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ConBrio
ò Theos Kurzschluss ò
ConBrio Verlagsgesellschaft · CB 1266 ISBN 978-3-940768-66-7
Geißler
85 kleine Streitschriften zu Politik und Kultur. Wer sie liest, lernt nicht nur den feinsinnigen Beobachter und Wortschöpfer Theo Geißler kennen, sondern auch den Visionär. Die Umbrüche, die durch die Digitalisierung in der Gesellschaft entstehen, die Veränderungen in Kunst, Kultur und Medien, aber auch in der Gesellschaft insgesamt, ziehen sich als roter Faden durch die Artikel. Immer wieder wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk aufs Korn genommen, der Leistungssport sowieso und die Kulturpolitik im Besonderen. Theo Geißler legt den Finger in Wunden, deckt auf. So mancher Beitrag erweist sich in der Rückschau als mächtig weitsichtig.
Theo Geißler
Theos
Kurzschluss
Olaf Zimmermann / Martin Hufner (Hg.)
ConBrio
Theos Kurzschluss
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Theo GeiĂ&#x;ler
Theos Kurzschluss Olaf Zimmermann / Martin Hufner (Hg.)
ConBrio
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Dank für (wenigstens) fünfzehn Jahre zärtliche Begleitung an: • •
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meine Frau Barbara, die öfters schlimmere Grobheiten verhindert hat. meinen Freund Martin Hufner, der sich mit der Gestaltung dieses Werkes sicherlich mehr Mühe gab, als ich mir mit den Texten. die Crew des ConBrio Verlages, allen voran Petra Pfaffenheuser, die geduldig Huffis und meine Gestaltungswahnwitze realisiert hat. Gabi Schulz, die meinen Mitherausgeber der Zeitschrift »Politik & Kultur« namens Olaf Zimmermannn dank reichlicher, unauffälliger Vermischung des von ihm bevorzugten Junk-Foods mit Valium und Beta-Blockern stets zur Freigabe meiner Texte bewog. Theo Geißler
Impressum © 2017 by ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg – www.conbrio.de Alle Rechte vorbehalten Nachdruck, auch auszugsweise, bedarf der Genehmigung des Verlages Printed in Germany
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Gestaltung: Petra Pfaffenheuser / Martin Hufner Satz: Petra Pfaffenheuser Fotos / Umschlag: Martin Hufner Druck: bod ISBN 978-3-940768-66-7 CB 1266
Inhaltsverzeichnis Vorwort (Olaf Zimmermann)
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Theos Kurzschluss 2002
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2003
19
2004
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2005
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2006
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2007
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Wir Glücklichen • Kultur-Ausschuss
Nachfrage-Gerecht • Statt-Entwicklung • Milchmedien-Rechnung • Fuck-Tor Mensch •Atem-Los
Mono-Polis •Toll-Correct •Was der Mensch braucht • Goaßlschnalzen im Versuchsreaktor •Recht-Schreib-Krampf • Im tiefen Tal der Super-Medien
Alles wird gut • Hoyzer for Intendant • Von Seh-Räubern, Raub-Bauern und Schiller-Lockern • Die auf dem Ochsen reitet • Die Ent-Proletarisierung des Steuer-Mehrwerts durch die Gebets-Mühle • Media-Markt: Wir sind der Baum, der Schmetterlingsflügel und die geizige Geilheit
Deformation professionelle – ein vorweihnachtliches Saulus-Erlebnis • Aufbruch-Stimmung kurz vor der nächsten Währungsreform • Die Vermittlung als Mittel des Unvermittelbaren – mit Mittelmaß • Schwarz-Rot-Colt oder Schwarz-Rot-Cold? • Der heilige Zeitgeist ist über uns gekommen... • Gerechtigkeit für alle: Das Schicksal setzt den Hobel an...
