Musik – Vielfalt – Integration – Inklusion

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Merkt Der Musikunterricht in dieser Schule hieße dann nicht inklusiver oder interkultureller Unterricht, sondern einfach nur Musikunterricht.

Irmgard Merkt

Musik • Vielfalt • Integration • Inklusion Musikdidaktik für die eine Schule ConBrio Fachbuch • Band 19

ConBrio Verlagsgesellschaft CB 1271 · ISBN 978-3-940768-71-1

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Musik · Vielfalt · Integration · Inklusion

Der hier vorgelegte Text versteht sich als Entwurf einer Musikdidaktik für die inklusive Schule, für die eine Schule für Kinder und Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigungen, für Kinder und Jugendliche aus den unterschiedlichsten Milieus und Herkunftskulturen. Manchmal heißt diese Schule bereits Gemeinsame Schule oder Eine Schule für alle. Vielleicht heißt sie in Zukunft einfach nur Schule?

ConBrio Fachbuch 19

Der Blick auf Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen und auf solche mit Migrations- oder Fluchthintergrund führt oft noch zu getrennten Diskussionssträngen. In der Tat brauchen unterschiedliche Schüler auch Unterschiedliches, aber: sie brauchen auch Übergeordnet-Gleiches. Sie brauchen Anerkennung, das Erleben von Fordern und Fördern, die befriedigende Erfahrung des Dazulernens und vor allem im Inneren als barrierefrei erlebte Lernsituationen.

Irmgard Merkt

Musik • Vielfalt • Integration • Inklusion Musikdidaktik für die eine Schule ConBrio Fachbuch · Band 19


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Irmgard Merkt

Musik • Vielfalt • Integration • Inklusion Musikdidaktik für die eine Schule

ConBrio Fachbuch • Band 19

ConBrio Verlagsgesellschaft 2019


Für Nikolaus Johannes Tilmann

© 2019 by ConBrio Verlagsgesellschaft, Regensburg Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, bedarf der Genehmigung des Verlages. Lektorat, Layout, Satz: Dr. Juan Martin Koch Druck: druckhaus köthen GmbH & Co. KG Umschlagabbildung aus Ernst Florens Friedrich Chladni: Entdeckungen über die Theorie des Klanges. Leipzig 1787, S. 109 (vgl. Kap. 6, S. 211 ff.) CB 1284 ISBN 978-3-940768-84-1 www. conbrio.de


Inhalt Einleitung 9 1

Inklusion 11

1.1 Inklusion und Menschenrecht 11 1.2 Behinderung und Gesellschaft 13 Bottom-up-Bewegung 13 Top-down-Bewegung 14 Musik und Inklusion 15 1.3 Vom Blick auf Menschen mit Behinderungen 16 1.4 Exklusion – Inklusion 20 1.5

Gesetzeslagen, UN-Behindertenrechtskonvention und Folgetexte 23 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 23 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch 24 Behindertengleichstellungsgesetz 25 UN-Behindertenrechtskonvention 26 Staatenbericht 29 Parallelberichte zum Staatenbericht 30 Abschließende Bemerkungen des UN-Fachausschusses 31 Teilhabeberichte 31 Der Nationale Aktionsplan 33 Bundesteilhabegesetz 35

1.6 Zum Begriff Inklusion 36 1.7 Kulturelle Bildung und Inklusion 40 1.8

Kulturelle Teilhabe und Inklusion 43 Kulturnutzung 44 Barrierefreiheit 45 Besuche von Veranstaltungen 46 Zugang zu kulturellem Material 47 Internet-Nutzung 47 Filmrezeption 48 Kulturgäste und Kulturgenießerinnen und -genießer 48 Konzertpädagogik 49 Kulturproduktion: künstlerische Aktivitäten von Menschen mit Beeinträchtigungen 50 Kulturreflexion: Das Thema Behinderung in den Künsten 53 Musikreflexion und Schule 55

1.9 Zusammenfassung 56 2

Entwicklungslinien – Musik in der besonderen Schule 59

2.1 Aufklärung und 19. Jahrhundert 59 Taubstummenunterricht 59 Einrichtungen der Heilerziehung und Wohltätigkeit 61 Industrialisierung und Gründung der Hilfsschule 63 2.2 Kaiserzeit 63 2.3 Reformpädagogik und musische Bewegung 65 Die Kestenberg-Reform 67 Hilfsschule und Weimarer Republik 68 2.4 Hilfsschule und Nationalsozialismus 73


2.5 Nachkriegszeit 76 Musik und Hilfsschule in der Nachkriegszeit 77 Rhythmisch-musikalische Erziehung 84 Orff-Schulwerk 87 Orff-Musiktherapie 89 2.6 Bildungsreformen 91 2.7

Musikunterricht: Reflexionen, Realitäten und Entwürfe 92 Musikunterricht: Lehrerinnen und Lehrer 92 Musikunterricht: Schülerinnen und Schüler 94 Stressthema Binnendifferenzierung 100 Praxis Binnendifferen- zierung im musikbezogenen und musikalischen Handeln 103 Wunschthema Diagnostik 103 Curriculare Entwicklungen und das Unterrichtsfach Musik 106 Entwicklungslogische Didaktik und Musik 112

2.8 Lehrerausbildung: Rückblick und Ausblick 118 Musik in der Sonderpädagogik 119 Studium Lehramt Musik 122 2.9 Zusammenfassung 124 3

Integration 127

3.1 Zuwanderung nach Deutschland 127 3.2 Migration und Gesellschaft 129 Bottom-up-Bewegung 129 Top-down-Prozesse 129 Migration und Schule 130 Migration und Förderschule 131 3.3 Vom Blick auf Menschen mit Migrationshintergrund 132 3.4 Exklusion – Integration 133 3.5

Gesetzeslagen und Folgetexte 140 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 141 Nationaler Integrationsplan und Nationaler Aktionsplan Integration 142 Integrationsgesetz 143 Fachkräfteeinwanderungsgesetz 143

3.6 Zum Begriff Integration 144 3.7 Kulturelle Bildung und Integration 146 Bottom-up 146 Top-down 149 3.8 Kulturelle Teilhabe und Integration 151 Kulturnutzung durch Menschen mit Migrationshintergrund 151 Kulturproduktion von Menschen mit Migrationshintergrund 154 Reflexion des Themas Migration durch die Künste 157 Kultur- und Musikreflexion in der Schule 159 3.9 Zusammenfassung 159


4 Entwicklungslinien interkultureller Musikpädagogik 163 4.1 Integrationspotenziale von Musikunterricht 163 4.2 Außereuropäische Musik im Unterricht 164 4.3 Konzepte und Modelle eines interkulturellen Musikunterrichts 167 Das Bochumer Modell 168 Ansatz der „Schnittstelle“ 168 Erweiterter Schnittstellenansatz 170 4.4 Dilemma Ethnisierung 172 4.5 Prinzipiell interkulturell 173 4.6 „eine welt musik lehre“ 176 4.7 Zusammenfassung 177 5

Unterrichts- und Schulkulturen 179

5.1 Themen der Unterrichtskulturen 179 5.2 Staunen 180 5.3 Philosophieren 181 Philosophieren und Musikunterricht 185 5.4 „Forschendes Lernen“ 189 5.5 Anerkennung 192 Lehrende versus Lernende 193 Anerkennung im Musikunterricht 197 Anerkennung und Musikpädagogik 199 Anerkennender Musikunterricht 201 5.6 Unterrichtsfach Glück 202 Glückliche Schülerinnen und Schüler? 202 Glückliche Lehrerinnen und Lehrer? 204 5.7 Wertschätzende Schulentwicklung 205 5.8 Ausgleich 207 5.9 Zusammenfassung 208 6 Entwicklungspfade Musik 211 6.1 Physik und Natur 211 Chladnische Figuren 212 Kymatik 214 Wasserklangbilder 217 6.2 Universalie Musik? 221 6.3 Vom Ursprung der Musik 223 6.4 Vom Zutagetreten der Musik 225 6.5 Vom Weg in die Musik: Der Dreischritt 228 Lauthülle 229 Lautspiegel 231 Lautgestaltung 233


6.6 Angewandter Dreischritt 235 Lauthülle schaffen 235 Spürendes Musikhören 236 Lauthülle und Musiktherapie 237 Lautspiegel sein 237 Lautgestaltung unterstützen 239 6.7. Lebenspartitur – Musikpartitur 241 6.8 Zusammenfassung 245 7

Musik –Vielfalt – Integration – Inklusion 247

7.1 Kulturelle Identitäten 247 Milieu und kulturelle Identität 249 Musikunterricht 254 7.2 Der Gemeinsame Gegenstand 255 Entwicklungslogik I 256 Entwicklungslogik II 258 7.3 Disziplinarität 260 Curricularer Ausgangspunkt: Mit einer Frage um die Welt 260 Musiksteine 262 Einsaitig 264 Flötentöne 265 7.4 Interdisziplinarität 268 Äolsharfe und Klangskulptur 269 Physik – Natur – Musik – Kunst 271 Schwingungsbilder, Op Art, digitale Kunst 272 Kultobjekte der Religionen 272 Textile Ikonografie 275 7.5 Drei mal Fünf 278 Eins: Musik 278 Physik 278 Natur und Musik 279 Natur, Mensch, Musik 279 Musikkulturen der Welt 280 Zwei: Mensch und Musik 280 Musikwerkzeuge 281 Musiksprachen 281 Musikgeschichten 282 Musikgebrauch 282 Drei: Musik in der Schule 283 Musikbezogenes Fragen und Forschen 284 Musikalisches Handeln und Lernen 284 Interdisziplinarität 284 Teilhabe an der Musikkultur 285 7.6 Kulturen 286 Unterrichtskulturen 286 Erfahrungskulturen 287 Musikkulturen 288 7.7 Zusammenfassung 289 Ausblick 292 Literatur 295


