung. Es geht um eine sichere und vertrauenswürdige Infrastruktur zur Übertragung der Daten der Patienten. Das im letzten Jahr verabschiedete E-Health-Gesetz treibt die Einführung dieser Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen voran – technisch sicher und mit einem Höchstmaß an Schutz für die sensiblen Gesundheitsdaten.

Das Unfallkrankenhaus in Berlin versorgt beispielsweise per Videoschaltung den Seenotkreuzer Arkona auf offener See. An Bord sind keine Ärzte, sondern Seeleute – mit Sanitätsausbildung. Per Satellit wird der Arzt aus Berlin zugeschaltet. Vitaldaten wie Blutdruck oder Herzfrequenz gehen digital in die Hauptstadt. Der Arzt dort kann den Fall genau diagnostizieren und per Direktschaltung die notwendigen Anweisungen geben. Er kann alles genau beobachten und korrigierend eingreifen, wenn es erforderlich sein sollte. Das ist nur eine besonders spektakuläre Anwendung der Telemedizin.

Das neue Gesundheitsnetz wird die IT-Systeme der Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken und Krankenkassen miteinander verbinden und so einen systemübergreifenden Austausch von Informationen ermöglichen. Bis Mitte 2018 sollen Arzt­ praxen und Krankenhäuser flächendeckend an diese neue Infrastruktur angeschlossen sein. Ziel ist, dass in Zukunft die Daten der Patienten sicher und vertrauenswürdig ausgetauscht werden können und alle Patienten tatsächlich eine elektronische Patientenakte bekommen – dies wird in der Praxis gerade für ältere Menschen enorme Fortschritte bringen und zugleich Kosten sparen.

Ein anderes, nicht weniger gelungenes Beispiel bietet die Uniklinik Dresden gemeinsam mit Krankenhäusern der Oberlausitz – eine der derzeit am stärksten vom Bevölkerungswandel betroffenen Regionen in Deutschland. Via Telemedizin können die regionalen Krankenhäuser die Expertise der Uniklinik anzapfen. So kann ein Schlaganfallexperte der Uniklinik noch in der Notaufnahme über eine Videokonferenz für die Behandlung vor Ort zugeschaltet werden. Direkt

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»Wir sollten der Neigung zum Schwarzsehen widerstehen.«

So werden Telemedizin, Vernetzung und darauf aufbauende neue Anwendungen zum Schlüssel für die Lösung der demografischen Herausforderungen in unserem Land.

wie zum Beispiel professionellem Krankenhausmanagement oder Notfallversorgungsnetzen. Experten schätzen, dass sich das globale Geschäft mit der digitalen Medizin bis 2020 vervierfachen wird. Kein Wunder, dass die Gesundheitswirtschaft jedes Jahr rund 50 Prozent stärker wächst als die Gesamtwirtschaft. Einer ihrer großen Treiber ist unsere älter werdende Gesellschaft. Und das zeigt, dass der demografische Wandel keinen Wohlstandsverlust bringen muss, im Gegenteil!

Digitalisierung eröffnet neue Wachstumschancen für den Gesundheitssektor Die Digitalisierung des Gesundheitswesens hat darüber hinaus auch ein enormes Potenzial für Wachstum und Beschäftigung. Schon heute arbeiten mehr als 5 Mio. Menschen im Gesundheitsbereich. Seit 2012 geben wir pro Jahr über 300 Milliarden Euro für die Gesundheit aus, das sind rund 11 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Auf jeden Einwohner entfallen fast 4.000 Euro. Auch bei den Ausfuhren ist die Gesundheitsbranche mit Pharmaindustrie, Medizintechnik und Biotechnologie ein Exportschlager vergleichbar mit der Automobilindustrie und dem Maschinenbau. Gleichzeitig steigt weltweit die Nachfrage nach komplexen Systemlösungen,

Wir sind also gut beraten, mit neuer Technik und pfiffigen Ideen nicht nur unser Land zu digitalisieren, sondern die Chance der Technik zu nutzen, um die Herausforderungen des Älterwerdens entschlossen anzupacken. Wir sollten der hierzulande verbreiteten Neigung zum Schwarzsehen widerstehen. Die Chancen des langen Lebens sind enorm. Oder wie es vor einem Jahr im SPIEGEL so treffend hieß: „Die Demokalypse bleibt aus!“ Wenn wir es richtig angehen!

Oliver Schenk ist Abteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit. Zuvor leitete er die Programmabteilung in der CDU-Bundesgeschäftsstelle und war lange Jahre für die Staatsregierung in Sachsen tätig. Oliver Schenk lebt mit seiner Familie in Dresden.

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Dr. Volker Leienbach

Ein groĂ&#x;es Wort Warum die Architektur des Gesundheitssystems gravierende Folgen fĂźr die Lebenschancen nachfolgender Generationen hat

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in denen rund 90 Prozent aller Menschen in Deutschland versichert sind, gilt das sogenannte Umlageverfahren: Alle Beitragseinnahmen werden sofort wieder für die laufenden Kosten ausgegeben. Rückstellungen sind praktisch nicht vorgesehen. Dabei zahlen die Jüngeren vor allem für die besonders hohen Gesundheitsausgaben älterer Menschen.

Die PKV leistet einen wichtigen Beitrag zur Generationengerechtigkeit in Deutschland. Denn die Alterungsrückstellungen, mit denen Privatversicherte selbst für ihre im Alter steigenden Gesundheitskosten vorsorgen, entlasten die gesamte Gesellschaft. Generationengerechtigkeit. Ein großes Wort, nicht nur wegen seiner 25 Buchstaben. Schon die beiden Begriffe, aus denen es sich zusammensetzt, sind seit Jahrhunderten Diskussionsgegenstand von Politikern, Philosophen und Ökonomen. Zusammen genommen werden sie heute meist im Sinne einer Definition gebraucht, die sich im „Handbuch Generationengerechtigkeit“ findet: „Generationengerechtigkeit bedeutet konkret, dass die heute Jungen und nachfolgende Generationen gleichwertige Lebensgestaltungschancen besitzen sollen wie die gegenwärtig gesellschaftlich und politisch verantwortliche Generation.“

Die Rechnung des Umlageverfahrens geht allerdings nur so lange auf, wie in einer Gesellschaft das Verhältnis von Menschen im erwerbsfähigen Alter und Menschen im Rentenalter einigermaßen ausgewogen ist. Doch infolge der niedrigen Geburtenrate sinkt in den vor uns liegenden Jahrzehnten die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, während die geburtenstarken Jahrgänge zusehends das Rentenalter erreichen. Das Statistische Bundesamt hat berechnet, wie unsere Gesellschaft im Jahr 2050 aussehen wird: Demnach wird sich die Zahl der über 80-Jährigen verdreifachen. Gleichzeitig schrumpft die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter um ein Drittel.

»Jeder sollte das ihm Mögliche tun, um unsere Kinder zu entlasten.«

Für das Umlagesystem der GKV ist das gleich in doppelter Hinsicht problematisch: Denn erstens stehen auf der Einnahmeseite immer weniger aktive Erwerbsfähige bereit, um mit ihren Beiträgen die Versorgung der immer größeren Zahl von Rentnern zu finanzieren. Und zweitens wird die zunehmende Zahl älterer Menschen zu einer höheren Nachfrage nach Gesundheitsleistungen führen als heute und damit die Ausgaben noch weiter nach oben treiben.

Legt man diese Begriffserklärung zugrunde, dann sollte jede neue Generation mindestens dieselben Startvoraussetzungen vorfinden wie die Vorgängergeneration. Wer sich in der Welt umsieht, erkennt jedoch schnell, dass diese Voraussetzungen bei weitem nicht erfüllt werden: Ressourcenverbrauch, Umweltverschmutzung und eine hohe Staatsverschuldung in vielen Ländern bürden den nachfolgenden Generationen Lasten auf, die ihre Startchancen erheblich erschweren. Deshalb sollte jeder das ihm Mögliche tun, um unsere Kinder und Enkel zu entlasten.

Die Politik muss auf die alternde Bevölkerung reagieren Auf die fortschreitende Alterung der Bevölkerung müssen Politik und Gesetzliche Krankenversicherung zwangsläufig reagieren. Dabei können sie zwischen einer Steigerung der Einnahmen (sei es durch höhere Beitragssätze und/oder höhere Steuerzuschüsse), einer Kürzung der Ausgaben oder einer Kombination von allem wählen. Beitragssteigerungen sind bereits in Sicht. So kündigte GKV-Spitzenverbandschefin Doris Pfeiffer kürzlich an, dass sich der durchschnittliche Zusatzbeitrag in der Gesetzlichen Krankenversicherung vermutlich bis 2019 von heute 0,9 auf 1,8 Punkte verdoppeln wird. Führende Gesundheitsökonomen rechnen sogar mit über zwei Prozent.

Wie Sozialpolitik heute die Generationen morgen belastet Nicht nur die Umwelt- oder Finanzpolitik haben Auswirkungen auf die Chancen der künftigen Generationen, sondern insbesondere auch die Sozialpolitik. Denn die Architektur der sozia­­len Sicherungssysteme entscheidet über einen gravierenden Teil der öffentlichen Finanzen in der Zukunft. In der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV ) sowie in der Gesetzlichen Pflegeversicherung,

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trefflich diskutieren. Fest steht aber, dass beide in die richtige Richtung gehen, mehr Leistungen über Kapitalrückstellungen abzusichern.

Neben weiteren Beitragserhöhungen sind auch Einschränkungen bei den Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung denkbar, wie sie in der Vergangenheit bereits mehrfach erfolgt sind. So wurden durch sogenannte Kosten­ dämpfungsgesetze beispielsweise höhere Zuzahlungen der Patienten für Arzneimittel eingeführt oder die Leistungsansprüche für Zahnersatz oder bei Brillen gekürzt. Hinzu kommt, dass die GKV verschiedene Steuerungselemente wie zum Bei­­ spiel Budget-Obergrenzen für die Ärzte einsetzt, was de facto einer Rationierung von Leistungen entspricht.

220 Milliarden Euro zur Entlastung nachfolgender Generationen Diese Idee verwirklicht die Private Krankenversicherung bereits seit mehreren Jahrzehnten. Mit dem Aufbau von inzwischen mehr als 220 Milliarden Euro kapitalgedeckten Alterungsrückstellungen trägt sie dazu bei, die nachfolgenden Generationen von den im Alter steigenden Gesundheitskosten der heute noch Aktiven zu entlasten.

Die Jungen müssen in Zukunft noch mehr zahlen

Diese Rückstellungen aus den Beiträgen der Privatversicherten tragen dem Umstand Rechnung, dass mit dem Alter üblicherweise die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen steigt. So verbrauchen 80- bis 84-Jährige über 20 Mal mehr Arzneimittel als 20- bis 24-Jährige. Die Pro-KopfAusgaben für die Krankenhausbehandlung beispielsweise von 76- bis 80-jährigen Frauen sind etwa 5 Mal höher als für die 41- bis 45-jährigen. Für Männer der gleichen Altersgruppen lagen die Ausgaben sogar 8,5 Mal höher.

Langfristprognosen lassen erkennen, dass sich diese Entwicklungen fortsetzen werden. Führende Wissenschaftler der Gesundheitsökonomie sagen voraus, dass der GKV-Beitragssatz schon allein auf Grund der demografischen Entwicklung bis zum Jahr 2050 von heute knapp 16 Prozent auf bis zu 30 Prozent des Einkommens steigen müsste – oder ersatzweise die medizinischen Leistungen drastisch gekürzt werden müssten.

Nachhaltigkeit nicht nur in der Umwelt, sondern auch in der Versicherung

»Diese Entwicklung ist alles andere als generationengerecht.«

Für diese im Alter steigenden Gesundheitsausgaben sorgen die Privatversicherten mit ihren Alterungsrückstellungen selbst nachhaltig vor. Dafür kalkulieren die privaten Krankenversicherungen nach dem sogenannten Anwartschaftsdeckungsverfahren: Der Beitrag wird über die gesamte Versicherungsdauer so kalkuliert, dass er die statistisch absehbare Summe der Gesundheitskosten für die gesamte Lebenszeit des Versichertenkollektivs abdeckt. In jüngeren Jahren sind die Beiträge dabei höher als die durchschnittlich zu erwartenden Gesundheitsausgaben der jeweiligen Altersgruppe. Dieses Geld steht dann entlastend zur Verfügung, wenn später im Alter entsprechend höhere Gesundheitsausgaben anfallen.

Diese Entwicklung ist alles andere als genera­ tionengerecht. Denn die Jungen, von deren Beiträgen schon heute ein Großteil zur Finanzierung der Gesundheitskosten der älteren Menschen verwendet wird, müssen in Zukunft noch mehr zahlen – bei womöglich weniger Leistungen. Und das Problem verschärft sich: Wird nichts unternommen, findet jede neue Generation schlechtere Startbedingungen vor. Die Bundesregierung wird sich dieses Problems zunehmend bewusst und versucht, zumindest im Pflegebereich ein wenig gegenzusteuern. So werden seit Anfang 2015 Rückstellungen in einen Pflegevorsorgefonds gezahlt und seit Anfang 2013 wird der Abschluss bestimmter, generationengerechter Pflegezusatzversicherungen mit einem staatlichen Zuschuss gefördert. Über Umfang und Systematik beider Maßnahmen kann man

Der sich in jungen Jahren ergebende Mehrbeitrag wird in den Alterungsrückstellungen verzinslich angelegt. Wenn dann in späteren Lebensjahren die rechnerischen Kosten für Gesundheitsleistungen über dem Beitrag liegen, wird die Differenz durch Entnahme aus den Alterungsrückstellungen der Versichertengemeinschaft finanziert.

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ÂťWird nichts unternommen, findet jede neue Generation schlechtere Startbedingungen vor.ÂŤ

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»Der Kapitalstock der Privatversicherten hat sich in den vergangenen zehn Jahren annähernd verdoppelt.« Durch dieses Vorgehen wird verhindert, dass der Beitrag zu einer privaten Krankenversicherung steigen muss, nur weil die Versicherten älter werden und mehr Leistungen in Anspruch nehmen.

damit utopisch. Gleichwohl profitiert die gesamte Gesellschaft davon, dass es mit der Privaten Krankenversicherung ein System gibt, das seine Versicherten zukunftsfest abgesichert hat.

Kapitalgedeckte Vorsorge binnen zehn Jahren verdoppelt

Denn die Finanzierungsprobleme, die der GKV durch das Umlageverfahren bevorstehen, sind letztlich nichts anderes als eine versteckte Verschuldung. Sie muss von zukünftigen Generationen in Form von Steuern oder zusätzlichen Beiträgen getilgt werden. Durch die immerhin fast neun Millionen Privatversicherten, deren Gesundheitskosten nicht von unseren Kindern und Enkeln finanziert werden müssen, fällt diese Verschuldung an den folgenden Generationen deutlich geringer aus.

Der Kapitalstock der Privatversicherten hat sich in den vergangenen zehn Jahren annähernd verdoppelt – und das trotz internationaler Staatsschuldenkrise und eines ungünstigen Zinsumfeldes. Mit den aktuellen Alterungsrückstellungen könnte die PKV zum Beispiel ihre gesamten Leistungsausgaben in der Kranken- und Pflegeversicherung für mehr als acht Jahre decken – ausgehend von den Leistungsausgaben von 25,8 Milliarden Euro im Jahr 2015. Falls die Gesetzliche Krankenversicherung ihre Versicherten vergleichbar für die Zukunft absichern wollte, müsste sie dafür über 1,6 Billionen – das sind 1.600 Milliarden – Euro aufbringen. Das wäre mehr als fünfmal so viel wie der gesamte Bundeshaushalt des Jahres 2016.

Außerdem kann das System der Alterungsrückstellungen als Vorbild für zukünftige Absicherungen von Gesundheitsleistungen dienen – durchaus auch für bestimmte Leistungspakete in der GKV. In der Pflegeversicherung ist das zum Teil schon geschehen. Entsprechende Lösungen in der Krankenversicherung sollten folgen, zum Beispiel über eine stärkere Absicherung von Leistungen über private Zusatzversicherungen. So kann mehr Generationengerechtigkeit erreicht werden, die ihren Namen verdient. Ein großes Wort. Und eine große Aufgabe für die Politik.

Versteckte Verschuldung zu Lasten der nächsten Generationen Eine der PKV vergleichbare Zukunftsvorsorge für alle Versicherten in Deutschland zu schaffen, ist

Dr. Volker Leienbach ist Verbandsdirektor der Privaten Krankenversicherungen (PKV) in Deutschland. In dieser Funktion vertritt er die Interessen der Mitgliedsunternehmen sowie der Privatversicherten.

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WIR ZAUBERN LÖSUNGEN.

UNION BETRIEBS-GMBH | UBGNET.DE


Dr. Rainer Dulger

Weichenstellungen Wie der demografische Wandel unser Land prägen und belasten wird

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weder gelungen, die Folgen der demografischen Entwicklung zu mildern, noch unsere gesetzliche Alterssicherung auf den bevorstehenden Ansturm der kommenden Jahre auszurichten. Es wird kein einziges Problem damit gelöst.

Wir brauchen nicht um den heißen Brei herumreden. Die Fakten zur demografischen Entwicklung in Deutschland sind uns allen seit vielen Jahren bekannt und müssen hier nicht noch einmal aufgezählt werden. Jeder weiß, worum es geht. Es braucht keinen Blick in die Glaskugel, um zu verstehen, dass innerhalb weniger Jahre ein handfestes Problem auf unser Land zurollt: auf unsere Gesellschaft, unsere Unternehmen, unsere sozialen Sicherungssysteme.

Im Gegenteil, durch die politische Abkehr von der Rente mit 67 bis 2030 (!) und die politisch gewollten finanziellen Leistungsausweitungen haben wir unsere Rentenfinanzierungsprobleme und unseren Fachkräftemangel noch zusätzlich verschärft. Dadurch sank und sinkt auch das Rentenniveau.

Ich schreibe bewusst von einem „Problem“ und nicht von einer höflich umschriebenen „Herausforderung“ oder einer vermeintlichen „Chance“, deren Vorzüge bislang unentdeckt geblieben sind. Nein, die Folgen der demografischen Entwicklung sind dramatisch. Die Demografie wird Deutschland verändern, prägen und belasten. Und wir sind, unser Land ist darauf bislang nicht ausreichend vorbereitet.

Auch bei Gesundheit und Pflege wurden in den vergangenen Jahren Leistungsausweitungen beschlossen, die in diesen sozialen Sicherungssystemen zu einer deutlichen Kostensteigerung in den kommenden Jahren führen werden. Dies alles führt dazu, dass die Beitragssätze für die Finanzierung unseres Sozialstaats ebenso kontinuierlich wie deutlich steigen werden. Bereits heute haben wir die über viele Jahre als rote Linie geltende Marke von 40 Prozent Lohnzusatzkosten überschritten. Und das schadet mittelfristig dem Aufbau neuer oder zusätzlicher Arbeitsplätze in Deutschland.

»Die Demografie wird Deutschland verändern, prägen und belasten.« Schon jetzt lassen sich erste Vorboten der Alterung unserer Gesellschaft erkennen. Die Kosten für Gesundheit und Pflege steigen und das mit zunehmender Geschwindigkeit. Auch die Ausgaben für die gesetzliche Rente steigen. Alle wissen, dass die Alterung Haupttreiber der Kosten in diesen Bereichen ist. Zum einen, weil es mehr Rentner in Deutschland gibt und geben wird. Zum anderen, weil die regierenden Parteien dieser stark wachsenden Wählerklientel mit der Mütterrente, der Rente mit 63 und womöglich der Lebensleistungsrente maßlos teure Wahlgeschenke überreicht haben und weitere teure Wahlgeschenke vorbereiten. Insgesamt rund 230 Milliarden Euro werden nun in den 16 Jahren von 2014 bis 2030 zusätzlich in die Rente fließen. Es ist eine ungeheure Summe, mit der sich an anderer Stelle viel Gutes, sicher aber viel Besseres bewirken ließe.

Sie sind Ausdruck einer Politik der vollen Kassen, ohne Rücksicht auf die Zukunft. Sie begünstigen die heutige Generation der Älteren sowie, dieser Seitenhieb sei gestattet, die Mitglieder der IG Metall, die über Gebühr von der Rente mit 63 profitieren. Ich ahne, dass in Deutschland viele Menschen, wenn dazu befragt, diese Maßnahmen für richtig halten. Aber ihre finanziellen Folgen werden uns – und dabei vor allem die jungen Menschen in unserem Land – noch über viele Jahre begleiten. Darüber sollten wir uns klar sein. Ziehen wir also einen Schlussstrich unter diese kritische Bestandsaufnahme und blicken stattdessen nach vorn. In den Monaten vor Bundestagswahlen ist häufig von Schicksalswahlen die Rede. Journalisten, Lobbyisten, Aktivisten und andere Interessengruppen sprechen dann von den entscheidenden Weichenstellungen, die jetzt erfolgen müssen, denn sonst sei Deutschland verloren. Es ist ein Diskurs der Absolutheit, der keinen Platz für Kompromisse oder Nachdenklichkeit lässt.

Mit Ausnahme der Einführung der Rente mit 67 und dem vorsichtigen Bemühen um eine flexiblere Altersgrenze war die Rentenpolitik der vergangenen Jahre im Großen und Ganzen fehlgeleitet und wäre besser unterblieben. Die Deutlichkeit dieser Aussage mag überraschen, doch uns ist es

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nicht erst am Ende der beruflichen Laufbahn, sondern zu weiten Teilen bereits an ihrem Anfang oder sogar noch davor, in der Schulzeit. Der individuelle Rentenanspruch ist nicht das Ergebnis unserer Rentenpolitik, sondern die logische Folge der Bildungs- und Beschäftigungsentwicklung jedes Einzelnen. Wer in der Schule schlecht ist, wer später im Arbeitsmarkt nicht richtig Tritt fasst, wird mit später eine niedrige Rente haben.

Ich halte wenig von dieser Art von Rhetorik. Sie schädigt die politische Kultur und befördert Politikverdrossenheit und Schlimmeres. Denn sie führt uns zwangsläufig in eine Situation, in der sich eine Denkrichtung komme was wolle durchsetzen muss, um nicht in den Augen der Öffentlichkeit als Verlier vom Platz gehen, da zu wenig von dem zuvor Versprochenen erreicht wurde. So wird der vermeintliche politische Sieg des Einen zur Niederlage des Systems als Ganzem. Der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf in diesem Jahr zeigt, welche Folgen diese Entwicklung haben kann. Alle verlieren.

Das ist nicht die Schuld der Politik oder unserer Gesellschaft, aber es ist ihre, unsere Aufgabe, sich dieses Themas anzunehmen. Und zwar nicht, in dem zu niedrige Renten künstlich in die Höhe getrieben werden. Sondern in dem wir Menschen langfristig in die Lage versetzen, aus eigener Befähi­gung eine höhere Rente zu erarbeiten.

»Wer nach der einen Vision, der einen großen Lösung sucht, wird daran scheitern.«

Wir sollten deshalb einen viel größeren Fokus – auch finanziell – auf die Verbesserung der Bildung, auf die Arbeitsmarktintegration und auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie legen – um nur drei der offensichtlichen Handlungsfelder zu nennen. Wir sollten auch mehr in Forschung, Infrastruktur, Zukunftstechnologien und in Sicherheit investieren. Das sichert Zukunft. Weitere Rentengeschenke zerstören Zukunft.

Wir sollten ehrlich sein. Es gibt für wenige der auf uns zukommenden Probleme einfache Lösungen. Weder für den Brexit noch für die Reform der Europäischen Union. Weder für die Wachstumsschwäche unserer Wirtschaft noch für die Zukunftsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme.

Das bedeutet, z. B. alle Etappen unser Bildungslaufbahn qualitativ zu stärken und finanziell zu stützen: Kindergärten und Schulen, Berufs- und Hochschulen. Das bedeutet ebenso, den Arbeitsmarkt zu dynamisieren und weiter zu entschlacken und auch den Faktor Arbeit nicht über Gebühr zu belasten. Wir benötigen einen dauerhaft hohen Beschäftigungsgrad, um diese Aufgabe lösen zu können.