Wie der Journalismus mal auf den Hund gekommen ist – und ein Rettungsmodell • Mütterliche Gardinenpredigt – aus allzu gutem Grund • Beim Terrorismusbekämpfungs-Ergänzungsgesetz-Training • Embedded – Besseres Auskommen jetzt auch für Kultur-Journalisten und -Funktionäre • Wie einmal die Kleine Hufeisennase Wolfgang Thierse Glück brachte • Wie Ursula von der Leyen einmal auf eine nahezu geniale Idee kam
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2008
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2009
119
2010
137
2011
155
2012
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Wie die Kultur einmal den Kopf aus einem Rattenloch im Bundestag streckte • Wie sozialverträgliche Steuer-Gerechtigkeit ganz einfach zu erreichen ist • Wie neue Überwachungs-Techniken dem freien Journalismus dienen können • Meldungen aus der Welt des Wahren, Schönen und Guten, diesmal musikalisch • Wie deutsche Kultur als Rucksack des Sportes doch noch ins Grundgesetz findet • Wie ich kürzlich einmal einen Liebesbrief an die Bundeskanzlerin schrieb
Wie ich für meinen inoffiziellen Chef, Wolfgang Schäuble, gern offen reportiere • Wie ich einmal im Ausland überraschend in die innere Emigration geriet • »Taktlose« Kultur-Nachrichten • Wie ich einmal den Stellenmarkt der »ZEIT« sehr vor-zeitig einsehen durfte • Wie ich einmal dem Wahren, Schönen und Guten nachrichtlich dienen durfte • Wie »Das Letzte« für mich einmal das Allerletzte wurde
Wie ich einmal meine geistige Leistungsfähigkeit kulinarisch steigern wollte • Wie für mich der aktuelle Literaturbetrieb einmal zur Existenzsicherung beitrug • Beichte: Wie ich einmal auf vielen Umwegen zum richtigen Glauben fand • Wie ich einmal beim Zukunftsgipfel der Kanzlerin einen Blick in die Zukunft werfen durfte • Wie ich einmal wie immer gutgläubig in die Fänge der richtig Bösen geriet • Wie ich einmal trotz bester Absichten fristlos gefeuert worden wäre
Wie ich einmal in Afghanistan für Frieden und Seriosität sorgen wollte • Wie ich einmal den Öffentlich-Rechtlichen so richtig auf die Sprünge helfen konnte • Wie ich einmal völlig zu Unrecht in die Fänge der Geheimdienste geriet • Wie ich einmal schuldlos ins Zentrum einer griechischen Tragödie geriet • Wie ich einmal dazu beitragen konnte, unser Wirtschaftssystem zu fixieren • Wie ich einmal versuchte, deutsche Kultur in die Wertschöpfungskette zu hieven
Wie ich einmal als privater Politik-Berater schuldlos zu versagen scheine • Wie einmal aus dem »Fluch der Karibik« ein schrecklicher »Fluch der Ägäis« wurde • Wie ich einmal einen künftigen Bundespräsidenten nach vorn bringen konnte • Wie ich einmal Spitzensport mit frühkindlicher Bildung echt versöhnen konnte • Wie ich der Kultur einmal wieder in den Alltag zurückverhalf
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2013
189
2014
207
2015
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2016
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2017
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Nachwort (Martin Hufner)
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Wie ich einmal »wahre Kunst« von einem überflüssigen Konsonanten befreien konnte • Wie ich einmal für unser Land den Sinn der Räterepublik völlig neu erfand • Wie ich einmal unsere Medienlandschaft aus Sicherheitsgründen umgestaltete • Wie ich aus gegebenen Anlässen einmal mein Demokratieverständnis renovierte • Wie ich einmal leider freiwillig in die Fänge der »Freiwilligen Selbstkontrolle« geriet • Wie ich einmal eine Seefahrt organisierte, die überhaupt nicht lustig war
Wie ich einmal in den Besitz der deutschen demokratischen Zukunft geriet • Wie ich einmal vergebens versuchte, das Erscheinungsbild unserer Politiker zu verschönern • Wie ich einmal einen völlig falschen Text für meinen mächtigen Auftraggeber ablieferte • Wie ich einmal versuchte, dank göttlichen Fußballes die Welt zu verbessern • Wie ich einmal die Gründung einer Akademie fürs gesunde Volksempfinden einleiten durfte • Wie ich einmal aus gegebenem Anlass verzweifelt nach einem Fluchtweg suchte
Wie ich einmal versuchte, mit populistischer Blitzbildung das deutsche Volk zu beruhigen • Wie ich einmal an der ökonomischen Rettung Griechenlands überflüssigerweise scheiterte • Wie ich einmal versuchte, mit »Industrie 5.0« die globale Ökonomie zu befördern • Wie ich sportiv dazu beitrage, die Fußball-WM 2018 nach Deutschland zu holen • Wie mir einmal im Ukraine-Urlaub unglaublich Unverkäufliches widerfuhr • Wie ich einmal das Meinige zur Integration von Flüchtlingen in Bayern beitrug
Wie ich einmal unsere schöne Demokratie vor Weimarer Zuständen rettete • Wie ich einmal dazu beitrug, in Deutschland dank der AfD wieder Zucht und Ordnung einkehren zu lassen • Wie ich einmal mit einem seriösen Text beim Senior-Autoren-Wettbewerb der Grünen reüssieren wollte • Wie ich einmal der Kultur im Verhältnis zum Sport eine angemessene Medienpräsenz verschaffen wollte • Wie ich einmal dazu beitragen durfte, das deutsche Sicherheitsbedürfnis wieder zu stabilisieren • Wie ich einmal als überzeugter Europäer leider gezwungen wurde, um Hilfe zu bitten
Wie ich einmal von der Realität überrumpelt und nebenbei auch noch arbeitslos wurde
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Wie ich einmal begann mit Theo Geißler Zeitung zu machen… So oder zumindest so ähnlich wäre ein Geißlerscher Anfang für ein Vorwort der gesammelten »Geißler-Texte« aus Politik & Kultur, der gemeinsam von Theo Geißler und mir herausgegebenen Zeitung. Fünfzehn Jahre wird Politik & Kultur in diesem Jahr alt. Das sind fünfzehn Jahre ausgezeichnete Zusammenarbeit, anregende Diskussionen und Streite und vor allem sind es 85 Kurzschlüsse von Theo Geißler, die in diesem Buch versammelt sind. Theo Geißler ist ein Verleger alten Schlags, der mit Herzblut und Haltung die Publikationen seines Verlags entwickelt, begleitet und teilweise auch herausgibt. Und Theo Geißler ist ein streitbarer Autor, der seine Meinung nicht den ökonomischen Interessen seines Verlages unterordnet. Politik & Kultur, liebevoll »puk« genannt, wurde von Theo Geißler und mir gemeinsam entwickelt, es ist unser Baby. Wir haben anfangs zusammen über den Namen gebrütet, über potenzielle Autorinnen und Autoren, über die Gestaltung, über Texte. Wir haben überlegt, wie unabhängig kann und muss eine Zeitung sein, die von zwei Personen herausgegeben, aber von einem Verband, dem Deutschen Kulturrat mit »Staatsknete«, finanziert wird. Müssen Rücksichten genommen werden auf den Geldgeber, die Bundesregierung? Gibt es Tabus mit Blick auf die Mitglieder des Deutschen Kulturrates und deren Interessen? Theo Geißler und ich sind der Meinung, dass ein Verband, der als ersten Satzungszweck das Eintreten für Kunst-, Publikations- und Informationsfreiheit formuliert, auch kritische Stimmen aushalten muss. Dieses Prinzip ist die Leitschnur für Politik & Kultur – auch wenn es manchem Leser mitunter übel aufstößt. Es ging aber nicht nur darum, das Baby Politik & Kultur aus der Taufe zu heben. Es musste gehegt und gepflegt werden, seine Kleider, also die Gestaltung, musste erneuert werden. Neue Autorinnen und Autoren wurden gewonnen, Beilagen und Dossier kamen hinzu, fünfzehn Bücher »Aus Politik & Kultur« wurden herausgegeben und vieles andere mehr. Gelegentliche Streite und lautstarke Auseinandersetzungen sind das Salz in der Suppe unserer gemeinsamen Herausgeberschaft.