Einleitung

Das Pendel schwingt hin und her: Pro und kontra Inklusion, pro und kontra Integration. Während die Pendel schwingen findet Schule statt. Mit viel pädagogischem Optimismus und Enthusiasmus, aber auch mit viel Frustration und Unsicherheit. Lehrkräfte unterrichten Schülerinnen und Schüler mit heterogenen Voraussetzungen, heterogen in Bezug auf Lernkulturen und Erfahrungskulturen. Lehrkräfte unterrichten Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen, sie unterrichten Kinder und Jugendliche, die in verschiedenen Ländern der Erde und in unterschiedlichen Milieus sozialisiert sind. Der Blick auf Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen und auf Schülerinnen und Schüler mit Migrations- oder Fluchthintergrund führt oft noch zu getrennten Diskussionssträngen. In der Tat brauchen unterschiedliche Schülerinnen und Schüler auch Unterschiedliches. Vielleicht brauchen sie Sprachförderung, psychomotorische Förderung oder Wahrnehmungsförderung; vielleicht eine im Äußeren barrierefreie Umgebung. Aber: Schülerinnen und Schüler brauchen auch Übergeordnet-Gleiches. Sie brauchen Anerkennung, das Erleben von Fordern und Fördern, die befriedigende Erfahrung des Dazulernens und vor allem im Inneren als barrierefrei erlebte Lernsituationen. Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernbedingungen in einer Klasse oder Gruppe brauchen nicht verschiedene Unterrichtskonzepte, sondern eines, das auf ihre Verschiedenheit reagiert. Der hier vorgelegte Text versteht sich als Entwurf einer Musikdidaktik für die inklusive Schule, für die eine Schule für Kinder und Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigungen, für Kinder und Jugendliche aus den unterschiedlichsten Milieus und Herkunftskulturen. Manchmal heißt diese Schule bereits Gemeinsame Schule oder Eine Schule für alle. Vielleicht heißt sie in Zukunft einfach nur Schule? Der Musikunterricht in dieser Schule hieße dann nicht inklusiver oder interkultureller Unterricht, sondern einfach nur Musikunterricht. Noch besser wäre es, wenn Musik nicht auf die Stunden des Musikunterrichts begrenzt wäre, sondern alltägliches Element auch in anderen Schulfächern, in interdisziplinären Projekten, in Freistunden und Schulbands,


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Einleitung

in einem „Großchor“ oder in einem „Großorchester Schule“. Das hieße dann einfach Musik in der Schule. Das in der Vergangenheit überwiegend exkludierende und separierende System Schule in Deutschland hat zu einem exkludierenden Blick auf Kinder und Jugendliche geführt. Sicher gibt es Langsamer- und Schneller-Lernende, sicher gibt es Kinder und Jugendliche mit Sinnesschädigungen, sicher werden Kinder und Jugendliche in ihren Milieus und Herkunftsfamilien unterschiedlich sozialisiert und gefördert – die Frage ist, welche Schlüsse ein Schulsystem daraus zieht. Die Bandbreite reicht von „Kein Kind darf verloren gehen“ bis „Leistungselite unter sich“. Der Weg der „Schlüsse“ wird in diesem Buch in Bezug auf Inklusion und Integration nachgezeichnet – und schließlich werden Schlüsse für einen Musikunterricht gezogen, der der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler ebenso gerecht werden will wie der Vielfalt der Kulturen. Ein erstes Kapitel umreißt vergangene und gegenwärtige Positionen rund um das Thema Inklusion – gedacht für Leserinnen und Leser, die sich einen Überblick verschaffen möchten. Das zweite Kapitel skizziert in einem historischen Abriss die Entwicklung des Fachs Musik an der „besonderen“ Schule und führt bis in die gegenwärtige Situation in Schule und Lehrerbildung. Kapitel drei umreißt die Positionen rund um das Thema Integration und Kapitel vier skizziert Entwicklungslinien interkultureller Musikpädagogik. Kapitel fünf fokussiert Unterrichts- und Schulkulturen, immer wieder mit dem Blick auf Musik, und plädiert für eine weitgefasste Anerkennungskultur im Sinne der Anerkennung der Lehrenden, der Lernenden und der Musikkulturen. Kapitel sechs bietet einen natur- und musikwissenschaftlich ausgerichteten und entwicklungsorientierten Blick auf den Unterrichtsgegenstand Musik, der sich zum einen auf das Entstehen der Musik selbst und zum anderen auf die Entwicklung des Menschen zum Homo musicus bezieht. Kapitel sieben schließlich fasst die verschiedenen Gedanken- und Wissensstränge zu einem Konzept zusammen, das unter der Überschrift „Mit einer Frage um die Welt“ Sichtweisen auf Musik- und Handlungsweisen im Umgang mit Musik vorschlägt. Einige Themenbeispiele zeigen, wie die Grundidee „Mit einer Frage um die Welt“ gemeint ist. Ein Musikunterricht, der diesem Motto folgt, kann die Reise um die Welt im Übrigen von jedem Ort aus beginnen. Irmgard Merkt


1 Inklusion

1.1 Inklusion und Menschenrecht Ist – um Bertolt Brecht abzuwandeln – Inklusion das Einfache, das schwer zu machen ist? Ist das „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (abgekürzt UN-BRK) das Einfache – und ist die Umsetzung das, was schwer zu machen ist? Das Einfache ist: Die UN-BRK wurde von der Bundesregierung ratifiziert. Damit hat die UN-BRK, obwohl nicht im eigenen Land formuliert, in der Bundesrepublik Gesetzescharakter. Die Grundsätze der UN-BRK sind die der Menschenrechte, sind die Werte der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Freiheit für Menschen mit Behinderungen heißt Freiheit zur Realisierung von Autonomie und Freiheit von Fremdbestimmung. Gleichheit heißt Freiheit von individueller und struktureller Diskriminierung und Gleichheit der Chancen, die eigenen Ziele zu verfolgen. Brüderlichkeit heißt schließlich gesellschaftliche Inklusion im Sinne der selbstverständlichen Zugehörigkeit (vgl. Lindmeier/Lindmeier 2015: 45ff.). Dies alles ist offenkundig weder im Kulturleben noch im Bildungswesen leicht zu machen. „Inklusion gehört nicht nur zu den wirklich zentralen, sondern auch zu den schwierigen Fragen unseres Bildungssystems.“ (Tenorth 2013: 7) Dabei trifft die UN-BRK die bundesdeutsche Gesellschaft nicht völlig unvorbereitet: Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen und Elterninitiativen fordern seit Jahrzehnten Anerkennung und Selbstbestimmung (vgl. Hüwe/Roebke 2006; Ziemen 2013a, b), zudem wird die Auseinandersetzung um die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen in der Bundesrepublik schon seit den 1980er Jahren von Eltern und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geführt. Die Ratifizierung der UN-BRK im Jahr 2009 wird schließlich zur allgemeinpolitischen Bestätigung dessen, was vordem quasi individuelle Interessenlage von „Betroffenen“ und „Engagierten“ zu sein schien. Sie versetzt Menschen mit Behinderungen in die Lage, Rechte einzufordern und sie versetzt Eltern von Kindern mit Behinderungen in die Lage, nunmehr zwischen einem Unterricht an allgemeinbildenden Schulen und einem


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Kapitel 1

Unterricht an Förderschulen zu wählen. Diese Wahlmöglichkeit ist im Übrigen von der UN-BRK gar nicht vorgesehen, aber der Situation in der Bundesrepublik geschuldet. Die gemeinsame Beschulung aller Kinder entwickelt sich langsam: » Seit Deutschland sich vor vier Jahren verpflichtet hat, Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten, ist der Inklusionsanteil bundesweit von 18,4 auf 25,0 Prozent gestiegen. Jeder vierte Schüler mit Förderbedarf besucht also inzwischen eine reguläre Schule, während es zum Zeitpunkt der Ratifizierung der UN-Konvention 2009 noch nicht einmal jeder fünfte war. Diese 35-prozentige Steigerung der Inklusionsanteile zeigt, dass das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf im deutschen Schulsystem vorankommt. (Klemm 2013: 4) Dass Förderschulen zahlenmäßig im bisherigen Umfang weiterbestehen, liegt daran, dass einer zunehmenden Zahl von Kindern ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wird und die Eltern sich für die Förderschule entscheiden. » Im Schuljahr 2014/15 wurde in Deutschland bei knapp 488.178 Schülerinnen und Schülern von einem sonderpädagogischen Förderbedarf ausgegangen, das waren rund 6 % der gesamten Schülerschaft in den Klassenstufen eins bis zehn. Rund 335.000 Schülerinnen und Schüler besuchten eine Förderschule. Rund 153.170 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf wurden an den übrigen allgemeinbildenden Schulformen unterrichtet. Im Vergleich zum Schuljahr 2004/05 zeigt sich für alle Schulformen mit Ausnahme der Förderschulen ein deutlicher Anstieg des Anteils der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der Gesamtschülerschaft. (Malecki 2016: 23) Die Rede ist von etwa 150.000 Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf in der inklusiven Beschulung – Tendenz leicht steigend. Das bringt in jedem Fall Veränderung in die „Regelschulen“ – und nicht zuletzt in das Unterrichtsfach Musik. Eine Schule wie die Fläming-Grundschule in Berlin kann den aktuellen Entwicklungen unaufgeregt entgegensehen: Sie ist die erste Integrationsschule nicht nur in der Bundesrepublik, sondern im deutschsprachigen Raum und unterrichtet seit 1975 mit einem Anteil von etwa zehn Prozent Kinder mit Behinderungen – auch das Unterrichtsfach Musik. Diese Schule zeigt, unter welchen Bedingungen Inklusion Gestalt annimmt: Engagement, Innovationsbereitschaft und angemessene Personalressourcen sind wesentliche Faktoren (vgl. Bannach 2002).