Wer nach der einen Vision, der einen großen Lösung sucht, wird daran scheitern. Denn Politik ist nicht die Kunst des theoretisch Möglichen, sondern des praktisch Machbaren. Und das gilt auch für den Umgang mit der demografischen Entwicklung in all ihren Facetten. Was also können wir tun? Rentenpolitische Entscheidungen haben generationenübergreifende Auswirkungen. Wir sollten uns deshalb davor hüten – und das gilt insbesondere für Wahlkampfzeiten – kurzfristige und teure Versprechen auf Kosten unserer Kinder und der langfristigen Stabilität unseres Rentensystems zu machen. Nein, mögliche Lösungsansätze müssen ebenso langfristig gedacht wie angelegt sein. Wir dürfen uns dabei nicht allein darauf beschränken, die Folgen von Bevölkerungsschwund, Alterung und Veränderungen am Arbeitsmarkt bewältigen zu wollen.

Hinsichtlich der Investitionen in unsere Hochschulen als auch in den Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind in den vergangenen Jahren in Deutschland ohne Zweifel deutliche Fortschritte gemacht worden. Doch die wachsende Zahl an Kitaplätzen kann nicht über erhebliche Probleme hinsichtlich der Qualität und der sehr wechselhaften Betreuungssituation in vielen Kindertagesstätten hinwegtäuschen. Vieles ist besser geworden, doch vieles bleibt noch zu tun – insbesondere mit Blick auf unsere Schulen, die in den verschiedenen Bundesländern immer größere Qualitätsunterschiede aufweisen. In diesem Zusammenhang ist es aus meiner Sicht Zeit,

Wir müssen uns bei vielen dieser zentralen Themen stärker als bisher um die Ursachen kümmern. Die Höhe einer Rente entscheidet sich

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»Es wäre ein Fehler zu glauben, der Umgang mit der Demografie unserer Gesellschaft wäre eine rein staatliche Aufgabe.« eine Veränderung der staatlichen Finanzierungsmöglichkeiten innerhalb unseres Bildungssystems zu prüfen. Ein starres Festhalten an dem bestehenden Kooperationsverbot unabhängig davon, wie sich die Qualität der Schulen in finanzschwächeren Regionen entwickelt, erscheint zunehmend anachronistisch.

es nicht. Alterung und Bevölkerungsschwund betreffen jede Nachbarschaft, jeden Betrieb, jede Familie. Schon jetzt bemerken wir, wie die Zahl der auf unsere Hilfe angewiesenen Menschen in unserem direkten Umfeld zunimmt. Schon jetzt erleben viele ländliche Regionen das plötzliche Verschwinden notwendiger und lieb gewonnener Infrastruktur. Unternehmen spüren den Fachkräftemangel. Lehrstellen bleiben unbesetzt.

Investitionen in die Qualität unseres Bildungssystems, in die Betreuungsinfrastruktur und die Förderung von Wachstum und wirtschaftlicher Dynamik kosten eine Menge Geld. Diese finanziellen Spielräume müssen wir uns erst noch erarbeiten. Ausgaben einer solchen Größenordnung setzen auf allen staatlichen Ebenen eine Haushaltspolitik voraus, die das Ziel hat, mehr Freiräume für Investitionsausgaben zu schaffen. Davon sind viele Bundesländer zum jetzigen Zeitpunkt noch weit entfernt. Doch wir werden nicht auf Dauer über die großzügigen Steuerüberschüsse der vergangenen Jahre verfügen. Das wiederum bedeutet zwangsläufig, dass wir die konsumtiven Ausgaben der öffentlichen Haushalte verlangsamen oder, dort wo es möglich ist, sogar reduzieren sollten – und zwar möglichst noch, bevor wir die volle Wucht der demografischen Entwicklung zu spüren bekommen.

Manche dieser Probleme werden wir mit staatlicher Hilfe lösen können. Andere werden wir vielleicht technologisch, durch eine konsequente Nutzung der digitalen Möglichkeiten in den Griff kriegen. Aber am wichtigsten bleibt am Ende der menschliche, genauer gesagt der mitmenschliche Faktor. Es liegt an uns selbst, wie wir den Problemen der Zukunft begegnen wollen – mit Angst und Rückzug, oder mit Optimismus und Engagement. Sind wir den Folgen der demografischen Entwicklung hoffnungslos ausgesetzt? Nein, auf keinen Fall. Wir können handeln, wir haben Möglichkeiten, die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen. Dafür benötigen wir eine offene Debatte ohne Scheuklappen und ohne ideologische Vorprägungen. Vieles in unserem Land funktioniert hervorragend. Lassen Sie uns das, was noch nicht gut funktioniert, besser machen. Und zwar Schritt für Schritt.

Ein letzter Punkt: Es wäre ein Fehler zu glauben, der Umgang mit der Demografie unserer Gesellschaft wäre eine rein staatliche Aufgabe. Er ist

Dr. Rainer Dulger wurde 1964 in Heidelberg geboren, ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Seit 2012 bekleidet er in der Nachfolge von Martin Kannegiesser das Amt des Präsidenten von Gesamtmetall. Hauptberuflich ist der promovierte Ingenieur Geschäftsführender Gesellschafter der ProMinent GmbH in Heidelberg.

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Ronja Kemmer

Das deutsche Rentensystem zukunftsfähig machen Wir sollten die Rentendebatte mit mehr Sachlichkeit fßhren

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ist: Ohne eine ergänzende private Vorsorge wird es auch künftig kaum gehen. Dafür ein Bewusstsein zu schaffen ist eine dauerhafte gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Gerade auch junge, politisch engagierte Menschen sind dabei gefragt, in ihrer Altersgruppe dafür zu werben, sich frühzeitig mit den Fragen der Altersvorsorge auseinanderzusetzen – so vielfältig die Möglichkeiten der modernen Freizeitgestaltung auch sein mögen.

Wenn man die Verlautbarungen vor allem von Seiten unseres sozialdemokratischen Koalitionspartners in den vergangenen Monaten reflektiert, dann ist zu befürchten, dass uns bei der kommenden Bundestagswahl ein Rentenwahlkampf ins Haus steht. Die Rente ist immer ein populäres Thema, weil sie viele Menschen emotional anspricht: die aktuellen Rentenbezieher, Menschen, die in absehbarer Zeit – zum Beispiel in einem Jahrzehnt – das Erwerbsleben abschließen und zu Rentenbeziehern werden, vermeintlich überprivilegierte oder vernachlässigte aktuelle oder zukünftige Rentner. Dabei gerät aber meist eine Personengruppe aus dem Fokus: die Beitragszahler, die das alles auch in Zukunft finanzieren müssen. Forderungen, das Rentenniveau zu stabilisieren oder sogar zu erhöhen sind schnell erhoben. Aber die staatliche Rente arbeitet prinzipiell nach dem Umlageverfahren: Die heutigen Einzahler zahlen für die aktuellen Rentner. Das Rentenniveau hat direkte Auswirkungen für jeden Beitragszahler. Jeder Prozentpunkt mehr kostet viele Milliarden Euro, die von den Arbeitern und Angestellten finanziert werden müssen. Die Menschen werden aufgrund unseres Wohlstandes und des medi­zini­schen Fortschritts heute zum Glück älter als früher.

»Wir müssen uns dafür einsetzen, um der Armut im Alter zu begegnen.« Sicherlich ist die dauerhafte Niedrigzinspolitik der EZB ein großes Problem für die Grundlage der privaten Altersvorsorge. Eine rasche Ände­ rung dieser Niedrigzinspolitik ist vordringlich. Es kann und darf nicht sein, dass die Staats­ finanzen einiger Mitgliedsstaaten sowohl auf Kosten der Sparer, als auch der Volksbanken und Sparkassen als auch durch Verschlechterung der Alters­ versorgung vieler Menschen saniert werden. Trotzdem gibt es aber im Grunde nichts Sinnvolleres als in seine eigene Zukunft zu investieren und sich privat abzusichern – auch wenn die Zinsen niedrig sind. Was dauerhaft auf die Seite gelegt wurde, steht grundsätzlich als Sub­ stanz im Alter zur Verfügung.

»Ohne eine ergänzende private Vorsorge wird es auch künftig kaum gehen.«

Die staatliche Rente in Deutschland ist immer noch, gemessen an den Alterssicherungssystemen in anderen Ländern, sehr gut. Die Rente bildet im Wesentlichen das Erwerbsleben ab, denn ihre Höhe ist in erster Linie lohn- und beitragsbezogen. Ein Rekord an sozialversicherungspflichtigen Jobs bietet hierbei eine gesunde Grundlage.

Gleichzeitig ist in den vergangenen Jahrzehnten die Geburtenrate kontinuierlich gesunken. Weniger Beitragszahler treffen also auf mehr Rentenbezieher. Dass das auf Dauer zu Einschnitten führen muss, ist eine einfache Rechnung – zumal die geburtenstarken Jahrgänge, die heute mitten im Erwerbsleben stehen und in den kommenden beiden Jahrzehnten in Rente gehen, diese Phänomen noch deutlich verstärken werden. Darauf müssen wir uns vorbereiten – und die Antwort auf dieses Problem muss generationengerecht sein. Das System muss schließlich auch finanzierbar bleiben.

Wer dennoch nicht über ein ausreichendes Einkommen im Alter verfügt, den schützt die Grundsicherung vor Altersarmut. Derzeit müssen nur wenige Menschen im Alter Grundsicherungsleistungen nutzen, die über 65jährigen sind im Moment so gut wie gar nicht betroffen. Wir müssen uns gleichwohl dafür einsetzen, um der Armut im Alter zu begegnen. Die solidarische Lebensleistungsrente und ihre wesentlichen Voraussetzungen sind durch den Koalitionsvertrag vereinbart. Dabei müssen aber Fürsorgeprinzip und Versicherungsprinzip auseinandergehalten werden.

Die Grundidee der Alterssicherung beruht auf drei Säulen: der gesetzlichen Rentenversicherung, der betrieblichen und der privaten Vorsorge. Klar

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»Vom Malus zum Bonus: Die Flexi-Rente schafft attraktive Anreize für eine individuelle Erwerbslaufbahn.«

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Natürlich haben wir auch Gruppen, für die wir schnell eine bessere Rentenlösung finden müssen. Darunter fällt die Gruppe der Erwerbsgeminderten, also Menschen, die vielleicht mit Anfang oder Mitte 50 nicht mehr arbeiten können, weil sie zum Beispiel jahrzehntelang im Baugewerbe tätig waren. Diese Renten sind sehr niedrig – uns es wäre bedeutend wichtiger gewesen, sich um diese Fälle zu kümmern, als die Rente mit 63 als Wahlgeschenk einzuführen. So etwas darf sich nicht wiederholen.

vom Wissen, das in einem langen Erwerbsleben aufgebaut wurde. Langfristig wird das Renteneintrittsalter sicherlich steigen müssen, aber damit gehen wir ja auch im Gleichschritt mit der steigenden Lebenserwartung.

»Wer länger arbeiten will, der kann das tun, ohne dass einem Steine in den Weg gelegt werden.«

Das Renteneintrittsalter wird bis 2030 schrittweise auf 67 Jahre erhöht – ein vernünftiger Schritt. Es ist ja auch schon gesellschaftliche Realität, dass viele Menschen über das aktuelle Renteneintrittsalter arbeiten wollen und können. Die zahlreichen Frühverrentungsprogrammme haben früher oftmals dazu geführt, dass die besten Köpfe die Unternehmen verlassen haben und ein BrainDrain eingesetzt hat – und somit wichtiges Wissen verloren gegangen ist. Deswegen ist die FlexiRente auch eine logische Konsequenz: Wer länger arbeiten will, der kann das tun, ohne dass einem Steine in den Weg gelegt werden. Vom Malus zum Bonus: die Flexi-Rente schafft attraktive Anreize für eine individuelle Erwerbslaufbahn. Und gleichzeitig profitieren die Unternehmen

Man sieht also: es gibt viele Stellschrauben, die dazu führen, dass wir unser bewährtes Rentensystem in Deutschland auch weiterhin zukunftsfähig machen und an die gesellschaftlichen Anforderungen anpassen können. Es wäre zu wünschen, dass wir diese Diskussionen ohne Scheu vor den Problemen führen können – und mit mehr Sachlichkeit, ohne dabei kurzfristige Wahlkampfgründe im Hinterkopf zu haben. Leider ist es Realität, dass Deutschland nach Japan das zweitälteste Land ist – dann muss auch ein Rahmen geschaffen werden, in dem wir unsere sozialen Sicherungssysteme, für die uns nach wie vor viele Länder in der Welt beneiden, zukunftsfest machen können.

Ronja Kemmer MdB vormals Ronja Schmitt, ist seit 2014 Mitglied des Deutschen Bundestags. Dort ist sie Mitglied im Europa- und Petitionsausschuss. Von 2012 bis 2014 war sie Landesvorsitzende des RCDS Baden-Württemberg.

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Kai Whittaker

Demografie und Arbeitsmarkt Wir mĂźssen konsequenter handeln!

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aufhalten, wir können sie aber abschwächen. Gelingen kann uns das, wenn wir konsequent zwei Ansätze verfolgen.

Für die meisten, Bürger wie Politiker, ist der demografische Wandel immer noch ein abstraktes Phänomen. Das ist ein Trugschluss und gleichzeitig eine Gefahr für unser Land. In der Vergangenheit haben wir viel Zeit auf Problemanalysen und halbherzige Lösungsstrategien verwandt. Mein Credo laut deshalb: Jetzt ist die Zeit zum Handeln.

Zum einen ist es erforderlich, dass die Menschen über das jetzt festgeschriebene Renteneintrittsalter von 67 Jahren hinaus arbeiten. Dafür sollten wir das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung koppeln. Eine automatische Anpassung wäre die Folge. Zum anderen müssen wir das Arbeiten über das Renteneintrittsalter hinaus attraktiver und einfacher gestalten. Die FlexiRente ist ein erster Schritt dorthin. Wir müssen in Zukunft einen unkomplizierten und unbürokratischen Übergang vom Beruf in die Rente ermöglichen.

»In naher Zukunft werden uns die Fachkräfte ausgehen.« Die Bekämpfung des demografischen Wandels ist keine Luxusaufgabe. Von ihrer Bewältigung hängt die Zukunft unserer Volkswirtschaft und unserer sozialen Sicherung ab. Das Hauptproblem besteht ohne Zweifel darin, dass uns in naher Zukunft die Fachkräfte ausgehen werden. Schätzungen zufolge fehlen uns bis zum Jahr 2020 rund 800 000 Universitäts- und mehr als eine Million Fachhochschulabsolventen. Ein besonderer Bedarf besteht in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik).

Arbeitsmarktpotenzial von Frauen besser nutzen Die Erwerbsquote der Frauen steigt seit Mitte der 90er Jahre kontinuierlich an. Ein Grund für diese Entwicklung ist ihre zunehmend bessere Qualifikation. Heutzutage gibt es mittlerweile mehr weibliche Hochschulabsolventen als männliche. Dieses Potenzial wird jedoch noch nicht ausreichend genutzt. Frauen sind in Deutschland überdurchschnittlich in Teilzeit beschäftigt. Viele von ihnen würden gerne mehr oder sogar Vollzeit arbeiten. Für unsere Volkswirtschaft ist dieser Zustand nicht hinnehmbar.

Es werden dem Arbeitsmarkt aber nicht nur Akademiker fehlen. Nachwuchssorgen bestehen in vielen Ausbildungsberufen. Der DIHK-Präsident beschreibt die Lage wie folgt: „Die Lage war für die Unternehmen noch nie so dramatisch wie jetzt.“ Diese Aussage wird von zwei Kennziffern unterstützt. Zum einen gibt es immer weniger Jugendliche, die eine Ausbildung beginnen. Während im Jahr 1998 noch rund 600.000 junge Menschen eine Ausbildung begonnen haben, waren es im Jahr 2015 nur noch 516.000. Zum anderen konnten im vergangenen Jahr 41.000 gemeldete Ausbildungsstellen nicht besetzt werden. Damit hat sich diese Zahl in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Diese Zahlen belegen, dass wir in Deutschland seit Jahren einen klaren Trend beobachten können. Die Kernfrage ist: Mit welchen Maßnahmen kann die Politik effektiv dem demografischen Wandel entgegenwirken?

»Wir geben zu wenig für den Bereich der frühkindlichen Bildung aus.« Vor diesem Hintergrund gilt es, die Rahmenbedingungen für Frauen zu verbessern. Hierbei sollte ein Fokus auf die frühkindliche Bildung gelegt werden. In Deutschland geben wir zwar 200 Milliarden Euro für familienpolitische Leistungen aus, jedoch zu wenig für den Bereich der frühkind­ lichen Bildung. Wichtig wäre eine Stärkung der öffentlichen Hilfen wie Kinderkrippen und Ganztagsschulen. Dadurch würde zum einen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden. Zum anderen hätten Frauen auch eine wirkliche „Wahl­ freiheit“ – eines der Hauptanliegen der Union.

Längeres Arbeiten umsetzen und belohnen Durch den demografischen Wandel wird die Zahl der Erwerbspersonen in Deutschland deutlich sinken. Diese Entwicklung können wir nicht

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steht ohne Abitur und ohne Berufsausbildung da. Es gibt verschiedene Gründe für diesen Umstand. Von zentraler Bedeutung ist das Elternhaus. Wenn beide Elternteile nicht arbeiten, ist die Schulabbrecherquote bei Jugendlichen deutlich höher. Insgesamt verlassen jedes Jahr 50.000 Jugendliche die Schule ohne einen Abschluss. Ein deutlich zu hoher Wert.

Qualifizierte Zuwanderung fördern Deutschland sollte aber nicht nur seine eigenen Potenziale besser nutzen, sondern auch auf qualifizierte Zuwanderung setzen. Wir sind auf Zuwanderer angewiesen – wie in der Vergangenheit auch. Im Jahr 1955 wurde das erste Anwerbeabkommen mit Italien geschlossen. Abkommen mit weiteren Ländern folgten. In der Folge kamen Arbeitsmigranten aus vielen verschiedenen Ländern nach Deutschland und trugen entscheidend zum „deutschen Wirtschaftswunder“ bei.

Weitere Indikatoren für den Bildungserfolg junger Menschen sind zum Beispiel das Einkommen der Eltern oder ein Migrationshintergrund. Sie haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Bildungserfolg von Jugendlichen. Die Politik kennt die wichtigsten Studien und weiß, dass sie in diesem Feld tätig werden muss.

In den letzten Jahrzehnten haben wir das Thema leider aus dem Blick verloren beziehungsweise nicht ernsthaft verfolgt. Die Reformen seit den 2000er Jahren haben den Zuzug von Fachkräften nicht begünstigt. Einige Regelungen sind noch zu restriktiv und hemmen eine qualifizierte Zuwanderung nach Deutschland. Was wir brauchen, ist ein Einwanderungsgesetz. Dieses soll ganz klar definieren, welche Fähigkeiten Einwanderer haben sollen. Es gibt zwar eine Berufsmängelliste, aber das ist zu kurz gegriffen.

Konkret gibt es zwei Ansatzpunkte. Erstens sollten Jugendliche von arbeitslosen Eltern im Hartz-IV-System mehr in den Fokus genommen werden. Zweitens ist es notwendig, dass Deutschland von Anfang an eine Chancenpolitik betreibt. Hier können wir uns etwas bei unserem skandinavischen Nachbar Dänemark abschauen, das eines der besten frühkindlichen Betreuungssysteme hat. In Dänemark sind Kitas für Einkommensschwächere kostenlos. Dadurch sollen ungleiche Startbedingungen ausgeglichen werden.

Folgende Fragen müssen unter anderem beantwortet werden. Welches Sprachniveau müssen die Einwanderer vorweisen können? Welchen Ausbildungsgrad haben Sie? Wie sieht es mit den Fähigkeiten der Familienangehörigen aus? In welchen Regionen gibt es einen konkreten Fachkräftemangel? Es ist jährlich abzugleichen, in welchen Berufsfeldern und in welchen Regionen Arbeitskräfte gebraucht werden. In Kanada geht man flexibel auf die Bedarfe der Regionen ein und diesen Ansatz brauchen wir auch für Deutschland. In Mecklenburg-Vorpommern werden nämlich andere Fachkräfte gebraucht als in Baden-Württemberg.

»Natürlich werden es nicht alle schaffen, trotzdem müssen wir es versuchen.« Eine Chancenpolitik ist alles andere als eine sozial­romantische Politik. Sie möchte die Potenziale junger Menschen von Anfang an stärken und somit zur erfolgreichen Zukunft unseres Landes beitragen. Das Motto heißt: Wir dürfen keine Potenziale verschenken!

Mit einem Einwanderungsgesetz ist die Sache jedoch nicht getan. Wir müssen die Inhalte sowie den Geist eines solchen Gesetzes auch im Alltag leben. Hierzu gehören weltweite Werbemaßnahmen von Unternehmen und Politik. Unsere Botschaften im Ausland sollten Verkaufsstellen der „Deutschland AG“ werden.

Langzeitarbeitslosigkeit abbauen In Deutschland stagniert die Zahl der Langzeitarbeitslosen seit Jahren bei einer Million. Viele von diesen Menschen haben jahrelang nicht mehr gearbeitet. Es bedarf einer Kraftanstrengung, um sie langfristig wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Natürlich werden es nicht alle schaffen, trotzdem müssen wir es versuchen.

Bildungspolitik muss schwächere Jugendliche in den Blick nehmen Der Anteil der Geringqualifizierten ist in Deutschland seit Jahren konstant. Diese Personengruppe

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»Wir müssen qualifizierte Zuwanderung konsequent fördern.«

Die Hälfte der Langzeitarbeitslosen hat keine abgeschlossene Berufsausbildung und das muss der konkrete Ansatzpunkt sein. Mit Hilfe von individueller Betreuung müssen Langzeitarbeitslose qualifiziert und Schritt für Schritt an den Arbeitsmarkt herangeführt werden.

Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Die meisten Flüchtlinge werden nicht rasch in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gelangen. Diese Analyse ist wichtig, um keine überzogenen Erwartungen zu erzeugen. Das Potenzial für den deutschen Arbeitsmarkt ist vor diesem Hintergrund eine langfristige Herausforderung.

Flüchtlinge langfristig in den Arbeitsmarkt integrieren

Die vorgeschlagenen Maßnahmen machen deutlich, dass wir unsere eigenen Potenziale besser nutzen müssen. Diese werden jedoch nicht ausreichen und deshalb müssen wir qualifizierte Zuwanderung konsequent fördern. Nur auf diesem Wege wird Deutschland weiter wettbewerbsfähig und lebenswert bleiben. Genau deshalb muss es heißen: Jetzt handeln!

Viele Flüchtlinge sind hochmotiviert und wollen so schnell wie möglich arbeiten. Dieses Potenzial sollten wir nutzen und zeitnah mit der Förderung beginnen. Schwerpunkte müssen hierbei das Erlernen der deutschen Sprache sowie die berufliche Qualifizierung sein. Beide Punkte sind mühsam und zeitintensiv.

Kai Whittaker MdB ist seit 2013 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Rastatt. Er ist Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Dort ist er Experte für die Themen Hartz IV und Arbeiten 4.0.

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Dr. Hannes Weber

Die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme und die Problematisierung der Demografie

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und innovativ angegangen werden (etwa bei den Themen flexibler Renteneinstieg oder altersgerechtes Wohnen), ist richtig und notwendig.

Seit über 40 Jahren sterben in der Bundesrepublik jedes Jahr mehr Menschen als geboren werden, die Geburtenrate verharrt seit den 1970er Jahren so gut wie konstant weit unter dem bestandserhaltenden Niveau bei etwa 1,4 bis 1,5 Kindern pro Frau. Diese Bilanz sucht weltweit ihresgleichen. Zusammen mit einer im gleichen Zeitraum um zehn Jahren gestiegenen Lebenserwartung führt dies zu einem immer höheren Durchschnittsalter und einer auf natürlichem Wege schrumpfenden Bevölkerung. Dieser tiefgreifende demografische Wandel wird seit Jahrzehnten aus nahezu allen politischen Lagern von einem apokalyptischen Diskurs begleitet, der vor dem „Aussterben der Deutschen“, der „Vergreisung“ oder „Entvölkerung“ Deutschlands warnt.