Ein Vorwort
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Dass Theo Geißler zusätzlich in fast jeder Ausgabe von Politik & Kultur seine Feder gespitzt und ein launisches Pamphlet geschrieben hat – und weiterhin schreiben wird –, zeigt für mich die Verbundenheit zur »puk«. Die 85 erschienenen kleinen Streitschriften sind in diesem Buch zusammengeführt. Wer sie liest, lernt nicht nur den feinsinnigen Beobachter Theo Geißler kennen, den Wortschöpfer, der allen Korrekturleserinnen den Schweiß auf die Stirn treibt, sondern den Visionär. Wer den ersten Text dieses Buches liest, in dem Theo Geißler auf das seinerzeit neue Windows XP eingeht, spürt, dass hier das vernetzte Haus, das Smart Home, vorweggenommen wurde. Überhaupt Digitalisierung, die Umbrüche, die durch die Digitalisierung in der Gesellschaft entstehen, die Veränderungen in Kunst, Kultur und Medien, aber auch in der Gesellschaft insgesamt, die drohende Überwachung ziehen sich als roter Faden durch die Artikel Geißlers. Weiter wird immer wieder der öffentlich-rechtliche Rundfunk aufs Korn genommen, der Leistungssport sowieso und die Kulturpolitik im Besonderen. Theo Geißler legt den Finger in Wunden, deckt auf und so mancher Beitrag erweist sich in der Rückschau als mächtig weitsichtig. Nun also zum 70. Geburtstag meines Mitherausgebers und Freundes die Sammlung von Texten, die von Martin Hufner mit einleitenden Informationen zum Zeitgeschehen und mit weiterführenden Informationen versehen wurde. Dies alles ist aber nur ein Zwischenschritt, denn ohne Geißlers »Kurzschlüsse« ist die Politik & Kultur unvollständig – also weiterhin Mut und Ideen und eine spitze Feder. Olaf Zimmermann
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2002
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Wort des Jahres Teuro Unwort des Jahres Ich-AG Hits/Album Las Ketchup – The Ketchup Song ò Yvonne Catterfeld – Für dich Friedensnobelpreis Jimmy Carter Literaturnobelpreis Imre Kertész Kulturgroschen Bernhard Freiherr von Loeffelholz Bosch-Pfennig Felix Janosa / Jörg Hilbert (Ritter) Deutscher Fußballmeister der Frauen 1. FFC Frankfurt Formel 1 Weltmeister Michael Schumacher Kulturhauptstädte Europas Brügge, Salamanca Internationales Jahr des Kulturerbes ò Der Euro wird als neue Währung in Umlauf gebracht ò 1. März: Die erste Ausgabe der Zeitung »Politik & Kultur« des Deutschen Kulturrats erscheint bei ConBrio ò 31. Mai bis 30. Juni: 17. Fußball-WM in Japan und Südkorea; Brasilien gewinnt das Endspiel gegen Deutschland mit 2:0 Toren und wird zum fünften Mal Weltmeister. ò 1. Oktober: Wiedereintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in die UNESCO ò Der Deutsche Musikrat stellt Insolvenzantrag ò 11
Wir Glücklichen
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P&K Nr. 03/02, S. 28
Ein wenig Science Fiction: Wir befinden uns im Jahre 84 nach Bill Gates Geburt. Sie wollen eigentlich eine CD kaufen, ein Buch, ein Bild, eine Plastik. Galerien, Plattenläden, Buchhändler gibt es längst nicht mehr. Zu personalintensiv, unrentabel. Solche Transaktionen finden nur noch über zentrale Distributoren im Internet statt. Ihr Home-Entertainment- und Shopping-Center nimmt also Kontakt mit dem euroasiatischen Zentrallager für Kunst, Kultur und Medien auf. Zunächst wird Ihre Bonität überprüft. Kontostand, Regelmäßigkeit Ihrer Bezüge, Zustand ihrer Versicherungen, Zustand ihrer Gesundheit. Dann Ihr Einkaufsverhalten. Es ist im Zentralrechner gespeichert und für jede Produktgruppe durchanalysiert und vernetzt. Augenscheinlich lieben Sie Brahms, Grass, Sting und Miró. Ihre sexuellen Vorlieben spielen beim angestrebten Geschäft ausnahmsweise keine Rolle. Wie auch immer: Aus den vorhandenen Daten lässt sich gepflegtes Beratungspotenzial ableiten. Weil Sie außerdem nativ gepresstes Olivenöl bevorzugen, unter einer Gänsefeder-Daunendecke schlummern, überdurchschnittlich viel Weißwein trinken und Ihre Kühltruhe bereits zwei Jahre auf dem Buckel hat, teilt man Ihnen als Sonderangebot