Inklusion

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1.2 Behinderung und Gesellschaft „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Grundgesetz Art. 3 Abs. 3) Bottom-up-Bewegung Die Auseinandersetzung um die Stellung von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft wird in Deutschland ab den 1960er Jahren verstärkt geführt. Bestärkt von der dänischen Normalisierungsbewegung und der Bewegung People First in den USA, bilden Menschen mit Behinderungen auch in Deutschland eine „Bewegung von unten“, eine Bewegung gegen Aussonderung in allen Lebensbereichen. Ein Beispiel aus dem Transportwesen zeigt deren Notwendigkeit: Noch in den 1970er Jahren reisten Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer als Kunden der Bundesbahn im unbeheizten Postwagon. An barrierefreie öffentliche Verkehrsmittel war nicht zu denken. Die Geschichte der Behindertenbewegung, verbunden mit den Namen Gusti Steiner, Franz Christoph, Horst Frehe, Ernst Klee und Theresia Degener, um nur einige zu nennen, ist reich an mutigen Aktionen wütender und provokanter Zivilcourage, mit denen gegen ausgrenzende gesellschaftliche Strukturen und Ideologien protestiert wurde (vgl. Christoph 1983; Köbsell 2006). Nach der „wilden“ Zeit der 1968er Jahre beginnt sich die Bottom-up-Bewegung systematisch zu organisieren. Neue Verbände der behindertenpolitischen Interessenvertretung wie die Initiative „Selbstbestimmt Leben“ bauen mit den Jahren politisch handlungsfähige Strukturen auf. Die Nachrichtenseite „kobinet“ (www.kobinet-nachrichten.org) gibt seit 2002 im Internet einen guten Überblick über aktuell relevante Themen und Problemlagen; die Initiative „Teilhabe jetzt – für ein gutes Bundesteilhabegesetz“ hat die Notwendigkeit einer starken Selbstvertretung im Kontext neuer Gesetzesentwürfe gezeigt. Auch die in der Sozial- und Medienwelt mittlerweile unverzichtbare Internetseite „SOZIALHELDEN“ ist eine Gründung von unten: Raul Krauthausen gründete das Netzwerk mit seinem Cousin Jan Mörsch: » Damit soziales Engagement Spaß macht und das nötige Augenzwinkern hervorruft, brauchts ein Fünkchen Ironie, ein bisschen Querdenkerei, einen Tick Andersherum und vor allem einen provokanten Namen. Für uns kann jede*r ein*e SOZIALHELD*IN sein. Denn in jedem Menschen schlummern verborgene herausragende Kräfte. Diese zu nutzen, um anderen Gutes zu tun und dabei Aufmerksamkeit zu erregen, laut zu sein, gesehen zu werden – Das macht die SOZIALHELDEN aus. Der Name ist dabei Mittel zum Zweck. (SOZIALHELDEN 2018)


2 Entwicklungslinien – Musik in der besonderen Schule

2.1 Aufklärung und 19. Jahrhundert Das Zeitalter der europäischen Aufklärung war ein Zeitalter des Bewusstseinswandels, auch in Bezug auf die „Bildsamkeit“ von Kindern mit Behinderungen: Das allmähliche Entstehen von Einrichtungen für Kinder mit Beeinträchtigungen ist Ausdruck eines naturwissenschaftlich und auch philantropisch geprägten Blicks auf den Menschen und die Bedingungen seiner Entwicklung. Taubstummenunterricht Jean Itard (1774–1838) war Arzt und ab 1800 Leiter der Pariser Taubstummenanstalt. In diesem Jahr brachte man ein „Wolfskind“ zu ihm, einen Jungen, der offensichtlich mehrere Jahre ausschließlich in den Wäldern des Départements Aveyron in Südfrankreich gelebt hatte. Über die Arbeit mit dem Jungen, den er Victor nannte, weil dieser auf den Vokal „o“ eine Reaktion zeigte, verfasste Itard zwei Berichte an das Ministerium des Inneren, in denen er Ziele und Methoden schilderte. Als Vertreter der Aufklärung und „Sensualist“ war Itard von der Lernfähigkeit eines jeden Menschen mithilfe der richtigen Sinnesreize überzeugt. Nachdem er beobachtet hatte, dass die meisten der Sinne von Victor schwach entwickelt waren, fasste er den Plan, „die Sensibilität mit allen erdenklichen Mitteln zu entfalten und den Geist auf die Aufmerksamkeit vorzubereiten, indem ich seine Sinne den lebhaftesten Eindrücken aussetze“. (Malson/Itard/Mannoni 1979: 129) Um den Gehörsinn zu trainieren, machte Itard mit dem Jungen Übungen, die heute „auditive Wahrnehmungsübungen“ genannt würden: » Daher verhüllte ich Victors Augen hinter einer dicken Binde und ließ dann in seine Ohren die lautesten und verschiedenartigsten Töne erschallen. Meine Absicht war nicht allein, sie ihn hören zu lassen, sondern auch, ihn zum Zuhören zu bringen. Um dieses zu erreichen, schlug ich einen Ton an und forderte ihn auf, einen ebensolchen zu erzeugen, in dem er denselben Schallkörper erklingen lassen sollte. […] Bald begnügte ich mich nicht mehr damit, von ihm zu verlangen, dass er den Ton einer Trommel von dem einer Glocke unterschied, sondern auch den Laut, den der Trommelstab


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Kapitel 2

auf dem Fell, dem Rand oder dem Körper der Trommel, auf dem Pendel einer Uhr oder auf einer laut tönenden Kohlenschaufel erzeugt. (Ebd.: 168) Victor macht große Fortschritte darin, die fünf Vokale den fünf Fingern zuzuordnen und beim Erklingen eines Vokals den richtigen Finger zu heben. Er bricht aber immer wieder in langanhaltende Freudenstürme und ungestüme Lachanfälle aus. Itard will diese zügeln und schlägt Victor mit einem Trommelstock erst ein wenig, dann kräftig auf die Finger. » Er verstand mich, und ich sah mit einer Mischung aus Schmerz und Freude in der verdüsterten Miene dieses jungen Menschen, wie sehr das Gefühl der Beleidigung den Schmerz des Schlages überwog. […] Diese Szene setzte der lärmenden Fröhlichkeit meines Schülers ein Ende. Aber ich hatte keinen Grund, mich zu diesem Erfolg zu beglückwünschen, denn ich hatte diesen Übelstand nur abgewehrt, um in einen anderen zu fallen. Ein Gefühl der Furcht trat an die Stelle jener wilden Freude, und unsere Übungen wurden dadurch noch viel mehr gestört. Wenn ich einen Laut von mir gab, musste ich minutenlang auf das vereinbarte Zeichen warten; und selbst wenn dieses richtig gewesen war, erfolgte es mit solcher Langsamkeit und Unsicherheit, dass Victor erschrak, wenn ich durch Zufall ein kleines Geräusch machte oder die geringste Bewegung machte, und aus Angst, sich geirrt zu haben, schnell den Finger wieder zurückzog und dafür einen anderen mit derselben Langsamkeit und Vorsicht vorstreckte. Ich verzweifelte noch immer nicht und hoffte, dass die Zeit sowie viel Sanftmut und ein ermunterndes Verhalten diese ärgerliche und übertriebene Ängstlichkeit verscheuchen würden. Ich hoffte vergebens, alles war umsonst. (Ebd.: 171ff.) Itard unterrichtete Victor von Aveyron etwa vier Jahre. In seinem Abschlussbericht an den Minister des Inneren berichtet er von Victors Fortschritten in „Zeichen des Denkens“ – gemeint ist die Benennung von Dingen und die Fähigkeit, Bedürfnisse mitzuteilen und Anweisungen zu folgen. Als wesentlichen Punkt nennt Itard die Fähigkeit zu emotionaler Bindung: » […], dass sich Victor […] trotz seinem unmäßigen Drang zur Freiheit der Felder und seiner Gleichgültigkeit gegenüber den meisten Genüssen des gesellschaftlichen Lebens, dankbar erweist für die Pflege, die man ihm angedeihen lässt, einer zärtlichen Freundschaft fähig ist, Gefallen daran findet, etwas richtig zu tun, sich seiner Fehler schämt und seine Wutanfälle bereut. (Ebd.: 216) Insgesamt hatte sich Itard eine weitreichendere Entwicklung Victors erhofft – aus heutiger Sicht sind vier bis fünf Jahre Förderung freilich auch nicht ausreichend für eine abschließende Beurteilung des Entwicklungspotenzials. Er empfiehlt, Victor aber weiterhin der „Aufmerksamkeit der Wissenschaftler, der Fürsorge unserer Behörden und