Seniorenanstieg nicht „demografisch“ korrigierbar Weniger sinnvoll dagegen ist es, vermeintlich einfache „demografische“ Lösungen hierfür zu suchen. Versuche etwa, dem steigenden Seniorenanteil durch mehr Geburten oder mehr Zuwanderer zu begegnen, gehen größtenteils ins Leere. Heute kommen auf 100 Einwohner im Alter von 20 bis 65 Jahren etwa 34 Ältere über 65 Jahren. Dieser „Altenquotient“ wird sich laut Statistischem Bundesamt bis Mitte des Jahrhunderts fast verdoppeln und dann (gemäß Variante 1 der Prognosen) bei 60 liegen. Steigt die Geburtenziffer statt der von den Statistikern ange­ nommenen 1,4 auf 1,6 Kinder pro Frau, ergibt sich 2050 ein Altenquotient von 59, bei Verdopplung der Zuwanderung (von unterstellten 100.000 auf 200.000 netto pro Jahr) liegt der Wert bei 57. Eine nennenswerte Verjüngung ist in beiden Fällen folglich nicht zu erwarten. Das liegt zum einen an der deutschen Altersstruktur, die massiv von den „Babyboomern“ der 1950er und 1960er Jahre dominiert wird, deren Renteneintritt den Altenquotienten in den kommenden 20 Jahren in kaum zu korrigierendem Ausmaß in die Höhe schnellen lassen wird.

»Der tiefgreifende demografische Wandel wird von einem apokalyptischen Diskurs begleitet.« Viele der dabei geäußerten Befürchtungen sind allerdings einseitig übertrieben. Die Bevölkerungsprognose für Deutschland wurde in den vergangenen Jahren beispielsweise ständig nach oben korrigiert. Das Statistische Bundesamt erwartet in seiner jüngsten Bevölkerungsvorausberechnung bis 2050 einen moderaten Rückgang der Einwohnerzahlen auf (je nach zugrundeliegenden Annahmen) 72 bis 80 Millionen. Eine „Entvölkerung“ sieht anders aus – und die Prognosen wurden noch vor dem Anstieg der Flüchtlingszahlen ab Sommer 2015 veröffentlicht. Das Schrumpfen ist seither auf unabsehbare Zeit vertagt; selbst wenn die Nettozuwanderung auf 300.000 pro Jahr zurückgeht (und damit nur noch knapp über der von der CSU geforderten Obergrenze allein für Flüchtlinge liegt), wird die Bevölkerung bis Mitte des Jahrhunderts überhaupt nicht abnehmen.

Zudem hat gerade Zuwanderung langfristig relativ geringe Auswirkungen auf den Seniorenanteil, auch wenn sie aus überwiegend jüngeren Menschen besteht – denn aus diesen werden später natürlich zusätzliche Rentner, die ebenfalls von der steigenden Lebenserwartung profitieren, wodurch wiederum noch mehr jüngere Zuwanderer zum Ausgleich dieses neuerlichen Anstiegs benötigt würden. Schon im Jahr 2000 haben die Vereinten Nationen ausgerechnet, dass Deutschland die unrealistisch hohe Zahl von 183 Millionen Einwanderern benötigte, um bis 2050 den Altenquotient konstant zu halten. Kommt nur ein Zehntel dessen, was realistisch erscheint, wird die Integrationsfähigkeit vieler Städte und Kommunen, wo schon heute die Mehrheit der Kinder deutsch als Zweitsprache spricht, wahrscheinlich stärker beeinflusst als die relativen Rentnerzahlen.

Sicher ist, dass die Zahl der Senioren im Verhältnis zu den Jüngeren ansteigen wird. Das ist auf die zivilisatorischen Errungenschaften zurückzuführen, die einen heute geborenen Deutschen im Schnitt 80 Jahre leben lassen und nicht mehr 46 wie noch Anfang des vorigen Jahrhunderts. Dass die vielfältigen Herausforderungen, die dieses Luxus-„Problem“ eines langen Lebens für viele nach sich zieht, seit längerem diskutiert

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»In naher Zukunft könnten hunderttausende LKW-Fahrer, Kassierer, Lageristen oder Paketzusteller beschäftigungslos sein.«

Eine ebenfalls absurd hohe Geburtenrate wäre in den vergangenen Jahrzehnten vonnöten gewesen, um den Anstieg der über 65-Jährigen über die Kinderzahl auszugleichen. Dadurch werden zentrale Herausforderungen der Alterung (etwa bei der Pflege der dadurch nicht sinkenden Zahl an Hochbetagten) nicht gelöst und stattdessen entstehen Probleme an anderer Stelle.

Ärztenachwuchs, der ja rein zahlenmäßig vorhanden wäre, aber keinen Studienplatz findet, geht ins Ausland oder entscheidet sich für andere Fächer – wo, wie etwa in den Geistes- und Sozialwissenschaften, übrigens oft kein Fachkräftemangel bekannt ist, sondern tausende vornehmlich für die Forschung ausgebildete Postdoktoranden um wenige unbefristete Stellen konkurrieren.

Fachkräftemangel wird „demografisiert“

Ebenso war absehbar, dass die Erhöhung der Studienanfängerquote von 33% im Jahr 2000 auf 58% im Jahr 2014 den Ausbildungsbetrieben Nachwuchssorgen bereiten wird, die nicht mit einem grundlegenden Mangel an Menschen erklärbar sind. Zwar werden die nachrückenden Kohorten kleiner, aber seit der Wende sank auch die Anzahl der Lehrstellen um gut ein Sechstel.

Aber die „Demografisierung“ gesellschaftlicher Probleme bietet offenbar rhetorische Vorteile. Wird etwas „angesichts des demografischen Wandels“ konstatiert oder gefordert, entfallen oft scheinbar weitere Erläuterungen und Maßnahmen werden als alternativlos präsentiert. Damit macht man es sich zu einfach: Häufig stecken ganz andere Prozesse hinter im Zusammenhang mit der Demografie diskutierten Problemen, die folglich mit anderen als demografischen Mitteln zu lösen wären.

Heute nimmt jedoch der durchschnittlich begabte Schulabgänger ein Studium anstatt einer Ausbildung auf, was natürlich vor allem eine Verschiebung des Qualifikationsniveaus der für das duale System verfügbaren jungen Menschen zur Folge hat. Daher sank die Zahl der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Bewerber auf Lehrstellen in den vergangenen zehn Jahren letztlich viel stärker als die Zahl der jungen Menschen insgesamt.

Beispiel Fachkräftemangel: Ohne Zweifel drohen Engpässe, etwa bei der Zahl der niedergelassenen Ärzte, wenn die zahlreichen Mediziner aus der Babyboomer-Generation in den Ruhestand gehen. Aber das ist seit langem bekannt, und während die Bundesländer die Hochschulen massiv ausgebaut haben und die Studierendenzahl seit der Jahrtausendwende um 50% gestiegen ist, stagniert die Zahl der Studienplätze im Fach Medizin auf dem Niveau von 1993.

Droht Mangel an Erwerbstätigen? Ist die Bildungsexpansion deshalb schlecht? Auf lange Sicht sicher nicht, denn wahrscheinlich werden durch Automatisierung und Digitalisierung im niedrigqualifizierten Bereich in Zukunft immer weniger Arbeitskräfte benötigt.

Das hat vielfältige Gründe, von denen kaum einer mit Demografie zu tun hat. Der potenzielle

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wenn der Geburtenrückgang der vergangenen Jahrzehnte dort nicht stattgefunden hätte?

Daher sind auch Befürchtungen, dass durch einen zahlenmäßigen Rückgang der Erwerbsfähigen in Deutschland in Zukunft „zu wenige“ Arbeitskräfte zur Verfügung stünden, reine Spekulation.

Als weitere Folge der Akademisierung ziehen immer mehr Schulabgänger in Universitätsstädte – und nach dem Studium nicht mehr „aufs Land“ zurück, wo es für Akademiker kaum Arbeitsplätze gibt. Das steht ganz offensichtlich in keinerlei Zusammenhang mit dem „demografischen Wandel“, von dem es oft heißt, er „treffe“ diese oder jene Region ganz besonders stark. Im ländlichen Sachsen-Anhalt sind Geburtenrate und Lebenserwartung schließlich kaum anders als in München oder Frankfurt, wo niemand über leerstehende Wohnungen oder eine unterausgelastete Infrastruktur klagt. Bildungsexpansion, Strukturwandel in der Arbeitswelt und ein verändertes Mobilitätsverhalten (im In- sowie aus dem Ausland) sorgen für erheblich divergierende Entwicklungspfade verschiedener Regionen.

Schließlich führte der Rückgang der in der Landwirtschaft Beschäftigten von 5 Millionen um 1950 auf gut 600.000 heute auch nicht zu einem „Bauernmangel“. In naher Zukunft könnten hunderttausende LKW-Fahrer, Kassierer, Lageristen oder Paketzusteller beschäftigungslos sein. Schon geringe Produktivitätssteigerungen durch technischen Fortschritt genügten, um die zukünftige Rentenlast auch von weniger Schultern tragen zu können, wie etwa der Ökonom Thomas Straubhaar berechnete. Kurzfristig hilft diese Erkenntnis den Ausbildungsbetrieben natürlich nicht, die stattdessen unter neuen Zielgruppen (wie etwa Studienabbrechern) rekrutieren könnten.

Inwieweit man diesen unter den genannten Voraussetzungen entgegenwirken kann und sollte, ist diskussionswürdig. Beispielsweise erscheint es wenig plausibel, per Residenzpflicht für Flüchtlinge den demografischen Wandel in strukturschwachen Regionen bekämpfen zu wollen, aus denen die vormals vorhandenen jungen Menschen aufgrund eines Mangels an Ausbildungs- und Arbeitsperspektiven fortgezogen sind, der bei höheren Geburtenraten nicht anders wäre. Unter dem Mangel an Perspektiven leiden auch zwangsweise angesiedelte Neuankömmlinge – was sich beispielsweise an den höheren Arbeitslosenquoten von Zuwanderern in den neuen Bundesländern zeigt.

»In Südeuropa etwa findet schon heute jeder zweite junge Mensch keine Arbeit.« Es spricht aber vieles dafür, dass wir langfristig weniger, aber besser qualifizierte Erwerbstätige benötigen. Deshalb ist die Fixierung auf rein quantitative Kennwerte, die mit allen Mitteln konstant gehalten werden sollen, irrig. In Südeuropa etwa findet schon heute jeder zweite junge Mensch keine Arbeit – wie würde das wohl aussehen,

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Demografie-Debatte ohne längst widerlegte Floskeln führen

Diskurs in früheren Zeiten dominierten, scheiden heute größtenteils als Begründungsnarrative aus.

Die öffentliche Debatte über Demografie ist deshalb keinesfalls obsolet. Aber zum einen wäre es wünschenswert, über einige häufig wiederholte Scheinzusammenhänge, die in der Wissenschaft seit Jahrzehnten widerlegt werden, hinwegzukommen. Das betrifft etwa die demografischen Wirkungen der Zuwanderung, die häufig Gegenstand polemischer Diskussionen sind. Durch Migration lassen sich Deutschlands „demografische Probleme“ nicht lösen – andererseits kollabieren dadurch aber auch nicht die Sozialkassen.

Am ökonomischen Argument, ansonsten sei „unser Wohlstand nicht zu halten“, darf auf empirischer Grundlage gezweifelt werden. Studien, etwa des US-Demografen Ronald Lee, zufolge steigt der Pro-Kopf-Wohlstand bei niedrigen Geburtenraten und moderatem Bevölkerungsrückgang sogar: Vorhandenes Kapital, Infrastruktur und öffentliche Güter verteilen sich auf weniger Köpfe, Eltern stehen mehr (zeitliche und finanzielle) Ressourcen zur Verfügung, die sie in Humankapital (z.B. ihre Ausbildung) investieren, was zu Produktivitätssteigerungen führt.

»Durch Migration lassen sich Deutschlands "demografische Probleme" nicht lösen.«

Altern und Schrumpfen hätte einige positive Folgen Übersehen wird oft auch, dass die für bestimmte gesellschaftliche Gruppen zweifellos realen Herausforderungen der demografischen Entwicklung für andere von Vorteil sein können. Beispiel: Immobilienbesitzer leiden unter einer bei Bevölkerungsrückgang in der Regel sinkenden Nachfrage und deshalb fallenden Preisen – ganz anders sieht die Bewertung natürlich aus Sicht der Mieter aus.

Darauf weisen alle bislang verfügbaren Daten hin, wobei natürlich zwischen verschiedenen Herkunftsgruppen differenziert werden kann, die zum Teil unterschiedliche Kennzahlen aufweisen. Kurzfristig kann Zuwanderung den Arbeitsmarkt bereichern, vor allem, wenn sie primär in diesen erfolgt, ihr langfristiger Effekt auf den Erwerbstätigenanteil der Bevölkerung ist aber gering.

Arbeitgeber haben ein nachvollziehbares Interesse an einem konstant großen oder steigenden Reservoir potenzieller Angestellter – für Arbeitnehmer sollte es sich jedoch auszahlen, Lassalles „ehernes Gesetz“, wonach sie sich immer so stark vermehrten, dass die Löhne dank des Überangebots auf niedrigem Niveau verharren können, gebrochen zu haben.

Das ist insbesondere in der Flüchtlingsdebatte relevant, wo ja demgegenüber gerade kurzfristig häufig geringe Arbeitsmarktimpulse erwartet und eher langfristige demografische Effekte erhofft werden. Insofern muss man sich von der Vorstellung des Flüchtlingszuzugs als Deus ex Machina, der plötzlich und unerwartet die deutsche Demografie rettet, verabschieden, und es wäre stattdessen naheliegend, die Zuwanderungsdebatte zu „entdemografisieren“.

»Bevölkerungswachstum konterkariert Nachhaltigkeitsbemühungen.«

Zum anderen sollte erörtert werden, welche demografischen Zielzustände überhaupt für wünschenswert gehalten werden, damit klar ist, nach welchen Maßstäben Bevölkerungsentwicklungen bewertet oder gesteuert werden sollten. Muss die Einwohnerzahl unbedingt konstant bleiben oder steigen? Sind mehr Geburten wünschenswert, und falls ja, aus welchen Gründen? Nationalchauvinistisch und religiös motivierte Präferenzen für hohe Kinder- und Bevölkerungszahlen, die den

Auch für andere gesellschaftliche Bereiche sind die Folgen des Alterns mindestens ambivalent. Für die innere Sicherheit ist etwa sicherlich relevant, dass heute die 52-Jährigen die zahlenmäßig stärkste deutsche Kohorte stellen und nicht die bei Gewaltkriminalität, politischem Extremismus und Terror überproportional vertretenen jungen Männer zwischen 15 und 30.

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»Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hinkt in Deutschland im internationalen Vergleich immer noch hinterher.« Und schließlich konterkariert Bevölkerungswachstum Nachhaltigkeitsbemühungen in einem der am dichtesten besiedelten Länder der EU, das ein Vielfaches dessen an natürlichen Ressourcen konsumiert, was auf der Landesfläche hergestellt werden kann.

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hinkt in Deutschland im internationalen Vergleich immer noch hinterher. Diese zu verbessern erscheint in einer freiheitlichen Gesellschaft naheliegend, um Frauen und Männern die Möglichkeit zu geben, die individuell gewünschte Kinderzahl auch zu realisieren.

Zwar scheitert die Reduktion von CO2-Ausstoß, Fleischkonsum oder Biodiversitätsverlust nicht primär an marginalen demografischen Trends in Deutschland, die angesichts des globalen Bevölkerungswachstums zur Entwicklung des Weltklimas wenig beitragen, aber auch hierzulande ergeben sich konkrete Herausforderungen: Wie soll etwa die in der „Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie“ angestrebte Reduktion des Flächenverbrauchs – täglich wird in Deutschland das Äquivalent von 100 Fußballfeldern neu versiegelt und bebaut – je erreicht werden, wenn angesichts steigender Einwohnerzahlen dringend mehr Wohnungen und Verkehrsflächen benötigt werden?

Darüber hinaus spricht kaum etwas für wenig durchdachte pronatale und bevölkerungsexpansive Maßnahmen, die die zentrale Herausforderung des demografischen Wandels weitgehend unberührt lassen: Weder eine steigende Geburtenrate noch ein höheres Wanderungssaldo können den Anstieg des Altenquotienten infolge der Pensionierung der Babyboomer zwischen 2020 und 2035 spürbar beeinflussen – für den Mietpreisspiegel in München, die Verkehrssituation in Köln oder die Luftqualität in Stuttgart bleibt der zu erwartende Bevölkerungsanstieg dagegen wahrscheinlich nicht folgenlos.

Dr. Hannes Weber Dr. Hannes Weber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Tübingen. Er hat Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre studiert und mit einer Arbeit über Migration in Europa promoviert.

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Eva Rindfleisch

Jetzt aber richtig! Welche Antworten muss die Rentenpolitik auf den demografischen Wandel geben?

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Alterssicherungssystems die gesetzliche Rente weiterhin das einzige Einkommen im Alter – und dafür ist sie deutlich zu niedrig.

Fünf Millionen Euro, so viel Geld wollen die DGB-Gewerkschaften dieses und nächstes Jahr in ihre Rentenkampagne investieren. Das ist mehr Geld, als der größte Landesverband der CDU in seinen Landtagswahlkampf investiert. Eines hat allein die Ankündigung dieser Kampagne bereits geschafft: In Deutschland wird wieder über die Rente diskutiert. Und das tut dringend Not, denn 15 Jahre nach der letzten großen Rentenreform stellen sich viele Fragen.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir heute wieder über eine große Rentenreform diskutieren. Und diesmal müssen wir es richtig machen! Erfolg oder Misserfolg der nächsten Rentenreform wird sich dabei – davon bin ich überzeugt – daran messen, ob sie den Menschen nach einem langen Arbeitsleben eine anständige Rente garantieren kann.

2001 wurde unser Alterssicherungssystem zu einem Drei-Säulen-System umgebaut

Eines hat sich in den letzten 15 Jahren deutlich gezeigt. Wir tun gut daran, die gesetzliche Rente als erste und wichtigste Säule zu stärken und zukunftsfest zu machen. Denn allen Prognosen von 2001 zum Trotz steht sie sehr gut da, während die private und betriebliche Vorsorge durch die anhaltende Niedrigzinspolitik der Zentralbanken seit Jahren stark unter Druck ist. Eine sichere Altersversorgung ist ohne eine starke erste Säule nicht denkbar.

2001 hat die damalige Rot-Grüne Bundesregierung unter Arbeitsminister Walter Riester unser Alterssicherungssystem grundlegend umgebaut. Als Antwort auf die demografische Entwicklung wurde die Rentenformel um einen Nachhaltigkeitsfaktor ergänzt. Dieser berücksichtigt das aktuelle Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern. Die Folge ist, dass das Rentenniveau seither Stück für Stück abgesenkt wird. Derzeit liegt es bei knapp 48 Prozent.

Die Finanzierungsfrage ist wichtig, aber bei Weitem nicht die Wichtigste

»Nur ein kleiner Teil der Menschen sorgt betrieblich und privat vor.«

Der demografische Wandel stellt die gesetzliche Rente vor eine große Herausforderung. Wenn ab dem Jahr 2025 die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit – die sogenannte Babyboomergeneration – in Rente gehen, wird rund 30 Jahre lang die Anzahl der Rentner im Verhältnis zu den Arbeitnehmern deutlich ansteigen. Während heute im Schnitt zwei Arbeitnehmer mit ihren Beiträgen einen Rentner finanzieren, könnte sich das Beitragszahlerverhältnis auf 1:1 verändern. Die Reform von 2001 hat auf diese Finanzierungsfrage mit der Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors eine richtige Antwort gegeben. Er stärkt die Generationengerechtigkeit, denn er verhindert, dass die Arbeitnehmer durch stark steigende Beitragssätze über die Maßen belastet werden. Aber der Mechanismus wurde nicht zu Ende gedacht.

Das sichert viele Menschen vor Armut im Alter ab, aber es genügt bei weitem nicht dem Anspruch an eine Lebensstandard sichernde Rente. Das war auch der eingesetzten Riester-Kommission bewusst. Ihre Antwort war der Umbau des Alterssicherungssystems zu einem Drei-SäulenSystem. Die gesetzliche Rente soll seither nicht mehr allein für ein Lebensstandard sicherndes Auskommen im Alter sorgen, sondern zusammen mit der betrieblichen und privaten Vorsorge. Um die Zusatzvorsorge attraktiv zu machen, wurden staatliche Zuschüsse und Steuererleichterungen geschaffen. Soweit der Plan.

Die Arbeitnehmer müssen sich auf ein Mindestrentenniveau verlassen können

Heute wissen wir: Der Plan war gut, die Ausführung miserabel

Gerade die Altersvorsorge braucht einen langfristigen Ordnungsrahmen, an dem sich Unternehmen und Arbeitnehmer orientieren können. Die erwartete Höhe des gesetzlichen Rentenniveaus beeinflusst, ob und wieviel ein Arbeitnehmer zusätzlich vorsorgt.

Während das Rentenniveau für alle abgesenkt wurde, sorgt nur ein kleiner Teil der Menschen betrieblich und privat vor. Für die Mehrheit ist jedoch auch 15 Jahre nach dem Umbau des

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»Die gesetzliche Rente vieler gut ausgebildeter Fachkräfte wird niedriger sein als die Grundsicherung.« Die nächste Rentenreform muss deshalb eine Antwort geben, wie wir die Lebensleistung von Menschen mit kleinen Renten über Freibeträge oder Zuschüsse besser anerkennen können.

Genauso wollen Unternehmen wissen, mit welchen Lohnnebenkosten sie rechnen müssen. Die Riester-Kommission hat diesen sozialen Ordnungsrahmen zunächst gegeben: Bis 2029 legt das Gesetz fest, dass der Gesetzgeber einschreiten muss, falls das Rentenniveau unter 43 Prozent sinkt. Für die Zeit nach 2030 fehlt diese Klausel und damit jegliche Orientierungsgröße für die heutigen Arbeitnehmer. Hier muss dringend nachgebessert werden. Ein gesetzliches Mindestrentenniveau und eine maximale Höhe der Beitragssätze sind der Ordnungsrahmen, durch den der Nachhaltigkeitsfaktor erst zu einer guten und richtigen Antwort werden kann.

Wir tun immer noch so, als wäre betriebliche und private Vorsorge optional Eines ist aber auch klar: Freibeträge oder Zuschüsse sind nur ein Reparaturbetrieb. Die Tatsache, dass wir darüber diskutieren müssen, zeigt eigentlich nur, wie unfertig die Reform von 2001 war.

»Freibeträge oder Zuschüsse sind nur ein Reparaturbetrieb.«

Grundsicherung ist keine Rente, sondern Almosen Eine zweite Frage wird aber auch ein Mindestrentenniveau nicht restlos lösen können. Bei einem Rentenniveau von deutlich unter 50 Prozent wird es in Zukunft mehr Menschen geben, die, obwohl sie viele Jahre in die gesetzliche Rente eingezahlt haben, keine Rente oberhalb des Grundsicherungsniveau erreichen werden. Im Jahr 2030 muss ein Durchschnittsverdiener dafür rund 30 Jahre Beiträge gezahlt haben. Verdient er nur 70 Prozent des Durchschnitts, sind es bereits mehr als 40 Jahre. Viele gut ausgebildete Fachkräfte werden dazu gehören: Krankenschwestern, Streifenpolizisten, Erzieherinnen, viele Bürokräfte. Ihre gesetzliche Rente wird dann niedriger sein als die Grundsicherung. Die Menschen erwarten meiner Meinung nach zu Recht von einem funktionierenden Alterssicherungssystem, dass eine solide Ausbildung, Fleiß und harte Arbeit zuverlässig vor dem Bezug von Grundsicherung schützen.

Faktisch wurde die betriebliche und private Vorsorge damals von einem Zusatz zu einem festen Bestandteil: Arbeitnehmer, die neben ihren Rentenbeiträgen keine Betriebsrente haben, die keine private Vorsorge betreiben, werden im Alter ihren Lebensstandard bei weitem nicht halten können. Dennoch überlassen wir es der Entscheidung jedes Einzelnen, Vorsorge zu betreiben oder nicht. Hier liegt einer der größten Defizite der Reform von 2001. Wenn wir es ernst meinen mit dem Drei-Säulen-Modell, dann müssen wir die Attraktivität und die Verbindlichkeit in der kapitalgedeckten Vorsorge erhöhen. Wenn sie nötig ist für eine auskömmliche Rente im Alter, dann darf sie nicht optional sein, sie muss obligatorisch werden!