eine FunktionsPlastik aus dem Hause Honeywell-Bosch zu. Einen modisch verchromten Drei-Rollladen-Schrank im zeitgenössischen Niki-deSaint-Phalle-Retro-Design mit integriertem Eisfach, MP5-Player und hydraulischem Korkenheber. Als Bonus-Geschenk für treue Kundschaft gibt’s eine historische Simmel-Gesamtausgabe obendrauf – wer könnte da widerstehen. Zurück nach 02: Ihr neuer Personal-Computer zählt zu den 98,2-Prozent seiner Gattung, die mit dem revolutionären Betriebssystem Windows-XP ausgestattet sind. Es zeichnet sich durch überzeugende Stabilität, phantastische Usability und revolutionäre Kundenorientiertheit aus. Schluss mit dem risikoreichen Installationsgefummel früherer Versionen. Dreißig Millionen Steuerzeilen machen das Programm so intelligent, dass es auch ungewöhnliche Hardware-Konfigurationen mit traumwandlerischer Sicherheit erkennt und einbindet. Segensreich die Add-Ons: Internet-Explorer, Mediaplayer – mächtige Kommunikations-Werkzeuge für alle erdenklichen Formen von Kontaktaufnahme. Vor allem auch für den direkten Zugriff des Programm-Lieferanten Microsoft auf den Rech-
ner des Kunden. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt. Die Kontrolle über den Festplatteninhalt sichert schließlich die Funktionstüchtigkeit des Systems. Automatisch ist man immer up (to) date. Und gegen eine Meldung urheberrechtlich geschützter und damit kostenpflichtiger Festplatteninhalte Ihres Personal-Computers zwecks späterer Abrechnung an eine zentrale Datenbank können nur notorische Räuber geistigen Eigentums jedenfalls fadenscheinige Einwände erheben. Nicht aber wir kulturbeflissenen Gutmenschen, die wir wissen, dass jede kreative Mobilie, die menschlicher Geist schöpft, in unserer Info-Gesellschaft einen vergleichbaren Stellenwert besitzt wie die von der Bank geschätzte Immobilie. So sind die Anfeindungen, denen Microsofts Programmentwickler immer noch ausgesetzt sind, all die Schnüffel-Vorwürfe, letztlich das Ergebnis einer fehlgeleiteten Bildungspolitik in den vergangenen wenigstens 70 Jahren. Ewig rückwärtsgewandte, hochsubventionierte Moralapostel und Apologeten unrealistisch-humanistischer Individualitäts-Fetischismen nahmen unter dem Mäntelchen pädagogischer Verantwortung unseligen Einfluss auf drei ganze Generationen. Ein typischer Protagonist dieser Bewegung meldete sich schon 1948 lautstark zu Wort: Schon seine Biografie ist charakteristisch: George Orwell, geboren 1903 in Motihari, Indien, schlug sich als Tellerwäscher, Vagabund und Lehrer durch, bis er im spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Republikaner kämpfte. Er starb 1950, zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines Pamphletes »1984«. Dabei handelt es sich um eine zeittypisch paranoide Phantasmagorie über einen angeblich totalitären Überwachungsstaat, die es, hochgeputscht von einschlägigen Ideologen, bis zur Schullektüre brachte. Erst die Aufklärungsbewegung der Postmoderne wies dieser Ausblühung eines kranken Gehirns den angemessenen Platz auf dem Schrotthaufen überflüssiger Texte zu. Wer gern über his-
Windows XP kam am 25. Oktober 2001 auf den Markt. Das interne Versionskürzel lautet Windows NT 5.1 und der interne Codename in der Entwicklungsphase war Whistler. Um Software-Piraterie einzudämmen, verwendet Microsoft bei Windows XP erstmals das System der Produktaktivierung. Bei diesem Verfahren tauscht das Betriebssystem im Zuge der Installation bestimmte Daten mit Microsoft aus, bevor eine dauerhafte Verwendung gestattet wird. Im November 2016 zeichnete US-Präsident Barack Obama Bill Gates mit der Presidential Medal of Freedom aus.
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torische Irrtümer lacht, findet ein Restexemplar dieses Machwerks, das als Taschenbuch bei Ullstein zum Preis von 7,95 Euro erschienen ist, vielleicht noch bei seinem Buchhändler um die Ecke. Den Löwenanteil der letzten Auflage hat Microsoft als Hauptsponsor der »Aktion für mentale Erneuerung« dem verdienten Recycling zugeführt.