Entwicklungslinien – Musik in der besonderen Schule

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dem Schutz der Regierung“ (ebd.). Im Alter von etwa 18 Jahren wird Victor endgültig in die Obhut von Madame Guérin übergeben, die sich seit seiner Ankunft in Paris um ihn gekümmert hatte. Victor lebt in einem Nebengebäude der Taubstummenanstalt; von weiteren Fortschritten wird nicht berichtet. Er stirbt 1828 im Alter von etwa 40 Jahren. Itard wiederum widmet sich lebenslang physiologischen Fragen der Taubheit, entwickelt das Audiometer und gilt als Begründer der Otorhinolaryngologie, der Hals-NasenOhrenheilkunde. Friedrich Koch, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg analysiert in den 1990er Jahren die Erziehungsmethoden Itards und kommt zu dem Schluss, dass letztlich das rigide System zwischen Lob, Tadel und Strafe eine Weiterentwicklung Victors verhindert habe (vgl. Koch 1997). Itards beide Berichte von 1801 und 1806 zeigen einen Arzt und Pädagogen, der mit drakonischen Maßnahmen Sinneswahrnehmungen und Gefühlsregungen forciert, sie zeigen aber auch den selbstreflexiven Menschen, der mit Zuwendung immer wieder versucht, dem „wilden“ Kind nicht nur mit pädagogischem Kalkül zu begegnen. Der Blick auf Victor selbst zeigt einen Gefangenen – einen Gefangenen der Zivilisation und der Pädagogik, einen Menschen, der sich lebenslang nach den Wäldern sehnt, in denen er viele Jahre ge- und überlebt hatte. Welches war Victors „richtiges“ Leben? Wie würden wir heute handeln? Einrichtungen der Heilerziehung und Wohltätigkeit 1841 gründet der Schweizer Arzt Johann Jakob Guggenbühl auf dem Abendberg bei Interlaken die Heilanstalt für Kretinen und blödsinnige Kinder, überzeugt, dass die „Kretinen und blödsinnigen Kinder“, einmal aus ihren armseligen und extrem unhygienischen Lebensbedingungen befreit, in frischer Luft tätig und stetig in ihrer Sinneswahrnehmung gefördert, grundsätzlich lernfähig seien. Auch hier findet systematische „auditive Wahrnehmungserziehung“ statt. Um die „Töne zu wecken, oder vielmehr den Sinn für sie, wurde Musik und Gesang geübt: selbst die Schwächsten wurden mit der Erregung der Gehörsnerven durch den Gong, ein chinesisches Instrument, oder durch Glockentöne bedient.“ Dies berichtet der junge Pastor Heinrich Sengelmann anlässlich eines Besuchs auf dem Abendberg (Sengelmann 1891). In seiner eigenen Einrichtung – Sengelmann begründet in Hamburg die „Alsterdorfer Anstalten“, die heutige Evangelische Stiftung Alsterdorf – ist der Umgang mit Musik ganz selbstverständlich. Der Blick Sengelmanns bleibt freilich realistisch: » Es gibt Idioten mit musikalischer Anlage und solche, die derselben entbehren. Unter den letzteren werden solche sein, die, namentlich wenn Instrumentalmusik die menschliche Stimme begleitet, die Empfindung von Hunden teilen, welche die Musik mit Geheul begleiten. Ihre Nervenerregung veranlaßt Weinen und Unruhe. (Ebd.: 41) Insbesondere das Singen war Teil der Unterweisungen in den großen Anstalten der „Idiotenpflege“ des 19. Jahrhunderts. Hierzu wiederum Sengelmann im „Praktischen Theil“


3 Integration

3.1 Zuwanderung nach Deutschland Die längste Zeit seiner Existenz auf dem Planeten war der Mensch ein Wandernder: Erst vor etwa 10.000 Jahren beginnt die Sesshaftigkeit – die Frage nach dem Warum ist immer noch nicht abschließend beantwortet (vgl. Reichholf 2012). Mit der Sesshaftigkeit – die Erfolgsbedingungen sind Ackerbau und Viehzucht –, generiert der Mensch eine Fülle von neuem Wissen, von Wissen, das notwendig ist, um am Ort erfolgreich zu sein: „cultura“. Fortan gibt es die Gruppen der Sesshaften und die Gruppen der Wandernden, Gruppen, die sich mit unterschiedlichen Gefühlen und Interessen begegnen. Der Migrationssoziologe Ludger Pries nennt die wesentlichen Gründe für einmalige dauerhafte Wohnsitzänderung oder für mehrfachen Wechsel und damit für nomadische Lebensweise. Es sind Gründe, die für die weltweite Zunahme von Wanderungsbewegungen sprechen: » a) die fortschreitende Auflösung traditioneller ländlicher Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten sowie Sozialmilieus, b) ökologische Faktoren wie Bodenerosion und Wasserknappheit sowie Naturkatastrophen und Epidemien, c) die Zunahme gewaltsam ausgetragener Konflikte mit ethnischem, religiösem, ökonomischem oder ökologischem Hintergrund, d) die durch die modernen Massenkommunikationsmedien allgegenwärtigen Projektionen und Visionen der Lebensbedingungen und -stile auf den „Wohlstandsinseln“ dieser Welt, e) die Verbreiterung und Verbilligung immer schnellerer Massentransport- und Kommunikationstechnologien und f) die offensichtliche Unmöglichkeit, Migrationsströme wie einen Kanallauf zu lenken oder gar wie einen Wasserhahn auf- und zuzudrehen. (Pries 2009: 476) Arbeitsmigration sowie Flucht und Vertreibung sind die am meisten verbreiteten Ursachen für räumliche Veränderung: „Aktuellen Schätzungen zufolge betrug die Anzahl internationaler Migrantinnen und Migranten 2015 etwa 244 Millionen; das entspricht


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Kapitel 3

einem Anstieg von 71 Millionen oder 41 Prozent im Vergleich zum Jahr 2000 und einem derzeitigen Anteil von 3,3 Prozent der Weltbevölkerung.“ (Internationales Arbeitsamt Genf 2017: 6) Die Dimensionen der Fluchtbewegungen wiederum machen die Statistiken des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) und der Deutschen UNO-Flüchtlingshilfe deutlich: Die fünf größten Herkunftsländer von Flüchtlingen sind derzeit Syrien mit 6,3 Millionen, Afghanistan mit 2,6 Millionen; Südsudan mit 2,4 Millionen; Myanmar mit 1,2 Millionen; Somalia mit 986.400 Menschen. Die sieben größten Aufnahmeländer von Flüchtlingen sind derzeit die Türkei mit 3,5 Millionen; Pakistan mit 1,4 Millionen; Uganda mit 1,4 Millionen; Libanon mit 998.900; Iran mit 979.400; Deutschland mit 970.400; Bangladesch mit 932.200 (vgl. UNO Flüchtlingshilfe 2017). In der Bundesrepublik Deutschland – an sechster Position unter den Aufnahmeländern von Flüchtlingen – sind im Kontext Integration mehrere parallele Entwicklungsstränge zu beobachten. Zum einen werden die Beiträge der „Gastarbeitergenerationen“ zum Wirtschaftswunder, zu den Wohlstandsphasen und zum Kulturleben der Bundesrepublik angesichts der Heimat-, Özil- und Flüchtlingsdiskussionen geradezu unsichtbar. Zum anderen wird die Notwendigkeit der sogenannten Bestanderhaltungsmigration mit Blick auf die demografische Entwicklung der Industriestaaten weitgehend verdrängt: Um den Bestand der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter zu erhalten, benötigt z. B. Italien jährlich 6.500 Zuwandernde pro eine Million Einwohnerinnen und Einwohner, Deutschland benötigt 6.000 (vgl. United Nations 2017). Die klarste Forderung nach Begrenzung oder Beendigung der Zuwanderung kommt von der politischen Rechten, die klarste Forderung nach mehr Zuwanderung kommt aus der Wirtschaft. Das „manager magazin“ schreibt im April 2018: » Deutschland braucht künftig viel mehr Zuwanderer als in den Jahrzehnten zwischen 1950 und 2010. Der Zuzug in den Arbeitsmarkt müsste in den kommenden drei Jahrzehnten etwa doppelt so hoch liegen wie in den ersten sechs Nachkriegsjahrzehnten, wie eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und der Bertelsmann Stiftung vorgerechnet hat. Früher verzeichnete Deutschland im Durchschnitt eine Nettozuwanderung (Zuzüge minus Fortzüge) von 200 000 Menschen. Künftig werden es 400 000 bis 500 000 sein müssen, also etwa wie im Jahr 2016. […] die Integration künftiger Zuwanderer dürfte schwieriger werden als in der Vergangenheit, weil sie aus kulturell weiter entfernten Ländern stammen werden. Bisher kommen überwiegend Menschen aus der europäischen Nachbarschaft zu uns. Doch die dortigen demographischen Aussichten sind ähnlich trübe wie in Deutschland: Künftig wird es dort an wanderungswilligen Jungen mangeln. Deshalb muss Deutschland seinen Zuwanderungsbedarf mehr und mehr in ‚Drittstaaten‘ decken, also in Ländern mit wachsenden Bevölkerungen, wovon es allerdings gar nicht mehr