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höher es liegt, desto mehr Menschen werden es aus gesundheitlichen Gründen nicht erreichen.

Eine armutssichere Erwerbsminderungsrente ist Teil der Antwort auf die steigende Lebenserwartung

Deshalb brauchten wir eine Erwerbsminderungsrente, die den Menschen das Vertrauen gibt, dass sie nicht in die Armut rutschen, falls sie aus gesundheitlichen Gründen aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Sie ist ein unentbehrlicher Teil der Antwort auf die steigende Lebenserwartung.

2007 hat die damalige große Koalition mit der monatsweisen Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre eine richtige Antwort auf die steigende Lebenserwartung gegeben. Die Menschen werden älter und sie gewinnen gesunde Lebensjahre.

2007 wurde dieser Teil der Antwort nicht gegeben. Heute ist jeder zweite Bezieher von Grundsicherung im Alter erwerbsgemindert. Die nächste Rentenreform muss deutliche Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente bringen!

Es ist richtig, dass jeder Arbeitnehmer einen Teil der gewonnenen Zeit erwerbstätig ist. Aber auch diese Reform ist unvollständig. Sie verkennt, dass die Menschen unterschiedlich altern, und je älter sie werden, desto größer werden die Unterschiede. Es gibt Frauen, die mit 68 Jahren für die Präsidentschaft der USA kandidieren, und es gibt Frauen, die mit 68 Jahren kaum noch ihre Einkäufe in den dritten Stock tragen können. Das Renteneintrittsalter aber gilt im Zweifel für beide. Umso

Die Rentenreformen seit 2001 haben viele Weichen gestellt und Teilantworten auf den demografischen Wandel gegeben. Wir haben heute die Chance, Angefangenes zu beenden, und wir haben die Pflicht, es diesmal richtig zu machen!

Eva Rindfleisch Eva Rindfleisch ist seit Anfang des Jahres Hauptgeschäftsführerin der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA). Zuvor war die 30-jährige Volkswirtin Koordinatorin für Arbeitsmarkt und Sozialpolitik bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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JĂźrgen Liminski

Wahlfreiheit und Leistungsgerechtigkeit Parameter einer modernen Familienpolitik Windungen und Wendungen in der Union Die wirklichkeitsferne Leitfunktion der Medien

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Die Geburtenrate in Deutschland ist in den letzten zwei Jahren leicht gestiegen. Die Familien­ ministerin überlegte nicht lange, um den Grund für die gestiegenen Geburtenzahlen zu nennen: Die Krippenoffensive zeitige ihre Früchte. Diese Offensive hatten ihre Vorgängerinnen Schmidt (SPD) und von der Leyen (CDU) begonnen.

utilitaristische Lektion“ gelernt hätten und die „Vor-und Nachteile von Elternschaft“ samt ihrer „schweren persönlichen Opfer“ gegen den „Verlust an Behaglichkeit, an Sorgenfreiheit und Möglichkeiten, anderes zu genießen“ abwägen, dann, so Schumpeter, würde ihnen bewusst, dass Kinder sich nicht lohnen.

In dasselbe Horn stoßen eilfertig manche Wissenschaftler, natürlich auch Journalisten, und auch in der großen Koalition finden sich Politiker, die vor allem auf diese Begründung verweisen. Manuela Schwesig und ihre Anhänger und Kollegen hätten besser etwas länger nachgedacht.

Wirtschaftlich geht es den meisten Deutschen heute sehr gut, die Rahmenbedingungen stimmen. Krippen spielen dabei auch eine gewisse Rolle, keinesfalls aber die entscheidende. Und diese Rahmenbedingungen sind nicht so stark motivierend, dass es zu einer Trendwende kommen könnte. Dafür geht es den Deutschen zu gut, die Verluste oder Opportunitätskosten sind Vielen zu hoch.

Denn die Krippenoffensive begann vor mehr als zehn Jahren und man fragt sich: Warum sind dann die Geburtenzahlen nicht schon früher gestiegen? Es hätte doch auffallen können, dass es in Ostdeutschland schon immer flächendeckend Krippen gab und dennoch jahrzehntelang die Geburtenzahlen nicht stiegen.

»Familienpolitik heute ist materialistisch: Sie richtet sich an den Erfordernissen der Wirtschaft aus.«

Weiter hätte man entdecken können, dass die deutschen Frauen kaum mehr Kinder bekamen – ihre Geburtenrate stieg von 1,42 auf 1,43 –, die Geburtenrate der Migrantinnen aber kletterte deutlich von 1,86 auf 1,96. Es sind indes gerade Frauen mit Migrationshintergrund, die ihre Kinder nicht in die Krippe schicken. Das sind gleich drei Widersprüche – etwas viel auf einmal.

Das mag ein materialistischer, um nicht zu sagen, ein hedonistischer Ansatz sein. Aber Familienpolitik heute ist materialistisch! Sie richtet sich vor allem an den Erfordernissen der Wirtschaft aus und deshalb kann man sich eigentlich wundern, dass die Deutschen zwar insgesamt zu wenig, aber überhaupt noch so viele Kinder bekommen. Das Elterngeld ist Lohnersatz und die Krippenoffensive diente nur dazu, Kinder zu „parken“, damit die jungen Mütter einem Erwerbsberuf nachgehen können.

Das „demografisch-ökonomische Paradoxon“ Aber wen stört das? Die Widersprüche werden medial nicht wahrgenommen, also kann man mit ihnen leben. Außerdem müsste man andere Begründungen suchen – und das könnte peinlich werden. Denn vielleicht käme man dann zu dem Schluss, dass die wirklichen Gründe für mehr oder weniger Geburten schlicht in dem liegen, was der Demograf Herwig Birg das „demografisch-ökonomische Paradoxon“ nennt. Das besagt: Je besser es den Leuten geht, umso weniger Kinder bekommen sie. Die Geburtenrate pendelt sich dann auf einem relativ niedrigen Niveau ein und steigt leicht, wenn in den Lebensverhältnissen Verlässlichkeit herrscht, z.B. durch einen sicheren Arbeitsplatz oder bei einer stabilen Partnerschaft.

Über Qualität in den Krippen zum Beispiel wurde weder damals noch später nachgedacht. Vorbild war Schweden. Dort gab es auch Elterngeld und Krippen. In Finnland dagegen gibt es auch ein Betreuungsgeld und siehe da: Auch in Krisenzeiten (2008 und danach) blieb die Geburtenquote in Finnland konstant, während sie in Schweden sank. Wenn die Konjunktur verflacht und der Arbeitsmarkt schwächelt, was auch in Deutschland passieren kann, dann zählt eben das, was man sicher hat: Familie und das notwendige Einkommen für die Erziehungsleistung in der Familie. Übersetzt in die Politikersprache heißt das: Wenn die Eltern echte Wahlfreiheit haben, dann bekommen sie auch (mehr) Kinder.

Dieses Paradoxon hatte vor 67 Jahren schon der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter beschrieben. Sobald Männer und Frauen „die

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werden Eltern, die ihre Kinder unter drei Jahren selbst und freiwillig erziehen wollen, diskriminiert – zugunsten von Eltern, die dies „unfreiwillig“ tun, weil sie momentan keiner Arbeit in einem Erwerbsberuf nachgehen können.

Wahlfreiheit und Leistungsgerechtigkeit Wahlfreiheit bedeutet: Die Erziehungsleistung wird anerkannt. Das geschieht in Dänemark, in Finnland, in Frankreich. In diesen Ländern gibt es eine Art Erziehungslohn, man könnte auch sagen ein Erziehungsgeld oder ein Betreuungsgeld. Und es gibt deutlich mehr Kinder als in Deutschland.

Die Folgen dieses Urteils sind nicht absehbar. Fest steht heute, dass die freiwillige und, wie Hirn- und Bindungsforschung belegen, auch vernünftige und eigentlich mit dem Grundgesetz in Artikel 6 („zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“) konforme Erziehungsleistung der Eltern nicht honoriert wird. Währenddessen soll die gleiche Arbeit, wenn sie unfreiwillig geleistet wird, „entschädigt“ werden. Als ob das Kümmern um Babys und das Erziehen von Kleinkindern eine menschenunwürdige Zwangsarbeit wäre. Kann man hier noch von Wahlfreiheit, von der Wahl zwischen zwei gleichen Gütern, sprechen?

Natürlich kann man über den inhaltlichen Unterschied zwischen Erziehung und Betreuung trefflich streiten. Beide Zuwendungen aber erkennen die Leistung der Eltern an, die in der Erziehung und der Betreuung der Kinder besteht. Das Bundesverfassungsgericht nennt diese Leistung im Pflegeurteil den „generativen Beitrag“ der Eltern zum Erhalt der sozialen Umlagesysteme (z.B. Rente, Pflege, Krankenkasse). Und damit nennt es auch die zweite Säule jeder Familienpolitik, die nicht nur die Gegenwart mit den Bedürfnissen der Wirtschaft sondern auch die Zukunft der gesamten Gesellschaft im Blick hat: Die Leistungsgerechtigkeit.

Dieses Urteil steht außerdem im Gegensatz zum Betreuungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, das eben genau diese Wahlfreiheit fordert. Es verlangt, dass wenn der Staat in die öffentliche Betreuung investiere, er auch gehalten sei, gleichermaßen in den Privatsektor zu investieren. Auf diese Forderung ist schließlich auch das Betreuungsgeld zurückzuführen, das Karlsruhe im vergangenen Jahr nicht in der Sache als verfassungswidrig bezeichnet, sondern es nur in die Kompetenz der Länder verwiesen hat, weshalb in Bayern heute auch ein solches Betreuungsgeld als Anerkennung für die Erziehungsleistung gezahlt wird.

»Wahlfreiheit, Leistungsgerechtigkeit und Bevölkerungspolitik bedingen einander.« Zu Wahlfreiheit und Leistungsgerechtigkeit gesellt sich noch eine dritte Säule, so wie es andere Länder tun, die sich nicht immer ängstlich nach dem Schatten der Geschichte umschauen: Bevölkerungspolitik. Tatsächlich hängen alle drei Säulen zusammen und bedingen einander. Wer die beiden ersten berücksichtigt, beeinflusst damit auch die Bevölkerungspolitik. Wer die Leistungsgerechtigkeit außer Acht lässt, macht Almosen- und/oder Klientelpolitik und engt die Wahlfreiheit ein. Das geschieht derzeit in Deutschland mit der einseitigen Orientierung auf mehr Krippenplätze. Dahinter taucht ein staatlich gelenktes Gesellschaftsmodell auf, die Bevormundung der Eltern.

Medien und Familien-Welt Die BGH-Richter sind offensichtlich nicht der Linie des Bundesverfassungsgerichts gefolgt, sondern dem Mainstream oder der veröffentlichten Meinung. Diese ist familienindifferent bis familienfeindlich. Das mag daran liegen, dass 70 Prozent der Journalisten kinderlos sind und die Institutionen Ehe und Familie gesellschaftliche Ordnungsfaktoren sind, die die meisten Journalisten mit ihrem Selbstverständnis nicht in Übereinstimmung bringen können. Dieses Selbstverständnis kann man als praktischen Nihilismus beschreiben. Hinzu kommt, dass die Thematik Ehe und Familie nicht karrierefördernd ist, weshalb sie meist Volontären oder kurz vor der Rente stehenden Kollegen anvertraut wird.

Selbst die Justiz folgt diesem Denken. Ein kürzlich gefälltes Urteil des BGH billigt Eltern einen Schadenersatzanspruch zu, wenn der Staat die Erziehung nicht übernimmt, bzw. die Kommune keinen Krippenplatz zur Verfügung stellt. Hier

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»Die veröffentlichte Meinung ist familienindifferent bis familienfeindlich.«

Das Ergebnis ist, dass der Mainstream über eine Familienwelt berichtet, die unter Medienleuten so bestehen mag (konfliktiv, kinderlos oder kinderchaotisch, randgruppenorientiert), die aber der Wirklichkeit nicht entspricht. So wird man beispielsweise nur höchst selten bestimmte Daten des Statistischen Bundesamtes lesen, wonach sieben bis acht von zehn Paaren in Ehe leben, was den hohen Stellenwert der Ehe in der Bevölkerung anzeigt; oder dass drei von vier Kindern bei ihren beiden verheirateten und leib­ lichen Eltern leben. Dagegen liest man viel über Kinder bei gleich­ geschlechtlichen Paaren oder über Allein­ erziehende oder über Patchworkfamilien oder über Alleinstehende. Das ist auch die Welt der Medien. Da die meisten Politiker ihr Familienbild aus den Medien beziehen und sich die Medien nicht zum Gegner machen möchten, richten sie ihre Familienpolitik an der veröffentlichten Meinung und nicht an der wirklichen öffentlichen Meinung aus. Eine kleine Wendung in der Familienpolitik Eine sachgerechte Maßnahme kommt nun von CDU-Bundesvize und CDU-NRW-Chef Armin Laschet: Er macht sich für eine Eigenheimförderung stark. Es gehört schon ein wenig Mut dazu, der Deutschen Presse-Agentur (dpa) zu sagen, es dürfe nicht um Randgruppen oder Sonderwünsche gehen und: „Wir müssen uns endlich intensiv mit Lösungen für die Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft beschäftigen“. Denn viele Eltern fühlten sich mit den Kosten für Kinder allein gelassen.

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»Das neue Baukindergeld bedeutet eine kleine Wendung in der Familienpolitik.« In der Sache bedeutet das neue Baukindergeld eine kleine Wendung in der Familienpolitik. Denn der Paradigmenwechsel in der Familienpolitik in der ersten Regierung Merkel bestand darin, dass man der SPD folgte und Familie nicht mehr als Institution wahrnahm, sondern nur noch die Einzelpersonen im Blick hatte, um die sich der Staat kümmern sollte. Man betrieb Familienmitgliederpolitik.

um zwei Jahre und kippte das Erziehungsgeld, das nur wegen des Widerstands der Sozialpolitiker als Sockelbetrag im Elterngeld für ein Jahr erhalten blieb. Noch heute glaubt das medial-politische Establishment in Berlin, das Vorbild junger Familien wären die Vollzeit-Doppelverdiener-Eltern. Aber das war mal. Der Wunsch, das Modell junger Familien heute heißt: ein Elternteil Vollzeit, ein Elternteil Teilzeit und die Teilzeit in Funktion des Erziehers der Kinder. Auch das lässt sich statistisch belegen. Wenn es Laschet und seiner NRW-CDU gelingt, das Baukindergeld durchzusetzen, wäre das ein Schritt zu mehr Wahlfreiheit und Leistungsgerechtigkeit für Familien, es würde die Wahl des Wunschmodells erleichtern. Es wäre auch eine Abgrenzung von der SPD, der Beginn einer eigenständigen Familienpolitik.

Mit dem Baukindergeld rückt jetzt die Familie als solche wieder in den Blick. „Wir wollen jungen Familien die Bildung von selbst genutztem Wohneigentum finanziell erleichtern“, sagt der Fraktionsvize der Union im Bundestag, Ralph Brinkhaus. Und Laschet fügt hinzu: „Mit den jungen Familien wird die Mitte der Gesellschaft auch wieder in die Mitte der CDU-­Politik gerückt“, für die CDU als bürgerliche Partei müsse die Familie im Fokus stehen. Außerdem sei Wohneigentum auch eine gute Form der Altersvorsorge, sie gebe den Familien Freiraum und Sicherheit. In der Tat, das Baukindergeld schafft ein Stück soziale Stabilität. Das sei „nachhaltiger als das Versprechen sozialpolitischer Wohltaten durch Blender von links und rechts“.

Wenn die CDU sich dann auch noch durchringen könnte, die Urteile des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen und beispielsweise den „generativen Beitrag“ nicht nur bei der Pflege, sondern auch bei der Rente durchzusetzen, so wie es übrigens die gesellschaftspolitische Kommission unter Laschet gefordert und der letzte Bundesparteitag der CDU generell auch beschlossen hatte, – dann könnte man in Deutschland wieder von einer veritablen und gesamtdurchdachten CDU-Familienpolitik reden.

Diese Blender gab es jahrzehntelang auch in der CDU. Man lobte die Familie und strich ihr die Eigentumsförderung, verkürzte das Kindergeld

Jürgen Liminski ist Publizist und Geschäftsführer des Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie (www.i-daf.org). Er war lange Moderator beim Deutschlandfunk und Ressortleiter Außenpolitik bei der WELT und bedient heute regelmäßig drei Millionen Leser.

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Prof. Dr. Winfried Kluth

Der Sozialstaat und das Versprechen von Generationengerechtigkeit

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Die Zugehörigkeit zu einer Generation soll nicht zu Benachteiligungen führen. Darauf zielt das Konzept der „Generationengerechtigkeit“ ab, das vor allem John Rawls und Hans Jonas in ihren grundlegenden Werken zu Gerechtigkeit und Verantwortung entwickelt haben. Es schließt sowohl Fragen sozialer Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Generationen innerhalb gleicher Lebenszyklen (intratemporale Generationengerechtigkeit) als auch in einer Langfristperspektive (intertemporale Generationengerechtigkeit) ein.

Zum theoretischen Rahmen der Debatte Es war auch dieser Zeitraum, der zu einer Neubelebung der politischen Philosophie führte und durch die erwähnten Arbeiten von Rawls und Jonas ein breites Interesse an Fragen der Generationengerechtigkeit auslöste, die auch die politische Diskussion beeinflussten. Zugleich haben sich die Rechtswissenschaft und die Gesetzgebung der Thematik angenommen. Dabei ist zwischen der allgemeinen verfassungsrechtlichen Diskussion, die durch die Nachhaltigkeitsdiskussion im Umweltrecht und die Rentendebatte vor dem Hintergrund des demografischen Wandels geführt wird, und der Diskussion in Spezialrechtsgebieten wie dem Gesundheitsrecht, dem Erbrecht und Finanzrecht (Schuldenbremse) zu unterscheiden.

»Die Zugehörigkeit zu einer Generation soll nicht zu Benachteiligungen führen.«

Sowohl im theoretischen Diskurs als auch in der praktischen Anwendung stehen Fragen der Generationengerechtigkeit in einem engen Zusammenhang mit Fragen der Nachhaltigkeit. Dabei wird vor allem die These formuliert, dass das politische System in stärkerem Maße auf die Berücksichtigung der Langzeitfolgen von aktuellen Entscheidungen ausgerichtet werden muss. Damit werden auch Forderungen nach Verfassungsreformen verbunden (zum Beispiel Familienwahlrecht, Staatsziel Nachhaltigkeit/Generationengerechtigkeit, Nachhaltigkeitsrat).

Soziale Gerechtigkeit bezieht sich dabei auf Interessen- und Anspruchskonflikte im Hinblick auf knappe Ressourcen und damit verbundene Lebens­­chancen. Die Gerechtigkeitstheorien stellen Beurteilungs- und Entscheidungskriterien zur Verfügung, die bei der Lösung von Verteilungskonflikten herangezogen werden können. Generationengerechtigkeit – kein neues Thema Der Kerngedanke der Generationengerechtigkeit ist altbekannt und war im Laufe der Geschichte immer wieder Gegenstand von Kontroversen und Gestaltungsvorschlägen. Der Leitgedanke, dass es der Kindergeneration besser gehen solle, war z.B. ein das Bemühen um individuellen und gesellschaftlichen Fortschritt motivierender Gedanke, dem die Feststellung zugrunde lag, dass die gegenwärtigen Bedingungen unzureichend und ungerecht sind.

Da das Rechtssystem nur in begrenztem Umfang in der Lage ist, Gerechtigkeitskriterien selbst zu entwickeln und zu begründen, ist es vor allem in Bezug auf die soziale Gerechtigkeit auf die Übernahme von Konzeptionen und Kriterien der politischen Philosophie angewiesen. Dort wird heute davon ausgegangen, dass für die einzelnen „Lebenssphären“ unterschiedliche Gerechtigkeitskriterien zur Anwendung zu bringen sind („Sphären der Gerechtigkeit“). So soll der staatlich-politische Bereich durch einen formalen Gleichheitsgrundsatz, der Bereich der Wirtschaft durch den Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit, der Bereich des Sozialen und Familiären durch den Grundsatz der Bedürfnisgerechtigkeit geprägt werden. Diese Zuordnung sowie die detaillierte Ausgestaltung der Grundsätze sind gleichwohl heftig umstritten. Dies wirkt sich auch auf das divergente Verständnis von Generationengerechtigkeit aus.

Auch lässt sich in vielen älteren kulturellen Praktiken der Gedanke nachweisen, dass mit Ressourcen sparsam und schonend umzugehen ist, damit künftige Generationen diese nutzen können. Das bezieht sich auch aber nicht nur auf die Land- und Forstwirtschaft. Es war vor allem der Einbruch des Industriezeitalters, der solche Orientierungen durch ein nahezu unbegrenztes Vertrauen auf Fortschritt und Produktivität verdrängt hat. Erst das seit Beginn der siebziger Jahre wachsende Umweltbewusstsein hat insoweit zu einem Umdenken geführt.

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den Gesetzgeber dazu verpflichtet, eine soziale Gesellschaftsordnung zu verwirklichen und dabei auch die Interessen künftiger Generationen zu berücksichtigen.

Was sagt das Verfassungsrecht? Der Begriff der Generationengerechtigkeit taucht im Text des Grundgesetzes wörtlich nicht auf, wird in der Sache aber vor allem an drei Stellen angesprochen:

Keine direkte Verankerung findet die Generationengerechtigkeit nach herrschender Meinung in der Verfassungsrechtswissenschaft im allgemeinen Gleichheitssatz des Artikel 3 Absatz 1 GG, da dieser nicht in der Zeit wirkt und dem parlamentarischen Gesetzgeber das Recht zur sozialen Veränderung einräumt. Eine Pflicht zur Gleichbehandlung der verschiedenen Generationen in der Zeit besteht deshalb grundsätzlich nicht.

Am deutlichsten in Artikel 20a (Staatsziel Umwelt- und Tierschutz), der explizit von der „Verantwortung für die künftigen Generationen“ spricht. Aus dieser Vorschrift folgt eine Pflicht vor allem des Gesetzgebers, die Langzeitfolgen seiner Regelungen aber auch der privaten, ressourcenbezogenen Entscheidungen und Maßnahmen zu ermitteln und so zu berücksichtigen, dass zukünftige Generationen eine hinreichende Lebensgrundlage vorfinden. Zwar ist damit kein absolutes Verschlechterungsverbot verbunden. Ein Abbau von Schutzstandards muss aber genau begründet werden.

Blick auf Einzelthemen Die gesetzliche Rentenversicherung, die auf der Finanzierung in einem Umlagesystem beruht (die derzeit arbeitende Generation finanziert die Rente der im Ruhestand befindlichen Generation), hat unmittelbare Auswirkungen auf die Generationengerechtigkeit. Dies wird auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass hier von einem (fiktiven) Generationenvertrag gesprochen wird. Die einzelnen Gerechtigkeitsbeziehungen zwischen den Generationen innerhalb des Rentensystems können anhand von Beispielen in der Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung verdeutlicht werden:

Ohne textliche Bezugnahme auf die Generationengerechtigkeit wird in Artikel 115 Absatz 2 GG die sogenannte Schuldenbremse normiert. Sie soll verhindern, dass die heutige Schuldenaufnahme die Gestaltungsmöglichkeiten künftiger Generationen nicht unangemessen beschränkt.

»Die Generationengerechtigkeit ist auch im Sozialstaatsprinzip zu verorten.«

(1) Die Rentenversicherung war ursprünglich nur als Mindestsicherung konzipiert und führte zu Altersarmut. Erst durch die große Rentenreform des Jahres 1956/57 wurde das Leitbild der Lebensstandardsicherung eingeführt, das darauf abzielte, mit der Rente den während des Erwerbslebens erarbeiteten Lebensstandard auch im Alter zu sichern.