Kultur-Ausschuss
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P&K Nr. 04/02, S. 28
Da kommt ein unschuldiger Provinz-Feuilletonist endlich mal in die politische und deshalb auch kulturelle Schaltzentrale unseres Landes, ins Berliner Regierungsviertel. Er darf sofort eine elementare Erkenntnis nachvollziehen: Die Demokratie wurde von den Pharaonen erfunden. Volksnähe ist zwangsläufig gigantisch. Der Fortschritt besteht in der Quadratur des Dreiecks, in der Verkubung der Pyramide. Gelangt man, nach einem vorsichtigen Bogen um den fast schon wieder untypischen, cheopesksphinktischen Reichstag in die Gedanken-Schmieden des politischen Lebens, ins Paul-Löbe-Abgeordnetenhaus zum Beispiel, verdeutlicht sich ein altes Karl-Marx-Graffitto grell. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Nur ein großer Kopf mit viel Platz zwischen Hirnrinde und Schädel kann sich solche Raum-Fülle ausgedacht haben. Zweihundert Meter Weitblick, umrankt nur von Beton, Glas und Stahl. Ein ästhetischer Mix aus Stammheim und U-Boot-Bunker. An den Wänden flankiert von Arbeitskokons, die wie griechisch-orthodoxe FelsEremitagen in die Flanken des Baus gemeißelt wirken. Eingelassen in den Boden Messing-Lettern, längenmäßig definiert durch beinahe überirdische Bedeutung: Der Klappentext zu Johannes Mario Simmels Werk »Es muss nicht immer Kaviar sein«. Freiheit, die ich meine, in diesem Bau entsteht die Sehnsucht nach Dir, ahnt der Provinz-Feuilletonist noch unbefangen. Feuilletonisten-Besuche haben bekanntlich immer einen Sinn. Mal gibt‘s was zu trinken, mal auch was zu essen, diesmal gab‘s Kultur-Ausschuss pur. Zu ihrer ersten Sitzung in dieser jungen Legislaturperiode trafen sich die zur Auseinandersetzung über Künste und Medien verdonnerten Abgeordneten unseres hohen Hauses im Beisein der schier noch jungfräulichen Kulturstaatsministerin Christina Weiss. Das Sein bestimmt das Bewusstsein und der Raum das Sein, zumindest mit.
Wir sind noch immer in Berlin. Man imaginiere also eine Bärenmarken-Büchse mit zwanzig Metern Durchmesser und proportional adäquater Höhe. Sie ist in einen Winkel des Paul-Löbe Abgeordnetenhauses geklebt und dient als Kulturausschuss-Meeting-Point. Auf dem Bärenmarken-Büchsenboden befindet sich ein großer runder Tisch für die abgeordneten Ausschuss-Mitglieder. Auf einem Stuhl-Rund dahinter sitzen die Ausschuss-Mitglieds-Mitarbeiter. Dann kommt die Wand. Knapp unter dem Deckel der Bärenmarken-Büchse – also etwa drei Stockwerke höher – befindet sich ein emporenähnlicher schmaler Ring mit etlichen Klappstühlen für die sogenannte Öffentlichkeit, das Volk, das gelegentlich Zutritt findet. Ein – zugegebenermaßen etwas kindliches Machtgefühl, man könne den Abgeordneten quasi demokratisch auf den Kopf spucken – weicht rasch dem subjektiven Eindruck totaler Mundtrockenheit, erzeugt durch aufsteigende Abgeordneten- und Mitarbeiter-Warmluft, deren gesamte Feuchte unerreichbar am Büchsendeckel vom Klimaautomaten abgesaugt wird, fadstaubige Hitze hinterlassend; und das Wissen um eine multikulturelle Berliner Gastronomie. Konsequent erhebt sich der Minderwertigkeitskomplex des Provinz-Feuilletonisten in den Zustand finaler Berechtigung. Mindestens neunzig Prozent aller kultureller Aktivitäten dieses Landes konzentrieren sich auf die Bundeshauptstadt – nimmt man schlicht den Zeitaufwand für die behandelten Projekte während dieser Kulturausschuss-Sitzung als Maß ihrer politischen Bedeutung. Die Künste sind fester preußischer Kulturbesitz, ob Mahnmal, ob Stadtschloss, ob Opern-Dilemma: Berlin bleibt Berlin, »auch wenn seine Kulturinstitutionen unreformierter als anderswo seien« (Christina Weiss) (wo denn bloß?, Die Redaktion). Den ehedem unschuldigen Provinz-Feuilletonisten konnten jedenfalls auch die nett einstudierDas Paul-Löbe-Haus wurde 2001 eröffnet. Das Gebäude enthält 1.700 Räume und 61.000 m² Hauptnutzfläche. Es dient vorrangig der Unterbringung von Funktionsbereichen, die für den reibungslosen Parlamentsbetrieb die Nähe zum Reichstagsgebäude erfordern. Hierzu zählen 550 Büros für 275 Abgeordnete, 21 Sitzungssäle für die Ausschüsse und etwa 450 Büros der Ausschuss-Sekretariate sowie ein Restaurant für Abgeordnete, Mitarbeiter und Besucher. Nach der Bundestagswahl 2002 wurde Christina Weiss am 22. Oktober 2002 als Staatsministerin im Bundeskanzleramt und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien in die von Bundeskanzler Gerhard Schröder geführte Bundesregierung berufen.