Integration

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so viele gibt. Insbesondere geht es um Afrika südlich der Sahara, Indien und Pakistan. Umso mehr sind Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gefordert, diese Herausforderung systematisch und langfristig vorausschauend anzugehen. Nach allen Erfahrungen wird dies umso besser gelingen, je reibungsloser die Integration in den Arbeitsmarkt klappt. (Müller 2018)

3.2 Migration und Gesellschaft Über den aktuellen Migrations- und Flüchtlingsdiskussionen wird gern vergessen, dass die meisten Menschen „mit Migrationshintergrund“ in Deutschland Nachfahren derer sind, die als Arbeitskräfte gerufen wurden. Mit der relativen Beruhigung der Diskussionen, die im Anschluss an die Ereignisse von 2015 das politische Klima geprägt haben, wächst das Bewusstsein für die Notwendigkeit gelingender Integration. Bottom-up-Bewegung Migration selbst ist eine Bewegung von „unten“, eine Bewegung von Menschen, die an einem anderen Ort als an ihrem gegenwärtigen bessere Lebensbedingungen suchen. Die Geschichte der Migration innerhalb Europas ist vielfach beschrieben (u. a. Bade 2000; Bade/van Eijl 2010), ebenso die Geschichte der Migration nach Deutschland (Bade 1992). Für viele Herkunftsländer liegen Untersuchungen zu Migrationsanlass, zur Entwicklung der Migrantengemeinschaft und der Integration in Deutschland vor, u. a. etwa für Italien (Schmid 2014), Polen (Kerski/Ruchniewicz 2011) Südkorea (Jeong/Schrott 2014) oder Marokko (Pott et al. 2014). Top-down-Prozesse Die Geschichte der Zuwanderungsbewegungen nach Deutschland ist insbesondere in der Nachkriegszeit eine Geschichte von Top-down-Entscheidungen: Die Entwicklung des Zuzugs von Arbeitskräften nach Deutschland geschieht nicht ohne Zutun von Politik und Wirtschaft. Das Deutschland der 1950er Jahre, das Deutschland der Wirtschaftswunderjahre, hat einen Bedarf an Arbeitskräften, der durch den „Braindrain“ aus der DDR nicht gedeckt werden kann. Die damalige Bundesregierung reagiert mit Anwerbeverträgen auf die Praxis von Landwirtschaft und Unternehmen, Arbeitssuchende aus den südlichen Ländern Europas als Touristinnen und Touristen einreisen zu lassen und illegal zu beschäftigen. 1955 wird das erste Anwerbeabkommen mit Italien unterzeichnet, 1960 mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1964 mit Portugal und 1968 mit Jugoslawien. Auch die DDR brauchte Arbeitskräfte: Zwischen 1966 und 1989 arbeiten dort etwa 500.000 Arbeitskräfte aus Vietnam, Polen, Mosambik und anderen Staaten. Integration ist al-


4 Entwicklungslinien interkultureller Musikpädagogik

4.1 Integrationspotenziale von Musikunterricht Die Statistik zum Schulbesuch ausländischer Schülerinnen und Schüler der Konferenz der Kultusminister (KMK) gibt Auskunft über die Entwicklung der Schülerzahlen: Innerhalb von zehn Jahren steigt die Gesamtzahl von 85.482 im Schuljahr 1968/69 auf 551.270 im Schuljahr 1978/79. Die Sonderschulbesuche steigen von 3.850 im Schuljahr 1970/71 auf 21.094 im Schuljahr 1978/79. Die überwiegende Zahl der Schülerinnen und Schüler der damaligen Jahre kommt aus ländlichen Gegenden der Türkei. In den 1970er Jahren entwickeln die Bundesländer verschiedene Varianten für den Unterricht von Kindern ohne Deutschkenntnisse: Unterricht in muttersprachlichen Klassen (Bayern), zusätzlicher muttersprachlicher Unterricht (Berlin) oder Vorbereitungsklassen in Kurz- oder Langform (Nordrhein-Westfalen) (vgl. Kischkewitz/Reuter 1980: 105ff.). Den Fächern des sogenannten musisch-technischen Bereichs wird von der KMK ein besonderes Integrationspotenzial zugesprochen: „Die Schüler der Vorbereitungsklassen können in den Fächern Musik, Kunst, Werken, Textilgestaltung, Hauswirtschaft und Sport gemeinsam mit deutschen Schülern unterrichtet werden.“ (Friberg 1976: 187) Grund ist die „Sprachferne“ dieser Fächer. Ihr Vorzug ist, „daß das Unterrichtsgeschehen in diesen Fächern weniger stark von der Sprache getragen und beeinflußt wird und ihr Anteil vergleichsweise niedrig liegt. Hier hat das ‚konkrete Handeln‘ oft Vorrang vor dem ‚sprachlichen Handeln‘.“ (Ebd.) Der so verstandene „musische“ Unterricht bezieht die Herkunftskulturen der Kinder noch in keiner Weise mit ein. Dies ändert sich im Konzept des „Gemeinsamen Unterrichts“ des nordrhein-westfälischen Kultusministeriums, das 1977 „Richtlinien für den Unterricht der Kinder ausländischer Arbeitnehmer“ herausgibt. » Gemeinsamer Unterricht soll die bisher isoliert voneinander verlaufenden Lern- und Sozialisationsprozesse der ausländischen und deutschen Schüler aufeinander beziehen. Damit wird ein gemeinsamer Lern- und Sozialisationsprozess angebahnt und während der Schulzeit kontinuierlich weiterverfolgt. Schule und Unterricht werden so bewußt als Begegnungs- und Handlungsfeld, als Stätte gemeinsamer Erfahrung und gemeinsamen Lebensvollzugs gestaltet, damit Schüler beider Gruppen befähigt


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Kapitel 4

werden, Vorurteile abzubauen, sachliche Anforderungen zu bewältigen, die Andersartigkeit des Partners zu sehen und zu tolerieren sowie gemeinsame Interessen zu erkennen und durchzusetzen. (MSB 1977: 19) Den musischen Fächern kommt freilich nur eine Dienstleistungsfunktion in Sachen Sprachförderung zu: „In diesen Lernbereichen sollen die Schüler im Gemeinsamen Unterricht (Integrationsunterricht) insbesondere Arbeitsanweisungen verstehen lernen.“ (Ebd.: 43) Immerhin wird erstmals auch auf „Kunst, Musik und Literatur“ der Herkunftsländer verwiesen (ebd.: 21). Die Idee der „Dienstleitung“ der nicht sprachlichen Fächer für die schulische Integration wird schließlich doch von eigenständigen musikpädagogischen Konzepten abgelöst, in denen die kulturelle Sozialisation der Kinder ausländischer Herkunft berücksichtigt wird.

4.2 Außereuropäische Musik im Unterricht Die Berücksichtigung von Musik aus anderen Ländern und/oder Erdteilen im Musikunterricht hat in der Musikdidaktik eine eigene Geschichte. Der Unterrichtsgegenstand „außereuropäische Musik“ gewinnt mit den Bildungsreformen der 1970er Jahre an Bedeutung; die musikdidaktische Begründung schwankt zwischen akademischem Interesse und „Sekundärmotivationen“ wie „Interesse der Jugendlichen“, „Toleranz“ oder „Abbau von Vorurteilen“ (Clausen 2013: 203). Das Unterrichtswerk „Musik aktuell“ von 1971, gedacht für die integrierte Gesamtschule, thematisiert in einem letzten Kapitel „Internationales Musikleben“ die Musik außerhalb Europas und formuliert übergeordnete Fragestellungen: »

1) Wir hören Beispiele AUSSEREUROPÄISCHER MUSIK. Ist sie a) primitiv oder kunstvoll b) altmodisch oder fortschrittlich c) einförmig oder abwechslungsreich? 2) Haben wir Vorurteile dieser Musik gegenüber? a) Wenn ja, worin bestehen sie? b) Gibt es europäische Musiker, die von asiatischer, afrikanischer oder amerikanischer Musik beeinflußt sind? 3) Ist eine Musik denkbar, in der alle Musikkulturen aufgehen? (Breckoff/Kleinen/Krützfeldt 1971: 249)

Die Fragen zur Musik Indonesiens als dem einzigen Land, dessen Musik in dem Kapitel über Außereuropäisches behandelt wird, lauten:


Interkulturelle Musikpädagogik

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» 1) Auf einem Globus oder einer Landkarte verschaffen wir uns eine Übersicht über die Länder Südostasiens mit eigenständigen Musikkulturen. Wer möchte sich näher mit einer von ihnen beschäftigen? 2) Wir besorgen uns Klangbeispiele von Gamelan-Musik. Können wir heraushören, ob sie im Pelog oder im Slendro stehen? 3) Hat die Musik in unserem Leben eine ähnliche Bedeutung wie bei den Indonesiern? Wir nennen die Ähnlichkeiten und Unterschiede. (Ebd.: 250) Der Blick von heute macht die Zeitgebundenheit des Sprachgebrauchs, den Eurozentrismus der Fragestellungen sowie die damaligen medialen Möglichkeiten deutlich. Auf den nicht zu übersehenden Eurozentrismus und Rassismus auch anderer Veröffentlichungen zum Thema „außereuropäische Musik“ in Unterrichtswerken hat Irmgard Sollinger (1994) hingewiesen. Bei aller Distanz zu bewusstem oder latentem eurozentristischen Denken: In „Musik aktuell“ finden sich implizit auch heute relevante Themen: Nach welchen Kriterien beurteilen wir Musik? Wie entstehen Ablehnung und Vorlieben, wie entstehen kulturelle Vorurteile? Wie beeinflussen sich die Musikkulturen gegenseitig? Kann es die eine Musik geben? Wie werden musikalische Parameter in den verschiedenen Kulturen genutzt? Welche Bedeutung hat Musik im Leben einer oder eines jeden Einzelnen? „Musik aktuell“ ist ein durchaus ungewöhnliches Materialangebot für die Schule: Es stellt Fragen, deren Antworten sich die Schülerinnen und Schüler, aber vor allem zunächst auch die Lehrerinnen und Lehrer, überwiegend selbst erarbeiten müssen – auch wenn später diverse Zusatzbände mit Arbeitsmaterial folgen. Als Material- und Arbeitsbuch verfolgt es mit der Aufforderung zu selbstständiger Erarbeitung und selbstständigem Denken auch heute noch moderne Ansätze, es regt an zur Einrichtung von differenzierten Arbeitsgruppen und sieht in der Rolle der Lehrkräfte eher die der Lernberatenden. Im Blick auf ein Grundverständnis von Musik und Gesellschaft ist „Musik aktuell“ seiner Zeit voraus: » Heute ist jeder Musikunterricht zur Wirkungslosigkeit verurteilt, der diesen gesellschaftlichen Wandel nicht berücksichtigt. Es geht also darum, praktische und stoffliche Konsequenzen zu ziehen. Die sozialen, psychischen, ökonomischen und politischen Dimensionen des Kulturphänomens Musik dürfen nicht weiterhin aus dem Musikunterricht ausgeklammert bleiben. Sie müssen die bisher allein übliche historische Betrachtungsweise ergänzen. (Ebd.: 10) Es kann nicht überraschen, dass „Musik aktuell“ äußerst kritisch rezipiert wurde, wie Günter Kleinen als Mitautor in einer Rückschau aus dem Jahr 2005 berichtet. Zur Kritik durch die Schul- bzw. Genehmigungsbehörden kam die Kritik aus der Praxis: „Die Kritik im Fach richtete sich […] vielmehr darauf, dass jeder Lehrer sich vor die Notwendigkeit gestellt sah, für den Unterricht zusätzlich Materialien, insbesondere Hörbeispiele, be-


5 Unterrichts- und Schulkulturen

5.1 Themen der Unterrichtskulturen Pädagogische Themen haben ihre politischen Konjunkturen. Schlechte Nachrichten punkten in der öffentlichen Wahrnehmung mehr als gute. Das renovierungsbedürftige Schulgebäude findet den Weg schneller auf die Titelseite als die gute Lernsituation, der dramatische Vorfall schneller als der gute Unterricht. Die Berichterstattung über das Thema Inklusion ist ein Beispiel für konjunkturelle Nachrichtenschwankungen: Das Pendel bewegt sich seit Jahren zwischen „Schaden für alle“ und „Nutzen für alle“. Projektunterricht, ehemals heiß umstritten, ist heute eine unhinterfragte Organisationsform des Lernens. Jahrgangsübergreifendes Lernen, in den Gründerjahren der Volksschule selbstverständlich, in den vergangenen Jahrzehnten kaum denkbar, erlebt heute eine Art Revival und findet zunehmend Fürsprecherinnen und -sprecher.   Allgemeine Themen wie Disziplin, Respekt und Leistung sind keineswegs aus dem Nachrichtenrepertoire verschwunden, im Gegenteil. Neue Themen sind hinzugekommen: Das Schulfach Glück etwa oder Soziale Bildung als Schulfach. Die Aufgaben der Schulen werden nicht weniger, sondern mehr: Schulen müssen heute teilweise Erziehungsaufgaben übernehmen, die in der „ersten Sozialisationsinstanz“ nicht mehr geleistet werden. Ein Titel wie „Sieben Wege zu Lernfreude und Schulglück“ (Burow 2011) richtet sich keineswegs an Eltern und andere Erziehungsberechtigte, sondern an Schulkollegien und befasst sich mit der Frage, wie aus einem gestressten Lehrerkollegium eines werden kann, dessen Mitglieder gern an ihrem Arbeitsplatz tätig sind. Die grundsätzliche Fähigkeit des Systems Schule zur „Selbstheilung“ darf die Politik allerdings nicht aus ihrem Auftrag entlassen, für angemessene Ausstattung mit personellen und finanziellen Ressourcen zu sorgen. Vier Themen aus dem Bereich der Unterrichtskulturen werden nun mit Bezug auf Musik und Musikunterricht reflektiert: Die Schule als Ort des Staunens, die Schule als Ort des Philosophierens, das Thema des „Forschenden Lernens“ und die Schule als Ort der gegenseitigen Anerkennung.


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Kapitel 5

5.2 Staunen Die Schule als Ort des Staunens – diese Assoziation liegt angesichts von PISA und anderer „Messgeräte“ nicht gerade nahe. Dennoch: Momente des Staunens sind seit Längerem Qualitätsmerkmale von Schule und Lernen. Sie sind in der Aufzählung von Merkmalen der Schulen enthalten, die seit 2006 den hochdotierten Deutschen Schulpreis erhalten. » Vielen Schulen in Deutschland gelingt es, für Lernen zu begeistern und Schule als Ort des Staunens zu gestalten. Sie setzen Kreativität frei, lassen Lust an Leistungen entstehen, stärken Lebensfreude und Lebensmut und erziehen zu Fairness und Verantwortung. Diese hervorragenden Schulen sind pädagogisch richtungsweisend. (Robert Bosch Stiftung 2015) Angesiedelt ist der affektive Zustand des Staunens » zwischen den Grundemotionen Überraschung und Interesse. Meistens ist sie [die Emotion, Anm. d. V.] mit angenehmen Empfindungen verknüpft, mit Liebe zur Sache und Freude an der Auseinandersetzung mit dieser. Sie dauert länger als ein Affekt, da Staunen starken, intrinsischen Motivcharakter hat, das heißt, der staunende Mensch ist so von einer Sache ergriffen, dass ein Denkprozeß in Gang gesetzt wird, in dessen Verlauf immer wieder über die erstaunliche Sache nachgedacht wird, mit dem Ziel, diese begrifflich einzuordnen. (Schulte-Janzen 2002: 9) Staunen und Verwunderung sind bereits für Platon und Aristoteles der Anfang allen Fragens und damit allen Philosophierens. » Staunen schafft die Distanz, aus der heraus erst die Wirklichkeit zum Gegenstand der Betrachtung und auf der anderen Seite der Mensch zum Betrachter werden kann. Ein neues Selbstbewußtsein gegenüber der nun zu beobachtenden und zu befragenden Welt entsteht, sobald etwas Fremdes in die Selbstverständlichkeit des Gewohnten bricht und die Aufmerksamkeit fesselt, die Wißbegierde reizt. Staunen ist wie eine zweite, intellektuelle Geburt, die dem Menschen die letzte Eigenschaft zur Vollkommenheit verleiht: das Streben nach Erkenntnis. (Matuschek 1991: 8) Anlass zu Staunen geben das Kleine und das Große. Der Biologe Christian Kummer staunt ebenso über die Traubenhyazinthe wie der Astrophysiker Harald Lesch über den Kosmos. Aber: » Man kann also nicht einfach so losstaunen. Es muss schon etwas da sein, was zu kritisieren, zu hinterfragen oder zu verstehen ist. Man kann sich eben auch blöd staunen. Wenn man über alles staunt, dann bleibt nichts mehr. Das Staunen vergeht einem


Unterrichts- und Schulkulturen

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bei andauerndem Staunen, es nutzt sich ab. Hintergründiges Staunen verlangt nach Hintergrund. Unser Hintergrund ist die Wissenschaft. Wir sind Wissenschaftler. Uns interessiert die Vernetzung der Welt, das Ineinandergreifen von ganz verschiedenen Kräften, Feldern und Zusammenhängen, von Galaxien, Sternen, Planeten. Lebewesen, Zellen, bis zu den elementarsten Teilchen. Wir möchten wissen, wie es kommen konnte, dass sich aus einem extremen, sehr heißen, sehr energetischen, fast vollständig gleichmäßigen Anfang eine derart komplizierte und komplexe Welt entwickeln konnte. Wie kam es vom Urknall bis zum Gehirn, das über eine Traubenhyazinthe staunt? (Lesch 2016: 10) Als Lehrende und Lernende sind wir gleichzeitig Staunende – und Forschende. Wir staunen über die Musik, Aber wir wollen und sollen nicht einfach nur losstaunen, sondern fragen: Was ist überhaupt Musik? Woraus besteht Musik? Warum machen Menschen Musik? Warum hören Menschen Musik? Wie kommt es, dass ich höre, wenn am anderen Ende des Raumes jemand trommelt oder Saxophon spielt? Wie kommen die Töne von dort zu mir? Wie kommt es, dass sich Musik rund um die Welt so unterschiedlich anhört? Wie kommt es, dass jeder Gegenstand Klänge oder Geräusche erzeugen kann? Warum hören sich diese Klänge und Geräusche so unterschiedlich an? Warum gibt es so viele unterschiedliche Musikinstrumente? Wer hat sie erfunden? Warum mögen wir Musik? Warum bekommen wir manchmal beim Musikhören eine Gänsehaut? Und weiter: Wie hört ein Mensch Musik, der nichts hört? Wie hört ein Mensch Musik, der nichts sieht? Wie kann man das herausfinden?