Für den Bereich des Erbrechts wird durch dessen institutionelle Garantie in Artikel 14 Absatz 1 GG eine sachliche Vorgabe getroffen, die einerseits explizit von der durch John Rawls entwickelten Forderung abweicht, das Vererben von Vermögen zu untersagen oder zumindest stark zu beschränken, weil dadurch am stärksten die ungleichen Startbedingungen der neuen Generationen beeinflusst werden. Andererseits hat das Grundgesetz durch die Betonung der Sozial­bindung und die Pflicht zur gleichmäßigen Besteuerung von Erbschaften immerhin Handlungsspielräume eröffnet, von denen der Gesetzgeber bislang aber nur moderat Gebrauch gemacht hat.

(2) Zugleich sollte durch die Orientierung der Höhe der Renten an der Einkommensentwicklung der Erwerbstätigen der Rentnergeneration die Teilhabe am Wohlstandsfortschritt insgesamt ermöglicht werden. (3) Um die Belastung der Erwerbstätigen durch die Beiträge zur Rentenversicherung zu begrenzen, die auf Grund der sinkenden Zahl der Erwerbstätigen bei gleichzeitigem Anstieg der Zahl der Rentenempfänger gestiegen sind, wurde umgekehrt die Rentenhöhe nach unten angepasst und das Renteneintrittsalter angehoben.

In der Sache ist die Generationengerechtigkeit zudem im Sozialstaatsprinzip zu verorten, da diese Bestimmung des Staatsziels insbesondere

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»Der Begriff der Generationengerechtigkeit taucht im Text des Grundgesetzes wörtlich nicht auf.«

(4) Zudem wurde die Pflicht zur Eigenvorsorge für das Alter erhöht und diese staatlich gefördert (Riester-Rente). Diese Maßnahmen dienten jeweils dem Interes­ senausgleich zwischen der Generation der Erwerbstätigen und der Rentner und sollten gleichzeitig eine annähernde Gleichbehandlung beider Gruppen über die Zeit hinweg ermöglichen. Wir wissen heute, dass die meisten Menschen dem Appell zur Eigenvorsorge nicht oder nur unzureichend nachgekommen sind und dass durch die Entwicklung auf den Finanzmärkten die Eigenvorsorge ebenso wie die betriebliche Vorsorge erschwert wurden. Es wäre aber falsch, deshalb den beschrittenen Weg zu verlassen und die Belastung künftiger Generationen von Erwerbstätigen bei der Rentenpolitik wieder aus dem Blick zu verlieren. Innerhalb von Familien sind die Generationenbeziehungen besonders deutlich ausgeprägt, da hier die umfangreichsten Transferleistungen zwischen Generationen erbracht werden. Aus der Perspektive des politischen und rechtlichen Systems stellt sich die Frage, wie diese Leistungen zu „würdigen“ sind, wenn nur noch ein Teil der Bürger Familien gründet und damit in die Zukunft des Gemeinwesens investiert.

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»Wir wissen heute, dass die meisten Menschen dem Appell zur Eigenvorsorge nur unzureichend nachgekommen sind.« Dieser Befund hat eine intensive Diskussion über eine spezifische Familiengerechtigkeit im Steuersystem und in den Systemen der sozialen Sicherung ausgelöst. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung zur gesetzlichen Pflegeversicherung verlangt, dass die Erziehungsleistungen von Familien bei der Bemessung der Beiträge zu berücksichtigen sind. Das gleiche gilt für die Anrechnung von Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung.

wenige konkrete Impulse ausgehen und auch bei der Generationengerechtigkeit der Streit über die zutreffenden „Kriterien der Gerechtigkeit“ im Vordergrund steht, der durch ein abstrakt formuliertes Staatsziel gerade nicht entschieden wird. Welche zusätzlichen Probleme verursacht der demografische Wandel? Durch die Auswirkungen des demografischen Wandels in den verschiedenen Bereichen der Systeme sozialer Sicherung kommt der Generationengerechtigkeit sowohl in der politischen Debatte als auch in der rechtlichen Bewertung eine wachsende Bedeutung zu. Dabei steht die gesetzgeberische Gestaltung im Vordergrund, da aus der Verfassung nur sehr wenige allgemeine Vorgaben abgeleitet werden können.

Brauchen wir ein weiteres Staatsziel? Um die Berücksichtigung der Belange der Generationengerechtigkeit in der Politik und Gesetzgebung stärker zu verankern, haben 36 junge Bundestagsabgeordnete aus den vier Fraktionen CDU/ CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP im Jahr 2006 vorgeschlagen, Generationengerechtigkeit als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern:

Der demografische Übergang ist seinerseits in seinen strukturellen Wirkungen zeitlich begrenzt. Er zwingt auch nicht dazu, um jeden Preis eine bestimmte Bevölkerungszahl zu wahren. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch, für den Übergangszeitraum die zu erwartenden Lasten fair zu verteilen. Nur so wird auch die Bereitschaft weiter wachsen, durch die Gründung von Familien zu einem neuen Wachstum beizutragen und die Vitalität der Gesellschaft zu sichern.

„Artikel 20b [Generationengerechtigkeit] Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künftiger Generationen zu schützen.“ Dieser Vorschlag fand aber keine parlamentarische Mehrheit. Gegen ihn spricht zudem, dass von einer derart allgemeinen Formulierung zu

Prof. Dr. Winfried Kluth ist Inhaber einer Professur für Öffentliches Recht an der Universität Halle-Wittenberg und forscht unter anderem zu Themen der Daseinsvorsorge, der Migration und des demografischen Wandels.

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Prof. Dr. Steffen KrĂśhnert

Stadt und Land driften auseinander Helfen kann ein innovativer Umgang mit dem Einwohnerschwund – und Zuwanderung

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können die gesellschaftlichen Auswirkungen demografischer Veränderungen verstärken – und mildern.

Die öffentliche Diskussion um den demografischen Wandel hat in den vergangenen 15 Jahren viele emotionale Nuancen des Themas ausgelotet. In den Nullerjahren grassierten düstere Szenarien von Deutschlands Zukunft. Sie passten in jene Zeit, litt die Bundesrepublik doch 2005 unter der höchsten Arbeitslosenquote ihrer Geschichte und wurde in den Jahren 2008 und 2009 sogar zum Auswanderungsland. Das alternde Land schien immer ärmer und unattraktiver zu werden und der demografische Wandel wurde dafür mitverantwortlich gemacht.

Der Leerstand von Einzelhandelsgeschäften, den man heute vielerorts in ländlichen Kleinstädten und Gemeinden beklagt, beruht nicht allein auf Einwohnerrückgang, sondern auch darauf, dass wir heute andere Ansprüche an die angebotene Warenvielfalt stellen und wir, sowohl physisch als auch virtuell im Internet, beim Einkauf mobiler geworden sind. Die Knappheit an Auszubildenden in manchen Bereichen der Industrie und des Handwerks liegt nicht allein an der sinkenden Zahl von Jugendlichen, sondern auch daran, dass heute mehr als die Hälfte von ihnen ein Studium aufnimmt.

»Das alternde Land schien immer ärmer und unattraktiver zu werden.«

Auch die Tatsache, dass sich Regionen zunehmend auseinanderentwickeln, dass urbane Zentren rasant wachsen, während periphere ländliche Gemeinden Einwohner verlieren, beruht auf einem Bündel von Faktoren, die sowohl demografischer als auch sozioökonomischer Art sind. Dörfer haben ihre historische Funktion des Wohnens in der Nähe zu ländlichen Arbeitsplätzen weitgehend verloren. Wer als Wohnort für Pendler oder als Tourismusregion nicht taugt, dem gehen Einwohner unweigerlich verloren. Grund dafür sind nicht nur Fortzüge. Es gibt vielerorts einfach nicht mehr genug Nachwuchs, um die steigende Zahl von Sterbefällen einer alternden Bevölkerung auszugleichen. Im Schnitt beruht etwa die Hälfte der Einwohnerverluste ländlicher Kommunen auf dem Überschuss der Sterbefälle über die Geburten.

Heute ist Deutschland wieder eine der wirtschaftlich erfolgreichsten Nationen. Nie waren so viele Menschen erwerbstätig, die Arbeitslosenquote seit langem nicht so gering. Im Jahr 2015 kamen per Saldo mehr als eine Millionen Zuwanderer, der größte Teil davon jünger als 25 Jahre. Plötzlich hat Deutschland wieder eine wachsende Bevölkerung und um die klassischen Themen des demografischen Wandels – Alterung und Schrumpfung – ist es recht still geworden. Findet der demografische Wandel jetzt überhaupt noch statt? Natürlich. Es wird in Zukunft weniger Menschen im Erwerbsalter, mehr ältere Erwerbstätige, mehr Rentner und mehr Pflegebedürftige geben. Und der Altenquotient, das Verhältnis zwischen Menschen im Erwerbs- und Menschen im Rentenalter, wird zumindest für die nächsten fünfzig Jahre weiter wachsen.

Noch in den 1990er Jahren war „Suburbanisierung“ das Schlagwort der Bevölkerungsgeografen. In diesem Zehnjahreszeitraum büßten Städte wie Dresden oder Leipzig zehntausende Einwohner ein und selbst in München sank die Zahl der Bürger um etwa 30.000 Menschen. Wer irgend konnte, floh damals aus den unattraktiven Städten, in denen mancherorts noch Fabrikschlote rauchten, in das Häuschen im Grünen.

Demografische Veränderungen sind lediglich Teil eines gesellschaftlichen Wandels Dennoch drängt sich eine Erkenntnis aus den Entwicklungen der letzten Jahre auf: Demografischer Wandel ist kein isoliertes, quantitatives Phänomen, das allein durch die Ermittlung von Geburtenziffern, Altenquotienten oder Einwohnerzahlen in der Lage wäre, eine Gesellschaft oder deren Entwicklung in angemessener Weise zu beschreiben. Demografische Veränderungen sind Teil eines gesellschaftlichen, eines soziodemografischen Wandels. Sozioökonomische Faktoren

„Schwarmverhalten“ ist der neue Trendbegriff der Regionalentwicklung Seit der Jahrtausendwende hat sich diese Entwicklung weitgehend gedreht. Der neue Trend­ begriff lautet „Schwarmverhalten“.

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Es scheint noch einen anderen Faktor des „Schwarmverhaltens“ zu geben: Die schiere Dichte von bezüglich Bildungsstand und Alter ähnlichen Menschen: Junge Leute, die vielerorts im ländlichen Raum eine abnehmende Minderheit sind, ziehen dorthin, wo es viele von Ihnen gibt. Nicht all die Arbeitsplätze und Start-ups, nicht die Kneipen und Clubs sind zuerst da, sondern die jungen Menschen zieht es an lebendige Orte. Und erst ihre Konzentration initiiert dann eine Stadtentwicklung mit all der wirtschaftlichen und kulturellen Dynamik, die sie für weitere Zuzügler noch attraktiver macht. Die schon in den 1990er Jahren aufgekommene These, dass eine flächendeckende Verfügbarkeit von digitalen Kommunikationsmedien physische Nähe obsolet machen würde, hat sich bisher auf dramatische Weise als falsch erwiesen.

Allein zwischen 2010 und 2015 haben von den 79 deutschen Großstädten mehr als 50 Einwohner hinzugewonnen, über ein Dutzend von ihnen mehr als fünf Prozent. Die Zahlen würden vermutlich noch deutlicher ausfallen, hätte nicht der Zensus von 2011 in vielen Städten die Einwohnerzahl nach unten korrigiert. Dabei sind längst nicht mehr nur Metropolen auf Wachstumskurs, sondern auch Städte aus der zweiten und dritten Reihe. Nicht nur Bonn und Mainz wachsen, sondern auch Koblenz oder Bad Kreuznach. Auch ländliche Kommunen im Umland der Metropolen gewinnen Einwohner hinzu. Grundsätzlich gilt, je kürzer die Fahrzeit ins Zentrum, umso günstiger die demografische Entwicklung. Dass junge Menschen vom Land in die Städte ziehen, ist nichts Neues. Neu ist die Häufigkeit, mit der sie dies tun und die Tatsache, dass sie meist auch nach der Familiengründung dort wohnen bleiben. Während in einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft neue, attraktive Arbeitsplätze vorwiegend in Metropolräumen entstehen, hat sich die Arbeitswelt im ländlichen Raum nicht in gleichem Maße modernisiert.

Schrumpfung lässt sich nur mit innovativen Lösungen bewältigen Wie umgehen mit der Diskrepanz zwischen wachsenden Städten und schrumpfenden Dörfern? Kein Förderprogramm kann diese Entwicklung, die ihre Ursachen im soziodemografischen Wandel unserer ganzen Gesellschaft hat, umdrehen. Wir sollten uns vielmehr auf kluge Weise anpassen. Für Wachstumsregionen sind die Methoden der Planung seit langem erprobt. Dort braucht es klassische Investitionen in Infrastruktur, um eine wachsende Bevölkerung zu managen.

Da mehr als die Hälfte aller Schulabgänger ein Studium aufnimmt, gehen viele dieser jungen Menschen natürlich zunächst in eine Großstadt und finden dann dort auch eher eine attraktive Beschäftigung, die ihrer erworbenen Qualifi­ kation entspricht.

Der Umgang mit schrumpfenden Dörfern ist unserer Gesellschaft weniger vertraut. In den Kommunen des peripheren ländlichen Raumes bleiben vorwiegend ältere Menschen zurück und soziale Infrastruktur verschwindet. Vereinen und Betrieben geht der Nachwuchs aus, Läden und Poststellen schließen, Nutzer und Steuerzahler fehlen. Hier helfen klassische Investitionsprogramme in Altbekanntes nicht. Vielmehr gilt es, zu sozialen und technischen Innovationen beizutragen, die es ermöglichen, kostengünstig auch bei rückläufiger Einwohnerzahl Lebensqualität auf gutem Niveau zu erhalten.

»Junge Leute ziehen dorthin, wo es viele von ihnen gibt.« Auch das klassische Familienmodell mit alleinverdienendem Ehemann, welches vor allem Westdeutschland geprägt hat, verschwindet. War das Wohnen auf dem Land für solche klassischen Familien noch akzeptabel, ändert sich dies, wenn beide Partner zur Arbeit fahren und die Kinder betreut werden müssen. Dann ist ein Lebensmittelpunkt in der Stadt sehr viel attraktiver. Schließlich sind auch die Städte bessere Wohnorte für Familien geworden. Schmutzige Industrie ist verschwunden, Bausünden der 1960er Jahre sind abgerissen, es gibt mehr Grün und die beliebten Gründerzeithäuser wurden saniert.

Zur Sicherung der Nahversorgung gehört beispielsweise die Erprobung von innovativen Versorgungs- und Mobilitätslösungen. Bekannt sind Ansätze, kommunale Dienstleistungspunkte wie beispielsweise „Dorfläden“ – ergänzt mit einem ganzen Bündel an Dienstleistungsangeboten –

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»Dörfer haben ihre historische Funktion des Wohnens in der Nähe zu ländlichen Arbeitsplätzen weitgehend verloren.«

in einer Mischung aus kommunaler Beteiligung, Förderprogrammen und freiwilligem Engagement als Ersatz für nicht mehr vorhandene kommerzielle Dienstleistungsinfrastruktur zu etablieren. Die Erprobung neuer Ansätze gilt auch für die Gewährleistung medizinischer und pflegerischer Betreuung in ländlichen und dünn besiedelten Regionen. Welche Hürden müssen überwunden werden, damit eine Ärztin aus der Stadt eine Zweigpraxis im Dorf eröffnen kann und was kann die Kommune tun, um für entsprechende Fachkräfte attraktiv zu sein? Welche Erfahrungen bei der Etablierung von „nichtärztlichen Praxisassistenten“, wie die „Gemeindeschwester“ heute mitunter heißt, gibt es und wie kann man sie auf andere Regionen übertragen? Auch mobile oder telemedizinische Gesundheitsdienstleistungen müssen weiterentwickelt werden. Immer wieder sollten auch Gesetze und Verordnungen, die meist unter Wachstumsbedingungen entstanden sind, auf den Prüfstand gestellt werden. Überhöhte technische und rechtliche Standards können die Entwicklung in demografisch schrumpfenden und dünnbesiedelten Regionen behindern und graben den Kommunen finanziell das Wasser ab.

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»Auswirkungen der Zuwanderung sind gegenwärtig auch in sehr ländlichen Regionen spürbar.«

Prof. Dr. Steffen Kröhnert ist Sozialwissenschaftler und seit 2014 Professor für das Lehrgebiet Demografischer Wandel und Soziale Arbeit an der Hochschule Koblenz.

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freiwillig Engagierten, die sich für ein gelingendes Ankommen von Zuwanderern einsetzen. Auch wenn eine so abrupte und hohe Zuwanderung wie im Jahr 2015 Besorgnisse auslöst: Ein größerer Teil der Gesellschaft scheint für den konkreten Zuwanderer vor Ort offener und auch für deren Integration aktiver zu sein, als dies vor zwanzig Jahren der Fall war.

Zuwanderung kann auch für ländliche Regionen eine Chance sein Gegenwärtig drängt sich auch eine neue Frage auf: Könnte es gelingen, einen Teil der vielen Hunderttausend Neuzuwanderer in Regionen anzusiedeln, die Einwohner händeringend suchen? Manche halten dies für weder möglich (wegen der fehlenden Steuerungsinstrumente) noch für sinnvoll (wegen mangelnder Arbeitsplätze und Akzeptanz).

Der Trend der demografischen Konzentration auf urbane Zentren war schon in den vergangenen Jahren umso deutlicher, je schwächer die Bevölkerungsentwicklung in einer Region insgesamt ist. Während im demografisch wachsenden Bayern auch viele ländliche Regionen stabile Einwohnerzahlen verzeichneten, schrumpften in Ostdeutschland praktisch alle ländlichen Gemeinden.

Doch wir sollten uns erinnern, dass dies im Prinzip bereits einmal gelungen ist. Die mehr als eine Million Aussiedler, die in den 1990er Jahren kamen, sind heute weit häufiger auch in ländlichen Regionen Deutschlands ansässig und weit gleichmäßiger über Deutschland verteilt als etwa die Gruppe ehemaliger Gastarbeiter und deren Nachkommen, die sich stark in Großstädten konzentrieren. Dies gelang, weil in den 1990er Jahren zunächst eine regionale Verteilung der Zuwanderer erfolgte und ein Teil von ihnen, nach anfänglich schwieriger Integration, auch blieb. Heute gilt die Gruppe der Aussiedler als gut integriert. In heute wirtschaftsstarken ländlichen Regionen, wie dem Oldenburger Münsterland in Niedersachsen, war der Zuzug vieler Aussiedler ein wichtiger Entwicklungsimpuls.

Dementsprechend sind die Auswirkungen der Zuwanderung nach Deutschland gegenwärtig auch in sehr ländlichen Regionen spürbar. Ab einem bestimmten Punkt kommt eine positive Bevölkerungsentwicklung des ganzen Landes auch in den peripheren Regionen an. So wurden etwa im Westerwaldkreis in Rheinland-Pfalz, nach einem Jahrzehnt kontinuierlicher Bevölkerungsverluste in den vergangenen beiden Jahren wieder mehr Einwohner gezählt. Die Südwestpfalz hatte 2015 nach fünfzehn Jahren Einwohnerrückgang erstmals wieder mehr Bürger.

Dabei erscheint das gesellschaftliche Umfeld auf dem Land heute günstiger als in den 1990er Jahren. Viele Unternehmen in ländlichen Regionen suchen Beschäftigte und sind auch bereit, zunächst in deren Ausbildung zu investieren.

Wie stark ländliche Regionen von Zuwanderern letztlich aber auch qualitativ profitieren und wie sehr „alternde“ deutschen Kulturlandschaften dies als Entwicklungsimpuls nutzen können, das sagt uns keine demografische Prognose. Dies hängt letztlich von der Aktivität und Offenheit der Zivilgesellschaft, der Unternehmen und auch vom aktiven Handeln der Lokalpolitik ab.

Zudem artikulieren sich ja keineswegs nur zuwanderungskritische Bürger, sondern es gibt ebenso deutschlandweit ein hohes Potenzial an

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Wolfgang Gründinger

Alte-Säcke-Politik Wie die Demografie unsere Demokratie prägt

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Ob Brexit-Referendum, Ehe für alle oder Renten-Wahlkampf: Die ältere Generation drückt den Jüngeren ihre Vorstellungen auf.

Ein Sprichwort besagt: Eine Gesellschaft wird stark, wenn die Alten die Bäume pflanzen, in deren Schatten sie niemals sitzen werden.

Es war ein Schlag ins Gesicht: Bei der Abstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union haben die Alten der jungen Generation ihre Meinung diktiert. Je älter ein Brite war, desto wahrscheinlicher stimmte er für den Brexit. Konsolidierten Umfragen von YouGov zufolge1 votierten 71 Prozent der unter 25-Jährigen für den Verbleib in der EU – in krassem Gegensatz zu den Alten über 65, die zu 64 Prozent mehrheitlich für den Austritt stimmten. In den Wahlbezirken mit den meisten Rentnern war auch der Anteil der EU-Gegner am höchsten.2

Heute fällen die Alten die Bäume, in deren Schatten die Jungen sitzen. Brexit war nicht der erste Fall der Alte-Säcke-Politik „ALTE LEUTE RAUS AUS EUROPA!!!“, proklamierte Jan Böhmermann gewohnt undiplomatisch. Aber natürlich können und wollen wir niemanden verjagen, und Konflikte zwischen Alt und Jung gibt es, seit es Menschen gibt. Das historische Unikum aber ist: Heute sind die Alten so viele wie nie zuvor. In den westlichen Ländern ist ungefähr jeder dritte Wähler schon jetzt über 60, und in einer Demokratie übersetzt sich Masse in Macht. Wenn das Wahlvolk älter wird, dann geht das an der Politik nicht spurlos vorüber.

Im Gegensatz zu vielen Medienberichten war die Wahlbeteiligung der Jungen beim Brexit-Votum übrigens nur leicht unterdurchschnittlich: Knapp zwei Drittel der 18- bis 24-Jährigen haben abgestimmt, wie die London School of Economics berichtet.3 Aber selbst wenn 100 Prozent der Jungen ihre Stimme abgegeben hätten – das Ergebnis wäre unverändert geblieben, wie Harald Wilkoszewski (OECD) berechnet.4 Und selbst wenn man das Wahlalter auf 16 gesenkt hätte, wäre der Ausgang dadurch nicht beeinflusst worden. Gegen die Übermacht der Alten kommen die wenigen Jungen nicht an.

»Die Alten haben den Jungen ihre Wertvorstellungen aus dem letzten Jahrtausend aufgedrückt.« Brexit ist nicht der erste Fall der Alte-Säcke-Politik.5 Nehmen wir das Referendum in Irland 2015 über die Ehe für alle. Dort stimmten rund 90 Prozent der 18- bis 24-Jährigen für die Ehe für alle, aber nicht einmal die Hälfte der Generation 65plus – wieder ein signifikanter Alterseffekt.6 Die Jungen konnten sich hier dennoch durchsetzen, weil Irland die jüngste Bevölkerung Europas hat – mit einem Medianalter von 36,0 Jahren (2014), während Deutschland mit einem Medianalter von 45,6 Jahren die älteste Bevölkerung Europas aufweist.7

Die gute Nachricht: Die junge Generation ist von Europa überzeugt – auch in ihrer institutionalisierten Ausprägung, der Europäischen Union, die sich ansonsten oft schwertut, die Menschen für sich zu gewinnen. Und das, obwohl der Gründungsmythos der EU, die Sicherung des Friedens zwischen den Nachbarstaaten nämlich, ihnen als Selbstverständlichkeit erscheinen muss. Die schlechte Nachricht: Es ist egal, was die Jungen denken. Sie sind eine Minderheit, die politisch irrelevant ist. Die Alten sind mehr, sie haben Zeit, Geld und Netzwerke, sie sitzen an den Hebeln der Macht. Ihre Stimme zählt. Die Ewiggestrigen sind viele und stimmen die Zukunft der Wenigen nieder. Zu wenige haben auf ihre Kinder und Enkel gehört. Sie haben uns – oder im Falle des Brexit: den jungen Briten – das Recht genommen, in Europa zu leben und zu arbeiten; das Recht verweigert, an einem gemeinsamen Europa zu bauen; kurz: ihnen Chancen und Visionen geraubt.