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ten kabarettistischen Einlagen diverser Kulturausschuss-Mitglieder nicht mehr richtig erfreuen. Der Einwurf eines FDP-Abgeordneten, Demokratie sei von den Neandertalern erfunden worden (»Frauen und Beute verantwortungsbewusst selber schultern«) stimmte ihn nahezu depressiv. Er fühlte sich selber im wahrsten Sinn des Wortes als Kultur-Ausschuss und beschloss, einer Versetzung in die Landwirtschafts-Redaktion seiner Zeitung keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen.
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Wie wäre es, wenn alles so wäre, wie es ist
Ein kurzes Nachwort
»Ein unbescheidener Titel. Im Titel liegt das, was man gewollt hat. Und im Inhalt das, was man nicht gekonnt hat. Die Gegenwart wird ihn verdammen, pardon, belächeln. Aber die Zukunft wird ernst und nachdenklich bleiben. Ein Wegweiser ist kein Ziel. Aber o o ein Weg-Weiser!« So beginnt Peter Altenbergs Text »Pròdromos« aus dem Jahr 1906. Wie bescheiden im Ergebnis, wie unbescheiden im Ziel. In einer Zeit, in der man meinen möchte, die Posaunen von Jericho bliesen einem aus jedem Text entgegen, der in aktueller Aufmerksamkeitsmanier verfasst wird. Da muss es fast fatal blödsinnig erscheinen, mit chronischem Masochismus auf kulturpolitische Entwicklungen der letzten 15 Jahre zurückzuschauen. Was interessiert einen schon der Datenschutz von gestern oder die eine oder andere Indoktrination eines Konzernchefs, die vermittels sogenannter Lobbyarbeit in die Politik einsickerte. Die Namen der Akteure sind teilweise längst vergessen, man wird sich ihrer bald schon nicht mehr erinnern. Die eine oder andere Sport- oder Kulturarena wird noch den Namen des einen oder anderen Konzerns oder Produktes tragen, die eine oder andere Schule nach ihm benannt sein, sie werden zum bloßen Kulturungut. Es wird ihnen gehen wie vormals den zahlreichen Generälen, die die Straßennamen verunzieren – in scheinbar gleicher Wertigkeit mit Komponisten, Schriftstellern, Bildenden Künstlern, anderen Geistesarbeitern oder Wesen aus Fauna und Flora. Vorbei ist aber nicht vorbei. Auch solche Kultur setzt sich ab wie abgenickte und ungelesene Datenschutzerklärungen oder »Allgemeine Geschäftsbedingungen« auf Internetseiten. Auf der anderen Seite das, was der französische Philosoph Michel Serres mittlerweile als die fünfte Macht erkannt hat, »unabhängig von den vier anderen, der legislativen, der exekutiven, der judikativen und der medialen«: die Daten. Herrscht man über die Daten, herrscht man über die Gesellschaft. Die Daten sind dabei so verteilt, atomisiert und unendlich, dass sie für jeden Einzelnen oft den Rang der Nutzlosigkeit, neben dem der Bequemlichkeit einnehmen. Also Schwamm drüber? Hoffen, es wird schon nicht so ernst werden, wie es ist? Theo Geißlers Antwort ist eine andere.
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Wie kann man stattfindende kulturpolitische Bewegungen »vermitteln«, also Politik, die Kultur macht? Sicher über Texte, die mit Methoden anerkannter Wissenschaft die Vorgänge analysieren. Aber wie sicher sind deren Erkenntnisse, wenn doch die Methoden selbst nicht wissensneutral sein können, sondern bestimmten, mehr oder weniger anerkannten Standards entsprechen. Als Gefahr lauert da ein trockener, leerer Szientismus. »›Szientismus‹ meint den Glauben der Wissenschaft an sich selbst, nämlich die Überzeugung, daß wir Wissenschaft nicht länger als eine Form möglicher Erkenntnis verstehen können, sondern Erkenntnis mit Wissenschaft identifizieren müssen,« schreibt Jürgen Habermas in seiner Studie »Erkenntnis und Interesse«. Dieser Weg ist gangbar, aber er kann nicht halten, was er zu versprechen scheint. Wissenschaft ist nicht neutral, sondern gebunden und immer gefärbt. Damit verliert sie den politischen Stachel, während sie