5.3 Philosophieren Das Thema des Staunens und des staunenden Nachfragens in der Schule geht – unabhängig von einem Fach Philosophie an der gymnasialen Oberstufe – nicht nur, aber auch zurück auf die Bewegung „Philosophieren mit Kindern“. Begründet wurde „Philosophy for Children“ (P4C) von Matthew Lipman in den 1970er Jahren an der Montclair State University, New Jersey (vgl. Möller/Weber 2008: 11). Lipman geht es im Wesentlichen um drei Aspekte. Der erste ist die Verbindung von Sprechen und Denken: » Mit der Sprache werden die Kinder in eine vorgegebene Weltsicht eingeübt, sie versuchen aber auch, ihre eigene Kraft gegen die Erwachsenenwelt zu erproben. Sprechen-Lernen ist daher nicht nur wichtig, um den vorgefertigten Denkbahnen anderer folgen zu können, sondern auch, um mit anderen seine eigenen Gedanken austauschen und klären zu können.“ (Martens 2013: 78)


6 Entwicklungspfade Musik

6.1 Physik und Natur Musik ist, obwohl unsichtbar, eine materielle Kunst: Die materiellen Grundlagen der Musik sind die Luftmoleküle, die durch eine wie auch immer geartete Aktion des Schlagens, Streichens, Zupfens oder Anblasens eines Instruments oder eines anderen Gegenstandes aus ihrem Ruhezustand gebracht werden und sich in Bewegung versetzen. Die Moleküle selbst wandern in der Luft nicht weiter, sie schwingen um ihren ursprünglichen Ort, geben aber Energie an ihre Nachbarmoleküle weiter. Aus dem Weitergeben der Energie von Molekül zu Molekül entsteht unter den richtigen Bedingungen eine Schallwelle, die auf den Körper des Menschen trifft. Der Körper hat nun mehrere Reaktions- und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Die sogenannten Mechanosensoren der Haut reagieren auf Druckreize: „Merkel-Zellen und Ruffini-Körperchen messen die Intensität eines Druckreizes, Meissner-Körperchen und Haarfollikelsensoren dessen Geschwindigkeit und PaciniKörperchen seine Beschleunigung.“ (Birbaumer/Schmidt 1996: 331) Dieses Wunderwerk von Zellen in der Haut, in Organen und an den Knochen, leitet die Wahrnehmung der mechanischen Luftdrücke elektrotonisch an das Gehirn weiter: Dieses macht aus den elektrischen Potenzialänderungen sinnvolle Informationen, zum Beispiel Musik. Treffen die mechanischen Luftdrücke auf das Ohr, wandern sie über das Trommelfell, über die Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel an das ovale Fenster bis zum Innenohr, d. h. zur Gehörschnecke. Die Gehörschnecke ist mit Flüssigkeit gefüllt, in ihr entstehen Wanderwellen, die die äußeren und inneren Haarzellen in Bewegung versetzen. Diese Haarzellen sind mit der Basilarmembran verbunden. „Wenn sich die Basilarmembran bewegt, senden die inneren und äußeren Haarzellen elektrische Impulse zum Gehirn.“ (Pierce 1999: 90) Am innervierten Ende der Haarzellen entsteht aufgrund der Reizung eine Überträgersubstanz – wahrscheinlich Glutamat – und diese Überträgersubstanz erregt die afferenten Nervenfasern (vgl. Birbaumer/Schmidt 1996: 419). „Das in den Aktionspotentialen eines Hörnerven verschlüsselte Schallereignis wird über mindestens fünf bis sechs Synapsen zum auditorischen Kortex beider Hirnhälften weitergeleitet.“ (Ebd.: 421) Nicht nur die Haut, auch das Ohr verwandelt mechanische Energie in elektrische Impulse und das Gehirn verwandelt diese Impulse in sinnvolle Informationen.


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Kapitel 6

Bildgebende Verfahren machen die Wunder des Hörens (und anderer Gehirnaktivitäten) heute sichtbar. CT – Röntgencomputertomografie, PET – Positron-Emissions-Tomografie und MRT – Magnetresonanztomografie erlauben eine unmittelbare Beobachtung der Gehirnaktivitäten (vgl. ebd.: 511ff.). Das Sichtbarmachen von Aktivitäten des Gehirns gibt einen Hinweis auf die Bedeutung der gleichzeitigen Aktivität von Singen und Tanzen oder Instrumentalspiel und Singen: Geht man davon aus, dass „viel Aktivität“ auch „viel“ ist, so sind das Singen mit eigener instrumentaler Begleitung oder das gleichzeitige Singen und Tanzen die idealen Aktivitäten zur Förderung von Kindern mit und ohne Entwicklungsverzögerungen: Sprach-, Hör- und Bewegungszentren sind dann sichtbar gemeinsam aktiv. Das Forschungs- und Anwendungsgebiet Brain-Computer-Interfaces (BCI) geht den umgekehrten Weg. Es setzt Hirnströme in Aktionen um und dient dem Ziel, Menschen, die ihre Mobilität und auch die Fähigkeit zur verbalen oder nonverbalen Kommunikation ganz oder teilweise verloren haben, „eine muskelunabhängige Alternative zur Kommunikation und Umweltsteuerung“ zu ermöglichen (Birbaumer/Matuz 2013: 239). Durch Hirnaktivitäten wie einen konzentrierten Blick auf Bildschirmsymbole wird ein Computersignal ausgelöst, das z. B. die Umgebung von Probandinnen über bestimmte Wünsche informiert. Der Künstler Adi Hoesle hat diese technische Entwicklung aufgegriffen und ein System entwickelt, mit dessen Hilfe körperlich sonst unbewegliche Menschen allein mit der „Kraft der Gedanken“ Bilder „malen“ können (Bernard 2011; Hoesle 2014). Kunstaktionen mit Brain Painting sind in verschiedenen Museen gezeigt worden, etwa 2012 in der Kunsthalle Rostock und ebenso im Kleisthaus in Berlin, dem Sitz des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Das Sichtbarmachen des Nicht-Sichtbaren hat in der Wissenschaft Tradition: Im Kontext der Schallwellen beginnt dies um 1787. Chladnische Figuren Der Naturforscher Ernst Florens Friedrich Chladni (1756–1827) hatte vor etwa 200 Jahren die Idee, Glasplatten mit Sand zu bestreuen und sie mit einem Geigenbogen anzustreichen. Zum Erstaunen aller fing der Sand während der Aktion an zu wandern und Figuren zu bilden. Die Ursache liegt in den Eigenschwingungen, in die das Material durch die mechanischen Impulse gerät: In der Platte bilden sich sogenannte Schwingungsbäuche und ruhende Knotenlinien. In den Bereichen der Schwingungsbäuche wird der Sand weggeschleudert, entlang der ruhenden Knotenlinien sammelt er sich. Abhängig von der Tonhöhe bilden sich unterschiedliche Muster: je höher der Ton, desto kleinteiliger das Muster (vgl. Chladni 1787, siehe Abbildung 1 auf der nächsten Seite). Chladni präsentiert seine Entdeckung in den bürgerlichen Salons und verdient so seinen Lebensunterhalt. 1808 beeindruckt er Napoleon; auch Johann Wolfgang von Goethe notierte:


Entwicklungspfade Musik

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Abb. 1: Chladnische Figuren (Chladni 1787: 109)

» Dank ist ihm die Welt schuldig, dass er den Klang allen Körpern auf jede Weise zu entlocken, zuletzt sichtbar zu machen verstanden. […] ein geistreicher, aufmerkender Mann [, der] zwei der entferntesten Naturvorkommenheiten seiner Betrachtung aufgedrungen fühlt und nun eines wie das andere stetig und unablässig verfolgt. (Goethe zitiert in Henke 2009: 13) Die andere Naturvorkommenheit war im Übrigen die Entdeckung, dass Meteoriten aus dem Weltall stammen; Chladni gilt heute als einer der Begründer der Meteoritenforschung. Die Sensation der Chladnischen Figuren ist bald vergessen, erst um 1900 ist in der Öffentlichkeit wieder davon die Rede. Margaret Watts Hughes, eine damals in England bekannte Sängerin und Gesangslehrerin möchte eigentlich nur den Klang ihrer Stimme bzw. den Atemstrom kontrollieren und erfindet das Eidophon. Sie singt durch ein Rohr


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Musik – Vielfalt – Integration – Inklusion