Bei einer Mitgliederbefragung des CDU-Landes­ verbands Berlin8 im Jahr 2015 stimmten zwei Drittel der CDU-Mitglieder über 65 gegen die Ehe für alle, aber zwei Drittel der unter 30-Jährigen für die Ehe für alle. Bei der etwas gedie­ generen Altersstruktur der CDU heißt das: Die Alten haben den Jungen ihre Wertvorstellungen aus dem letzten Jahrtausend aufgedrückt. Die Jungen wollten eine andere Politik, aber die Alten waren in der Überzahl.

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»Alleine können es die Jungen nicht schaffen. Im Kampf um Pfründe, Posten und Parkbänke können sie nur verlieren.«

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Auch bei anderen Fragen gibt es handfeste Konflikte zwischen den Generationen, wo Werte und Weltanschauungen oder auch ökonomische Interessen zur Verhandlung stehen. Eine ganze Reihe an Volksabstimmungen, beispielsweise über öffentliche Kinderbetreuung in der Schweiz oder über die Abschaffung der Wehrpflicht in Österreich, scheiterten am Veto der Alten.13

Zuwanderung: Junge sind weltoffener Denn der demografische Wandel macht etwas mit unserer Gesellschaft. Immer mehr Menschen haben den größten Teil ihres Lebens hinter sich, und sie schauen nicht nach vorne, sondern zurück. Die Alten sind in ihrer großen Mehrheit weniger liberal, weniger tolerant und weniger weltoffen als die Jungen – auch beim Thema Zuwanderung und Islam: „Jugendliche in Deutschland legen mit Bezug auf Muslime einen offeneren und demokratischeren Umgang mit Vielfalt und Diversität an den Tag als Erwachsene“, wie das Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin nachweist.9

Wahlkampfthema Altersarmut – Nicht-Thema Kinderarmut Im sich ankündigenden Bundestagswahlkampf kristallisiert sich – wieder einmal – die Rente als eines der zentralen Themen heraus. Und gleich mehrere Spitzenpolitiker von Union und SPD wollen das Rentenniveau einfrieren. Nach Berechnungen des Prognos-Instituts für den SPIEGEL würde das Mehrkosten von summiert fast 600 Milliarden Euro von 2016 bis 2040 generieren.14 Der Beitragssatz würde auf über 26 Prozent steigen. Nimmt man noch die Ausgaben für Gesundheit und Pflege hinzu, die in einer alternden Gesellschaft ebenfalls zwangsläufig steigen, werden die Beiträge zu den Sozialversicherungen auf deutlich über 50 Prozent klettern, wie der Wissenschaftliche Beirat des SPD-geführten Bundeswirtschaftsministeriums kürzlich berechnete.15

Beispielsweise sprechen sich mehr als 70 Prozent der 16- bis 25-Jährigen gegen Einschränkungen beim Bau von Moscheen oder beim Tragen des Kopftuchs an Schulen aus – im Gegensatz zu den Alten, die mehrheitlich nach Verboten rufen. Außerdem spielt nationale Symbolik bei den Alten eine weit größere Rolle als bei den Jün­geren: Den Jugendlichen ist es vergleichsweise weniger wichtig, als Deutsche wahrgenommen zu werden, bei der National­ hymne kommen bei ihnen weniger positive Gefühle auf, und für sie ist weniger wichtig, ob ein Mensch deutsche Vorfahren hat oder nicht, um als Deutscher gelten zu können.

»Es gibt Rentenpakete, aber keine Kinderhilfepakete.«

Ähnliche Ergebnisse liefert die Umfrage „Willkommenskultur in Deutschland“ im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung.10 Während die Alten Probleme in den Schulen, eine Belastung des Sozialstaats und soziale Spannungen als Folge der Zuwanderung fürchten, bleiben die Jungen eher gelassen. Gleichermaßen unzweideutig fällt der „Religionsmonitor 2015“ aus: Demzufolge fühlen sich Jüngere vom Islam im Allgemeinen weder bedroht noch überfremdet, wohingegen zwei Drittel der Älteren glauben, der Islam sei eine Bedrohung und passe nicht in die westliche Welt.11 Die große Mehrheit der Jüngeren denkt, der Islam gehöre zu Deutschland, während eine gleich große Mehrheit der Älteren genau das Gegenteil glaubt.12

Das ist ziemlich viel Geld, das an anderer Stelle besser angelegt wäre: bei einer Verbesserung der Erwerbsminderungsrenten beispielsweise, die wesentlich wirksamer im Kampf gegen Alters­armut wäre als ein Einfrieren des Rentenniveaus, bei deutlich geringeren Kosten. Das gesparte Geld könnte man investieren: in die junge Generation. Kinderarmut ist heute fünfmal so hoch wie Altersarmut. Derzeit sind 14,7 Prozent der Kinder und Jugendlichen auf Hartz IV angewiesen – mehr als noch vor fünf Jahren.16 Genau hier müsste die Sozialpolitik ansetzen: Denn die armen Kinder von heute sind die armen Rentner von morgen. Man könnte die Kitas für alle kostenfrei machen, die Erzieherinnen und Erzieher qualifizieren und anständig bezahlen.

Es sind also vor allem die Alten, die für rechte Ideologie empfänglich sind. Und das verändert unser Land – zum Schlechteren. Die Wutrentner machen unser Land zu einem dunklen Ort.

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Doch Kinderarmut war noch nie Wahlkampfthema. Es gibt Talkshows zu Altersarmut, aber nicht zu Kinderarmut. Es gibt eine gesetzliche Rentengarantie, aber keine Kindergeldgarantie. Es gibt Rentenpakete, aber keine Kinderhilfepakete.

Wahlrecht erhalten – wie alle anderen auch. Wir brauchen die Stimme der jungen Generation: in den Parteien, Parlamenten, Gewerkschaften, Beiräten und Kommissionen – an jedem Verhandlungstisch. Die Jugend muss beteiligt werden, wenn es um ihre Zukunft geht.

Konflikt oder Solidarität der Generationen Wir brauchen die offenen Ohren der Alten, die sich zu Anwälten der Jungen machen müssen. Und Vielleicht hören die Alten in Zukunft besser hin, was die Jungen wollen. In Irland gab es eine „Ring Your Granny“-Kampagne: Junge Leute riefen ihre Großeltern an, um sie zu überzeugen, beim Referendum für die Ehe für alle zu stimmen. Immerhin haben einige auf ihre Enkelkinder gehört.

Oft wird gesagt, man dürfe die Alten nicht gegen die Jungen ausspielen. Aber genau das geschieht. Nur: Die Jungen sind die Verlierer dieses Spiels. In einer Referendumsrepublik der Greise werden die Interessen der Jungen leicht untergebuttert.

»Die Jugendlichen unter 18 Jahren müssen ein Wahlrecht erhalten.«

Doch alleine können es die Jungen nicht schaffen. Im Kampf um Pfründe, Posten und Parkbänke können sie nur verlieren. Sie sind zu wenige, und sie haben ungleichen Zugang zu politischen und finanziellen Ressourcen. Daher brauchen sie die Alten – als einen mächtigen Bündnispartner. Sie sind mehr, sie haben das Sagen, und sie haben das Land so gemacht, wie es heute ist.

Eine Antwort darauf muss sein, dass auch die Jungen endlich eine Stimme bekommen. Die Jugendlichen unter 18 Jahren müssen ein

1 https://yougov.co.uk/news/2016/06/27/how-britain-voted/

9 https://www.hu-berlin.de/de/pr/pressemitteilungen/pm1503/ pm_150313_01

2 http://www.telegraph.co.uk/news/2016/06/24/ eu-referendum-how-the-results-compare-to-the-uks-educated-old-an/

10 https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/ Emnid_Willkommenskultur_2015_BST.pdf

3 https://www.theguardian.com/politics/2016/jul/09/ young-people-referendum-turnout-brexit-twice-as-high

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/ 51_Religionsmonitor/Zusammenfassung_der_Sonderauswertung.pdf

11

4 http://blog.population-europe.eu/that-demographicship- has-sailed

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/mehrheit-sieht-islamnicht-als-teil-deutschlands-a-984708.html

12

5 http://www.wolfgang-gruendinger.de/alte-saecke-politik/ 6 https://www.washingtonpost.com/blogs/monkey-cage/wp/2015/06/30/ young-people-voted-in-droves-for-marriage-equality-in-irelandequality-would-have-won-without-them/

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-05/ wutbuerger-protestkultur-rentner-generationenkonflikt

13

https://www.prognos.com/presse/news/ detailansicht/1225/3eb46c1cd65b18409e571b7f9df2b072/

14

7 http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/ Population_structure_and_ageing/de

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/was-wird-aus-der-rente/sozialversicherungsbeitraege-steigen-ueber-50-des-bruttolohns-14459556.html

15

8 http://www.tagesspiegel.de/berlin/queerspiegel/cdu-berlingegen-ehe-fuer-alle-frank-henkel-keine-einfach-zu-beantwortendefrage/12099882.html

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http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-09/kinderarmut-deutschland-hartz-iv


»Die Jungen brauchen die Alten – als einen mächtigen Bündnispartner. Sie sind mehr, sie haben das Sagen, und sie haben das Land so gemacht, wie es heute ist.« Wolfgang Gründinger ist Autor des Buches "Alte-Säcke-Politik – Wie wir unsere Zukunft verspielen" (erschienen Mai 2016) und Vorstand der Stiftung Generationengerechtigkeit. In seinem default life arbeitet er beim Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) an der digitalen Transformation.

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Dr. Mario Voigt

In welchem Deutschland wollen wir leben? Anmerkungen zum Wahljahr 2017

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Demografischer Wandel, Digitalisierung, Globale Veränderungen.

Die Bundestagswahl 2017 wird eine Richtungswahl. Die Bürger entscheiden darüber, in welchem Deutschland sie leben wollen. In einem Bauchnabel-Deutschland, wo die Gedanken nur um sich selbst, die eigenen Bedürfnisse und das Hier und Jetzt kreisen, oder in einem Deutschland mit Herz und Verstand, wo der Blick auf Zukunft, die nächste Generation und die Welt gerichtet ist.

Was Wolfgang Schäuble treffend mit „Rendez­ vous mit Globalisierung“ bezeichnet hat, verunsichert viele Bürger. Es geht dabei nicht nur um Menschen anderer Herkunft. Es geht um die Unübersichtlichkeit einer globalen Ordnung. Wer entscheidet noch was, wer gehört noch zu wem? Opel ist jetzt GM, das Maschinenbauunternehmen um die Ecke jetzt Teil eines chinesischen Großkonzerns, oder wie heißt mein Tengelmann morgen? Die vermeintliche Einfachheit brachte Klarheit und Verlässlichkeit.

Wo stehen wir? Es ist offensichtlich: Deutschland und seinen Bürgern geht es gut. Es haben so viele Menschen Arbeit wie nie zuvor und die Arbeitslosigkeit ist die niedrigste seit 25 Jahren. Die Steuer­ einnahmen sprudeln, die Wirtschaft wächst und der Staatshaushalt ist ausgeglichen. Die ältere Generation erhält für ihre Lebensleistung den höchsten Rentenzuwachs seit Jahren und Mütter bekommen in einer zusätzlichen Mütterrente die Anerkennung, welche sie verdienen. Junge Menschen finden fast alle einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz und die Investitionen in Forschung und Entwicklung verzeichnen Rekordwerte. Deutschland genießt hohen Respekt in der Welt und stabilisiert in einer schwierigen Lage das europäische Schiff. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist eine der gefragtesten der Welt und auch auf dem Glücksbarometer äußern die Deutschen ihr Wohlbefinden.

»Nicht alle begreifen disruptive Technologien als Zugewinn.« In gleichem Atemzug mit den globalen Unsicherheiten verlor das deutsche Einheitsnarrativ an Kraft. Nach 25 Jahren scheint das große Glück einer friedlichen Revolution und eines gemeinsamen Aufbruchs einer kalten Finanzmathematik des Länderfinanzausgleichs und dem „Jetztreichts-aber-mal“ gewichen. Vielleicht hängt das auch mit dem Abtreten der Wendegeneration zusammen und hat etwas Normales. Tatsächlich fehlt dieser Kitt, wenn es um gemeinsames Einstehen gegen wenige in Dresden oder pauschale Urteile über Ost und West geht.

»Irgendetwas ist gesellschaftlich ins Rutschen geraten.«

Schließlich sorgt eine zunehmende Technisierung und Digitalisierung für Wandlungsprozesse in der Arbeits- und Lebenswelt. Nicht alle begreifen disruptive Technologien und Wachstumszyklen als Zugewinn, vielmehr fürchten sie um den Arbeitsplatz und gewohnte Sicherheiten.

Doch irgendetwas ist gesellschaftlich ins Rutschen geraten. Man merkt es im Privaten, wo seit 2015 vielmehr über Politik gestritten und man Bekannte und Freunde neu in ihren Ansichten kennengelernt hat. Gesellschaftlichen Eliten wird vorgeworfen, taub für echte Probleme zu sein, Menschen demonstrieren, in sozialen Medien radikalisieren sich Meinungen und Stimmen – ein Unbehagen greift Platz. Manche verengen das gesellschaftliche Rumpeln auf die Flüchtlingswelle des Sommers 2015. Für sie ist es die Wegscheide, der Dammbruch.

Das macht es für Wahlen und Parteien nicht einfacher. Über 50 Prozent sagen von sich, sie seien Wechselwähler. Fast ein Drittel wählt per Brief, und über ein Drittel fällt seine Wahlentscheidung in der letzten Woche. Dies macht nicht nur die Wahlentscheidung weniger vorhersagbar, sondern zerstört auch jedes dialogische, kommunikative Element, welches in einer Wahlkampf­ erzählung und einer Schlussdramaturgie mündet. Die Wähler sind situativer, wählerischer und die Wähler­kalküle vielfältiger geworden.

Tatsächlich sind prinzipielle Kräfte am Werk. Es fordern uns viele Veränderungsprozesse heraus:

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beklagen den kulturellen Wandel und versprechen einfache Antworten auf komplexe Fragen. Die gesellschaftliche Instabilität und Unsicherheit ist ihr Thema. Sie sind der Status quo in einer sich wandelnden Welt.

Das hängt auch damit zusammen, dass nicht mehr klar ist, was mit der Wahlstimme passiert. In Thüringen wusste ein Wähler der SPD nicht, ob seine Stimme für eine Fortsetzung der schwarz-roten Koalition oder ein linkes rot-rot-grünes Bündnis zählt. Unter solchen politischen Lotteriebedingungen wägt der Bürger seinen Wahlakt sorgfältig und strebt nach Eindeutigkeit und Alternativen. Ein Ausweg erscheint mehr direkte Beteiligung. Und es wundert nicht, dass die Zustimmung auch für Volksentscheide auf Bundesebene zunimmt. Dem Misstrauen gegenüber Politikern setzt man die eigene Beteiligung entgegen. Dadurch entsteht aber eine Situation, die Karl-Rudolf Korte zurecht eine „Beteiligung-Paradoxie“ nennt: es wollen immer mehr beteiligt werden, aber zugleich wollen immer mehr, dass sich politische Prozesse beschleunigen. So manche Beteiligungsentartung gibt es in den Sozialen Medien zu bestaunen.

»Bei der Bundestagswahl 2013 hatte die Union keinen richtigen Gegner.« Vor diesem Szenario ringt jetzt die Union um ihre Position. Bei Bundestagskandidaten, Parteimitgliedern und in der Führung herrscht die Gewissheit, dass 2017 ein anderer Bundestagswahlkampf werden wird als 2005, 2009 und 2013. Besonders im Bundestagswahlkampf 2013 musste die Union nicht um Vertrauen kämpfen und hatte auch keinen richtigen Gegner. Die unmittelbaren Folgen der Flüchtlingskrise scheinen bewältigt, aber die Wunden, Debatten und Fragen sind noch nicht verheilt. Das lähmt und gefährdet den Wahlerfolg 2017. Gerade weil die Anfeindungen von rechts und links zunehmen.

Worum geht es bei der Bundestagswahl? Für 2017 zeichnet sich ein klares strategisches Bild ab. Die AfD will die Wahl zum Referendum über die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel machen. Auf den potenziellen Trümmern dieses Angriffs möchte dann Rot-Rot-Grün ungeniert sein neues Deutschlandhaus bauen.

Was ist für die Union zu tun? Die Bundestagswahl 2017 gewinnt, wer der Sinnund Sicherheitssuche der Bürger eine Antwort auf die Frage geben kann: In welchem Deutschland möchte ich leben?

AfD, aber auch RRG möchten die Bundestagswahl zum Referendum über die Politik von Angela Merkel machen. Von links (Euro, Verteilungs­ politik) wie von rechts (Flüchtlinge) wird der Vorwurf ertönen, Merkel hätte die Interessen der Deutschen verraten und zwölf Jahre seien genug. Beide Seiten eint eine zutiefst nationale und teilweise sozialistische Sichtweise. Sowohl für die AfD und die Linke aber auch große Teile der SPD gehören tiefe Eingriffe in den Bereich der Gesellschaft und der Wirtschaft mittlerweile zum Wesenskern: Ein übergriffiger Staat, der sich für klüger hält als die Einzelnen und die vielen widerstreitenden Kräfte einer pluralistischen Gesellschaft. In Zeiten globaler Unübersichtlichkeit eine geradezu erwärmende Vorstellung.

Es steht außer Rede, dass das Image von Angela Merkel sich im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 verändert hat. Durch die Diskussion um die Flüchtlingskrise ist die unaufgeregte „Krisen­ lotsin“ (Korte) Angela Merkel, in den Augen mancher Bürger von einer pragmatischen Problemlöserin zur emotionalen Problemschafferin geworden. Besonders in den neuen Bundesländern hat ihr das massiv geschadet. Im gleichen Atemzug verkennen die Kritiker, wie weiterhin hoch das Ansehen und die Stellung der Bundeskanzlerin in den Augen der Bevölkerung ist. Würde mancher parteilich-schwesterlicher Disput nicht unnötig verlängert, könnte Merkel zurecht behaupten, eine weitere Krise gelöst zu haben.

Besonders AfD und Linke sind anti-global, anti-modern, national und sozialistisch. In gewisser Weise bemächtigen sie sich konser­vativen Posi­ tionen und werben für eine vergangene Welt, die wahrscheinlich so nie existierte. Sie spielen mit tatsächlichen oder vermeintlichen sozialen Verwerfungen, schüren xenophobe Ressentiments,

Dennoch muss die Union mehr aufbieten als die Kanzlerin allein. Es entscheiden Haltung und Richtung.

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»Die AfD will die Wahl zum Referendum über die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel machen. Auf den potentiellen Trümmern dieses Angriffs möchte dann Rot-Rot-Grün ungeniert sein neues Deutschlandhaus bauen.«

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Fünf Aspekte sind dafür wesentlich:

Die Haltung muss eine selbstbewusste und nicht geprügelte Partei sein, die stolz auf die politischen Erfolge und kämpferisch auf das Kommende ist. Eine Union, die zusammensteht und nicht Einzelfragen den Gesamterfolg in Frage stellen lässt. Zur Haltung gehört auch, Angela Merkel mit Verstand und Herz zu sehen, unter deren Führung Deutschland zur Nummer 1 in Europa und im Ansehen in der Welt wurde. Quasi, Weltklasse für Deutschland.

1. Wachstum und soziale Marktwirtschaft: Wir sollten die Stärken Deutschlands in den Vordergrund stellen und nicht immer jedes Einzelproblem zum Staatsakt erklären. Zwischen berechtigten Debatten um Industrie 4.0 und Steuerpolitik sollten wir die tatsächliche Stärke des Landes in den Mittelpunkt stellen: der Einsatz und das Engagement der Menschen. Für Wettbewerb und wirtschaftliche Freiheit gilt es manche Larmoyanz abzuschütteln und gut über unsere Chancen zu reden. Warum sollten wir sorgenvoll sein, wir haben die besten Arbeiter und Ingenieure der Welt. Im Kampf gegen jegliche Populisten braucht es eine Wachstumsbotschaft.

Doch um den vierten Stern zu holen, braucht die Union eine inhaltliche Begründung, warum sie Deutschland führen und Angela Merkel für vier weitere Jahre Kanzlerin bleiben soll. Es geht nur mit einem inhaltlichen Zielfoto, nennen wir es, Vision, wo Deutschland am Ende der nächsten Legislaturperiode stehen will und warum das für die Menschen in Deutschland wichtig ist.

2. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Stabilität: Wir arbeiten für eine Gesellschaft, in der keiner zurückgelassen oder abgehängt wird. Unser Handeln ist von einem mitfühlenden Konservativismus geprägt, der sozialen Abstieg verhindert. Die besten Chancen für unsere Kinder stärken wir durch ein leistungsorientiertes Bildungssystem und ermöglichen es mit einer Unterstützung von Familien. Die Sicherheit im Alter gewinnen wir durch eine verlässliche Rentenpolitik und ein Steuersystem, wo arbeiten attraktiv ist. Auch wenn bei der nächsten Bundestagswahl die Mehrheit der Wähler über 55 Jahre sein wird, tragen Verteilungsversprechen nicht. Es geht um einen strukturellen Umbau, der die schrumpfenden Generationen der Erwerbstätigen nicht endgültig überlastet und doch Mittel für die wachsende Zahl immer älterer Bürger freischaufelt.

Die mutige Perspektive auf das Deutschland von morgen ist im Hinblick auf die nötige Einigung mit der CSU, aber auch im Hinblick auf die Konkurrenz umso wichtiger. Dem Referendum über den Status quo setzt die Union eine Abstimmung über den zukünftigen Weg entgegen. Michael Wolfsohn beschrieb dies so: „Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland muss wieder eine wehrhafte Demokratie werden. Nicht im Sinne körperlicher Gewalt eines zuschlagenden Staates, sondern durch schlagende Argumente.“

»Die Sehnsucht nach einer politischen Kraft, die ordnet, deutet und löst, ist groß.«

3. Staat und Sicherheit: Die Aufgabe der CDU ist es, wieder über ein gemeinsames, ein einiges Deutschland zu reden. Dies gilt in der Frage von Ost und West, aber eben auch von Stadt und Land. Wir dürfen nicht zulassen, dass ganze Bundesländer, ländliche Regionen oder einzelne stigmatisiert werden. Dass bedeutet auch, nicht jeden in der rechten Schmuddelecke zu sehen, nur weil er Sorgen und Probleme – ob gerechtfertigt oder nicht – anspricht. Viele Bürger stellen seit der Flüchtlingskrise Fragen über die Rolle des Staates, seine Funktionsfähigkeit und seine Defizite. Ob bei Grenzschutz, Polizei oder Schule – staatliches Handeln steht unter bürgerschaftlicher Beobachtung. Nur wer überzeugend antworten kann, was der Staat darf und kann, wird auch dem Sicherheitsempfinden der Bürger gerecht.

Die Union muss erklären, wohin sie will, und muss sich dafür die Offenheit ihrer politischen Entscheidungen sichern. Die Sehnsucht nach einer politischen Kraft, die ordnet, deutet und löst, ist groß. Und die Union ist die beste Kraft dafür. Zur Bundestagswahl geht es für die Union um ein zentrales Versprechen: Wir sind realistischer Schutzpatron der Bürger und machen Deutschland zum besten Land der Welt, wo Sicherheit und Wohlstand für alle Menschen herrscht. In der Heimat stark und in der Welt führend.