hintenherum laufend sozusagen die Blutwerte der Gesellschaft verändert. Aus der Praxis einer politischen Arbeit heraus ist es aber ebenfalls nicht einfach möglich, Kulturpolitik zu vermitteln. Politik ist tendenziös, sie ist Programmen untergeordnet, sie ist alles andere als frei. Politiker dokumentieren ihre Gedanken, und so gegenläufig die geläufigen Programme auch immer sein mögen, sie sind politischer Arbeit zugeordnet – also dem Erzeugen von Recht, das sich schließlich in Gesetzen oder anderen Entscheidungsformen niederschlägt. Politik Macht Kultur! Politik ohne Praxis wäre absurd. Aber kann man so ein Grundvertrauen in ihr Tun erlangen? Wohl eher nicht. Der Journalist schließlich dokumentiert Dokumente und Taten, er kann die Wirkungen von Kulturpolitik beschreiben. Dazu wird er aber unterkomplex bleiben müssen, er wird Partei ergreifen müssen, die nackte Wahrheit der Dokumentation ist eine Illusion. Damit soll diese Tätigkeit nicht kleingeredet sein. Wenn man sich nicht auf die ernsthafte Neugier dieser Begreifer verlassen könnte, würde man nur wie unter einem Schleier mit dem Blick auf Politik und Kultur leben. Kulturpolitik aufdecken, das heißt Kulturpolitik sichtbar machen, muss doch auch anders gehen. Und das geht dummerweise besonders gut auf einem leider sehr verdächtigen, wo nicht gar verrufenen Weg, dem künstlerischen nämlich. Also der Lüge an sich, der Erfindung einer Realität, dem »Schein«. Alles in der Hoffnung, Kunst
könne sichtbar machen, was die Welt durch ihr bloßes Da- und Sosein mehr verdeckt als offenbart. »Wovon man nicht schweigen darf, darüber muss man reden«, muss seitens der künstlerischen Bewältigung dem Wittgensteinschen Diktum entgegengehalten werden. Theo Geißler hat in seiner Kolumne »Kurzschluss« für die Zeitung des Deutschen Kulturrats »Politik & Kultur« alle drei Sphären zusammengebracht und in Sprachkunst umgewandelt. In den ersten Jahren in der Form der Glosse, später als »embedded journalist« im Auftrag der Regierung – um präzise zu sein, zuerst und vor allem als Schreib-Lakai des vormaligen Innenministers Deutschlands: Wolfgang Schäuble. In seinen am Anfang stehenden Glossen finden sich Überschriften aus regelmäßig mindestens zwei zusammengestellten Worten wie beispielsweise »Toll« und »Correct«, »Fuck« und »Tor« und »Mensch«, »Milch« und »Medien« und »Rechnung«. Sie werden sodann zusammenmontiert und zusammenkomponiert und in diesem Moment zugleich dekomponiert, die Titel funkeln. Sie spannen ein semantisches Wortfeld der mehrfachen Mehrdeutigkeit auf wie ein Schirm, unter dem dann der Text mal in die eine, dann in die andere Richtung folgen kann. Es sind keine Ambivalenzen der Beliebigkeit, die daraus entstehen, sondern die Texte rennen an die Wände der Vernünftigkeitsgrenzen unserer Wirklichkeit, wie eine Maus in einer Versuchsanordnung. Nur, dass es hier immer wieder gelingt, die Grenzen zu durchbrechen und für Momente eine Außenansicht des kulturpolitischen Feldes zu erhalten, in dem dann die Erkenntnis durchblinzelt. Das ist vergnüglich auch, weil die Verzerrung die Windschiefigkeit der kulturpolitischen Entwicklungen das Bild klärt. Oder mit den Worten Geißlers: Es handelt sich um »kontrolliertes Schreiben« (aus »Beim Terrorismusbekämpfungs-Ergänzungsgesetz-Training«, P&K 03/2007). Wir haben das für diese Buchausgabe der Texte Geißlers versucht zu konterkarieren, in dem Jahreschroniken vor die jeweiligen Texte gestellt wurden: nackte Daten aus der Wikipedia zum überwiegenden Teil. Und wir haben das konterkariert mit kleinen Subtexten, die als Orientierungspunkte, vielleicht schon nicht mehr so präsenter historischer Daten, dienen sollen und als mentaler Refresh in eben dieser neutralen Sprache verfasst sind, die Wertneutralität vortäuscht und damit geeignet erscheint, den Evidenzcharakter des Haupttextes noch zu steigern.