7.1 Kulturelle Identitäten Kulturelle Identität: Es gibt sie, es gibt sie nicht, es gibt sie, es gibt sie nicht … Der französische Philosoph und Sinologe François Jullien beantwortet die Frage mit dem Titel seines aktuellen Essays: „Es gibt keine kulturelle Identität.“ (Jullien 2018) » Die Forderung nach einer kulturellen Identität hat derzeit überall auf der Welt Konjunktur: in Form einer Wiederkehr des Nationalismus und als Reaktion auf die Globalisierung. Die kulturelle Identität sei ein Schutzwall: gegen eine von außen drohende Uniformierung; und gegen Gruppen, die Gesellschaften von innen dissoziieren könnten. Wo aber den Cursor platzieren zwischen Toleranz und Assimilation, zwischen der Verteidigung des Einzigartigen und dem Erfordernis von Universalität? Diese Debatte wird insbesondere in Europa geführt, das plötzlich von Zweifeln am Ideal der Aufklärung erfasst wird. Sie betrifft, ganz allgemein, die Beziehung der Kulturen zueinander und die Richtung, die diese in Zukunft nehmen könnte. (Ebd.: 7) In der Beschreibung der Beziehung der Kulturen zueinander will Jullien drei Termini neu verstanden wissen: den des „Universellen“, den des „Gleichförmigen“ und den des „Gemeinsamen“. Er rügt zunächst das starre Verständnis der eurozentristischen wissenschaftlichen Diskussion: „Wie übersetzt man den Begriff des Universellen, wenn man Europa einmal verläßt?“ (ebd.: 14) und entwirft die Vorstellung eines beweglichen Universellen, » das, weil es niemals zufrieden ist, unaufhörlich den Horizont erweitert und sich die Aufgabe stellt, immer weiter zu suchen. Dieses Universelle ist kostbar, nicht nur auf theoretischer, sondern auch auf politischer Ebene: Genau dieses Universelle gilt es einzufordern, wo es um die Entfaltung des Gemeinsamen geht. (Ebd.: 31) Er rügt zum Zweiten im Rahmen der Diskussion um „Gleichheit“ die Fantasielosigkeit einer rein ökonomisch bedingten Gleichförmigkeit von Produkten in aller Welt und for-


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Kapitel 7

dert zum Dritten eine politisch-soziale Dimension des Verständnisses vom Gemeinsamen: „Das Gemeinsame ist das, was geteilt wird.“ (Ebd.: 15) Dem Begriff der kulturellen Identität setzt Jullien den der Ressource entgegen: „Es gibt keine französische oder europäische kulturelle Identität, dafür aber (französische, europäische oder zu einer beliebigen anderen Kultur gehörende) Ressourcen.“ (Ebd.: 58) Sprache ist beispielsweise eine Ressource, Philosophie ist ebenso eine Ressource. Ihr Merkmal ist die Unerschöpflichkeit: » Wahre Ressourcen (Ressourcen also, die auch wirklich ausgebeutet werden) sind jedoch unerschöpflich. Des Weiteren verlangen sie seitens der Empfänger oder Erben nicht nur eine Entgegennahme (Aneignung und Bewahrung), sie rufen denjenigen, der sich für sie interessiert, vielmehr dazu auf, sie zu reinvestieren, sie dadurch fruchtbar zu machen und ihnen eine neue Zukunft zu eröffnen – eine Zukunft, die es erst noch zu entdecken gilt. (Ebd.: 67) „Ressourcen bringen einander zur Geltung und schließen einander nicht aus“ (ebd.: 69) – das gilt unbedingt auch für die Musik. Ein konservatives Milieu des weißen und betagten Amerika befeuert allerdings seit Langem eine gegenteilige Debatte: Mit „Kampf der Kulturen“ (1997) hat Samuel Huntington (1927-2008), Politikwissenschaftler und Politikberater, Ende der 1990er Jahre ein Konstrukt unversöhnlicher kultureller Gegensätze der Menschheit am Beispiel der Religionen in die Diskussion eingebracht. Amartya Sen, Vertreter eines kosmopolitisch-intellektuellen Milieus, Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger, kritisiert ebenso wie Jullien die verengte Sicht auf einen Teilaspekt: » Die These vom Kampf der Kulturen ist nämlich nur eine parasitäre Weiterführung des Hauptgedankens, die Welt in unterschiedliche Kulturen einzuteilen, die sich zufällig genau an religiösen Trennlinien orientieren, denen singuläre Beachtung zuteil wird. Huntington unterscheidet die westliche Kultur von einer ‚islamischen‘, einer ‚hinduistischen‘, einer ‚buddhistischen‘ Kultur und so weiter. Die angeblich aufeinanderprallenden religiösen Unterschiede sind Bestandteil einer holzschnittartigen Vision, wonach das Weltgeschehen von einer einzigen Konfliktlinie beherrscht ist.“(Sen 2015: 26) Der Annahme, dass eine einzige Klassifikation oder Zuschreibung das Wesentliche des Menschen erfasse, hält Sen entgegen: » Im normalen Leben verstehen wir uns als Mitglieder einer Vielzahl von Gruppen, denen allen wir angehören. Staatsangehörigkeit, Wohnort, geographische Herkunft, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, politische Ansichten, Beruf, Arbeit, Eßgewohnheiten, sportliche Interessen, Musikgeschmack, soziale Engagements usw. – das alles


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macht uns zu Mitgliedern einer Vielzahl von Gruppen. Jedes dieser Kollektive, denen ein Mensch gleichzeitig angehört, verleiht ihm eine bestimmte Identität. Keine seiner Identitäten darf als seine einzige Identität oder Zugehörigkeitskategorie verstanden werden.“ (Ebd.: 20) Das Plädoyer Sens für einen „Vorrang der Vernunft“ meint die Pflege des Multikulturalismus und der kulturellen Freiheit: „Eine Nation darf nicht als eine Ansammlung von abgeschotteten Segmenten definiert werden, in der den Bürgern bestimmte Plätze innerhalb der vorweg bestimmten Segmente zugewiesen werden.“ (Ebd.: 174) Das Momentum der Freiheit der Wahl ist für Sen entscheidend für das, was unter Multikulturalismus zu verstehen sei: » Ich werde zeigen, daß die eigentliche Frage nicht ist, ob ‚der Multikulturalismus zu weit gegangen ist‘ […], sondern vielmehr, welche Form der Multikulturalismus annehmen sollte. Ist der Multikulturalismus nichts anderes als die Duldung einer Vielzahl von Kulturen? Macht es einen Unterschied, wer die kulturellen Praktiken auswählt, ob sie den Menschen im Namen der ‚Kultur der Gemeinschaft‘ übergestülpt werden oder ob sie nach hinreichender Gelegenheit, Alternativen kennenzulernen und über sie nachzudenken, frei gewählt werden? (Ebd.: 160) „[…] nach hinreichender Gelegenheit, Alternativen kennenzulernen und über sie nachzudenken“ – hier wäre es wieder, das Nachdenken, das Gemeinsame des Intelligiblen, wie es Jullien (2018: 9) nennt. Das Ziel: nicht Kampf, sondern Dialog der Kulturen. Nicht die Identität durch Abgrenzung, sondern durch immer wieder freie Wahl. Milieu und kulturelle Identität In zentralen Aspekten stimmen die Vertreterinnen und Vertreter der Musikpädagogik in Bezug auf „kulturelle Identität“ überein: Musikunterricht hat den Auftrag „für den Einzelnen zur Bühne zu werden, auf der musikalisch-kulturelle Identität selbstbestimmt ausgehandelt werden kann“ (Gies/Heß 2013: 110). Die Frage ist tatsächlich, an welchen Schnittstellen der Kulturen bzw. der Milieus es möglich ist, „den Schülerinnen und Schülern zu einem Zuwachs an Wissen, Fähigkeiten, Kompetenz oder Erfahrung zu verhelfen“ (ebd.). Das Schulsystem der Bundesrepublik hat mit einer Vielzahl von Milieus und deren unterschiedlichen Einstellungen zu tun. Es hat zu tun mit Menschen mit Migrationsgeschichte, mit Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Migrationsgeschichten und Behinderungen – und es hat mit Menschen aus allen Milieus der „Herkunftsdeutschen“ zu tun. Lehrerinnen und Lehrer selbst sind ebenfalls diversen Milieus zugehörig. Die Heterogenität der Migrantinnen und Migranten selbst war lange nicht in das Bewusstsein von Politik, Gesellschaft und Pädagogik gelangt – erst die Migranten-Milieu-


Merkt Der Musikunterricht in dieser Schule hieße dann nicht inklusiver oder interkultureller Unterricht, sondern einfach nur Musikunterricht.

Irmgard Merkt

Musik • Vielfalt • Integration • Inklusion Musikdidaktik für die eine Schule ConBrio Fachbuch • Band 19

ConBrio Verlagsgesellschaft CB 1284 · ISBN 978-3-940768-84-1

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Musik · Vielfalt · Integration · Inklusion

Der hier vorgelegte Text versteht sich als Entwurf einer Musikdidaktik für die inklusive Schule, für die eine Schule für Kinder und Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigungen, für Kinder und Jugendliche aus den unterschiedlichsten Milieus und Herkunftskulturen. Manchmal heißt diese Schule bereits Gemeinsame Schule oder Eine Schule für alle. Vielleicht heißt sie in Zukunft einfach nur Schule?

ConBrio Fachbuch 19

Der Blick auf Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen und auf solche mit Migrations- oder Fluchthintergrund führt oft noch zu getrennten Diskussionssträngen. In der Tat brauchen unterschiedliche Schüler auch Unterschiedliches, aber: sie brauchen auch Übergeordnet-Gleiches. Sie brauchen Anerkennung, das Erleben von Fordern und Fördern, die befriedigende Erfahrung des Dazulernens und vor allem im Inneren als barrierefrei erlebte Lernsituationen.

Irmgard Merkt

Musik • Vielfalt • Integration • Inklusion Musikdidaktik für die eine Schule ConBrio Fachbuch · Band 19


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