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»Kosmopolit zu sein ist nicht elitär, es ist patriotisch.«

4. Weltoffen und patriotisch: Wir treten für ein weltoffenes Deutschland ein und haben nach allen Erfahrungen einen realistischen Blick auf die Globalisierung. Dazu zählt auch zu sagen, wir werden alles dafür tun, dass es eine Situation wie 2015 nicht wieder geben wird. Deutschland ist ein Land, wo Asyl ein Recht auf Zeit und Zuwanderung nur nach klaren Spielregeln geht. Den Wagenknechts und Petrys halten wir entgegen, das Gegenteil von Globalisierungsbefürworter ist nicht Patriot. Deutschland ist der Globalisierungsgewinner und muss daher ihr vehementester Verteidiger sein. Kosmopolit zu sein, ist nicht elitär, es ist patriotisch. Das Erfolgsmodell Deutschland ist nur langfristig finanzierbar, wenn wir unsere Produkte, Dienstleistungen und Ideen international verwirklichen.

unbändigen Willen, Probleme erfolgreich zu lösen. Warum soll aus dieser Tradition nicht ein neues Narrativ für das 21. Jahrhundert entstehen? Etwas mehr Pathos und weniger Bonner Bescheidenheit: In der Heimat stark und in der Welt führend. Eine solche inhaltliche Schwerpunktsetzung mit Gesichtern verbunden, die sowohl Sicherheit und Stabilität ausstrahlen als auch Zukunft und Modernität, kann nur die Union aufbieten. Sie gibt den Menschen Richtung und Haltung. Die Bundestagswahl wird eine Richtungswahl. In welchem Deutschland wollen wir leben? In einem national antiquierten, auf Verteilung ausgerichteten und gesellschaftlich stagnierenden Deutschland von Rot-Rot-Grün und AfD oder in einem weltoffenen, gesellschaftlich lebendigen und wirtschaftlich prosperierenden Deutschland? Es ist wieder Zeit, an der großen Erzählung für unser Land zu arbeiten.

5. Zukunft und Tradition: Wir glauben an eine bessere Zukunft und setzen auf die Hoffnungen der Menschen, nicht ihre Ängste. Die Geschichte der Bundesrepublik ist gekennzeichnet von einem

Dr. Mario Voigt MdL ist Mitglied des Landtags in Thüringen und stellv. Landesvorsitzender der CDU Thüringen. Er ist Mitherausgeber von CIVIS mit Sonde, gestaltet Public Affairs Kampagnen und publiziert zu Wahlkämpfen und digitalem Campaigning

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Daniel Caspary

CETA: Ein Ausweg aus der europäischen Selbstverzwergung

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herstellt.1 Über 70 Prozent des Umsatzes werden dabei durch Exporte generiert. Ebenso wie Italien im Ganzen, hat auch die Albini-Gruppe von den Handelsabkommen der EU mit Südkorea, Chile und Mexiko profitiert, da bis dato existente Handelsbarrieren in Form von Zöllen und nichttarifären Handelsbeschränkungen abgebaut wurden. Folgerichtig wuchsen die Umsätze in den drei Ländern nach Inkrafttreten der Abkommen um 38 bzw. 25 und 45 Prozent. Ein ähnliches Beispiel findet sich auch bei uns in Deutschland. Die in Trier ansässige Saar-Mosel-Winzersekt GmbH konnte ihre Absatzzahlen nach Südkorea im Jahr 2015, d.h. vier Jahre nach Inkrafttreten des Handelsabkommens, um den Faktor 50 steigern im Vergleich zu denen im Jahr 2010.2 Entscheidend waren auch hier der deutlich geringere bürokratische Aufwand und der Wegfall von Zöllen. Zuvor hatten südkoreanische Importeure Zölle von 15 Prozent gezahlt.

Gezeter, Massenproteste, Panikmache: Seit Monaten steht CETA unter dem Dauerbeschuss der Kritiker. Welche Auswege gibt es, wenn die Europäische Union ihre gemeinsame Handelspolitik zu Grabe trägt? „Comprehensive Economic and Trade Agreement“ – hinter diesem zugegebenermaßen sperrigen Namen steht eine simple Idee: den gegenseitigen Handel zwischen der EU und Kanada vereinfachen, verstärken und gleichzeitig verbindlich regeln. Mit allen Mitteln versuchen einige Nichtregierungsorganisationen und Initiativen, das geplante Abkommen zu verhindern. In der öffentlichen Diskussion verhallen Sachargumente im emotionalisierten Grundton der Debatte. Fast sieben Jahre haben die Verhandlungen zu dem Handelsabkommen CETA gedauert, bevor sie im September 2014 abgeschlossen wurden. Nun drohen sie mit einem weißen Blatt Papier zu enden. Dass mit einem Scheitern von CETA auch die gemeinsame europäische Handelspolitik zu Grabe getragen würde, wird dabei ausgeblendet. Wie sähe der Ausweg aus dieser selbstverschuldeten Existenzkrise aus?

»Handel schafft Wohlstand.« Das Grundmuster gilt für alle Mitgliedstaaten und ist unabhängig von der Betrachtungsebene. In beiden Beispielen konnten durch das Wachstum neue Mitarbeiter eingestellt werden, womit die beiden KMU sinnbildlich für alle kleinen und mittleren Unternehmen in der EU stehen: Sie repräsentieren 99 Prozent aller Unternehmen in der EU und haben insgesamt 85 Prozent aller neuen Arbeitsplätze geschaffen, die in der EU in den vergangenen fünf Jahren entstanden sind. Einen ähnlich positiven Effekt verspricht auch CETA, das schrittweise über 98 Prozent aller bestehenden Zölle abbaut. Europäische Exporteure sparen dadurch jährlich mehr als 500 Millionen Euro, die sonst als Zoll für den Zugang zum kanadischen Markt erhoben würden. Es gilt: Handel schafft Wohlstand. Mehr Handel bedeutet mehr Wachstum, das sich in neue Arbeitsplätze auf beiden Seiten des Atlantiks übersetzt. Können wir es uns erlauben, dieses Potenzial ungenutzt lassen?

Dazu werden die Inhalte von CETA diskutiert und die Kritik an dem Abkommen gewichtet. Sie werden in den generellen Kontext der gemeinsamen EU-Handelspolitik eingeordnet, um die Bedeutung des Präzedenzfalls CETA hervorzuheben und Auswege aufzuzeigen. CETA: Anspruch und Inhalte Mit CETA liegt das fortschrittlichste und modernste Handelsabkommen vor, das wir Europäer jemals verhandelt haben. Als neuer weltweiter Goldstandard der internationalen Handelspolitik schafft das Abkommen Referenzwerte, an denen sich weltweit alle zukünftigen Handelsabkommen werden messen lassen müssen. CETA greift Bewährtes auf und bessert dort nach, wo durch andere Handelsabkommen Veränderungsbedarf deutlich geworden ist. Was bedeutet das konkret? Wer profitiert weshalb und in welchem Maße? Einen besonderen Stellenwert hat CETA für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Europa, was anhand von zwei Beispielen deutlich wird. 90 Prozent aller italienischen Unternehmen, die in Länder außerhalb der EU exportieren, sind kleine und mittlere Unternehmen (KMU) – insgesamt circa 119.000. Dazu zählt auch die in Bergamo ansässige Albini-Gruppe, die Baumwollhemden

Unbegründete Kritik der Abkommensgegner Drei Themenbereiche bilden das argumentative Gravitationszentrum der Abkommensgegner: Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards, die öffentliche Daseinsvorsorge und die Schiedsgerichtsbarkeit.

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»Mit CETA liegt das fortschrittlichste und modernste Handelsabkommen vor, das wir Europäer jemals verhandelt haben.«

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von Investitionsschutzmechanismen ist es, das Recht auf Eigentum international zu bewahren und ausländische Marktteilnehmer vor Benachteiligung zu schützen. Geschmälerte Gewinnprognosen durch einen geänderten gesetzlichen Rahmen stellen jedoch keinen Klagegrund dar. Stattdessen muss ein ausländisches Unternehmen konkret nachweisen, dass es im direkten Vergleich mit inländischen Konkurrenten derselben Branche gezielt benachteiligt wurde. Ausschließlich auf Basis dieser Logik kann mit Aussicht auf Erfolg geklagt werden.

Gebetsmühlenartig werden die Sorgen um etablierte Standards wiederholt und auf die Phrase, bewährte europäische Standards würden abgesenkt, verknappt. Der eigentliche Kern der Teildiskussion wird jedoch verfehlt. „Regulatorische Kooperation“ bedeutet nicht, dass kanadische Standards in der EU bedingungslos übernommen werden, sondern Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und zu koordinieren, um neue, qualitativ höherwertige Standards zu entwickeln. Entscheidend sind Grundsatz und Ziel der regulatorischen Kooperation: Sie ist nicht verpflichtend, sondern freiwillig. Unterscheiden sich die Schutzniveaus beider Seiten, bleibt die regulatorische Kooperation außen vor und die auf beiden Seiten bestehenden Standards bleiben erhalten. Eine Absenkung von Standards ist damit ausgeschlossen. Regulatorische Kooperation ist kein Selbstzweck, sondern führt zu qualitativ besseren Standards, die weniger Kosten verursachen und Steuergeld sparen. Gleichzeitig ist hierbei die demokratische Kontrolle, u.a. durch das Europäische Parlament und den Rat, sichergestellt.

Die These, dass der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum durch Investitionsschutzklagen geschmälert und damit die Demokratie in Deutschland und Europa eingeschränkt würden, entbehrt jeder sachlichen Grundlage. Es gibt beispielsweise bis heute kein einziges erfolgreiches Schiedsgerichtsverfahren gegen Deutschland – obwohl wir in den letzten Jahren die Umwelt- und Sozialgesetzgebung massiv verschärft oder zum Januar 2015 den Mindestlohn eingeführt haben.

»Es gibt bis heute kein einziges erfolgreiches Schiedsgerichtsverfahren gegen Deutschland.«

Wie sehr die vonseiten der Kritiker angeführten Argumente von der Realität auf Basis des CE­TAVertragstextes abweichen, wird auch bei der öffentlichen Daseinsvorsorge sichtbar. Bundesweit steht Städten und Kommunen die kommunale Daseinsvorsorge selbst zu. CETA ändert daran nichts. Weder werden Kommunen gezwungen sein, für die Öffentlichkeit erbrachte Dienste, wie die Wasserversorgung, zu privatisieren, noch wird ihnen die Möglichkeit genommen, schon erfolgte Privatisierungen rückgängig zu machen. Das gilt auch für Volkshochschulen, Theater und Musikschulen, deren Angebote teilweise mit öffentlichen Mitteln bezuschusst werden. Diese vielerorts eingespielte und etablierte Praxis wird auch mit CETA weiterhin möglich bleiben.

Die Behauptung ist ein Mythos, der hartnäckig angestrengt wird, um CETA zu verhindern. Mit dem geplanten Abkommen gehen Europa und Kanada noch einen entscheidenden Schritt weiter und bauen auf der Erfahrung aus anderen Handelsabkommen auf. CETA ersetzt Schiedsgerichte durch ein dauerhaftes Schiedstribunal, unterwirft Richter einem rigorosen Verhaltenskodex, und ermöglicht die Revision von Urteilen. CETA schützt Eigentum effektiv und bevorzugt keine ausländischen Investoren.

Die lauteste Kritik gilt den geplanten Regelungen zum Investitionsschutz. Auch hier steht die wahrgenommene Realität im Gegensatz zur Faktenlage. Der Kampfschrei der Kritiker ist die Behauptung, kanadische Unternehmen könnten europäische Staaten und Städte verklagen, wenn diese Gesetze verabschiedeten, die sich negativ auf erwartete Unternehmensgewinne auswirkten. Außerdem seien die Verfahren intransparent und fänden im Geheimen statt. Doch was ist der wirkliche Sinn von Schiedsgerichtsklauseln? Das Ziel

Warum CETA mehr als ein Handelsabkommen ist Wenn Kritiker die Beteiligung von Parlamenten in den Mitgliedsstaaten fordern, wirft die Diskussion um CETA eine noch viel grundsätzlichere Frage auf: Was bedeutet es für die repräsentative Demokratie in Europa, wenn sich der Sturm der öffentlichen Entrüstung Bahn bricht?

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stehen − an der Spitze. Europa ist die größte Handelsmacht der Welt.3 Bei CETA könnten wir aus einer Position der Stärke argumentieren. Stattdessen müssen wir uns fragen: Mit wem ist Europa zukünftig überhaupt noch vertragsfähig, wenn wir es nicht mehr schaffen, selbst mit engen Partnern wie Kanada Abkommen zu schließen und wer wird dann überhaupt noch Gespräche mit uns führen wollen?

Die vertragliche Ausgangslage ist eindeutig. Die Mitgliedstaaten haben die ausschließliche Kompetenz, Handelsgespräche zu führen und Verträge abzuschließen, an die EU abgetreten. Unter dem Druck der öffentlichen Debatte hat die Europäische Kommission im Juli 2016 dennoch vorgeschlagen, die nationalen Parlamente in den Entscheidungsprozess einzubinden. Als Folge kann CETA erst dann endgültig in Kraft treten, wenn alle 28 Mitgliedsstaaten dem Abkommen gemäß ihrer nationalen Ratifizierungsmechanismen zustimmen, nachdem zuvor auf europäischer Ebene die beteiligten Institutionen, neben dem Rat vor allem das Europäische Parlament, positiv votiert haben.

Ein Ausweg aus der selbstverschuldeten Selbstverzwergung Wenn die aktuelle Debatte über CETA − und damit über die gemeinsame europäische Handelspolitik im Ganzen − dazu führt, dass die EU vertragsunfähig wird, müssen Handelsgespräche in Zukunft getrennt geführt werden. Einerseits für Themen, die in der Zuständigkeit der EU liegen und andererseits für solche, die unter die Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen. Beide Handelsgespräche würden mit separaten und voneinander unabhängigen Abkommen abgeschlossen. Die Gefahr einer Blockade, wie bei CETA, wäre dadurch gebannt, da nationale Ratifizierungsmechanismen keine Bedingung für reine EU-Abkommen wären. Einzelabkommen könnten scheitern, ohne die Handelspolitik als Ganzes in Geiselhaft zu nehmen. Handelspartnern müsste klar signalisiert werden, dass die Abkommen nicht als Paket existieren, sich aber gegenseitig in ihren positiven Effekten verstärken, sofern beide in Kraft gesetzt würden.

»Die EU-Staaten haben die Handelskompetenz abgetreten.« Wenn CETA in nur einem Mitgliedstaat abgelehnt wird, ist das Abkommen gescheitert. Ein falsch verstandenes Entgegenkommen der Europäischen Kommission verleiht den Mitgliedstaaten eine Vetomacht, welche die Gefahr birgt, uns in ein Dilemma zu stürzen: Die Mitgliedstaaten verfügen über keine Kompetenz, eigenständig Handelsabkommen zu schließen und würden die EU zugleich in ihrem Bestreben, dies in ihrem Namen zu tun, blockieren. Eine unmittelbare und eine langfristige Folge könnten daraus abgeleitet werden. Erstens, CETA − das fortschrittlichste Abkommen, das zwei Parteien jemals verhandelt haben − wäre gescheitert. Zweitens würden wir die Chance, Globalisierung zu gestalten, aufgeben. Stattdessen würden andere Handelsmächte die zukünftigen Standards des weltweiten Handels festlegen.

Gemessen an einer echten gemeinsamen Handelspolitik wäre dieses Szenario eine Lösung zweiter Klasse. Die vermeintliche „Demokratisierung“ − die müßige Wiedereinbindung nationaler Entscheidungsinstanzen − hätte die erfolgreiche gemeinsame Handelspolitik zu Grabe getragen. Der Vorschlag getrennter Verhandlungen bietet jedoch einen Ausweg aus der selbstverschuldeten Existenzkrise, der den angerichteten Flurschaden zwar nicht gänzlich repariert, wohl aber einen pragmatischen Ansatz liefert, ohne das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren: Austausch und Handel stärken, um Europas Wohlstand zu sichern.

Bei aller Kritik an CETA wird oftmals ausgeblendet, dass es neben dem europäischen Binnenmarkt der globale Handel ist, der Europa den Wohlstand ermöglicht hat, auf den wir heute blicken. Die gemeinsame europäische Handelspolitik hat uns mit an den Platz geführt hat, an dem wir heute

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»Bei CETA könnten wir aus einer Position der Stärke argumentieren.« Daniel Caspary MdEP ist Koordinator (Sprecher) der EVP-Fraktion im Ausschuss für Internationalen Handel (INTA) im Europäischen Parlament und Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Gruppe. Er ist Mitglied des Präsidiums der CDU Baden-Württemberg.

1 http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2016/september/tradoc_154959.pdf 2 http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2016/july/tradoc_154734.pdf 3 https://data.oecd.org/gdp/gross-domestic-product-gdp.htm

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Maximilian Weingartner

Die Troika in Großbritannien Ein Ausschnitt aus dem Roman „Ein Königreich für eine Socke“

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ihren Augen fehlte ihm nun einmal das soziale Gewissen, sie schätzte ihn als knallhart ein und unsentimental, so jedenfalls, wie Philipp nicht ungern gesehen werden wollte.

Die Troika in Griechenland: das kennt man. Aber was passiert eigentlich, wenn die Angst vor dem Brexit zu einer Krise führt, in dessen Folge die Troika in Großbritannien einrückt? Und nicht nur möchte sie die Schuldenkrise abwenden, sondern auch die Monarchie abschaffen... Davon schreibt Maximilian Weingartner in seinem satirischen Roman „Ein Königreich für eine Socke“, aus dem wir hier einen Ausschnitt abdrucken.

»Mit fast allen hatte Philipp früher Geschäfte gemacht und verbrannte Erde hinterlassen.«

Der Protagonist, Philipp, hat mit einer Wette auf griechische Staatsanleihen für seine Bank viel Geld verdient und gleich wieder verloren. Ausgerechnet er muss nun als Mitglied einer Troika das hochverschuldete Vereinigte Königreich zu Reformen zwingen. Als erstes soll die englische Monarchie abgeschafft werden. In diesem Kapitel ist die Troika zu Gast bei der britischen Finanzvereinigung und der wichtigsten Gewerkschaft Großbritanniens, um den mächtigen Lobbyorganisationen ihre Reformpläne zu erläutern.

Eine Präsentation vor so vielen Leuten lag jedoch lange zurück. Er hätte seiner Müdigkeit nicht so schnell nachgeben dürfen gestern Abend, und noch etwas üben sollen, auch wenn der Spiegel in seiner Suite noch so trübe war. Noch dazu befanden sich einige ehemalige Kollegen oder Bekannte aus seiner alten Branche im Publikum, wie er zu seinem Entsetzen bemerkte. Matthew, genannt King Midas, weil er aus Scheiße Gold machte.

„Vielen Dank, meine Herren. Zunächst möchten wir uns für den Ärger der vergangenen Stunden entschuldigen“, sagte Franzi, die Troika-Koordinatorin in feinstem amerikanischen Ostküstenenglisch, sendete ein allumfassendes Lächeln in die Runde, doch die Finanzmanager quittierten die Charmeoffensive mit nur feindseligeren Blicken.

Peter, der neben ihm saß, hieß in der Szene nur „Banker des Kreml“, und auch „Fabulous Fabian“ glänzte mit seiner Anwesenheit, obwohl er sonst nur selten seinen Arbeitsplatz verließ. Time is schließlich money. Mit fast allen hatte Philipp früher Geschäfte gemacht und verbrannte Erde hinterlassen. Wenn sich jetzt bloß nicht sein Magen bemerkbar machte. Im Grunde wartete er nur darauf. Aber auch nach den ersten zehn Minuten seines Vortrags spuckte der Vulkan in ihm kein Feuer.

„Das wird nicht mehr vorkommen“, sagte Franzi, das Tremolo in ihrer Stimme hätte auch ein schlecht zu verbergendes Zittern sein können, manchmal war sich Philipp nicht klar, mit welchen Tricks seine alte Schulfreundin gerade arbeitete. „Bitte betrachten Sie die geleakten Reformvorschläge für die englische Wirtschaft und Ihre Branche im speziellen lediglich als Diskussionsgrundlage“, fuhr sie fort, was Philipp als Mitglied der Troika maßlos ärgerte, da er genau diese Reformvorschläge gleich vorstellen musste und sie sehr wohl als nicht verhandelbar erachtete.

Dafür brodelte ein übergewichtiger Herr in der ersten Reihe vor sich hin. Obgleich Philipp doch erst bei der allgemeinen Beschreibung der Situation des Königreichs und noch gar nicht auf die Belastungen für die Banken und Hedgefonds zu sprechen gekommen war, schnaufte er schon hörbar vor Erregung. Während er die gute Ausgangsbasis der englischen Wirtschaft so ausführlich und blumig wie möglich lobte und damit log, dass sich die Balken bogen, ging Philipp im Kopf das Troika-Dossier mit den gefährlichsten Gegnern durch. Wer war der Typ bloß? Es musste Kevin Osborne sein, der einst mit der Broschüre „How to get stinky rich“ seine erste Million verdient und danach nicht nur eine immer noch führende Investmentbank, sondern auch eine Privatuniversität mit dubiosem Lehrkörper gegründet hatte, wo jedes Seminar extra kostete.

Percy, der Gesandte der britischen Regierung nickte heftig mit dem Kopf, was für ihn eine ungewohnt offene Gefühlsäußerung war. Auch in seiner Stimme klang ein gewisses Pathos durch, als er hinzufügte, dass die Finanzindustrie das Rückgrat der britischen Wirtschaft sei. Dass die Bosse diese übliche und sonst durchaus wirkungsvolle Schmeichelei nicht goutierten, machte Philipp nervös, denn nun war er an der Reihe. Franzi hatte ihn ausgewählt, um die Vorschläge zu präsentieren, weil er am meisten Verständnis für das Kapital zu haben schien. In

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»Außerdem werden alle Steuerschlupflöcher geschlossen, damit Reiche ihre Steuern genauso wie Arme bezahlen müssen.«

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seinen Redefluss sicherlich noch unterstützen, dachte Philipp und nahm wieder neben seinen Troika-Kollegen Platz.

Dass er im ganzen Land sein Geld gewinnbringend in Atomkraftwerken anlegte und deren Prototypen sogar nach Indien verkaufte, war bestimmt kein Gerücht, da war sich Philipp ganz sicher.

„Bereits im 16. Jahrhundert befand sich Großbritannien in einer Wirtschaftskrise“, eröffnete Hopkins seine Analyse und begann wie ein Professor durch den Saal zu wandeln, während die ersten Manager mit den Augen rollten und zu ihren Mobiltelefonen und Tablets griffen. Vielleicht um die Anweisung zu geben, ihre prall gefüllten Kontos in Übersee zu räumen. Bye, bye, Barbuda. In der gleichen Sekunde steckte ein Mann seinen Kopf vorsichtig durch die Tür und bat Percy wohl um eine Unterredung, worauf dieser hastig den Raum verließ, wie Philipp beobachtete. Was war nun schon wieder los?

„Um für Gerechtigkeit zu sorgen, werden wir alle Subventionen für die Wirtschaft streichen, um das Haushaltsdefizit auszugleichen und die Banken an die Kandare nehmen“, schoss Philipp seinen ersten Pfeil ab und schaute in die immer noch misstrauischen, aber nicht wirklich überraschten Gesichter. Vielleicht war es gar nicht so schlecht gewesen, dass die Pläne der Troika vorab durchgestochen wurden. Von wem auch immer. Damit waren die Banker auf den Schock schon vorbereitet gewesen. „Außerdem werden alle Steuerschlupflöcher geschlossen, damit Reiche ihre Steuern genauso wie Arme bezahlen müssen.“ Zack. Treffer Nummer Zwei.

„Auch die Eisenbahnkrise im Jahr 1847 sorgte für unglaubliche Umbrüche“, fuhr Hopkins fort, und Osbornes Kopf färbte sich rot wie eine Tomate. Sein Troika-Kollege Sokrates, der sich schon immer für Geschichte interessiert hatte, hörte aufmerksam zu und machte sich eifrig Notizen, zumindest tat er so. Während François, der Handyspiele-Süchtige, ebenfalls beim Trio-Infernale dabei, unter dem Tisch ein heimliches Autorennen gegen I-love-Grenades-67 aus Aserbaidschan fuhr, wie Philipp erspähte.

Der dicke Osborne in der ersten Reihe schien bei diesem Satz fast zu kollabieren. Philipp hörte ein erneutes lautes Stöhnen, so klang ein Vulkan, in dem die Lava kurz vor dem Ausbruch stand. „Zu diesem Zweck streben wir auch einen lückenlosen Datenabgleich mit Banken in Steuerparadiesen an.“ Boom. Mitten ins Schwarze. Nun stöhnte nicht nur Osborne, sondern der ganze Saal. Viele einzelne Vulkane, genauer gesagt.

„Krisen haben sich also schon immer als Chancen für unser Land erwiesen“, schloss Hopkins nach einer gefühlten Stunde seinen Vortrag und blinzelte Philipp zu – wie ein Kollaborateur. Er würde Hopkins eine gute Kiste Cohibas schicken, so viel stand fest. Damit bewaffnet, mochte er dann das nächste Mal seine Ausführungen ins Unendliche dehnen.