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Dem Terror der Üblichkeiten kultur-politischen Handelns begegnet Geißler durch einen Maßnahmenkatalog des Unüblichen, um das Unmögliche dort beim Schopf zu greifen, wo es tatsächlich liegt, nämlich auf der Hand. Das ist das Moment des Utopischen im Text. In anderen Texten werden Personen und Positionen verschoben wie bei einer der Rundfunkkritiken »Hoyzer for Intendant«, aber auch weiteren. Ein neues Spiel beginnt, Geißler lässt die Puppen und Institutionen tanzen und dribbelt wie mit dem Hölzenbein durch das kulturpolitische Netz, Schwalben werden gekonnt inszeniert. Das lässt den distanzierten Kolumnen-Autor irgendwann nicht mehr zu, er muss sich selbst als Kulturmarktteilnehmer enttarnen. Der Journalist Theo Geißler wird zum Gegenstand und zum Opfer seines Treibens. Nach Spinoza gilt hier die Maxime, »dass man alles denken darf, wo man nicht alles tun darf.« Geißler denkt durch, was man wohl dennoch täte, wenn man es nur gedurft hätte. Mit einem luxuriösen Sprachstil und in Bildern, die man mit gutem Grund und ohne Schwierigkeiten sofort als Filmdrehbücher umschreiben könnte, entfaltet und bläst er die sauerstoffarme kulturpolitische Wirklichkeit so auf, dass sie am Ende nur um so großartiger kollabieren kann. Einfacher gesagt, er übertreibt maßlos und großzügig – geradewegs wie ein Ritter auf dem kulturellen Ergometer. Dabei lässt er sich und seine Leser hineinziehen in einen aktionsreichen Strudel von Verrücktheiten, vor dem selbst die gar nicht fiktionalen Auftraggeber seiner fiktiven Aufträge zuerst erblassen dürften, um dann mit aller Konsequenz den radikal Unbequemen aus dem Heißluftballon der Fantasie zu stoßen. Scheitern muss dieser Ritter, er bleibt restlos chancenlos vor der Allmacht der Politik. Aber das Scheitern macht uns diesen Journalisten sympathisch. Damit wandelt sich zugleich die Form der Kulturkritik. Sie nimmt Adornos Kritik an ihr auf, die er im Aufsatz »Kulturkritik und Gesellschaft« (Frankfurt am Main 1976, S. 7) so formulierte: »Dem Kulturkritiker paßt die Kultur nicht, der einzig er das Unbehagen an ihr verdankt. Er redet, als verträte er sei‘s ungeschmälerte Natur, sei‘s einen höheren geschichtlichen Zustand, und ist doch notwendig vom gleichen Wesen wie das, worüber er erhaben sich dünkt.« Durch die Anerkenntnis des Positionswechsels, nämlich zugleich Agent und Gegenstand von Kultur(politik) zu sein, kann die Erkenntnis des Einblicks endlich greifen und wird, wie man
sieht und liest, zugleich lächerlich und ärgerlich für das Umfeld, das sie zum Sujet hat. Aber in diese Kampfzone muss er eintauchen. Und natürlich muss er dies in Form der Fiktion tun und gestalten. Aber auch in einem weiteren Punkt unterscheidet er sich vom Gegenstand der Kritik Adornos: Der Bereich, auf den Geißler sich bezieht, ist nicht die Kulturkritik als gesamter Block, sondern speziell der einer Kulturpolitikkritik – er tut dies nicht nur textlich vor Ort im Auftrag von Ministerien, sondern auch in demjenigen Zeitungsorgan, in dem Fragen der Kulturpolitik auf vielen Ebenen erörtert und dokumentiert werden, der Zeitung »Politik & Kultur«. Mag das dem einen oder anderen als Feigenblatt (also nicht die Zeitung, die man umgangssprachlich auch als Blatt bezeichnet) erscheinen, so ist doch fast kein besserer Platz dafür denkbar. Das ist alles andere als »feige«. Längst hat die Einfalt, die leichte Lösung als Logik einer pervertierten Politik Raum verschafft. Wir können einerseits nur hoffen, dass sie sich nicht durchsetzen wird in der Realpolitik eines eindimensionalen Terrors. Dagegen setzt der »embedded journalist« Geißler die Macht der Vielfalt, des Queren und auch der Hypertrophie. Kulturpolitik ist kein leichtes Geschäft; Kulturpolitik, die sich aus einem Law-and-Order-Denken der innen- oder finanzpolitischen Praxis speist, wird aber zur Perversion, denn sie verliert ihren eigentlichen Gegenstand, die Kultur nämlich, aus den Augen, wo sie nicht gar auf sie zerstörerisch wirkt. Diesen Abgrund haben die hier versammelten Texte immer im Visier, sie tänzeln am Rande des kulturpolitischen Vulkans. Dabei schaut Theo Geißler in den Schlund mit einer körperlich verzweifelt-überschäumenden Laune und Lust. So wird das zu einem notgedrungen unendlichen Abgesang auf das Falsche, Ungute und Unschöne. Man muss die »versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt«, schreibt Karl Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Der Tanz, den Theo Geißler hier im Visier haben könnte, wäre vielleicht am ehesten ein Zwiefacher und vielleicht genausosehr eine profane Polonäse Blankenese. Denn die Versteinerung kennen wir heute in der Form eines Schleimbatzens, der viele Formen annehmen kann und sich dennoch nicht an die Wand nageln lässt. Da ist Beweglichkeit beim Versuch gefordert, eine Sprache im Stechschritt müsste versagen.
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Wie also wäre es, wenn alles so wäre, wie es ist? Sichtbar wird es durch solcherlei Texte, aber da wird etwas übersehen. Deshalb noch einmal »Halt!«: Die Kunst Geißlers wie alle Kunst kann nicht nur in der Kunst der Aufklärung bestehen, sondern auch im Verrätseln. Ohne diese Zutat fehlte ein wichtiges Element des Denkens in und über Kulturpolitik und vor allem ein Element der Kommunikation mit den Lesern, die schließlich gefordert sein möchten und nicht nur bedient. Sonst wäre das Tun sehr vergeblich, weil es sich dem Niveau eines Groschenromans annäherte als Groschen-Glosse oder -Shortstory, an deren Existenz in weiteren Medien leider kein Mangel herrscht. Der neuen Unübersichtlichkeit kommt man nicht bei durch eine Klärung mit der Gewalt des argumentativen Holzhammers, wie er zurzeit wieder neuer Beliebtheit sich erfreut, sondern nur, indem man diese Situation spielerisch nach außen, schmerzhaft nach innen aushält. Diesen Schmerz wohl auch bei allem Witz spürt man nicht nur zwischen den Zeilen. Theo Geißler: Ein Umweg-Weiser! Martin Hufner Zwischen Regensburg und Kleinmachnow im Februar 2017
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