Nach einer halben Stunde hatte Philipp alle Punkte abgehakt und eröffnete die Fragerunde, die Franzi moderieren sollte. Dabei gab er ihr mit einem vielsagenden Blick zu verstehen, dass Atomic Osborne, wie er in UK genannt wurde, auf keinen Fall zu Wort kommen durfte. Der Finanzunternehmer plante eine radikale Umwandlung der altehrwürdigen Vereinigung zu einer Kampftruppe, was Philipp als Anhänger Schumpeters und seiner Idee der kreativen Zerstörung zwar gefiel, das Leben der Troika aber noch stressiger machen würde. Keinen Stress zu haben war ihm allerdings wichtiger, als der reinen Lehre zu folgen, war er doch ein durch und durch bequemer und harmoniesüchtiger Mensch.

Nun ergriff Franzi das Wort. Eine Millisekunde vor Osborne, grandios. Sie bedankte sich für die hervorragende Analyse und entschuldigte sich, dass sie und ihre Kollegen sogleich zum nächsten Termin eilen müssten und daher leider, leider keine Zeit für weitere Fragen hätten, die man natürlich gerne online stellen könne. Wie leicht man doch Querulanten mit den Errungenschaften des Internets vertrösten konnte, dachte Philipp. Schnell packte er seine Akten ein, steckte sich ein Buttergebäck in den Mund und legte seinen Corned-Beef-Puffer auf Sokrates Teller, der die Angewohnheit hatte, immer schön brav alles aufzuessen.

Auch Franzi wusste um die Gefahr, sollte Osborne die Gelegenheit erhalten die übrigen Mitglieder aufzuhetzen, und erteilte das Wort John Hopkins, dem Ehrenpräsidenten der Vereinigung, bekannt für seine ausschweifenden Reden im Stile des kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro. Eine dicke Zigarre würde

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wie einen Rollentext seines Laientheaters vor der Premiere, hielt sich François im Foyer noch etwas abseits von seinen Kollegen und unterstrich Wörter, die er betonen wollte.

Und zack, verschwand die Leckerei in seinem Mund. Sokrates grinste Philipp an. Philipp grinste zurück. Nur wenige Minuten später bestiegen Philipp, Franzi und die anderen beiden Troikaner im Hinterhof einen extralangen schwarzen Mercedes-Van, der sie zur mächtigsten Gewerkschaft Großbritanniens bringen sollte. (…)

Eine schlecht gelaunte Schülerpraktikantin, kaum 15 Jahre alt, schätzte Philipp, führte sie wenig später in einem kleinen Raum im Erdgeschoss mit nur einem Fenster. Da er gerade renoviert wurde, ähnelte er einer Baustelle. Seit Tagen war definitiv nicht gelüftet worden, es stank bestialisch nach Farbe und faulen Eiern, überall lag noch Plastikmüll herum. Eine heuchlerische Entschuldigung für das Chaos wurde nicht offeriert, Gebäck und Häppchen auch nicht, nur Leitungswasser mit Chlorgeschmack. Pfui, Teufel.

Auch die Gewerkschaft residierte in einem Glaspalast, der ihr allerdings nicht mehr gehörte. Weil sie zuletzt oft und für lange Zeit Streikgehälter zahlen musste, war sie überschuldet und hatte ihr Gebäude an ein Bankenkonsortium, also an den Teufel, verkauft und zahlte nun eine extrem hohe Miete. Wann die Streikkasse endgültig leer war, und die Gewerkschaftsführung gegenüber der Troika wahrscheinlich einknicken würde, hatte Philipp genau ausgerechnet. Leider war dieser nicht mehr allzu weit entfernte Termin an diesem Morgen überall in den Zeitungen nachzulesen gewesen. Inklusive Philipps Kommentar am Seitenrand: „Ready to kill.“

„Die Gewerkschaften und ihre Arbeiter sind das Rückgrat der britischen Wirtschaft“, scheute sich Percy, der kurz vor Beginn der Präsentation wieder zu ihnen gestoßen war, trotzdem nicht in feierlichem Tonfall zu sagen, obwohl die obersten Bosse die Stellvertreter ihrer Stellvertreter geschickt hatten. In einer Geschwindigkeit wie ein Bankräuber auf der Flucht führte François sodann, ob aus Angst oder wegen des wirklich mörderischen Gestanks, durch die Pläne der Troika und wischte sich immer wieder mit dem mittlerweile sicherlich klatschnassen Taschentuch über die Stirn: die Steuervorteile für die Arbeiter und die Gesundheitsleistungen sollten komplett gestrichen werden, die Rentenbezüge um 30 Prozent gekürzt und alle Arbeitnehmer nun bis 70 arbeiten, egal ob sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr Steine geklopft hatten oder im Büro herumsaßen.

Über den feindseligen Empfang wunderte sich Philipp deswegen nicht wirklich. Ob das Angebot des Gewerkschaftschefs vom vergangenen Abend noch galt? Einen Posten im Aufsichtsrat für die Arbeitnehmerseite eines bekannten Milliardenkonzerns zu übernehmen, der ihm ein jährliches Einkommen von mehreren hunderttausend Pfund einbringen würde? Was ihm aber natürlich im Gefängnis nichts nutzen würde. Denn einige Jahre hinter Gittern drohten ihm bestimmt, wenn er so offensichtlich seine Macht verkaufte. Solche Geschichten kamen immer heraus. Auch Jahre später. Sollte er die Monarchie retten wollen, müsste er äußerst geschickt vorgehen und einen detaillierten Schlachtplan mit allen Eventualitäten entwickeln.

Im Gegensatz zu den hitzigen Finanztypen reagierten die Gewerkschafter mit eisigem, fast vornehmen Schweigen und gespieltem Desinteresse. François sparte sich deswegen einige Zitate von berühmten englischen und französischen Philosophen, die eigentlich das Sahnestück seines Vortrags sein sollten. Philipp hatte fast Mitleid mit dem guten Franz, dessen Verneigung nach seinem Auftritt sehr schüchtern ausfiel. Als er sich wieder neben Philipp setzte, stolperte er beinahe über eine Kabeltrommel: Erschöpft wie nach der Bergetappe L’Alpe d’Huez der Tour de France.

Der Besuch bei den wütenden, aber gerade deswegen leicht auszurechnenden Gewerkschaftern schien im Vergleich dazu ein Kinderspiel. Vor allem, weil er dieses Mal nicht in der Schusslinie stand, sondern sein die Melodramatik liebender französischer Kollege. Sich noch einmal nervös die Karteikarten für seine Präsentation durchlesend

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»Wann die Streikkasse endgültig leer war, und die Gewerkschaftsführung gegenüber der Troika wahrscheinlich einknicken würde, hatte Philipp genau ausgerechnet.«

Maximilian Weingartner hat Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Mannheim und St. Andrews studiert. Seit drei Jahren arbeitet er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Wirtschaftsredakteur. Sein Debütroman "Ein Königreich für eine Socke" ist erhältlich im Buchhandel und online bei Amazon oder Hugendubel.

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Ralf GĂźldenzopf

Erkenntnisse aus dem US-Präsidentschaftswahlkampf

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abgestimmt haben, werden weitere Analysen zeigen. Es wird sich jedoch vermutlich herausstellen, dass nicht die Differenzen in einzelnen Politikfeldern wahlentscheidend waren. Vielmehr werden Charakter, Einschätzung der Lage, Einstellung zu „Washington“ etc. eine wichtige Rolle gespielt haben.

Lassen Sie uns das Kind mit dem Bade ausschütten: Wahlkämpfe, wie sie bis dato in den USA geführt wurden, sind Geschichte. Nach Donald Trump müssen die Wahlkampfbücher neu geschrieben werden. Vergesst Barack Obama, Daten, und vergesst Tür-zu-Tür... Das ist natürlich Blödsinn! Es ist immer gut, sich die Siegerkampagne anzuschauen. Aber genauso wenig, wie der Sieger immer alles richtig gemacht hat, macht ein Verlierer immer alles falsch. Deswegen müssen wir auch in der Bewertung des US-Präsidentschaftswahlkampfes differenzierter vorgehen. Das hätte für eine Präsidentin Clinton ebenso gegolten, wie es jetzt für einen Präsidenten Trump gilt. Pauschalisierung oder Hysterie liefern nicht die Rezepte für künftige Wahlkämpfe – weder in den USA noch hierzulande. Das gilt vor allem, weil die Wahl, wie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder, sehr knapp war.

Als Trump seinen Hut in den Ring warf, wurde er von den meisten Beobachtern schlichtweg unterschätzt. Einige gingen davon aus, er würde es nicht ernst meinen. Andere waren davon überzeugt, dass er aufgrund seiner mangelnden Erfahrung sowie des zweifelhaften Images keine Chance haben und sich selbst zerlegen würde. Das Gegenteil war der Fall: Trump verkörperte authentisch den „Billionaire-Blue-Collar-Guy", wie es Ted Cruz‘ Kampagnenmanager Jeff Roe auf den Punkt brachte. Er hatte eine klare und einfache Botschaft, die emotional zur Stimmung in Teilen der Bevölkerung passte und auch viele Nicht-Wähler erreichte.

»Als Trump seinen Hut in den Ring warf, wurde er von den meisten Beobachtern schlichtweg unterschätzt.«

Trumps Botschaft, seine Provokationen und Angriffe, waren in absolutem Einklang mit seiner Marke: stark, erfolgreich und politisch inkorrekt. Gerade letzteres war gepaart mit seiner glaubhaften Wut, dem Kitt zwischen dem Top-1-Prozent-Mann und seinen Wählern. Das Image war so stark, dass sich vom ersten Tag seiner Kandidatur fast 30 Prozent der republikanischen Vorwähler vorstellen konnten, Trump zu wählen.

Beide Kandidaten bekamen insgesamt jeweils knapp 60 Millionen Stimmen. Auch wenn es nicht darauf ankommt, geht Hillary Clinton wohl als die fünfte Kandidatin in die amerikanische Geschichte ein, die zwar insgesamt die meisten Stimmen, aber am Ende nicht das Amt bekam. In den sogenannten Swing-States, die traditionell knapp entschieden werden, lagen die beiden Kontrahenten häufig nur wenige Prozentpunkte auseinander. So gingen mit Florida, Ohio, Pennsylvania, Wisconsin, Iowa und Michigan sechs Staaten an Donald Trump, die vor vier Jahren noch die Obama-Kampagne gewinnen konnte. In Florida und Pennsylvania sind es nicht einmal zwei Prozentpunkte, die Trump vor Clinton liegt.

Trump polarisierte im Einklang mit seiner Marke von Anfang an. Kein Kandidat ging mit höheren Unbeliebtheitswerten in einen Vorwahlkampf. Allerdings hatte er eine extrem hohe Bekanntheit und das angesprochene Image, das er über Jahrzehnte in den Wohnzimmern der USA aufbauen konnte. Trump hat US-Politik nicht zur Show gemacht. Er hat lediglich deutlich gemacht, dass sie bereits eine große Show ist – und er deren erfahrener Host. „Bad for the country, but good for the ratings“ – die Rolle der Medien

„The Billionaire-Blue-Collar-Guy" – Trump als Botschaft

Mit einer Mischung aus Bewunderung und Ekel bekam Trump mediale Aufmerksamkeit wie kein anderer Kandidat. Er spielte geschickt mit den klassischen und „neuen“ Medien. Und traf instinktiv einen Nerv – sowohl der Medienunternehmen als auch seiner Anhänger.

Die zentrale Bedeutung von Botschaft und Wahrnehmung der Spitzenkandidaten ist gerade in diesem durch eine sehr starke Polarisierung gekennzeichneten Wahlkampf deutlich geworden. „Worüber“ die Wähler am 8. November

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»Jede Attacke auf Trumps Charakter gab ihm die Chance, politisch inkorrekt Stärke zu zeigen.«

Es war aber nicht nur das Image, was half, sondern auch der Fakt, dass Hillary Clinton selbst mit einer Menge „Ballast“ in den Wahlkampf ging. Gerade die Debatten um ihren privaten E-Mail-Server haben zu einer interessanten Entwicklung geführt.

Verschieden Erhebungen haben gezeigt, dass Trump über den gesamten Wahlkampf fast doppelt so viel im Fernsehen genannt worden ist wie Hillary Clinton. Und man sollte nicht vergessen, dass vor allem das Fernsehen nach wie vor einer der wichtigsten Faktoren für eine erfolgreiche Kampagne ist.

Are all news bad news?

»Trump macht Quote!«

Eine Har­vard-Studie stellte zudem fest, dass im Vorfeld der Vorwahlen der überwiegende Teil der Nachrichten positiv bzw. neutral waren. Ein Drittel hatte seine Wahlkampfauftritte und Aussagen im Fokus; 18 Prozent seine Themen und politische Einstellung.

Vor dem Hintergrund sich wandelnder Berichterstattung (Skandalisierung, Verkürzung, Zeitdruck etc.) zeigte sich in der Schlussphase des Wahlkampfes, dass der Kandidat, der im Zentrum der Berichterstattung steht, im Nachteil ist und an Zustimmung verliert. Es scheint, als wären „News“ heute nur noch „Bad News“. Es gab kaum eine Woche, in der es einem der US-Präsidentschaftskandidaten gelungen wäre, die Agenda positiv mit eigenen Themen zu bestimmen – oder bestimmen zu wollen. Im Gegenteil: Der Kandidat im Fokus war fast ausnahmslos unter Feuer und somit in der Defensive. Analog haben die Kampagnen vor allem auf Angriffe auf den Gegner gesetzt.

Trump gelang es gerade in den Vorwahlen, sein Image mit Hilfe der Medien weiter zu festigen und seine Koalition fester zusammen­ zuschmieden. Das könnte der Hauptgrund dafür sein, dass die vielen Schlagzeilen am Ende des Wahlkampfes ihm nicht zum Verhängnis geworden sind.

Eigene Fehler vermeiden, aggressive Krisenkommunikation und Rapid Response werden deswegen zukünftig wohl weiter an Bedeutung zunehmen. Das liegt nicht zuletzt an der Art der Themenauswahl und Berichterstattung. Zum sogenannten „horse-race“-Journalismus ist der „Charakter-Journalismus“ hinzugekommen,

Bereits im März 2016 hatte Trump Fernsehzeit bekommen, die ihn fast zwei Milliarden Dollar gekostet hätte, wäre es Werbung gewesen. Warum? Trump machte Quote!

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der sich vor allem auf Fehler und Schwächen zu konzentrieren scheint. Kein Wunder also, dass in dem Zusammenspiel von Kampagnen und Medien der zurückliegende US-Wahlkampf als einer der negativsten in die amerikanische Geschichte eingehen wird.

wollten. So war das vergleichsweise große Kandidatenfeld der GOP häufig miteinander im Clinch während sich Trump einen nach dem anderen rauspicken konnte. Es gab keinen Zeitpunkt, zu dem sich alle anderen Kandidaten auf Trump gemeinsam einschossen. Im Gegenteil hoffte man, potentielle Konkurrenten hinter sich zu lassen.

Nicht ignorieren, sondern angehen Zusätzlich muss man feststellen, dass die Angriffe auf Trump sein Image und damit seine Position eher gestärkt haben, weil sie eher oberflächlich, im Trump-Stil vorgetragen wurden. Jede Attacke auf Trumps Aussagen, seinen Charakter usw. gab ihm somit nur erneut die Chance, politisch inkorrekt Stärke zu zeigen. Und was fast noch wichtiger ist: Jedes Gefecht lieferte zusätzliche Berichterstattung für Trump. Das hat Hillary Clinton verstanden und in dem Moment geändert, als Trump zum Spitzenkandidaten der Republikaner wurde.

Dass Angriff als die beste Verteidigung gilt, ist bekannt. Das Ignorieren des politischen Gegners – zumal, wenn er einem gefährlich werden kann – scheint daher keine gelungene Strategie. Schon in den Vorwahlen haben die Kampagnen die Mechanismen des Trump-Phänomens falsch eingeschätzt – was nicht verwundert, weil 2015/16 viele Kampagnen-Weisheiten über Bord geworfen werden mussten. Gerade die oben beschriebene Passgenauigkeit von Image, Botschaft und Zielgruppe gepaart mit der Sensationslust der Medien waren so nicht erwartet worden. Dementsprechend hat man Trump zunächst ignoriert und darauf gesetzt, dass er sich selbst ins Aus schießen würde. Niemand war gerade in der frühen Phase der Kampagnen bereit, Trump direkt anzugreifen.

Beispielhaft an den Debatten kann man sehen, wie Clinton ihren Gegner stellen wollte: Angriffe dort, wo er am stärksten galt. Sie hinterfragte seinen Erfolg und seine Stärke. Und im Gegensatz zur Vorwahl hatte Trump kaum die Chance, der Diskussion aus dem Weg zu gehen. Jetzt ist es, wie gesagt, schwer mit Kategorien wie „Erfolg“ zu arbeiten. Allerdings schien diese Strategie sehr wohl aufzugehen. Clinton schaffte es, Trump durch Angriff auf seine vermeintlichen Stärken in die Defensive zu bringen.

Das „Ignorieren" von Trump in der Vorwahl wurde dadurch verstärkt, dass Cruz, Bush, Rubio und Co. spekulierten, am Ende der Kandidat gegen Trump zu sein, und sich zunächst gegenseitig ausschalten

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„traditioneller“ Wahlkampfführung heißt jedoch nicht, dass sie nicht mehr wichtig ist. So muss man bei der Bewertung der Kampagnen beachten, dass die Wahlbeteiligung mit nicht einmal 60 Prozent erneut deutlich gesunken ist. Diese liegt auf dem Niveau der Wahl von 2000 und damit gut sechs Prozentpunkte niedriger als noch 2008. Man kann also schon die Frage stellen, ob eine bessere Mobilisierung nicht auch Trump noch mehr geholfen hätte.

Trump gelang es in dieser Phase nicht, dass er den Kampf zum Gegner brachte. Natürlich hat er auch Clinton an empfindlichen Stellen angegriffen und immer wieder dieselbe Wunde – Clintons Glaubwürdigkeit und Verquickung mit dem „Establishment“ – aufgerissen. Ohne Zweifel war dies auch wirkungsvoll. Doch hat es unter dem Strich „nur“ einen Eindruck weiter verstärkt. Clinton ist es dagegen mit ihrer Strategie „Angriff auf Trumps Stärken“ gelungen, die Dynamik und die Agenda des Rennens zeitweise positiv für sich zu verändern.

»Der persönliche Kontakt bleibt zentrales Element von Kampagnen.«

Clinton hatte jedoch nicht nur das Problem, sich nur mit Trump auseinandersetzen zu müssen. Vielmehr ist sie über die letzten Jahre durch gezielte Salven „sturmreif“ geschossen worden. So war sie vor drei Jahren mit 60 Prozent Zustimmung noch eine der beliebtesten Politiker in den USA. Heute liegt dieser Wert nur noch bei knapp 40 Prozent. Natürlich spielt auch Clintons Krisenmanagement dabei eine Rolle. Das Dauerfeuer hat allerdings dazu geführt, dass Clinton sehr früh negativ definiert worden ist und folglich für Teile der republikanischen Basis als ein rotes Tuch galt.

Sowohl in den USA als auch Europa bleibt der persönliche Kontakt zentrales Element von Kampagnen. Auch wenn die Organisationsform unterschiedlich ist, scheint das Ziel verstanden: Kommunikation zwischen Freunden und Nachbarn. Dabei helfen neue Online-Instrumente und vor allem eine klare Struktur, die Sprechfähigkeit bis in den „letzten Winkel“ garantiert. Die Leute vor Ort müssen die Argumente und Botschaften kennen, um sie zu verbreiten.

Mobilisierung bleibt zentral

Auch hier bieten technische Innovationen Hilfe. Die Nutzung von Apps und Datenbanken hat sich noch einmal vereinfacht, so dass diese Instrumente künftig auch vergleichsweise kleinen Kampagnen zur Verfügung stehen werden.

Trump sorgte im Wahlkampf für einige Anomalien. Man könnte auch sagen, dass er nicht nur eine Herausforderung für das Establishment war, sondern auch für den Berufsstand der Kampagnenmacher. Ohne den üblichen Beraterstab (Strategen, Marketingfachleuten, Umfrageinstituten, TV-Werbern etc.) hat er sich in Windeseile an die Spitze des republikanischen Kandidatenfelds gesetzt. Erst später im Wahlkampf ließ er sich davon überzeugen, nicht nur Geld einzusammeln, sondern auch auf Daten und Online-Werbung zu setzen.

Die richtigen Lehren ziehen Ohne Zweifel war der US-Wahlkampf wieder sehr spannend. Allerdings sollte man vorsichtig sein, aus dem Sieg Trumps ein Rezept für zukünftige Wahlen abzuleiten bzw. alles zu verteufeln, was andere Kampagnen gemacht haben. Es gilt genauer hinzusehen, wie Daten, Organisation und die unterschiedlichen Instrumente ineinandergreifen. Auf jeden Fall kann schon jetzt festgehalten werden: Botschaft, Kandidat und zielgruppengerechte Mobilisierung müssen passen!

Für Mobilisierung und den Aufbau einer schlagkräftigen Freiwilligenorganisation an der Graswurzel hatte er jedoch bis zum Schluss kaum einen Sinn. Hier konnte er sich allerdings auf seine Partei verlassen, die ihn am Ende dann doch unterstützte. Trumps Abneigung gegenüber

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»Clinton schaffte es, Trump durch Angriff auf seine vermeintlichen Stärken in die Defensive zu bringen.«

Ralf Güldenzopf ist seit 2009 Leiter der Abteilung Politische Kommunikation der KonradAdenauer-Stiftung. Der gebürtige Thüringer hat Politikwissenschaft, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität, Jena und der University of Virginia, Charlottesville (USA) studiert.

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03 — 2016

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Chefredakteur: Erik Bertram Geschäftsführer: Michael Lönne Konzeption & Art Direction: Jonas Meyer, jmvc.de Fotografie: Maximilian König, www.maximilian-koenig.com Illustrationen: Roland Brückner, bitteschoen.tv Redaktion: Barbara Ermes, Sebastian Hass, Anja Pfeffermann und Carl-Philipp Sassenrath Bewegtbild: Marcel Schlegelmilch Herausgeber: Dorothee Bär, Ursula Männle, Arnold Vaatz, Mario Voigt, Matthias Wissmann und Jenovan Krishnan als Bundesvorsitzender des RCDS Beirat: Christoph Brand, Stephan Eisel, Matthias Graf von Kielmansegg, Jürgen Hardt, Johannes Laitenberger, Gottfried Ludewig, Fabian Magerl, Heinz Neubauer, Peter Radunski, Hans Reckers, Christian Schneller, Wulf Schönbohm und Johannes Zabel

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CIVIS & SONDE


Wir

spielen

fair

Lega le Spiel ha l len ha lten sich a n d ie R egel n . Die Deutsche Automatenwirtschaft ist sich ihrer Verantwortung für Spieler und Gesellschaft bewusst, darum halten wir uns an strenge Grundsätze, wie: 1. Legal nicht egal: In legalen Spielhallen gelten strenge Regeln zum Schutz der Spieler. 2. Nur ab 18: In legalen Spielhallen dürfen nur Erwachsene spielen. 3. Kein Bier hier: In legalen Spielhallen ist Alkohol verboten. 4. Brief und Siegel: Unsere Spielhallen werden regelmäßig vom TÜV Rheinland und InterCert Saar geprüft. Weitere Informationen zum verantwortlichen Automatenspiel auf automatenwirtschaft.de

Spielteilnahme erst ab 18 Jahren. Übermäßiges Spielen ist keine Lösung bei persönlichen Problemen. Beratung / Info-Tel.: 01801 372700 (3,9 Cent pro Minute aus dem deutschen Festnetz, höchstens 42 Cent pro Minute aus deutschen Mobilfunknetzen).


Briefe Postkarte Pakete Egal was die Welt in Zukunft verschickt – wir haben den StreetScooter fßr den Liefer- und Zustellverkehr der Zukunft entwickelt. 100% elektrisch. 100% CO2-frei.


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